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Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

MACIEJ SZPUNAR

vom 27. Juni 2024(1)

Rechtssache C202/24 [Alchaster](i)

Minister for Justice and Equality

gegen

MA

(Vorabentscheidungsersuchen des Supreme Court [Oberstes Gericht], Irland)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Abkommen über Handel und Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Union und dem Vereinigten Königreich – Übergabe von Personen – Art. 49 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Grundsatz der Gesetzmäßigkeit von Straftaten und Strafen – Änderung der Regelung über die vorzeitige Haftentlassung“






I.      Einleitung

1.        Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen des Supreme Court (Oberstes Gericht, Irland) betrifft die Auslegung zum einen des Abkommens über Handel und Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft einerseits und dem Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland andererseits (im Folgenden: Abkommen über Handel und Zusammenarbeit oder Abkommen)(2) und zum anderen von Art. 49 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

2.        Dieses Ersuchen ergeht im Kontext der Vollstreckung eines Haftbefehls, der von den Justizbehörden des Vereinigten Königreichs gegen MA zum Zweck der Durchführung der Strafverfolgung erlassen wurde, in Irland. Das vorlegende Gericht möchte geklärt wissen, welche Pflichten eine einen Haftbefehl vollstreckende Justizbehörde hat, wenn die gesuchte Person geltend macht, dass von den Behörden des Ausstellungsstaats gegen ihre Grundrechte verstoßen werden wird.

3.        Ich werde in den vorliegenden Schlussanträgen zu der Ansicht kommen, dass in den Bestimmungen des Abkommens über Handel und Zusammenarbeit über Übergabeverfahren ein hohes Maß an Vertrauen zwischen der Europäischen Union und dem Vereinigten Königreich in ihre jeweiligen Rechtsordnungen verankert ist und die vollstreckende Justizbehörde zwar in bestimmten Fällen die Vollstreckung eines Haftbefehls ablehnen kann, es jedoch in der vorliegenden Rechtssache keinen Grund dafür gibt, den Haftbefehl nicht zu vollstrecken.

II.    Rechtlicher Rahmen

4.        Das Abkommen über Handel und Zusammenarbeit ist ein Assoziierungsabkommen auf der Grundlage von Art. 217 AEUV(3) und Art. 101 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft(4). Nach zunächst vorläufiger Anwendung ab dem 1. Januar 2021(5) trat es nach seiner Ratifizierung durch die Europäische Union und das Vereinigte Königreich am 1. Mai 2021 in Kraft(6). Das Abkommen besteht aus sieben Teilen(7).

5.        Art. 5 („Privatrechte“) des Abkommens über Handel und Zusammenarbeit in Teil Eins(8) Titel II(9) des Abkommens lautet:

„(1)      Unbeschadet des Artikels SSC.67 des Protokolls über die Koordinierung der sozialen Sicherheit und – im Hinblick auf die Union – mit Ausnahme des Teils Drei dieses Abkommens sind die Bestimmungen dieses Abkommens sowie jedweder Zusatzabkommen weder dahin gehend auszulegen, dass sie andere Rechte oder Pflichten für Personen begründen als die zwischen den Vertragsparteien nach dem Völkerrecht geschaffenen Rechte oder Pflichten, noch dahin gehend, dass sie in den internen Rechtsordnungen der Vertragsparteien unmittelbar geltend gemacht werden können.

(2)      Eine Vertragspartei darf in ihrem Recht kein Klagerecht gegen die jeweils andere Vertragspartei vorsehen, das auf einem Verstoß dieser anderen Vertragspartei gegen dieses Abkommen oder gegen jedwedes Zusatzabkommen gründet.“

6.        Teil Drei betrifft die Zusammenarbeit im Bereich der Polizei und Justiz in strafrechtlichen Angelegenheiten.

7.        Art. 524 („Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten“) des Abkommens über Handel und Zusammenarbeit in Teil Drei Titel I(10) des Abkommens lautet:

„(1)      Die in diesem Teil vorgesehene Zusammenarbeit beruht auf der langjährigen Achtung der Vertragsparteien und der Mitgliedstaaten der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und des Schutzes der Grundrechte und ‑freiheiten des Einzelnen, wie sie unter anderem in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und in der Europäischen Menschenrechtskonvention niedergelegt sind, sowie auf der Bedeutung der internen Umsetzung der in dieser Konvention verankerten Rechte und Freiheiten.

(2)      Dieser Teil ändert nichts an der Verpflichtung zur Achtung der Grundrechte und Rechtsgrundsätze, wie sie insbesondere in der Europäischen Menschenrechtskonvention und – im Falle der Union und ihrer Mitgliedstaaten – in der [Charta] zum Ausdruck kommen.“

8.        Teil Drei Titel VII („Übergabe von Personen“) (Art. 596 bis 632) sieht eine Übergaberegelung zwischen den Mitgliedstaaten und dem Vereinigten Königreich vor. Diese Bestimmungen werden durch Anhang 43 ergänzt, der die Informationen aufführt, die in einem Haftbefehl enthalten sein müssen(11).

9.        Art. 599 Abs. 3 des Abkommens über Handel und Zusammenarbeit(12) lautet:

„Vorbehaltlich des Artikels 600, des Artikels 601 Absatz 1 Buchstaben b bis h und der Artikel 602, 603 und 604 darf ein Staat nicht die Vollstreckung eines Haftbefehls verweigern, der im Zusammenhang mit dem nachstehend aufgeführten Verhalten ausgestellt wurde, sofern dieses mit einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und Sicherung im Höchstmaß von mindestens zwölf Monaten bedroht ist:

a)      Verhalten jeder Person, die dazu beiträgt, dass eine Gruppe von Personen mit gleichem Ziel eine oder mehrere Straftat(en) im Bereich Terrorismus begeht, die in den Artikeln 1 und 2 des am 27. Januar 1977 in Straßburg geschlossenen Europäischen Übereinkommens zur Bekämpfung des Terrorismus genannt sind, oder Straftat(en) in Verbindung mit illegalem Handel mit Suchtstoffen und psychotropen Substanzen oder vorsätzliche Tötung, schwere Körperverletzung, Entführung, Freiheitsberaubung, Geiselnahme oder Vergewaltigung, auch wenn diese Person nicht an der tatsächlichen Begehung der fraglichen Straftat(en) beteiligt ist; dieser Beitrag muss vorsätzlich und in dem Bewusstsein erfolgen, dass die Beteiligung zur Verwirklichung der kriminellen Aktivitäten der Vereinigung beiträgt; oder

b)      Terrorismus gemäß der Definition in Anhang 45.“

10.      Art. 604 Buchst. c des Abkommens über Handel und Zusammenarbeit(13) bestimmt: „Liegen stichhaltige Gründe für die Annahme vor, dass eine tatsächliche Gefahr für den Schutz der Grundrechte der gesuchten Person besteht, kann die vollstreckende Justizbehörde gegebenenfalls zusätzliche Garantien für die Behandlung der gesuchten Person nach der Übergabe verlangen, bevor sie über die Vollstreckung des Haftbefehls entscheidet.“

III. Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

11.      Der Bezirksrichter (District Judge) der Magistrates’ Courts of Northern Ireland (erstinstanzliches Gericht für Strafsachen, Nordirland, Vereinigtes Königreich) erließ am 26. November 2021 vier Haftbefehle gegen MA wegen vier terroristischer Straftaten(14), die zwischen dem 18. und 20. Juli 2020 begangen worden sein sollen.

12.      Mit Urteil vom 24. Oktober 2022 und Beschlüssen vom 24. Oktober und 7. November 2022 ordnete der High Court (Hohes Gericht, Irland) die Übergabe von MA an das Vereinigte Königreich an und lehnte zugleich die Zulassung eines Rechtsmittels zum Court of Appeal (Berufungsgericht, Irland) ab.

13.      Mit Entscheidung vom 17. Januar 2023 ließ der Supreme Court (Oberstes Gericht) ein Rechtsmittel MAs gegen das vorgenannte Urteil und die vorgenannten Beschlüsse des High Court (Hohes Gericht) zu.

14.      MA macht geltend, dass seine Übergabe mit dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit von Straftaten und Strafen unvereinbar sei.

15.      Das vorlegende Gericht weist insoweit darauf hin, dass nach dem Abkommen über Handel und Zusammenarbeit Übergabemechanismen zwischen dem Vereinigten Königreich und den Mitgliedstaaten gelten. Nach den anwendbaren irischen Rechtsvorschriften und dem Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates(15) sei das Vereinigte Königreich so zu behandeln, als wäre es ein Mitgliedstaat.

16.      Das vorlegende Gericht führt an, dass sich für den Fall der Übergabe MAs an das Vereinigte Königreich und seiner Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe sein Anspruch auf vorzeitige Haftentlassung nach Rechtsvorschriften des Vereinigten Königreichs richten würde, die nach Begehung der mutmaßlichen Straftaten, die Gegenstand des gegen ihn geführten Strafverfahrens seien, erlassen worden sein.

17.      Die Regelung, nach der eine vorzeitige Haftentlassung unter Auflagen in Nordirland zugelassen werde, sei nämlich mit Wirkung vom 30. April 2021 geändert worden. Vor dieser Änderung habe für eine wegen bestimmter Straftaten im Zusammenhang mit dem Terrorismus verurteilte Person nach Verbüßung der Hälfte ihrer Strafe automatisch die Möglichkeit einer vorzeitigen Haftentlassung bestanden. Nach der ab dem vorgenannten Zeitpunkt geltenden Regelung bedürfe die vorzeitige Haftentlassung unter Auflagen für eine solche Person der Genehmigung durch eine besondere Behörde und sei erst möglich, nachdem die betreffende Person zwei Drittel ihrer Strafe verbüßt habe.

18.      Das vorlegende Gericht weist insoweit darauf hin, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR) die Auffassung zurückgewiesen habe, dass rückwirkende Änderungen von Regelungen über einen Straferlass oder eine vorzeitige Entlassung einen Verstoß gegen Art. 7 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) darstellten. Nach der vom EGMR im Urteil Del Río Prada/Spanien(16) vertretenen Auffassung könnten während der Vollstreckung einer Strafe getroffene Maßnahmen jedoch Auswirkungen auf ihren Umfang haben. Es sei daher für die Entscheidung über den Ausgangsrechtsstreit von wesentlicher Bedeutung, die genauen Wirkungen des vorgenannten Urteils zu klären.

19.      Die Vereinbarkeit der in Rede stehenden Rechtsvorschriften des Vereinigten Königreichs mit der EMRK sei von den Gerichten des Vereinigten Königreichs überprüft worden. So habe der Supreme Court (Oberstes Gericht, Vereinigtes Königreich) mit Urteil vom 19. April 2023 entschieden, dass die Anwendung der Regelung auf vor ihrem Inkrafttreten begangene Straftaten mit Art. 7 EMRK nicht unvereinbar sei, da durch die Regelung lediglich die Art und Weise geändert worden sei, wie die Freiheitsstrafen der betreffenden Personen zu verbüßen seien, ohne die Dauer dieser Strafen zu verlängern.

20.      Insoweit hat das vorlegende Gericht das Vorbringen MAs, dass die Gefahr eines Verstoßes gegen diese Rechte bestehe, unter Verweis insbesondere auf die Garantien abgelehnt, die im Justizsystem des Vereinigten Königreichs in Bezug auf die Anwendung der EMRK beständen, da kein Systemfehler dargelegt worden sei, der im Fall einer Übergabe einen wahrscheinlichen und offenkundigen Verstoß gegen die durch die EMRK garantierten Rechte nahelegen würde, und da MA die Möglichkeit offenstehe, Klage beim EGMR zu erheben.

21.      Das vorlegende Gericht hält jedoch für klärungsbedürftig, ob dies entsprechend auch für die Gefahr eines Verstoßes gegen Art. 49 Abs. 1 der Charta angenommen werden könne.

22.      Insoweit müsse, da Art. 49 Abs. 1 der Charta Art. 7 EMRK entspreche, beiden Bestimmungen nach Art. 52 Abs. 3 der Charta grundsätzlich die gleiche Tragweite zugemessen werden. Möglicherweise könne daher ohne weitere Prüfung auf die für Art. 7 EMRK angeführte Begründung verwiesen werden. Der Gerichtshof habe jedoch zu den Auswirkungen von Art. 49 der Charta in Bezug auf eine Änderung der Bestimmungen über die vorzeitige Haftentlassung unter Auflagen noch nicht Stellung genommen.

23.      Da ferner der Vollstreckungsstaat zur Übergabe der gesuchten Person verpflichtet sei, müsse geprüft werden, ob dieser Staat die Zuständigkeit für die Entscheidung über das Vorbringen einer Unvereinbarkeit von Art. 49 Abs. 1 der Charta mit Bestimmungen über Strafen, die im Ausstellungsstaat wahrscheinlich Anwendung finden würden, habe, soweit dieser Staat nicht zur Einhaltung der Charta verpflichtet sei; der Gerichtshof habe hohe Anforderungen an die Berücksichtigung der Gefahr eines Verstoßes gegen Grundrechte im Ausstellungsstaat gestellt.

24.      Das vorlegende Gericht hält daher für erforderlich, den Gerichtshof nach den Kriterien zu befragen, nach denen die vollstreckende Justizbehörde zu prüfen hat, ob der Vollstreckungsstaat den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Strafen wahrt und ob die Gefahr eines Verstoßes gegen diesen Grundsatz besteht, wenn der Übergabe weder die nationale Verfassung noch die EMRK entgegenstehen.

25.      Vor diesem Hintergrund hat der Supreme Court (Oberstes Gericht, Irland) mit Beschluss vom 7. März 2024, beim Gerichtshof eingegangen am 14. März 2024, beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Im Hinblick auf die Beantragung einer Übergabe von Personen im Zusammenhang mit der Verfolgung terroristischer Straftaten nach dem Abkommen über Handel und Zusammenarbeit (in dem die Bestimmungen des Rahmenbeschlusses 2002/584 enthalten sind) und in Bezug auf das Bemühen des Betroffenen, der Übergabe mit der Begründung zu widersprechen, es handele sich dabei um einen Verstoß gegen Art. 7 EMRK und Art. 49 Abs. 2 der Charta, da nach dem Zeitpunkt der mutmaßlichen Straftat, in Bezug auf die die Übergabe des Betroffenen verlangt werde, ein Rechtsetzungsakt erlassen worden sei, mit dem sowohl in Bezug auf den Teil der Strafe, der in Form von Haft zu verbüßen sei, als auch hinsichtlich der Bedingungen für eine vorzeitige Haftentlassung unter Auflagen Änderungen vorgenommen worden seien, und im Hinblick auf folgende Erwägungen:

i)      Der ersuchende Staat (hier das Vereinigte Königreich) ist Vertragspartei der EMRK und hat die EMRK durch den Human Rights Act, 1998 (Menschenrechtsgesetz von 1998) in sein nationales Recht umgesetzt.

ii)      Die Anwendung der fraglichen Maßnahmen auf Häftlinge, die bereits eine von einem Gericht verhängte Strafe verbüßen, wurde von den Gerichten des Vereinigten Königreichs (einschließlich des Supreme Court of the United Kingdom [Oberstes Gericht des Vereinigten Königreichs]) für mit der EMRK vereinbar erklärt.

iii)      Es steht jeder Person, so auch dem Betroffenen im Fall einer Übergabe, frei, den EGMR anzurufen.

iv)      Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass eine Entscheidung des EGMR vom ersuchenden Staat nicht umgesetzt würde.

v)      Der Supreme Court (Oberstes Gericht) ist daher überzeugt, dass nicht erwiesen ist, dass eine Übergabe die konkrete Gefahr eines Verstoßes gegen Art. 7 EMRK oder gegen die irische Verfassung (Constitution) birgt.

vi)      Es wird nicht behauptet, dass Art. 19 der Charta einer Übergabe entgegenstehe.

vii)      Art. 49 der Charta gilt nicht für das Verfahren, das zur Verurteilung oder Bestrafung führt.

viii)      Gründe zur Annahme, es bestehe ein nennenswerter Unterschied in der Anwendung von Art. 7 EMRK und Art. 49 der Charta, wurden nicht vorgetragen.

Ist ein Gericht, dessen Entscheidungen nicht mehr im Sinne von Art. 267 Abs. 3 AEUV angefochten werden können, unter Berücksichtigung von Art. 52 Abs. 3 der Charta und der Verpflichtung zum gegenseitigen Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten und denjenigen, die nach dem Abkommen über Handel und Zusammenarbeit verpflichtet sind, eine Übergabe nach den Bestimmungen zum Europäischen Haftbefehl zu bewirken, zu der Schlussfolgerung berechtigt, dass die gesuchte Person nicht nachgewiesen hat, dass ihre Übergabe die konkrete Gefahr eines Verstoßes gegen Art. 49 Abs. 2 der Charta birgt, oder ist ein solches Gericht verpflichtet, weitere Untersuchungen anzustellen, und falls ja, welcher Art und in welchem Umfang?

IV.    Verfahren vor dem Gerichtshof

26.      Mit gesondertem Schriftsatz vom 25. März 2024 hat der Supreme Court (Oberstes Gericht) beantragt, die vorliegende Rechtssache dem beschleunigten Verfahren nach Art. 105 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs zu unterwerfen.

27.      Nach Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung kann der Präsident des Gerichtshofs auf Antrag des vorlegenden Gerichts oder ausnahmsweise von Amts wegen, nach Anhörung des Berichterstatters und des Generalanwalts, entscheiden, eine Vorlage zur Vorabentscheidung einem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen, wenn die Art der Rechtssache ihre rasche Erledigung erfordert(17).

28.      Mit Beschluss vom 22. April 2024 hat der Präsident des Gerichtshofs nach Anhörung des Berichterstatters und des Generalanwalts dem Antrag des vorlegenden Gerichts stattgegeben, die vorliegende Vorlage zur Vorabentscheidung nach Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung einem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen. Der Präsident des Gerichtshofs hat seine Entscheidung darauf gestützt, dass die vom vorlegenden Gericht zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage in einer Rechtssache gestellt wird, die im Sinne von Art. 267 Abs. 4 AEUV eine inhaftierte Person betrifft. Außerdem kann die Antwort auf diese Frage angesichts der Art der Frage und der Umstände, unter denen sie gestellt wird, Auswirkungen auf die Aufrechterhaltung der Inhaftierung der betreffenden Person haben(18).

29.      Der Präsident des Gerichtshofs hat die Frist für die Einreichung schriftlicher Erklärungen auf den 7. Mai 2024 festgesetzt. Nach Art. 105 Abs. 2 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs wurde der Termin für die mündliche Verhandlung auf den 4. Juni 2024 festgesetzt.

30.      Die Parteien des Ausgangsverfahrens, die ungarische Regierung, die Europäische Kommission und die Regierung des Vereinigten Königreichs haben schriftliche Erklärungen eingereicht(19). Alle Beteiligten mit Ausnahme der ungarischen Regierung haben an der mündlichen Verhandlung vom 4. Juni 2024 teilgenommen.

V.      Würdigung

31.      Das vorlegende Gericht möchte mit seiner Frage im Wesentlichen geklärt wissen, ob die Justizbehörden eines Mitgliedstaats die Vollstreckung eines von einer Justizbehörde des Vereinigten Königreichs nach dem Abkommen über Handel und Zusammenarbeit zum Zweck der Strafverfolgung ausgestellten Haftbefehls mit der Begründung ablehnen können, dass die Gefahr eines Verstoßes gegen Art. 49 Abs. 1 der Charta bestehen könnte, da die gesuchte Person im Fall ihrer Verurteilung einer strengeren Regelung der vorzeitigen Haftentlassung als derjenigen unterliegen wird, die zum Zeitpunkt der Begehung der mutmaßlichen Straftat in Kraft war. Außerdem ersucht das vorlegende Gericht um Hinweise zu Art und Umfang der Prüfung, die vor der Entscheidung vorzunehmen ist, die Vollstreckung des betreffenden Haftbefehls aus diesem Grund abzulehnen.

A.      Vorbemerkungen

1.      Das Abkommen über Handel und Zusammenarbeit und die Charta als anwendbares Recht

32.      Zur Beantwortung der Frage werde ich zunächst ermitteln, welche Rechtsvorschriften auf die vorliegende Rechtssache Anwendung finden, und vor allem, welcher Auslegungs- und Rechtsprechungsmaßstab anzuwenden ist, und dann in der Sache darauf eingehen, welche Verpflichtungen nach diesen Regelungen für die vollstreckende Justizbehörde bestehen(20).

33.      Da die vier Haftbefehle(21) nach Inkrafttreten des Abkommens über Handel und Zusammenarbeit erlassen wurden, finden die Bestimmungen dieses Abkommens auf die vorliegende Rechtssache Anwendung. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass entgegen den Ausführungen des vorlegenden Gerichts der Rahmenbeschluss 2002/584 nicht anwendbar ist. Denn dieser Rahmenbeschluss i) war vor dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union anwendbar(22), ii) blieb während des anschließenden Übergangszeitraums anwendbar(23) und iii) galt anschließend für das Vereinigte Königreich nicht mehr.

34.      Außerdem ist die Charta anwendbar. Die vorliegende Rechtssache fällt in den Geltungsbereich des Unionsrechts im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta, da sie die Auslegung des Abkommens über Handel und Zusammenarbeit betrifft. Soweit die vom nationalen Gericht vorgelegte Frage sich auf die Pflichten einer (vollstreckenden) Justizbehörde eines Mitgliedstaats der Europäischen Union bezieht, muss diese Behörde, wenn sie im Geltungsbereich des Unionsrechts handelt, die Anforderungen der Charta beachten.

2.      Abwägung zwischen gegenseitigem Vertrauen und Grundrechtsschutz

a)      Allgemeine Erwägungen

35.      Jedes System zur Regelung einer grenzüberschreitenden Übergabe und Vollstreckung von Haftbefehlen steht vor der Problematik miteinander anscheinend im Konflikt stehender Interessen, die, damit das System funktioniert, in Einklang gebracht werden müssen. Zum einen ist die Wirksamkeit des Systems an sich zu berücksichtigen. Das Funktionieren eines Übergabeverfahrens setzt voraus, dass Haftbefehle vollstreckt werden. Hierfür ist erforderlich und wird vorausgesetzt, dass ein hohes Maß an gegenseitigem Vertrauen besteht, das rechtlich im sogenannten Grundsatz der „gegenseitigen Anerkennung“ zum Ausdruck kommt. Dieser Grundsatz setzt voraus, dass zwischen teilnehmenden Staaten im Hinblick auf ihre jeweiligen Rechtssysteme im Allgemeinen und die Wahrung der Grundrechte der Betroffenen im Besonderen eine weitgehende funktionale Gleichwertigkeit besteht. Zum anderen müssen eben diese Grundrechte gewahrt werden. Diese Verpflichtung gilt sowohl für die ausstellende als auch für die vollstreckende Justizbehörde.

36.      Regelmäßig sind in erster Linie die Grundrechte der gesuchten Person betroffen und die Staaten verpflichtet, diese Rechte zu schützen. Die Frage kann jedoch komplexer sein. Es kann Situationen geben, in denen (sowohl ausstellende als auch vollstreckende) Staaten mehrere Grundrechte wahren müssen, die nicht zwingend, aber möglicherweise miteinander im Konflikt stehen, so dass diese Grundrechte sorgfältig gegeneinander abgewogen werden müssen. Beispielsweise ist eine vollstreckende Justizbehörde selbstverständlich verpflichtet, auf die Achtung der Grundrechte der gesuchten Person im Ausstellungsstaat hinzuwirken. Gleichzeitig kann eben diese vollstreckende Justizbehörde gegebenenfalls verpflichtet sein, die sogenannte verfahrensrechtliche Seite des in Art. 2 der Charta(24) verankerten Rechts auf Leben zu gewährleisten, also zur Durchführung wirksamer Ermittlungen beizutragen, wenn das Recht einer Person auf Leben verletzt worden ist oder verletzt zu werden droht – was an sich schon eine rasche Übergabe an den Ausstellungsstaat rechtfertigt(25).

37.      Ein System, das die Vollstreckung von Haftbefehlen vorschreibt, wenn dies einen Verstoß gegen Grundrechte zur Folge hätte, ist weder vorstellbar noch, was das Unionsrecht angeht, mit der Charta vereinbar.

38.      Gegenseitiges Vertrauen ist weder absolut noch ein binärer Begriff. Es stellt vielmehr, wie von der Kommission in der mündlichen Verhandlung bildlich ausgedrückt, eine gleitende Skala dar. Es gibt verschiedene Formen und Permutationen gegenseitigen Vertrauens. Einfach ausgedrückt: Je größer das gegenseitige Vertrauen zwischen den Parteien, umso geringer ist das Maß der Kontrolle einer einen Haftbefehl vollstreckenden Justizbehörde darüber, ob sich im Einzelfall für die zu übergebende Person Fragen im Zusammenhang mit ihren Grundrechten stellen. Selbst in diesem Fall bedeutet gegenseitiges Vertrauen jedoch kein „blindes“ Vertrauen(26). Dies führt uns zum Rahmenbeschluss 2002/584.

b)      Rechtslage nach dem Rahmenbeschluss 2002/584

39.      Für unionsinterne Sachverhalte, d. h. Sachverhalte zwischen Mitgliedstaaten, ist im Blick zu behalten, dass für diese Fälle, wie vom Gerichtshof im Gutachten 2/13(27) bildlich ausgedrückt, die „wesentlichen Merkmale des Unionsrechts [gelten, die] zu einem strukturierten Netz von miteinander verflochtenen Grundsätzen, Regeln und Rechtsbeziehungen geführt [haben], das die [Europäische] Union selbst und ihre Mitgliedstaaten wechselseitig bindet sowie die Mitgliedstaaten untereinander, die nunmehr, in den Worten von Art. 1 Abs. 2 EUV, in die ‚Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas‘ eingebunden sind“(28). Diese rechtliche Konstruktion beruht auf der grundlegenden Prämisse, dass, wie in Art. 2 EUV bestimmt, jeder Mitgliedstaat mit allen anderen Mitgliedstaaten eine Reihe gemeinsamer Werte teilt – und anerkennt, dass sie sie mit ihm teilen –, auf die sich die Union gründet(29). Diese Prämisse impliziert und rechtfertigt die Existenz gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten bei der Anerkennung dieser Werte und damit bei der Beachtung des Unionsrechts, mit dem sie umgesetzt werden(30).

40.      Demnach findet sich das Höchstmaß an gegenseitigem Vertrauen in Bezug auf Übergabefälle im Rahmenbeschluss 2002/584 über den Europäischen Haftbefehl. Wie vom Gerichtshof regelmäßig bekräftigt(31), stellt insoweit nach dem sechsten Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses 2002/584 der Europäische Haftbefehl im strafrechtlichen Bereich die erste konkrete Verwirklichung des vom Europäischen Rat(32) als „Eckstein“ der justiziellen Zusammenarbeit qualifizierten Prinzips der gegenseitigen Anerkennung dar.

41.      Daraus folgt, dass die Hürde für eine vollstreckende Justizbehörde, einen Haftbefehl aus grundrechtlichen Gründen nicht zu vollstrecken, äußerst hoch ist. Somit können nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs vollstreckende Justizbehörden die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls nur aus den Gründen verweigern, die im Rahmenbeschluss 2002/584, wie er vom Gerichtshof ausgelegt wird, genannt sind, wobei die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls den Grundsatz darstellt, während die Ablehnung der Vollstreckung als Ausnahme ausgestaltet und eng auszulegen ist(33).

42.      Da indes nach Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 dieser nicht die Pflicht berührt, die durch die Charta garantierten Grundrechte zu achten, hat der Gerichtshof entschieden, dass die vollstreckende Justizbehörde, wenn die Gefahr besteht, dass die Grundrechte verletzt werden, befugt sein kann, einen Europäischen Haftbefehl nach angemessener Prüfung ausnahmsweise nicht zu vollstrecken. Der Gerichtshof hat dies bisher bejaht für das in Art. 4 der Charta verankerte Recht, keiner unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden(34), das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf nach Art. 47 der Charta(35) und das durch die Art. 7 bzw. 24 der Charta garantierte Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens sowie den Schutz des Kindeswohls(36).

43.      Was die Methodik angeht, nach der die vollstreckende Justizbehörde das Vorliegen einer solchen Gefahr zu prüfen hat, verlangt der Gerichtshof von dieser Behörde regelmäßig eine zweistufige Prüfung. Es handelt sich um eine Prüfung auf der Grundlage verschiedener Kriterien, so dass diese Schritte sich nicht überschneiden dürfen und nacheinander vorzunehmen sind(37). Zu diesem Zweck muss die vollstreckende Justizbehörde im Rahmen eines ersten Schrittes ermitteln, ob es objektive, zuverlässige, genaue und gebührend aktualisierte Angaben gibt, die nahelegen, dass im Ausstellungsmitgliedstaat eine echte Gefahr der Verletzung dieser Grundrechte gegeben ist. Diese Anhaltspunkte können sich u. a. aus Entscheidungen internationaler Gerichte, aus Entscheidungen, Berichten und anderen Schriftstücken von Organen des Europarats oder aus dem System der Vereinten Nationen oder aus Informationen ergeben, die in den entsprechenden Datenbanken der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA) verzeichnet sind(38). Um das Beispiel eines angeblichen Verstoßes gegen die Art. 7 und 24 der Charta zu wählen, muss die vollstreckende Justizbehörde im Rahmen eines zweiten Schrittes konkret und genau untersuchen, inwieweit sich die im ersten Schritt der Prüfung festgestellten Mängel auf die Haftbedingungen der Person, gegen die sich ein Europäischer Haftbefehl richtet, oder die Betreuungsbedingungen ihrer Kinder auswirken können, und ob es in Anbetracht ihrer persönlichen Situation ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass diese Person oder ihre Kinder einer echten Gefahr der Verletzung dieser Grundrechte ausgesetzt sein werden(39).

44.      Außerdem hat der Gerichtshof in Bezug auf Art. 47 der Charta(40) und die Art. 7 und 24 der Charta klargestellt, dass eine zweistufige Prüfung auch dann durchzuführen ist, wenn die betreffende Person keine systemischen oder allgemeinen Mängel geltend macht(41). Dagegen hat der Gerichtshof entschieden, dass eine vollstreckende Justizbehörde auf der Grundlage von Art. 4 der Charta, ohne den ersten Schritt der zweistufigen Prüfung vornehmen zu müssen, verpflichtet sein kann, die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls gegen eine schwer kranke Person abzulehnen, soweit sie die Gefahr einer Verletzung dieses Artikels nicht ausschließen konnte(42).

c)      Rechtslage außerhalb des Rahmenbeschlusses 2002/584

45.      Um nun zum Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten der Union und Drittstaaten zu kommen, ist zunächst vorauszuschicken, dass das Verhältnis selbstverständlich nicht auf dem gleichen Maß an gegenseitigem Vertrauen beruht und auch nicht beruhen kann. Denn das allgemeine Rechtsverhältnis zwischen den Parteien ist naturgemäß weniger eng.

1)      Mitgliedstaaten – Island und Norwegen

46.      Island und Norwegen als zwei der drei Mitgliedstaaten des Europäischen Wirtschaftsraums haben mit der Europäischen Union ein Übereinkommen über ein Übergabeverfahren geschlossen(43). Wie aus der Präambel des Übereinkommens hervorgeht und wie vom Gerichtshof hervorgehoben, haben die Vertragsparteien des Übereinkommens ihr „gegenseitiges Vertrauen“ in die Struktur und die Funktionsweise ihrer Rechtssysteme sowie ihre Fähigkeit, ein faires Verfahren zu gewährleisten, zum Ausdruck gebracht(44).

47.      Um etwaige terminologische Zweifel auszuräumen, möchte ich betonen, dass, soweit mir ersichtlich, die Begriffe „mutual trust“ und „mutual confidence“ synonym verwendet werden. In den allermeisten Amtssprachen der Union wird in der Tat nur ein Begriff verwendet [im Deutschen: „gegenseitiges Vertrauen“]. Demnach ist dem Gerichtshof meines Erachtens zu empfehlen, angesichts dessen, dass i) alle Fassungen in den Amtssprachen der Union maßgebend sind, ii) so dass grundsätzlich allen Sprachfassungen einer Unionshandlung der gleiche Wert beizumessen ist(45), iii) die Auslegung einer Bestimmung des Unionsrechts somit einen Vergleich ihrer verschiedenen Sprachfassungen erfordert(46) und iv) die verschiedenen Sprachfassungen einer Bestimmung des Unionsrechts einheitlich auszulegen sind(47), nicht nach einem Unterschied zu suchen, soweit im Englischen von „mutual trust“ oder „mutual confidence“ die Rede ist.

48.      Zum Übergabeübereinkommen mit Island und Norwegen hat der Gerichtshof außerdem festgestellt, dass die Bestimmungen dieses Übereinkommens „den entsprechenden Bestimmungen des Rahmenbeschlusses 2002/584 sehr ähnlich“ sind(48).

49.      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof sich bei der Auslegung dieses Übereinkommens auf seine Auslegung der entsprechenden Bestimmungen des Rahmenbeschlusses 2002/584 stützt(49). Auch wenn es in dem Übereinkommen an einer Bestimmung fehlt, die einer grundlegenden Bestimmung des Rahmenbeschlusses 2002/584(50) entspricht, hat der Gerichtshof festgestellt, dass „die Vertragsstaaten des Übereinkommens über das Übergabeverfahren trotz des Fehlens einer entsprechenden ausdrücklichen Bestimmung in diesem Übereinkommen grundsätzlich verpflichtet sind, einen von einem anderen Vertragsstaat des Übereinkommens erlassenen Haftbefehl zu vollstrecken, und die Vollstreckung eines solchen Haftbefehls nur aus Gründen ablehnen können, die sich aus dem Übereinkommen ergeben“(51).

50.      Ferner hat der Gerichtshof im Kontext einer unionsinternen Übergabe, die inzident Norwegen betraf, die Beziehungen zwischen der Union und Norwegen als „privilegierte Beziehungen …, die über den Rahmen einer wirtschaftlichen und handelspolitischen Zusammenarbeit hinausgehen“, beschrieben(52). Dies wurde damit begründet, dass Norwegen „Vertragspartei des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum ist, sich am Gemeinsamen Europäischen Asylsystem beteiligt, den Schengen-Besitzstand umsetzt und anwendet und mit der Union das Übereinkommen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union und Island und Norwegen über das Übergabeverfahren geschlossen hat“(53).

51.      Bemerkenswert ist, dass der Gerichtshof sich zur Begründung seiner Ausführungen darauf stützt, dass Norwegen den Schengen-Besitzstand anwendet.  Meines Erachtens erklärt sich dies aus den Besonderheiten der in Rede stehenden Rechtssachen. Der Sachverhalt der Rechtssachen betraf jeweils sowohl einen Mitgliedstaat des EWR als auch einen unionsinternen Sachverhalt(54). Dagegen ist die vorliegende Rechtssache eindeutiger, da sie nur einen Mitgliedstaat (Irland) und einen Drittstaat (das Vereinigte Königreich) betrifft.

2)      Mitgliedstaaten – Drittstaaten

52.      In der dem Urteil Petruhhin(55) zugrunde liegenden Rechtssache war eine der Fragen, welche Kriterien die vollstreckende Justizbehörde in einem nach Art. 51 Abs. 1 der Charta in den Geltungsbereich der Charta fallenden Sachverhalt(56) bei der Vollstreckung eines Auslieferungsersuchens eines Drittstaats anwenden konnte, mit dem die Union kein Auslieferungsabkommen geschlossen hatte(57).

53.      Unter Verweis auf die einschlägige Rechtsprechung des EGMR(58) entschied der Gerichtshof, dass die Existenz von Erklärungen und der Abschluss völkerrechtlicher Verträge, die grundsätzlich die Beachtung der Grundrechte gewährleisten, für sich genommen nicht ausreichen, um einen angemessenen Schutz vor der Gefahr von Misshandlungen sicherzustellen, wenn es vertrauenswürdige Quellen für Praktiken der Behörden – oder von diesen tolerierte Praktiken – gibt, die den Grundsätzen der EMRK offensichtlich zuwiderlaufen(59). Folglich, so der Gerichtshof weiter, ist die zuständige Behörde des ersuchten Mitgliedstaats, sofern sie über Anhaltspunkte dafür verfügt, dass eine echte Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung von Personen im ersuchenden Drittstaat besteht, verpflichtet, das Vorliegen dieser Gefahr zu würdigen, wenn sie über die Auslieferung einer Person in den Drittstaat zu entscheiden hat(60). Dabei muss sich die zuständige Behörde des ersuchten Mitgliedstaats auf objektive, zuverlässige, genaue und gebührend aktualisierte Angaben stützen. Diese Angaben können sich u. a. aus Entscheidungen internationaler Gerichte wie Urteilen des EGMR, aus Entscheidungen von Gerichten des ersuchenden Drittstaats sowie aus Entscheidungen, Berichten und anderen Schriftstücken von Organen des Europarats oder aus dem System der Vereinten Nationen ergeben(61).

54.      Nach meinem Verständnis ist die vom Gerichtshof im Urteil Petruhhin verlangte Prüfung weniger eng und streng als die zweistufige Prüfung nach dem Rahmenbeschluss 2002/584. Maßgebend sind die konkreten Umstände des Einzelfalls und nicht notwendigerweise etwaige Mängel des Rechtssystems des Ausstellungsstaats im Allgemeinen.

B.      Das Abkommen über Handel und Zusammenarbeit

1.      Rechtsgrundlage, Ziel und allgemeine Systematik

55.      Wie in den vorliegenden Schlussanträgen im Abschnitt über den rechtlichen Rahmen kurz dargestellt, handelt es sich beim Abkommen über Handel und Zusammenarbeit um ein Assoziierungsabkommen auf der Grundlage von Art. 217 AEUV(62). Es wurde als „nur von der Union geschlossenes“, nicht als gemischtes, Abkommen geschlossen, so dass die Mitgliedstaaten nicht Vertragsparteien sind.

56.      Die wohl entscheidende Frage für die Bestimmungen jedes internationalen Abkommens ist, ob (einige) seine(r) Bestimmungen unmittelbare Wirkung haben, d. h. ob sie von Einzelpersonen vor nationalen Gerichten (oder Unionsgerichten) geltend gemacht werden können. Der Gerichtshof entscheidet über diese Frage in der Regel auf der Grundlage einer Prüfung von Sinn, allgemeiner Systematik und Wortlaut der Bestimmungen der in Rede stehenden internationalen Übereinkunft(63). Was die Bestimmungen über die „Übergabe“ in Teil Drei Titel VII des Abkommens über Handel und Zusammenarbeit betrifft, lässt sich diese Frage meines Erachtens im Wege einer Prüfung von Art. 5 Abs. 1 des Abkommens über Handel und Zusammenarbeit und der Anwendung eines Umkehrschlusses beantworten. Nach Art. 5 Abs. 1 des Abkommens über Handel und Zusammenarbeit sind – im Hinblick auf die Europäische Union – mit Ausnahme des Teils Drei des Abkommens über Handel und Zusammenarbeit(64) die Bestimmungen des Abkommens sowie jedweder Zusatzabkommen weder dahin gehend auszulegen, dass sie andere Rechte oder Pflichten für Personen begründen als die zwischen den Vertragsparteien nach dem Völkerrecht geschaffenen Rechte oder Pflichten, noch dahin gehend, dass sie in den internen Rechtsordnungen der Vertragsparteien unmittelbar geltend gemacht werden können. Da Teil Drei des Abkommens über Handel und Zusammenarbeit ausdrücklich ausgenommen ist, gibt es keinen Grund für die Annahme, dass seine Bestimmungen, soweit sie die üblichen Kriterien der unmittelbaren Wirkung erfüllen, keine unmittelbare Wirkung innerhalb der Unionsrechtsordnung haben sollten.

57.      Wie sich nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs aus Art. 216 Abs. 2 AEUV ergibt, ist das Abkommen über Handel und Zusammenarbeit als internationale Übereinkunft, die von der Union geschlossen wurde, für die Union verbindlich und ab seinem Inkrafttreten integraler Bestandteil der Rechtsordnung der Union(65). Bei der Auslegung internationaler Übereinkünfte legt der Gerichtshof besondere Betonung auf die Ziele einer Übereinkunft. Nach ständiger Rechtsprechung ist somit ein völkerrechtlicher Vertrag nicht nur nach seinem Wortlaut, sondern auch im Licht seiner Ziele auszulegen(66). Entscheidend ist, dass die wörtliche Übereinstimmung der Bestimmungen einer Übereinkunft mit den entsprechenden unionsrechtlichen Bestimmungen nicht bedeutet, dass beide notwendigerweise gleich auszulegen sind(67).

58.      Das Ziel des Abkommens über Handel und Zusammenarbeit ist in Art. 1 dahin definiert, dass mit ihm die Grundlage für umfassende Beziehungen zwischen der Europäischen Union und dem Vereinigten Königreich in einem Raum des Wohlstands und der guten Nachbarschaft geschaffen wird, der sich durch enge, friedliche Beziehungen auf der Grundlage der Zusammenarbeit auszeichnet und die Autonomie und Souveränität der Vertragsparteien wahrt. Weiter bestimmt Art. 3 des Abkommens über Handel und Zusammenarbeit, dass die Vertragsparteien sich gegenseitig in vollem gegenseitigem Respekt und nach Treu und Glauben bei der Erfüllung der Aufgaben, die sich aus diesem Abkommen ergeben, unterstützen. Nach Art. 4 Abs. 1 des Abkommens erfolgt seine Auslegung nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit seiner gewöhnlichen, ihm im Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Licht des Zieles und Zweckes des Abkommens nach den gewohnheitsrechtlichen Auslegungsregeln des Völkerrechts, einschließlich der im Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge kodifizierten Regeln(68). Klarstellend wird angemerkt, dass weder das Abkommen über Handel und Zusammenarbeit noch jedwede Zusatzabkommen eine Verpflichtung begründen, die darin enthaltenen Bestimmungen im Einklang mit dem internen Recht einer der Vertragsparteien auszulegen(69); ebenso ist die Auslegung des Abkommens über Handel und Zusammenarbeit oder jedweder Zusatzabkommen durch die Gerichte einer der Vertragsparteien für die Gerichte der anderen Vertragspartei nicht bindend(70).

59.      Ohne auf die entsprechenden Bestimmungen des EU-Vertrags und des AEU‑Vertrags im Einzelnen einzugehen, zeigt sich von vornherein, dass dieses Ziel, was den mit ihm verfolgten Anspruch und die mit ihm verfolgte Absicht angeht, weit von dem entfernt ist, was in der Präambel und den ersten Artikeln des EU-Vertrags und des AEU‑Vertrags geregelt ist.

60.      Aus den daran anschließenden Teilen des Abkommens über Handel und Zusammenarbeit tritt jedoch bei Lektüre seiner wesentlichen Bestimmungen ein Maß an Anspruch hervor, das erheblich über das hinausgeht, was in seinen einleitenden Artikeln angedeutet wird. So enthält Teil Drei über Zusammenarbeit im Bereich der Polizei und Justiz in strafrechtlichen Angelegenheiten(71), insbesondere Teil Drei Titel VII über die Übergabe von Personen, eingehende Regelungen mit gegenseitigen Rechten und Pflichten der Europäischen Union und des Vereinigten Königreichs.

61.      Erstens bestimmt Art. 524 des Abkommens über Handel und Zusammenarbeit(72) für den gesamten Teil Drei des Abkommens, dass i) die in Teil Drei des Abkommens über Handel und Zusammenarbeit vorgesehene Zusammenarbeit auf der langjährigen Achtung der Vertragsparteien und der Mitgliedstaaten der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und des Schutzes der Grundrechte und ‑freiheiten des Einzelnen, wie sie unter anderem in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und in der EMRK niedergelegt sind, sowie auf der Bedeutung der internen Umsetzung der in dieser Konvention verankerten Rechte und Freiheiten beruht und ii) Teil Drei des Abkommens nichts an der Verpflichtung zur Achtung der Grundrechte und Rechtsgrundsätze ändert, wie sie insbesondere in der EMRK und – im Fall der Union und ihrer Mitgliedstaaten – in der Charta zum Ausdruck kommen.

62.      Soweit eine solche Bezeichnung für eine von der Europäischen Union und einem Drittstaat geschlossene internationale Übereinkunft zulässig ist, handelt es sich bei Art. 524 des Abkommens über Handel und Zusammenarbeit um eine Bestimmung von verfassungsrechtlicher Bedeutung. Die Zusammenarbeit im Bereich der Polizei und Justiz in strafrechtlichen Angelegenheiten ist naturgemäß ein Rechtsgebiet, das an sich schon Grundrechte berührt. Dass die Europäische Union und das Vereinigte Königreich ihre gegenseitige Verpflichtung zu Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und den Grundrechten bekräftigen, sendet ein starkes Signal dafür aus, wie eng die Zusammenarbeit nach Teil Drei des Abkommens über Handel und Zusammenarbeit ist, und dient für diesen Teil in seiner Gesamtheit als Auslegungsmaßstab.

2.      Die Übergabemechanismen nach dem Abkommen über Handel und Zusammenarbeit

63.      Das Ziel von Teil Drei Titel VII des Abkommens über Handel und Zusammenarbeit wird in Art. 596 dieses Abkommens dahin umschrieben, sicherzustellen, dass das Auslieferungssystem zwischen den Mitgliedstaaten einerseits und dem Vereinigten Königreich andererseits auf dem Mechanismus der Übergabe beruht.

64.      Da in dieser Bestimmung die Begriffe „Auslieferung“ und „Übergabe“ verwendet werden, ist eine ganz kurze terminologische Anmerkung angebracht. Im Unionsrecht bezieht sich der Begriff „Übergabe“ nach dem Rahmenbeschluss 2002/584 auf einen Sachverhalt zwischen zwei Mitgliedstaaten, wohingegen der Begriff „Auslieferung“ sich im Allgemeinen auf einen Sachverhalt zwischen einem Mitgliedstaat und einem Drittstaat bezieht(73). Sind diese Drittstaaten jedoch eng mit der Union verbunden, wie etwa Mitgliedstaaten des Europäischen Wirtschaftsraums, wird der Begriff „Übergabeverfahren“ verwendet(74). Dies gilt auch für das Abkommen über Handel und Zusammenarbeit. In Titel VII ist regelmäßig von der „Übergabe von Personen“ die Rede, wenn es um einen Sachverhalt zwischen Mitgliedstaaten und dem Vereinigten Königreich geht, und von „Auslieferung“, wenn es um einen Sachverhalt zwischen den Mitgliedstaaten oder dem Vereinigten Königreich und einem Drittstaat geht(75). Warum ist dann in Art. 596 des Abkommens über Handel und Zusammenarbeit sowohl von Auslieferung als auch von Übergabe die Rede? Meine Erklärung hierfür ist, dass der Begriff „Auslieferung“ als der Standardbegriff des Völkerrechts angesehen wird, wohingegen der Begriff „Übergabe“ für die oben genannten Fälle gilt, an denen die Europäische Union und einige der ihr am nächsten stehenden Partner beteiligt sind(76).

65.      Art. 599 des Abkommens über Handel und Zusammenarbeit regelt den Anwendungsbereich des Übergabemechanismus und legt fest, wann ein Haftbefehl ausgestellt werden kann. Nach Art. 599 Abs. 1 des Abkommens über Handel und Zusammenarbeit kann ein Haftbefehl bei Handlungen erlassen werden, die nach den Rechtsvorschriften des Ausstellungsstaats mit einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und Sicherung im Höchstmaß von mindestens zwölf Monaten bedroht sind, oder im Fall einer Verurteilung zu einer Strafe oder der Anordnung einer freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und Sicherung, deren Maß mindestens vier Monate beträgt. Ferner darf nach Art. 599 Abs. 3 und vorbehaltlich insbesondere der Art. 600, Art. 601 Abs. 1 Buchst. b bis h und Art. 604 des Abkommens über Handel und Zusammenarbeit ein Staat die Vollstreckung eines Haftbefehls, der u. a. terroristische Straftaten betrifft, nicht verweigern, sofern diese Straftaten mit einer Freiheitsstrafe von mindestens zwölf Monaten bedroht sind.

66.      Die Art. 600 und 601 des Abkommens über Handel und Zusammenarbeit regeln eine Reihe von zwingenden(77) und fakultativen(78) Gründen für die Ablehnung der Vollstreckung eines Haftbefehls. Ebenso wie in den entsprechenden Bestimmungen des Rahmenbeschlusses 2002/584(79) bezieht sich keiner dieser Gründe unmittelbar auf Grundrechte im Allgemeinen, geschweige denn auf Art. 49 Abs. 1 der Charta im Besonderen.

67.      Nach Art. 604 Buchst. c des Abkommens über Handel und Zusammenarbeit kann die Vollstreckung eines Haftbefehls durch eine vollstreckende Justizbehörde an die Bedingung geknüpft werden, dass in dem Fall, dass stichhaltige Gründe für die Annahme vorliegen, dass eine tatsächliche Gefahr für den Schutz der Grundrechte der gesuchten Person besteht, die vollstreckende Justizbehörde gegebenenfalls zusätzliche Garantien für die Behandlung der gesuchten Person nach der Übergabe verlangen kann, bevor sie über die Vollstreckung des Haftbefehls entscheidet.

68.      Art. 613 des Abkommens über Handel und Zusammenarbeit regelt Entscheidungen über die Übergabe. Nach Abs. 1 dieser Bestimmung entscheidet die vollstreckende Justizbehörde über die Übergabe der betreffenden Person nach Maßgabe dieses Titels und innerhalb der darin vorgesehenen Fristen, insbesondere nach Maßgabe des in Art. 597 festgelegten Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes(80). Nach Art. 613 Abs. 2 des Abkommens über Handel und Zusammenarbeit bittet die vollstreckende Justizbehörde in dem Fall, dass sie der Ansicht ist, dass die vom Ausstellungsstaat übermittelten Informationen nicht ausreichen, um über die Übergabe entscheiden zu können, um die unverzügliche Übermittlung der notwendigen zusätzlichen Informationen insbesondere hinsichtlich des Art. 597, der Art. 600 bis 602 sowie der Art. 604 und 606; sie kann unter Beachtung der Frist nach Art. 615 eine Frist für den Erhalt dieser zusätzlichen Informationen festsetzen.

69.      Bemerkenswert ist, dass keine Bestimmung Art. 1 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 unmittelbar entspricht(81). Dies ändert jedoch nichts daran, dass eine allgemeine implizite Verpflichtung der Behörden besteht, einen auf der Grundlage des Abkommens über Handel und Zusammenarbeit ausgestellten Haftbefehl zu vollstrecken. Nach meinem Verständnis beruhen alle Bestimmungen in Teil Drei Titel VII des Abkommens über Handel und Zusammenarbeit auf dieser Prämisse.

70.      Die Bestimmungen von Teil Drei Titel VII des Abkommens über Handel und Zusammenarbeit sind von einem hohen Maß an Vertrauen zwischen der Europäischen Union und dem Vereinigten Königreich hinsichtlich der Verpflichtung zur Wahrung der Grundrechte geprägt. Das gegenseitige Vertrauen darin, dass Grundrechte bisher geschützt wurden und weiter und auch künftig geschützt werden, durchzieht den gesamten Text(82).

71.      Aus diesem knappen und keineswegs vollständigen Überblick über einige der wichtigsten Bestimmungen von Teil Drei Titel VII des Abkommens über Handel und Zusammenarbeit folgt, dass die Europäische Union und das Vereinigte Königreich ein Übergabesystem geschaffen haben, das von großer Nähe und einem hohen Maß an gegenseitigem Vertrauen geprägt ist. Das vorlegende Gericht ist in der Tat der Auffassung, dass die in Teil Drei Titel VII des Abkommens über Handel und Zusammenarbeit enthaltenen Bestimmungen „den im Rahmenbeschluss [2002/584] vorgesehenen [Übergabe]regelungen [entsprechen]“(83).

72.      Diese Feststellung des vorlegenden Gerichts berührt den Wesensgehalt der vorliegenden Rechtssache und rechtfertigt an dieser Stelle ein Wort der Vorsicht. Auch wenn der überwiegende Teil der in Teil Drei Titel VII des Abkommens über Handel und Zusammenarbeit enthaltenen Bestimmungen denjenigen des Rahmenbeschlusses 2002/584 insofern ähnelt, als sie identisch formuliert sind, gibt es Punkte, in denen sich die beiden Texte unterscheiden(84); ein eklatantes Beispiel hierfür ist der Punkt der politischen Straftaten(85).

3.      Pflichten der vollstreckenden Justizbehörde

73.      Dies führt uns zum Kern der vorliegenden Rechtssache, nämlich der Frage nach den Verpflichtungen der vollstreckenden Justizbehörde im Hinblick auf die Achtung der Grundrechte durch die Behörden des Ausstellungsstaats. Hierzu sind folgende Anmerkungen zu machen.

74.      Erstens ist in Anbetracht dessen, dass der in Rede stehende Sachverhalt nach Art. 51 Abs. 1 der Charta in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt, die vollstreckende Justizbehörde, die über die Vollstreckung eines Haftbefehls entscheidet, an die Charta gebunden, da sie sicherstellen muss, dass die Übergabe der gesuchten Person nicht zu einem Verstoß gegen ihre Rechte aus der Charta führt.

75.      Zweitens muss die vollstreckende Justizbehörde diese Prüfung nur dann vornehmen, wenn ein solcher Ausnahmefall eines Verstoßes gegen Grundrechte von der Person, gegen die der Haftbefehl erlassen wurde, geltend gemacht wird.

76.      Drittens ist es meines Erachtens müßig, den Versuch zu unternehmen, die seit dem Urteil Aranyosi und Căldăraru(86) auf unionsinterne Sachverhalte anwendbare zweistufige Prüfung eins zu eins auf das mit dem Rahmenbeschluss 2002/584 geschaffene System zu übertragen. Wie oben eingehend erläutert, beruht diese Prüfung in der Rechtsprechung auf dem Höchstmaß an gegenseitigem Vertrauen, das es innerhalb der Unionsrechtsordnung geben kann, nämlich demjenigen des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten der Union. Das Maß an gegenseitigem Vertrauen zwischen der Europäischen Union und dem Vereinigten Königreich ist hoch, aber nicht so hoch wie das Maß an Vertrauen, das dem Rahmenbeschluss 2002/584 zugrunde liegt.

77.      Viertens ist gegenseitiges Vertrauen kein binärer Begriff, sondern vielmehr eine gleitende Skala, und die einschlägigen Bestimmungen des Abkommens über Handel und Zusammenarbeit beruhen, wie oben ausgeführt, auf einem erheblichen Maß an gegenseitigem Vertrauen, das über das Vertrauen hinausgeht, das zwischen einem Mitgliedstaat und den allermeisten Drittstaaten besteht. Von der vollstreckenden Justizbehörde wird daher grundsätzlich erwartet, den Haftbefehl zu vollstrecken, und sie kann dies nur dann ablehnen, wenn konkrete Anhaltspunkte für eine echte Gefahr eines Verstoßes gegen Grundrechte vorliegen. Die Europäische Union und das Vereinigte Königreich haben durch die entsprechenden Bestimmungen des Abkommens über Handel und Zusammenarbeit ihr Vertrauen darin zum Ausdruck gebracht, dass die Europäische Union und das Vereinigte Königreich beide ihren Verpflichtungen in Bezug auf die Grundrechte nachkommen werden. Es besteht daher eine – widerlegliche – Vermutung dafür, dass die Grundrechte von den Vertragsparteien bis jetzt geschützt wurden und weiter und auch künftig geschützt werden.

78.      Insoweit schlage ich dem Gerichtshof vor, i) zunächst Kriterien anzuwenden, die mit denjenigen vergleichbar sind, die im Urteil Petruhhin(87) entwickelt wurden, jedoch ii) dabei vorauszusetzen, dass die vollstreckende Justizbehörde eine eigene Prüfung der geltend gemachten Grundrechte vornimmt.

79.      In der vorliegenden Rechtssache sind die irischen Behörden dann, wenn sie über Anhaltspunkte dafür verfügen sollten, dass eine echte Gefahr eines Verstoßes gegen Grundrechte im ersuchenden Drittstaat besteht, verpflichtet, diese Gefahr zu würdigen, wenn sie über die Auslieferung einer Person in den Drittstaat zu entscheiden haben. Dabei muss sich die vollstreckende Justizbehörde auf objektive, zuverlässige, genaue und gebührend aktualisierte Angaben stützen. Diese Angaben können sich u. a. aus Entscheidungen internationaler Gerichte, aus Entscheidungen des EGMR, Entscheidungen von Gerichten des ersuchenden Drittstaats sowie aus Entscheidungen, Berichten und anderen Schriftstücken von Organen des Europarats oder aus dem System der Vereinten Nationen ergeben. Die Existenz von Erklärungen und der Abschluss völkerrechtlicher Verträge, die die Beachtung der Grundrechte gewährleisten, ist allein grundsätzlich nicht ausreichend.

80.      Von entscheidender Bedeutung ist, darauf hinzuweisen, dass es nicht ausreicht, wenn die vollstreckende Justizbehörde sich lediglich darauf stützt, dass das Vereinigte Königreich nach seinem Austritt aus der Union weiterhin Mitglied der EMRK bleibt. Ebenso reicht ein lediglich formeller Verweis auf die Rechtsprechung der Gerichte des Vereinigten Königreichs nicht aus, um die Vereinbarkeit des Übergabeverfahrens mit dem betreffenden Grundrecht festzustellen. Es ist Sache der vollstreckenden Justizbehörde, eine eigene Prüfung vorzunehmen, um sich, bildlich gesprochen, ein eigenes Bild von der Vereinbarkeit einer Übergabe mit den Grundrechten zu machen. Dies beinhaltet, dass die vollstreckende Justizbehörde sich nicht darauf beschränken kann, die Existenz einschlägiger Urteile der Gerichte des Vereinigten Königreichs festzustellen. Auch wenn solche Urteile darauf hinweisen können, dass Grundrechte geachtet werden, muss die vollstreckende Justizbehörde gleichwohl ihre eigene Prüfung vornehmen und diese Frage ihrer eigenen „Subsumtion“ unterziehen.

C.      Art. 49 Abs. 1 der Charta

81.      Auch wenn mir selbstverständlich bewusst ist, dass es letztlich Sache des vorlegenden Gerichts ist, darüber zu entscheiden, ob in der vorliegenden Rechtssache die Gefahr eines Verstoßes gegen Art. 49 Abs. 1 der Charta besteht, bin ich durchaus der Ansicht, dass der Gerichtshof ausgehend von den ihm vorliegenden Informationen in der Lage ist, dem vorlegenden Gericht an dieser Stelle Hinweise zu geben.

82.      Im Blick zu behalten ist, dass die Regelung, nach der eine vorzeitige Haftentlassung unter Auflagen in Nordirland zugelassen wird, mit Wirkung vom 30. April 2021 geändert wurde. Vor dieser Änderung bestand für eine wegen bestimmter Straftaten im Zusammenhang mit dem Terrorismus verurteilte Person nach Verbüßung der Hälfte ihrer Strafe automatisch die Möglichkeit einer vorzeitigen Haftentlassung. Nach der ab dem vorgenannten Zeitpunkt geltenden Regelung bedarf die vorzeitige Haftentlassung unter Auflagen für eine solche Person der Genehmigung durch eine besondere Behörde und ist erst möglich, nachdem die betreffende Person zwei Drittel ihrer Strafe verbüßt hat.

83.      Fraglich ist, ob diese Änderung der Regelung der vorzeitigen Haftentlassung gegen das in Art. 49 Abs. 1 Satz 2 der Charta verankerte Rückwirkungsverbot verstößt.

84.      Nach Art. 49 Abs. 1 darf niemand wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt werden, die zur Zeit ihrer Begehung nach innerstaatlichem oder internationalem Recht nicht strafbar war. Ebenso darf keine schwerere Strafe als die zur Zeit der Begehung angedrohte Strafe verhängt werden. Wird nach Begehung einer Straftat durch Gesetz eine mildere Strafe eingeführt, so ist diese zu verhängen.

85.      Art. 49 der Charta enthält somit die Anforderungen an die Verhängung von Strafen. Diese Bestimmung enthält nicht (lediglich) Grundsätze im Sinne von Art. 52 Abs. 5 der Charta, sondern legt durchsetzbare Rechte fest(88).

86.      Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass Art. 49 der Charta dahin auszulegen ist, dass er dieselben Vorgaben enthält wie die, die sich aus Art. 7 EMRK ergeben(89), und damit die in den nicht verbindlichen, gleichwohl aber aussagekräftigen(90) Erläuterungen zur Charta enthaltenen Angaben bestätigt(91). Im Übrigen ist der Wortlaut von Art. 49 Abs. 1 Sätze 1 und 2 mit demjenigen von Art. 7 Abs. 1 EMRK identisch. Demnach kann die einschlägige Rechtsprechung des EGMR herangezogen werden(92).

87.      Insoweit ist meines Erachtens hervorzuheben, dass die in Art. 7 EMRK verankerte Garantie, die ein wesentliches Element der Rechtsstaatlichkeit darstellt, im Schutzsystem der EMRK eine herausragende Stellung einnimmt, was darin zum Ausdruck kommt, dass Art. 15 EMRK keine Abweichung zulässt(93).

88.      Wie vom vorlegenden Gericht selbst ausgeführt, hat der EGMR die Auffassung zurückgewiesen, dass rückwirkende Änderungen von Regelungen über einen Straferlass oder eine vorzeitige Entlassung einen Verstoß gegen Art. 7 EMRK darstellten, da diese Maßnahmen nicht Teil der „Strafe“ im Sinne dieses Artikels seien.

89.      Der Begriff „Strafe“ hat zwar eine eigenständige Bedeutung(94), der EGMR(95) unterscheidet in seiner Rechtsprechung jedoch zwischen einer Maßnahme, die an sich eine Strafe darstellt, und einer Maßnahme, die die Vollstreckung oder die Durchführung der Strafe betrifft. Wenn sich folglich die Art und der Zweck einer Maßnahme auf den Erlass einer Strafe oder die Änderung einer Regelung über eine vorzeitige Entlassung bezieht, ist dies nicht Teil der „Strafe“ im Sinne von Art. 7 EMRK(96).

90.      Insoweit führt das vorlegende Gericht an, dass der EGMR darauf hingewiesen habe, dass „die Abgrenzung zwischen einer Maßnahme, die eine Strafe (,penalty‘) darstellt, und einer Maßnahme, die deren Durchführung (,execution‘) oder Vollstreckung (,enforcement‘) betrifft, [möglicherweise in der Praxis] nicht immer klar gezogen“ sei und dass während der Vollstreckung einer Strafe getroffene Maßnahmen nicht nur die Art und Weise der Vollstreckung der Strafe betreffen, sondern vielmehr auch Auswirkungen auf ihren Umfang haben könnten. Das vorlegende Gericht verweist insoweit auf das Urteil Del Río Prada/Spanien. Das vorlegende Gericht stellt die Frage, ob und gegebenenfalls inwieweit jenes Urteil von der früheren Rechtsprechung des EGMR abweicht.

91.      Meines Erachtens stellt die vom nationalen Gericht angeführte Entscheidung des EGMR keine Abweichung von der langjährigen Rechtsprechung jenes Gerichtshofs zu Art. 7 Abs. 1 EMRK dar.

92.      Die angeführte Passage des Urteils Del Río Prada/Spanien bezieht sich auf die frühere ständige Rechtsprechung jenes Gerichtshofs. Folglich hat der EGMR bereits vor Ergehen jenes Urteils der Frage sehr große Aufmerksamkeit gewidmet, ob eine Maßnahme, die sich anscheinend auf die Durchführung oder Vollstreckung einer Strafe bezieht, in Wirklichkeit durchaus Auswirkungen auf den Umfang der Strafe hat. Mit anderen Worten bleibt meines Erachtens für die – von MA vertretene – Ansicht, dass das Urteil Del Río Prada/Spanien „im Vergleich zu der früheren Rechtsprechung des EGMR einen flexibleren Ansatz bei der Anwendung von Art. 7 [EMRK zeige]“, kein Raum(97).

93.      Im Urteil Del Río Prada/Spanien betrugen die Freiheitsstrafen, zu denen die Beschwerdeführerin, Frau del Río Prada, wegen zwischen 1982 und 1987 begangener Straftaten verurteilt wurde, mehr als 3 000 Jahre(98). Dies reduzierte sich anschließend nach dem spanischen Strafgesetzbuch von 1973 erheblich, das ein Höchstmaß der tatsächlichen Haft von 30 Jahren zuließ. Insoweit hatte die Beschwerdeführerin Anspruch auf bestimmte Straferlasse für Arbeit und Bildung während der Haft. Anschließend, d. h. nach Verurteilung der Beschwerdeführerin und ihrer Entlassung aus der Haft, führte das Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof, Spanien) eine neue Rechtslehre ein(99), wonach Straferlasse auf jede Einzelstrafe und nicht auf das Höchstmaß von 30 Jahren anzuwenden waren. Dies führte zu einer Verlängerung der Zeit, die zahlreiche Strafgefangene, darunter Frau del Río Prada, in Haft zu verbringen hatten, mit der Folge, dass der EGMR eine Verletzung von Art. 7 EMRK feststellte.

94.      Der EGMR maß dabei dem Umstand entscheidende Bedeutung zu, dass zum Zeitpunkt der Verurteilung der Beschwerdeführerin und zu dem Zeitpunkt, als ihr die Entscheidung über die Verbindung ihrer Strafen mitgeteilt und das Höchstmaß der Haftdauer gegen sie festgesetzt worden sei, nichts auf irgendeine erkennbare Entwicklung der Rechtsprechung nach Maßgabe des betreffenden Urteils des spanischen Obersten Gerichtshofs hingedeutet habe(100).

95.      Der Ausnahmecharakter des Urteils Del Río Prada/Spanien wird durch die spätere Entscheidung des EGMR in der Rechtssache Devriendt bestätigt(101). Dort wurde durch ein belgisches Gesetz bei Verurteilungen zu lebenslanger Freiheitsstrafe die Mindestschwelle für die vorzeitige Haftentlassung von zehn auf 15 Jahre angehoben(102). Diese Anhebung erfolgte zwischen der Begehung der Straftaten durch die betreffende Person und der (endgültigen) Verurteilung. Der EGMR grenzte jene Rechtssache ausdrücklich von dem Urteil Del Río Prada/Spanien ab und stellte fest, dass kein Verstoß gegen Art. 7 EMRK vorliege. Er stellte insbesondere fest, dass die betreffende vorzeitige Haftentlassung unter Auflagen eine Form der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe sei, bei der der Verurteilte die Strafe, vorbehaltlich der Einhaltung der für eine festgelegte Bewährungszeit verhängten Auflagen, außerhalb des Gefängnisses verbüße, und dass jene Rechtssache sich insoweit von dem Urteil Del Río Prada unterscheide, wo es um eine Reduzierung der zu verbüßenden Strafe und nicht lediglich um eine Reduzierung oder Anpassung der Vollstreckungsbedingungen gegangen sei(103). Er stellte weiter fest, dass mit der neuen Regelung zwar die zeitliche Schwelle für die Möglichkeit einer vorzeitigen Haftentlassung unter Auflagen angehoben werden solle, was zweifelsohne zu strengeren Haftbedingungen für den Beschwerdeführer führe, diese strengere Behandlung im Gegensatz zum Fall des Urteils Del Río Prada/Spanien jedoch die Gewährung einer vorzeitigen Haftentlassung unter Auflagen nicht unmöglich machen solle(104).

96.      Um festzustellen, ob eine während der Vollstreckung einer Strafe getroffene Maßnahme lediglich die Art der Durchführung der Strafe betrifft oder vielmehr Auswirkungen auf ihren Umfang hat, ist in jedem Einzelfall zu prüfen, was die „Strafe“ nach dem zum maßgeblichen Zeitpunkt geltenden innerstaatlichen Recht tatsächlich beinhaltete, oder, mit anderen Worten, welcher Art sie war. Dabei ist das innerstaatliche Recht in seiner Gesamtheit sowie die Art und Weise, wie es zum maßgeblichen Zeitpunkt angewendet wurde, zu berücksichtigen(105).

97.      Vorliegend ist meines Erachtens festzustellen, dass es keinerlei Hinweis darauf gibt, dass sich an den für die mutmaßlichen Taten angedrohten Strafen, nämlich der lebenslangen Freiheitsstrafe, von dem Zeitpunkt, zu dem die Tat begangen worden sein soll, bis zum heutigen Tag etwas geändert haben sollte.

98.      Im Übrigen ändert der Umstand, dass eine wegen bestimmter Straftaten im Zusammenhang mit dem Terrorismus verurteilte Person nach der geänderten Regelung, nach der eine vorzeitige Haftentlassung unter Auflagen in Nordirland zugelassen wird, nach Verbüßung der Hälfte ihrer Strafe nicht mehr automatisch die Möglichkeit einer vorzeitigen Haftentlassung hat, sondern dass für eine solche Person die vorzeitige Haftentlassung unter Auflagen der Genehmigung durch eine besondere Behörde bedarf und erst möglich ist, nachdem die betreffende Person zwei Drittel ihrer Strafe verbüßt hat, nichts daran, dass diese Person selbst im Fall ihrer vorzeitigen Haftentlassung unter Auflagen die Strafe weiter verbüßt.

99.      Im Ergebnis kann festgestellt werden, dass die Regelung, nach der eine vorzeitige Haftentlassung unter Auflagen zugelassen wird, nicht unter die Definition einer „Strafe“ im Sinne von Art. 49 Abs. 1 Satz 2 der Charta fällt und daher von dieser Bestimmung nicht erfasst ist.

100. Nach Art. 52 Abs. 3 der Charta haben, soweit die Charta Rechte enthält, die den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen, diese die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der EMRK verliehen wird. Dies steht dem nicht entgegen, dass das Unionsrecht einen weiter gehenden Schutz gewährt.

101. Soweit damit die Frage aufgeworfen wird, ob Art. 49 Abs. 1 der Charta einen weiteren Anwendungsbereich hat oder strengere Anforderungen vorsieht als Art. 7 Abs. 1 EMRK, sehe ich keinen Raum oder Grund für die Annahme, dass dies der Fall sein könnte. Insbesondere ist, wie von der Kommission hervorgehoben, keine den Mitgliedstaaten gemeinsame Verfassungsüberlieferung ersichtlich, nach der der Anwendungsbereich von Art. 49 Abs. 1 der Charta weiter wäre oder sein müsste als derjenige von Art. 7 Abs. 1 EMRK.

VI.    Ergebnis

102. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die vom Supreme Court (Oberstes Gericht, Irland) vorgelegte Frage wie folgt zu beantworten:

Ergeht an einen Mitgliedstaat nach den Bestimmungen von Teil Drei Titel VII des Abkommens über Handel und Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft einerseits und dem Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland andererseits ein Ersuchen des Vereinigten Königreichs um Übergabe einer gesuchten Person und wird geltend gemacht und werden Anhaltspunkte dafür vorgebracht, dass die Übergabe der gesuchten Person gegen ihre Rechte nach Art. 49 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verstoßen würde, sind die Justizbehörden des Mitgliedstaats

–        verpflichtet, eine eigene Würdigung der Frage vorzunehmen, ob durch die Übergabe die Rechte nach Art. 49 Abs. 1 der Charta der Grundrechte beeinträchtigt werden;

–        verpflichtet, sich dabei auf objektive, zuverlässige, genaue und gebührend aktualisierte Angaben zu stützen;

–        berechtigt, die Übergabe abzulehnen, wenn stichhaltige und nachgewiesene Gründe für die Annahme vorliegen, dass für die gesuchte Person eine echte Gefahr besteht, dass im Fall einer Übergabe gegen ihre durch Art. 49 Abs. 1 der Charta der Grundrechte garantierten Grundrechte verstoßen würde.

Der Umstand, dass die gesuchte Person im Fall ihrer Verurteilung einer strengeren Regelung der vorzeitigen Haftentlassung als derjenigen unterliegen wird, die zum Zeitpunkt der Begehung der mutmaßlichen Straftat in Kraft war, stellt allein als solcher keinen Verstoß gegen Art. 49 Abs. 1 der Charta der Grundrechte dar.


1      Originalsprache: Englisch.


i      Die vorliegende Rechtssache ist mit einem fiktiven Namen bezeichnet, der nicht dem echten Namen eines Verfahrensbeteiligten entspricht.


2      ABl. 2021, L 149, S. 10.


3      Beschluss (EU) 2021/689 des Rates vom 29. April 2021 über den Abschluss – im Namen der Union – des Abkommens über Handel und Zusammenarbeit und des Abkommens zwischen der Europäischen Union und dem Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland über die Sicherheitsverfahren für den Austausch und den Schutz von Verschlusssachen (ABl. 2021, L 149, S. 2).


4      Beschluss (Euratom) 2020/2253 des Rates vom 29. Dezember 2020 über die Zustimmung zum Abschluss – durch die Europäische Kommission – des Abkommens zwischen der Regierung des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland und der Europäischen Atomgemeinschaft über die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der sicheren und friedlichen Nutzung der Kernenergie und zum Abschluss – durch die Europäische Kommission im Namen der Europäischen Atomgemeinschaft – des Abkommens über Handel und Zusammenarbeit (ABl. 2020, L 444, S. 11).


5      Vgl. Art. 783 Abs. 2 des Abkommens über Handel und Zusammenarbeit.


6      Vgl. Art. 783 Abs. 1 des Abkommens über Handel und Zusammenarbeit und Mitteilung über das Inkrafttreten des Abkommens über Handel und Zusammenarbeit und des Abkommens zwischen der Europäischen Union und dem Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland betreffend Sicherheitsverfahren für den Austausch und den Schutz von Verschlusssachen (ABl. 2021, L 149, S. 2560).


7      Über gemeinsame und institutionelle Bestimmungen (Teil Eins), Handel, Verkehr, Fischerei und sonstige Regelungen (Teil Zwei), Zusammenarbeit im Bereich der Polizei und Justiz in strafrechtlichen Angelegenheiten (Teil Drei), thematische Zusammenarbeit (Teil Vier), Teilnahme an Programmen der Union, Grundsatz der Wirtschaftlichkeit der Haushaltsführung und Finanzbestimmungen (Teil Fünf), Streitbeilegung und horizontale Bestimmungen (Teil Sechs) und Schlussbestimmungen (Teil Sieben).


8      Gemeinsame und institutionelle Bestimmungen.


9      Auslegungsgrundsätze und Begriffsbestimmungen.


10      Allgemeine Bestimmungen.


11      Nach Art. 778 Abs. 2 Buchst. r des Abkommens über Handel und Zusammenarbeit ist Anhang 43 Bestandteil von Teil Drei Titel VII. Vgl. auch Art. 606 des Abkommens über Handel und Zusammenarbeit zu Inhalt und Form des Haftbefehls.


12      Art. 599 des Abkommens über Handel und Zusammenarbeit hat die Überschrift „Anwendungsbereich“.


13      Art. 604 des Abkommens über Handel und Zusammenarbeit hat die Überschrift „Vom Ausstellungsstaat in bestimmten Fällen zu gewährende Garantien“.


14      Bei den vier Straftatbeständen handelt es sich um Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung, Lenkung der Aktivitäten einer Organisation, die an der Begehung terroristischer Handlungen beteiligt ist, Zusammenwirken, um die Aktivitäten einer Organisation zu lenken, die auf die Begehung terroristischer Handlungen abzielt, und Vorbereitung terroristischer Handlungen.


15      Rahmenbeschluss vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2002, L 190, S. 1) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 (ABl. 2009, L 81, S. 24) geänderten Fassung (im Folgenden: Rahmenbeschluss 2002/584).


16      EGMR, 21. Oktober 2013, Del Río Prada/Spanien, CE:ECHR:2013:1021JUD004275009 (im Folgenden: Urteil Del Río Prada/Spanien).


17      Wenn ferner eine Rechtssache große Ungewissheit hervorruft, die Grundfragen des nationalen Verfassungsrechts und des Unionsrechts berührt, kann es in Anbetracht der besonderen Umstände einer solchen Rechtssache erforderlich sein, sie rasch zu erledigen. Vgl. Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 19. Oktober 2018, Wightman u. a. (C‑621/18, EU:C:2018:851, Rn. 10 und die dort angeführte Rechtsprechung).


18      Vgl. Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 22. April 2024, Alchaster (C‑202/24, EU:C:2024:343, Rn. 7).


19      Das Recht des Vereinigten Königreichs auf Beitritt zum Verfahren und Beteiligung am Verfahren ist in Art. 90 Abs. 1 des Abkommens über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft (ABl. 2020, L 29, S. 7; im Folgenden: Austrittsabkommen) geregelt, das vom Rat der Europäischen Union durch den Beschluss (EU) 2020/135 vom 30. Januar 2020 (ABl. 2020, L 29, S. 1) im Namen der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft genehmigt wurde. Nach Art. 90 Abs. 1 des Austrittsabkommens kann das Vereinigte Königreich bis die Urteile und Beschlüsse des Gerichtshofs in den Verfahren und Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 86 [über beim Gerichtshof anhängige Rechtssachen] rechtskräftig geworden sind, in gleicher Weise wie ein Mitgliedstaat beitreten beziehungsweise sich an Rechtssachen vor dem Gerichtshof nach Art. 267 AEUV in gleicher Weise wie ein Mitgliedstaat am Verfahren vor dem Gerichtshof beteiligen. In diesem Zeitraum notifiziert der Kanzler des Gerichtshofs der Europäischen Union dem Vereinigten Königreich zur gleichen Zeit und auf die gleiche Weise wie den Mitgliedstaaten jegliche Verfahren, die dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung durch ein Gericht eines Mitgliedstaats vorgelegt wurden. Da es noch anhängige Rechtssachen im Sinne von Art. 86 des Austrittsabkommens gibt, hat das Vereinigte Königreich das Recht, dem vorliegenden Verfahren beizutreten.


20      Nach Art. 598 Buchst. c des Abkommens über Handel und Zusammenarbeit ist eine „vollstreckende Justizbehörde“ die Justizbehörde des Vollstreckungsstaats, die nach dem internen Recht dieses Staates für die Vollstreckung des Haftbefehls zuständig ist.


21      Nach Art. 598 Buchst. a des Abkommens über Handel und Zusammenarbeit ist ein „Haftbefehl“ eine justizielle Entscheidung, die in einem Staat ergangen ist und die Festnahme und Übergabe einer gesuchten Person durch einen anderen Staat zur Strafverfolgung oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und Sicherung bezweckt.


22      Der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union wurde am 31. Januar 2020 wirksam.


23      Der Übergangszeitraum endete am 31. Dezember 2020. Nach Art. 127 des Austrittsabkommens gilt das Unionsrecht während des Übergangszeitraums für das Vereinigte Königreich sowie im Vereinigten Königreich, sofern im Austrittsabkommen nichts anderes bestimmt ist. Da im Austrittsabkommen für die Bestimmungen über den Europäischen Haftbefehl keine Ausnahme von Art. 127 vorgesehen ist, waren diese Bestimmungen während des Übergangszeitraums weiterhin anwendbar.


24      Sowie dem ihm entsprechenden Art. 2 EMRK.


25      Vgl. zu dieser Frage z. B. EGMR, 9. Juli 2019, Romero Castaño/Belgien, CE:ECHR:2019:0709JUD000835117.


26      Vgl. zu diesem Thema Lenaerts, K., „La vie après l’avis: exploring the principle of mutual (yet not blind) trust“, Common Market Law Review, Bd. 54, 2017, S. 805 bis 840, auf S. 806, und Bay Larsen, L., „Some reflections on mutual recognition in the area of freedom, security and justice“, in Cardonnel, P., Rosas, A., und Wahl, N. (Hrsg.), Constitutionalising the EU Judicial System: Essays in Honour of Pernilla Lindh, Hart Publishing, London 2012, S. 139 bis 152, auf S. 140.


27      Gutachten 2/13 (Beitritt der Europäischen Union zur EMRK) vom 18. Dezember 2014 (EU:C:2014:2454).


28      Vgl. Gutachten 2/13 (Beitritt der Europäischen Union zur EMRK) vom 18. Dezember 2014 (EU:C:2014:2454, Rn. 167).


29      Art. 2 EUV stellt keine bloße Aufzählung politischer Leitlinien oder Absichten dar, sondern enthält Werte, die der Union als Rechtsgemeinschaft schlechthin ihr Gepräge geben, wobei sich diese Werte in Grundsätzen niederschlagen, die rechtlich verbindliche Verpflichtungen für die Mitgliedstaaten beinhalten. Vgl. Urteil vom 16. Februar 2022, Ungarn/Parlament und Rat (C‑156/21, EU:C:2022:97, Rn. 232). Zu einer neueren Bewertung von Art. 2 EUV in der Lehre vgl. Nettesheim, M., „Die föderale Homogenitätsklausel des Art. 2 EUV“, in Europarecht, 2024, S. 269 bis 299, auf S. 273, der diese Bestimmung als „föderale Homogenitätsklausel“ bezeichnet.


30      Gutachten 2/13 (Beitritt der Europäischen Union zur EMRK) vom 18. Dezember 2014 (EU:C:2014:2454, Rn. 168). Vgl. auch meine Schlussanträge in der Rechtssache Republik Moldau (C‑741/19, EU:C:2021:164, Nr. 87).


31      Vgl. z. B. Urteil vom 6. September 2016, Petruhhin (C‑182/15, EU:C:2016:630, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).


32      Europäischer Rat von Tampere vom 15. und 16. Oktober 1999.


33      Vgl. Urteil vom 18. April 2023, E. D. L. (Ablehnung aus gesundheitlichen Gründen) (C‑699/21, EU:C:2023:295, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).


34      Vgl. Urteil vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru (C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198).


35      Vgl. Urteil vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality (Mängel des Justizsystems) (C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586).


36      Vgl. Urteil vom 21. Dezember 2023, GN (Ablehnung aus Gründen des Kindeswohls) (C‑261/22, EU:C:2023:1017).


37      Vgl. Urteil vom 21. Dezember 2023, GN (Ablehnung aus Gründen des Kindeswohls) (C‑261/22, EU:C:2023:1017, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung).


38      Vgl. Urteil vom 21. Dezember 2023, GN (Ablehnung aus Gründen des Kindeswohls) (C‑261/22, EU:C:2023:1017, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung).


39      Vgl. Urteil vom 21. Dezember 2023, GN (Ablehnung aus Gründen des Kindeswohls) (C‑261/22, EU:C:2023:1017, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).


40      Vgl. Urteil vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a. (C‑158/21, EU:C:2023:57, Rn. 111).


41      Vgl. Urteil vom 21. Dezember 2023, GN (Ablehnung aus Gründen des Kindeswohls) (C‑261/22, EU:C:2023:1017).


42      Vgl. Urteil vom 18. April 2023, E. D. L. (Ablehnung aus gesundheitlichen Gründen) (C‑699/21, EU:C:2023:295, Rn. 55).


43      Vgl. Übereinkommen zwischen der Europäischen Union und der Republik Island und dem Königreich Norwegen über das Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union und Island und Norwegen (ABl. 2006, L 292, S. 2). Dieses Übereinkommen wurde im Namen der Union zunächst durch den Beschluss 2006/697/EG des Rates vom 27. Juni 2006 (ABl. 2006, L 292, S. 1) und dann nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon, wodurch eine erneute Genehmigung erforderlich wurde, durch den Beschluss 2014/835/EU des Rates vom 27. November 2014 (ABl. 2014, L 343, S. 1) genehmigt. Es ist seit 1. November 2019 in Kraft (vgl. die entsprechende Mitteilung im Amtsblatt der Europäischen Union, ABl. 2019, L 230, S. 1).


44      Vgl. Urteil vom 2. April 2020, Ruska Federacija (C‑897/19 PPU, EU:C:2020:262, Rn. 73).


45      Vgl. z. B. Urteil vom 25. Juni 2020, A u. a. (Windkraftanlagen in Aalter und in Nevele)  (C‑24/19, EU:C:2020:503, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).


46      Vgl. Urteil vom 6. Oktober 1982, Cilfit u. a. (283/81, EU:C:1982:335, Rn. 18).


47      Vgl. z. B. Urteil vom 30. Mai 2013, Genil 48 und Comercial Hostelera de Grandes Vinos (C‑604/11, EU:C:2013:344, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).


48      Vgl. Urteile vom 2. April 2020, Ruska Federacija (C‑897/19 PPU, EU:C:2020:262, Rn. 73), und vom 14. September 2023, Sofiyska gradska prokuratura u. a. (Aufeinanderfolgende Haftbefehle) (C‑71/21, EU:C:2023:668, Rn. 30).


49      Vgl. Urteil vom 14. September 2023, Sofiyska gradska prokuratura u. a. (Aufeinanderfolgende Haftbefehle) (C‑71/21, EU:C:2023:668, Rn. 33 bis 43 und 45 bis 61).


50      Wie etwa die grundlegende Bestimmung des Art. 1 Abs. 2 dieses Rahmenbeschlusses, wonach die Mitgliedstaaten jeden Europäischen Haftbefehl nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und gemäß den Bestimmungen dieses Rahmenbeschlusses vollstrecken.


51      Vgl. Urteil vom 14. September 2023, Sofiyska gradska prokuratura u. a. (Aufeinanderfolgende Haftbefehle) (C‑71/21, EU:C:2023:668, Rn. 48).


52      Vgl. Urteil vom 17. März 2021, JR (Haftbefehl – Verurteilung in einem Drittstaat, Mitgliedstaat des EWR)  (C‑488/19, EU:C:2021:206, Rn. 60).


53      Ebd. Vgl. auch Urteil vom 2. April 2020, Ruska Federacija (C‑897/19 PPU, EU:C:2020:262, Rn. 44).


54      In seinem Urteil vom 17. März 2021, JR (Haftbefehl – Verurteilung in einem Drittstaat, Mitgliedstaat des EWR) (C‑488/19, EU:C:2021:206), hatte der Gerichtshof im Wesentlichen dem vorlegenden Gericht des Vollstreckungsstaats (Irland) eine Antwort zu geben und darüber zu entscheiden, ob nach dem Rahmenbeschluss 2002/584 ein Europäischer Haftbefehl zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ausgestellt werden konnte, die vom Gericht eines Drittstaats (Norwegen) verhängt und vom Ausstellungsstaat (Litauen) anerkannt worden war.


55      Vgl. Urteil vom 6. September 2016 (C‑182/15, EU:C:2016:630).


56      Vgl. Urteil vom 6. September 2016, Petruhhin (C‑182/15, EU:C:2016:630, Rn. 52).


57      In jener Rechtssache handelte es sich bei dem Drittstaat um Russland.


58      Vgl. EGMR, 28. Februar 2008, Saadi/Italien, CE:ECHR:2008:0228JUD003720106, § 147.


59      Vgl. Urteil vom 6. September 2016, Petruhhin (C‑182/15, EU:C:2016:630, Rn. 57).


60      Vgl. Urteil vom 6. September 2016, Petruhhin (C‑182/15, EU:C:2016:630, Rn. 58).


61      Vgl. Urteil vom 6. September 2016, Petruhhin (C‑182/15, EU:C:2016:630, Rn. 59).


62      Sowie Art. 101 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft.


63      Dies ist ständige Rechtsprechung seit dem Urteil vom 12. Dezember 1972, International Fruit Company u. a. (21/72 bis 24/72, EU:C:1972:115, Rn. 20). Vgl. auch Urteile vom 9. September 2008, FIAMM u. a./Rat und Kommission (C‑120/06 P und C‑121/06 P, EU:C:2008:476, Rn. 108), und vom 13. Januar 2015, Rat und Kommission/Stichting Natuur en Milieu und Pesticide Action Network Europe (C‑404/12 P und C‑405/12 P, EU:C:2015:5, Rn. 45).


64      Zusammenarbeit im Bereich der Polizei und Justiz in strafrechtlichen Angelegenheiten.


65      Dies ist ständige Rechtsprechung seit dem Urteil vom 30. April 1974, Haegeman (181/73, EU:C:1974:41, Rn. 5). Vgl. auch Urteile vom 1. August 2022, Sea Watch (C‑14/21 und C‑15/21, EU:C:2022:604, Rn. 94), und vom 27. Februar 2024, EUIPO/The KaiKai Company Jaeger Wichmann (C‑382/21 P, EU:C:2024:172, Rn. 57).


66      Vgl. Gutachten 1/91 (EWR-Abkommen – I) vom 14. Dezember 1991 (EU:C:1991:490, Rn. 14), und Urteil vom 24. November 2016, SECIL (C‑464/14, EU:C:2016:896, Rn. 94).


67      Vgl. Gutachten 1/91 (EWR-Abkommen – I) vom 14. Dezember 1991 (EU:C:1991:490, Rn. 14).


68      Abgeschlossen in Wien am 23. Mai 1969.


69      Vgl. Art. 4 Abs. 2 des Abkommens über Handel und Zusammenarbeit.


70      Vgl. Art. 4 Abs. 3 des Abkommens über Handel und Zusammenarbeit.


71      Art. 522 bis 701 des Abkommens über Handel und Zusammenarbeit.


72      Diese Bestimmung steht in Teil Drei Titel I („Allgemeine Bestimmungen“) des Abkommens über Handel und Zusammenarbeit.


73      Vgl. auch meine Schlussanträge in der Rechtssache R O (C‑327/18 PPU, EU:C:2018:644, Nr. 68 und Fn. 61).


74      Vgl. den Wortlaut im Übereinkommen zwischen der Europäischen Union und der Republik Island und dem Königreich Norwegen über das Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union und Island und Norwegen.


75      Vgl. Art. 614 Abs. 3, Art. 623 Abs. 6 und Art. 626 des Abkommens über Handel und Zusammenarbeit.


76      Für diese Auslegung spricht im Übrigen auch der Wortlaut von Art. 629 des Abkommens über Handel und Zusammenarbeit und die Terminologie des Europäischen Auslieferungsübereinkommens des Europarats, unterzeichnet in Paris am 13. Dezember 1957 (Sammlung Europäischer Verträge, Nr. 24, abrufbar unter https://rm.coe.int/16800645c5).


77      In Art. 600 des Abkommens über Handel und Zusammenarbeit.


78      In Art. 601 des Abkommens über Handel und Zusammenarbeit.


79      Art. 3 f. des Rahmenbeschlusses 2002/584.


80      Diese Bestimmung hat nahezu den gleichen Wortlaut wie Art. 15 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584, wobei der einzige wesentliche Unterschied darin liegt, dass in Art. 613 Abs. 1 des Abkommens über Handel und Zusammenarbeit auch der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genannt ist.


81      Nach dieser Bestimmung vollstrecken die Mitgliedstaaten jeden Europäischen Haftbefehl nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und gemäß den Bestimmungen des Rahmenbeschlusses 2002/584.


82      Die Kommission hat sowohl in ihren schriftlichen als auch in ihren mündlichen Erklärungen insbesondere vorgetragen, dass insoweit ein maßgebliches Kriterium darin liegen solle, dass das Vereinigte Königreich nicht dem Schengen-Raum angehöre. Mit dieser Ansicht stimme ich nicht überein. Als das Vereinigte Königreich Mitgliedstaat der Europäischen Union war, gehörte es ebenfalls nicht zum Schengen-Raum. Auch Irland (oder Zypern) gehören derzeit nicht dazu. Zum Zeitpunkt des Ergehens des wegweisenden Urteils des Gerichtshofs vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru  (C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198), gehörte Rumänien nicht zum Schengen-Raum; es ist auch derzeit kein Vollmitglied (Rumänien und Bulgarien sind derzeit nur in Bezug auf die Luft- und Seebinnengrenzen Mitgliedstaaten des Schengen-Raums). Schengen ist daher kein entscheidendes Kriterium.


83      Vgl. Rn. 3 des Vorabentscheidungsersuchens.


84      Vgl. Peers, S., „So close, yet so far: the EU/UK Trade and Cooperation Agreement“, Common Market Law Review, Bd. 59, 2022, S. 49 bis 80, auf S. 68. Vgl. eingehend auch Grange, E., Keith, B., und Kerridge, S., „Extradition under the EU-UK Trade and Cooperation Agreement“, New Journal of European Criminal Law, Bd. 12, 2021, S. 213 bis 221, auf S. 217 und 218.


85      Vgl. Art. 602 des Abkommens über Handel und Zusammenarbeit. Eine entsprechende Bestimmung gibt es im Rahmenbeschluss 2002/584 nicht.


86      Urteil vom 5. April 2016 (C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198).


87      Also für einen Sachverhalt, der in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt, aber eine Auslieferung an einen Drittstaat betrifft.


88      Vgl. Lemke, S., in von der Groeben, H., Schwarze, J., und Hatje, A. (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht (Kommentar), Bd. 1, 7. Aufl., Nomos, Baden-Baden 2015, Art. 49 GRC, Nr. 2.


89      Vgl. Urteil vom 10. November 2022, DELTA STROY 2003 (C‑203/21, EU:C:2022:865, Rn. 46).


90      Nach Art. 6 Abs. 1 EUV und Art. 52 Abs. 7 der Charta wurden die Erläuterungen als Anleitung für die Auslegung der Charta verfasst und sind von den Gerichten der Europäischen Union und der Mitgliedstaaten gebührend zu berücksichtigen.


91      Vgl. Erläuterungen zu Art. 52 – Tragweite und Auslegung der Rechte und Grundsätze in den Erläuterungen zur Charta der Grundrechte (ABl. 2007, C 303, S. 17).


92      Vgl. auch Szwarc, M., in Wróbel, A., Karta Praw Podstawowych Unii Europejskiej. Komentarz, C. H. Beck, Warschau 2020, S. 1221.


93      Vgl. EGMR, 22. November 1995, C. R./Vereinigtes Königreich,  CE:ECHR:1995:1122JUD002019092, § 32, 22. November 1995, S. W./Vereinigtes Königreich, CE:ECHR:1995:1122JUD002016692, § 34, und 12. Februar 2008, Kafkaris/Zypern, CE:ECHR:2008:0212JUD002190604, § 137.


94      Hinzuweisen ist jedoch darauf, dass der EGMR nach der Prüfung, ob die betreffende Maßnahme nach einer Verurteilung wegen einer „Straftat“ verhängt wird, zunächst sonstige Faktoren wie den Charakter und den Zweck der betreffenden Maßnahme, ihre Qualifizierung im innerstaatlichen Recht, die Verfahren, die mit ihrem Erlass und ihrer Vollstreckung einhergehen, sowie ihre Schwere berücksichtigen kann. Vgl. in diesem Sinne EGMR, 9. Februar 1995, Welch/Vereinigtes Königreich, CE:ECHR:1995:0209JUD001744090, § 28, 8. Juni 1995, Jamil/Frankreich, CE:ECHR:1995:0608JUD001591789, § 31, und 12. Februar 2008, Kafkaris/Zypern, CE:ECHR:2008:0212JUD002190604, § 142.


95      Ebenso die frühere Europäische Kommission für Menschenrechte vor Inkrafttreten des Protokolls Nr. 11 zur EMRK über die Umgestaltung des durch die Konvention eingeführten Kontrollmechanismus am 1. November 1998.


96      Vgl. Europäische Kommission für Menschenrechte, 3. März 1986, Hogben/Vereinigtes Königreich, CE:ECHR:1986:0303DEC001165385, und 28. Februar 1996, Hosein/Vereinigtes Königreich,  CE:ECHR:1996:0228DEC002629395. Vgl. ferner EGMR, 29. November 2005, Uttley/Vereinigtes Königreich, CE:ECHR:2005:1129DEC003694603, und 12. Februar 2008, Kafkaris/Zypern, CE:ECHR:2008:0212JUD002190604, § 142.


97      Vgl. Vorlageentscheidung des vorlegenden Gerichts, Rn. 12.


98      Vgl. Urteil Del Río Prada/Spanien, § 12.


99      Die sogenannte „Parot-Doktrin“.


100      Vgl. Urteil Del Río Prada/Spanien, § 117.


101      Vgl. EGMR, 31. August 2021, Devriendt/Belgien, CE:ECHR:2021:0831DEC003556719.


102      Der Beschwerdeführer wurde am 26. September 2006 von der Cour d’assises de Brabant (Assisenhof, Brabant, Belgien) wegen eines in der Nacht vom 24. auf den 25. August 2003 begangenen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Zu jenem Zeitpunkt lag die Mindestschwelle für die Möglichkeit einer vorzeitigen Haftentlassung bei lebenslangen Freiheitsstrafen bei zehn Jahren. Ein vom Beschwerdeführer eingelegtes Rechtsmittel wurde von der Cour de cassation (Kassationshof, Belgien) am 30. Januar 2007 zurückgewiesen. Am 17. Februar 2015 stellte der Gerichtshof einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK wegen unzureichender Begründung der Entscheidung des Prüfungsausschusses fest. Daraufhin nahm die Cour de cassation (Kassationshof) das Verfahren am 16. Juni 2015 wieder auf, hob ihre frühere Entscheidung auf und verwies die Sache zur erneuten Prüfung an die Cour d’assises de Brabant (Assisenhof, Brabant), zurück. Der Assisenhof verurteilte den Beschwerdeführer am 29. Juni 2016 in Abwesenheit zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Auf ein Rechtsmittel des Beschwerdeführers hin wurde dieser am 28. April 2017 erneut zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt; sein Rechtsmittel wurde am 24. Oktober 2017 von der Cour de cassation (Kassationshof) zurückgewiesen. In der Zwischenzeit wurde durch ein am 17. März 2013 verabschiedetes Gesetz die Mindestschwelle für die Möglichkeit einer vorzeitigen Haftentlassung bei lebenslangen Freiheitsstrafen von zehn auf 15 Jahre erhöht. Der Beschwerdeführer stellte am 16. August 2018 einen Antrag auf vorzeitige Haftentlassung mit der Begründung, dass er die 10‑Jahres-Schwelle erreicht habe. Dieser Antrag wurde am 25. Februar 2019 vom Tribunal de l’application des peines, Gent (Strafvollstreckungsgericht, Gent, Belgien), für unzulässig erklärt, da der Beschwerdeführer die erforderlichen 15 Jahre noch nicht verbüßt hatte. Das vom Beschwerdeführer eingelegte Rechtsmittel wurde am 26. März 2019 von der Cour de cassation (Kassationshof) mit dem Hinweis darauf zurückgewiesen, dass keine Straferhöhung, sondern eine Änderung der Bedingungen ihrer Durchführung vorliege, was nicht gegen Art. 7 EMRK verstoße.


103      Vgl. EGMR, 31. August 2021, Devriendt/Belgien, CE:ECHR:2021:0831DEC003556719, § 26.


104      Vgl. EGMR, 31. August 2021, Devriendt/Belgien, CE:ECHR:2021:0831DEC003556719, § 28.


105      Vgl. EGMR, 12. Februar 2008, Kafkaris/Zypern, CE:ECHR:2008:0212JUD002190604, § 145, und Urteil Del Río Prada/Spanien, § 90.