Language of document : ECLI:EU:C:2021:231

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)

24. März 2021(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Eilvorabentscheidungsverfahren – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 – Art. 10 – Zuständigkeit auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung – Kindesentführung – Zuständigkeit der Gerichte eines Mitgliedstaats – Räumliche Reichweite – Verbringen eines Kindes in einen Drittstaat – In diesem Drittstaat erlangter gewöhnlicher Aufenthalt“

In der Rechtssache C‑603/20 PPU

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom High Court of Justice (England & Wales), Family Division (Hoher Gerichtshof [England und Wales], Abteilung für Familiensachen, Vereinigtes Königreich) mit Entscheidung vom 6. November 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 16. November 2020, in dem Verfahren

SS

gegen

MCP

erlässt

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten E. Regan (Berichterstatter), des Präsidenten des Gerichtshofs K. Lenaerts in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Fünften Kammer sowie der Richter M. Ilešič, C. Lycourgos und I. Jarukaitis,

Generalanwalt: A. Rantos,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des beim Gerichtshof am 16. November 2020 eingegangenen Antrags des vorlegenden Gerichts vom 6. November 2020, das Vorabentscheidungsersuchen gemäß Art. 107 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs einem Eilverfahren zu unterwerfen,

aufgrund der Entscheidung der Fünften Kammer vom 2. Dezember 2020, diesem Antrag stattzugeben,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 4. Februar 2021,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von SS, vertreten durch A. Tayo, Barrister, im Auftrag von J. Dsouza, Solicitor,

–        von MCP, vertreten durch A. Metzer, QC, und C. Proudman, Barrister, im Auftrag von H. Choudhery, Solicitor,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Wilderspin als Bevollmächtigten,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 23. Februar 2021

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 10 der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 (ABl. 2003, L 338, S. 1) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 2116/2004 des Rates vom 2. Dezember 2004 (ABl. 2004, L 367, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 2201/2003).

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen SS, dem Vater eines jungen Kindes, P, und MCP, der Mutter dieses Kindes, über einen Antrag des Vaters, die Rückgabe des Kindes in das Vereinigte Königreich anzuordnen und über das Umgangsrecht zu entscheiden.

 Rechtlicher Rahmen

 Völkerrecht

 Haager Übereinkommen von 1980

3        Das am 25. Oktober 1980 im Rahmen der Haager Konferenz für Internationales Privatrecht unterzeichnete Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (im Folgenden: Haager Übereinkommen von 1980) trat am 1. Dezember 1983 in Kraft. Alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind Vertragsparteien dieses Übereinkommens.

4        Das Übereinkommen enthält Vorschriften, wonach die sofortige Rückgabe eines widerrechtlich verbrachten oder zurückgehaltenen Kindes anzuordnen ist.

5        Art. 16 des Haager Übereinkommens von 1980 sieht vor, dass die Gerichte oder Verwaltungsbehörden des Vertragsstaats, in den das Kind verbracht oder in dem es zurückgehalten wurde, wenn ihnen das widerrechtliche Verbringen oder Zurückhalten des Kindes im Sinne von Art. 3 des Übereinkommens mitgeteilt worden ist, eine Sachentscheidung über das Sorgerecht erst treffen dürfen, wenn entschieden ist, dass das Kind aufgrund des Übereinkommens nicht zurückzugeben ist, oder wenn innerhalb angemessener Frist nach der Mitteilung kein Antrag nach dem Übereinkommen gestellt wird.

 Haager Übereinkommen von 1996

6        Sämtliche Mitgliedstaaten der Union haben das am 19. Oktober 1996 in Den Haag geschlossene Übereinkommen über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung, Vollstreckung und Zusammenarbeit auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung und der Maßnahmen zum Schutz von Kindern (im Folgenden: Haager Übereinkommen von 1996) ratifiziert oder sind ihm beigetreten.

7        Dieses Übereinkommen sieht Regeln vor, die den Schutz von Kindern im internationalen Bereich verbessern und Konflikte zwischen den Rechtssystemen der Unterzeichnerstaaten in Bezug auf die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Maßnahmen zum Schutz von Kindern vermeiden sollen.

8        In Bezug auf Kindesentführungen bestimmt Art. 7 Abs. 1 Buchst. a und b des Übereinkommens:

„Bei widerrechtlichem Verbringen oder Zurückhalten des Kindes bleiben die Behörden des Vertragsstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, so lange zuständig, bis das Kind einen gewöhnlichen Aufenthalt in einem anderen Staat erlangt hat und

a)      jede sorgeberechtigte Person, Behörde oder sonstige Stelle das Verbringen oder Zurückhalten genehmigt hat, oder

b)      das Kind sich in diesem anderen Staat mindestens ein Jahr aufgehalten hat, nachdem die sorgeberechtigte Person, Behörde oder sonstige Stelle seinen Aufenthaltsort kannte oder hätte kennen müssen, kein während dieses Zeitraums gestellter Antrag auf Rückgabe mehr anhängig ist und das Kind sich in seinem neuen Umfeld eingelebt hat.“

9        In Art. 52 Abs. 2 und 3 des Übereinkommens heißt es:

„(2)      Dieses Übereinkommen lässt die Möglichkeit unberührt, dass ein oder mehrere Vertragsstaaten Vereinbarungen treffen, die in Bezug auf Kinder mit gewöhnlichem Aufenthalt in einem der Staaten, die Vertragsparteien solcher Vereinbarungen sind, Bestimmungen über die in diesem Übereinkommen geregelten Angelegenheiten enthalten.

(3)      Künftige Vereinbarungen eines oder mehrerer Vertragsstaaten über Angelegenheiten im Anwendungsbereich dieses Übereinkommens lassen im Verhältnis zwischen solchen Staaten und anderen Vertragsstaaten die Anwendung der Bestimmungen des Übereinkommens unberührt.“

 Unionsrecht

10      Die Erwägungsgründe 12 und 33 der Verordnung Nr. 2201/2003 lauten:

„(12)      Die in dieser Verordnung für die elterliche Verantwortung festgelegten Zuständigkeitsvorschriften wurden dem Wohle des Kindes entsprechend und insbesondere nach dem Kriterium der räumlichen Nähe ausgestaltet. Die Zuständigkeit sollte vorzugsweise dem Mitgliedstaat des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes vorbehalten sein[,] außer in bestimmten Fällen, in denen sich der Aufenthaltsort des Kindes geändert hat oder in denen die Träger der elterlichen Verantwortung etwas anderes vereinbart haben.

(33)      Diese Verordnung steht im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen, die mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union anerkannt wurden. Sie zielt insbesondere darauf ab, die Wahrung der Grundrechte des Kindes im Sinne des Artikels 24 der [Charta der Grundrechte] der Europäischen Union zu gewährleisten …“

11      In Art. 1 („Anwendungsbereich“) Abs. 1 und 2 dieser Verordnung heißt es:

„(1)      Diese Verordnung gilt, ungeachtet der Art der Gerichtsbarkeit, für Zivilsachen mit folgendem Gegenstand:

b)      die Zuweisung, die Ausübung, die Übertragung sowie die vollständige oder teilweise Entziehung der elterlichen Verantwortung.

(2)      Die in Absatz 1 Buchstabe b) genannten Zivilsachen betreffen insbesondere:

a)      das Sorgerecht und das Umgangsrecht,

…“

12      Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) der Verordnung sieht vor:

„Für die Zwecke dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck

7.      ‚elterliche Verantwortung‘ die gesamten Rechte und Pflichten, die einer natürlichen oder juristischen Person durch Entscheidung oder kraft Gesetzes oder durch eine rechtlich verbindliche Vereinbarung betreffend die Person oder das Vermögen eines Kindes übertragen wurden. Elterliche Verantwortung umfasst insbesondere das Sorge- und das Umgangsrecht;

11.      ‚widerrechtliches Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes‘ das Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes, wenn

a)      dadurch das Sorgerecht verletzt wird, das aufgrund einer Entscheidung oder kraft Gesetzes oder aufgrund einer rechtlich verbindlichen Vereinbarung nach dem Recht des Mitgliedstaats besteht, in dem das Kind unmittelbar vor dem Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte,

und

b)      das Sorgerecht zum Zeitpunkt des Verbringens oder Zurückhaltens allein oder gemeinsam tatsächlich ausgeübt wurde oder ausgeübt worden wäre, wenn das Verbringen oder Zurückhalten nicht stattgefunden hätte. Von einer gemeinsamen Ausübung des Sorgerechts ist auszugehen, wenn einer der Träger der elterlichen Verantwortung aufgrund einer Entscheidung oder kraft Gesetzes nicht ohne die Zustimmung des anderen Trägers der elterlichen Verantwortung über den Aufenthaltsort des Kindes bestimmen kann.“

13      Kapitel II („Zuständigkeit“) der Verordnung enthält in seinem Abschnitt 2 („Elterliche Verantwortung“) den Art. 8 („Allgemeine Zuständigkeit“), der wie folgt lautet:

„(1)      Für Entscheidungen, die die elterliche Verantwortung betreffen, sind die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dem das Kind zum Zeitpunkt der Antragstellung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat.

(2)      Absatz 1 findet vorbehaltlich der Artikel 9, 10 und 12 Anwendung.“

14      Art. 10 („Zuständigkeit in Fällen von Kindesentführung“) der Verordnung Nr. 2201/2003 bestimmt:

„Bei widerrechtlichem Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes bleiben die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, so lange zuständig, bis das Kind einen gewöhnlichen Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat erlangt hat und

a)      jede sorgeberechtigte Person, Behörde oder sonstige Stelle dem Verbringen oder Zurückhalten zugestimmt hat

oder

b)      das Kind sich in diesem anderen Mitgliedstaat mindestens ein Jahr aufgehalten hat, nachdem die sorgeberechtigte Person, Behörde oder sonstige Stelle seinen Aufenthaltsort kannte oder hätte kennen müssen und sich das Kind in seiner neuen Umgebung eingelebt hat, sofern eine der folgenden Bedingungen erfüllt ist:

i)      Innerhalb eines Jahres, nachdem der Sorgeberechtigte den Aufenthaltsort des Kindes kannte oder hätte kennen müssen, wurde kein Antrag auf Rückgabe des Kindes bei den zuständigen Behörden des Mitgliedstaats gestellt, in den das Kind verbracht wurde oder in dem es zurückgehalten wird;

ii)      ein von dem Sorgeberechtigten gestellter Antrag auf Rückgabe wurde zurückgezogen, und innerhalb der in Ziffer i) genannten Frist wurde kein neuer Antrag gestellt;

iii)      ein Verfahren vor dem Gericht des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, wurde gemäß Artikel 11 Absatz 7 abgeschlossen;

iv)      von den Gerichten des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, wurde eine Sorgerechtsentscheidung erlassen, in der die Rückgabe des Kindes nicht angeordnet wird.“

15      In Art. 12 („Vereinbarung über die Zuständigkeit“) dieser Verordnung heißt es:

„(1)      Die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem nach Artikel 3 über einen Antrag auf Ehescheidung, Trennung ohne Auflösung des Ehebandes oder Ungültigerklärung einer Ehe zu entscheiden ist, sind für alle Entscheidungen zuständig, die die mit diesem Antrag verbundene elterliche Verantwortung betreffen, wenn

a)      zumindest einer der Ehegatten die elterliche Verantwortung für das Kind hat

und

b)      die Zuständigkeit der betreffenden Gerichte von den Ehegatten oder von den Trägern der elterlichen Verantwortung zum Zeitpunkt der Anrufung des Gerichts ausdrücklich oder auf andere eindeutige Weise anerkannt wurde und im Einklang mit dem Wohl des Kindes steht.

(3)      Die Gerichte eines Mitgliedstaats sind ebenfalls zuständig in Bezug auf die elterliche Verantwortung in anderen als den in Absatz 1 genannten Verfahren, wenn

a)      eine wesentliche Bindung des Kindes zu diesem Mitgliedstaat besteht, insbesondere weil einer der Träger der elterlichen Verantwortung in diesem Mitgliedstaat seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat oder das Kind die Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats besitzt,

und

b)      alle Parteien des Verfahrens zum Zeitpunkt der Anrufung des Gerichts die Zuständigkeit ausdrücklich oder auf andere eindeutige Weise anerkannt haben und die Zuständigkeit in Einklang mit dem Wohl des Kindes steht.

(4)      Hat das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt in einem Drittstaat, der nicht Vertragspartei des [Haager Übereinkommens von 1996] ist, so ist davon auszugehen, dass die auf diesen Artikel gestützte Zuständigkeit insbesondere dann in Einklang mit dem Wohl des Kindes steht, wenn sich ein Verfahren in dem betreffenden Drittstaat als unmöglich erweist.“

16      Art. 14 („Restzuständigkeit“) der Verordnung sieht vor:

„Soweit sich aus den Artikeln 8 bis 13 keine Zuständigkeit eines Gerichts eines Mitgliedstaats ergibt, bestimmt sich die Zuständigkeit in jedem Mitgliedstaat nach dem Recht dieses Staates.“

17      Art. 60 („Verhältnis zu bestimmten multilateralen Übereinkommen“) der Verordnung bestimmt:

„Im Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten hat diese Verordnung vor den nachstehenden Übereinkommen insoweit Vorrang, als diese Bereiche betreffen, die in dieser Verordnung geregelt sind:

e)      [Haager Übereinkommen von 1980]“

18      In Art. 61 der Verordnung Nr. 2201/2003, der das Verhältnis zum Haager Übereinkommen von 1996 regelt, heißt es:

„Im Verhältnis zum [Haager Übereinkommen von 1996] ist diese Verordnung anwendbar,

a)      wenn das betreffende Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat;

…“

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

19      SS und MCP, die beide die indische Staatsangehörigkeit besitzen und über eine Erlaubnis zum Aufenthalt im Vereinigten Königreich verfügen, waren ein nicht rechtsgültig verheiratetes Paar, als ihr Kind P, eine britische Staatsbürgerin, im Jahr 2017 geboren wurde.

20      SS wird in der Geburtsurkunde als Vater angegeben, so dass er nach den Feststellungen des vorlegenden Gerichts Träger der elterlichen Verantwortung für P ist.

21      Im Oktober 2018 begab sich die Mutter, MCP, mit dem Kind nach Indien. Nach einigen Monaten kehrte sie ohne das Kind in das Vereinigte Königreich zurück.

22      Mit Ausnahme eines kurzen Aufenthalts im Vereinigten Königreich im April 2019 blieb das Kind in Indien, wo es bei seiner Großmutter mütterlicherseits lebt.

23      Das vorlegende Gericht hält es für sehr wahrscheinlich, dass das Verhalten der Mutter den Tatbestand eines widerrechtlichen Verbringens und/oder Zurückhaltens des Kindes nach bzw. in Indien erfüllt.

24      Der Vater möchte, dass P bei ihm im Vereinigten Königreich lebt. Hilfsweise wünscht er im Rahmen eines Umgangsrechts Kontakte mit ihr zu unterhalten.

25      Dementsprechend beantragte er am 26. August 2020 beim vorlegenden Gericht, die Rückgabe des Kindes in das Vereinigte Königreich anzuordnen und über das Umgangsrecht zu entscheiden.

26      Das vorlegende Gericht gibt an, die Mutter habe die Unzuständigkeit der Gerichte von England und Wales geltend gemacht, da das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt nicht im Vereinigten Königreich habe.

27      Das Gericht ist der Auffassung, vor einer Sachentscheidung sei zu klären, ob es nach der Verordnung Nr. 2201/2003 zuständig sei. Insoweit stellt es fest, zum Zeitpunkt seiner Anrufung habe das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Indien gehabt und sei vollständig in ein sozio-familiäres indisches Umfeld integriert gewesen, während, abgesehen von der Staatsbürgerschaft, keine konkreten tatsächlichen Bindungen zum Vereinigten Königreich bestanden hätten. Auch habe die Mutter zu keinem Zeitpunkt auf eindeutige Weise anerkannt, dass die Gerichte von England und Wales für Entscheidungen über die elterliche Verantwortung für P zuständig seien. Folglich sei das vorlegende Gericht weder nach Art. 8 noch nach Art. 12 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2201/2003 zuständig.

28      Was Art. 10 dieser Verordnung betreffe, in dem die Zuständigkeitsregeln für den Fall des widerrechtlichen Verbringens oder Zurückhaltens eines Kindes festgelegt seien, sei insbesondere fraglich, ob diese Vorschrift auf einen Zuständigkeitskonflikt zwischen den Gerichten eines Mitgliedstaats und denen eines Drittstaats anwendbar sei.

29      Insoweit ergebe sich aus dem Wortlaut der Vorschrift sowie aus der Auslegung in Unterabschnitt 4.2.1.1 des von der Europäischen Kommission veröffentlichten Praxisleitfadens für die Anwendung der Verordnung Nr. 2201/2003 eindeutig, dass die in Art. 10 dieser Verordnung aufgestellte Regel nur Zuständigkeitskonflikte zwischen Mitgliedstaaten und nicht zwischen einem Mitgliedstaat und einem Drittstaat betreffe. Der Gerichtshof habe diese Auslegung bereits in Rn. 33 des Urteils vom 17. Oktober 2018, UD (C‑393/18 PPU, EU:C:2018:835), bestätigt und sei dabei den Schlussanträgen des Generalanwalts Saugmandsgaard Øe vom 20. September 2018 in derselben Rechtssache (C‑393/18 PPU, EU:C:2018:749) gefolgt. Ein Teil der nationalen Rechtsprechung räume der fraglichen Vorschrift jedoch eine größere räumliche Reichweite ein.

30      Unter diesen Umständen hat der High Court of Justice (England and Wales), Family Division (Hoher Gerichtshof [England und Wales], Abteilung für Familiensachen, Vereinigtes Königreich) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Bleibt ein Mitgliedstaat, in dem ein Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, bevor es widerrechtlich in einen Drittstaat verbracht (oder dort zurückgehalten) wurde, wo es im Anschluss seinen gewöhnlichen Aufenthalt erlangt hat, gemäß Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 zeitlich unbegrenzt zuständig?

 Antrag auf Vorabentscheidung im Eilverfahren

31      Das vorlegende Gericht hat beantragt, das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen dem in Art. 107 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs vorgesehenen Eilvorabentscheidungsverfahren zu unterwerfen.

32      Insoweit steht zum einen fest, dass das Vorabentscheidungsersuchen die Auslegung der Verordnung Nr. 2201/2003 betrifft, die insbesondere auf der Grundlage von Art. 61 Buchst. c EG – jetzt Art. 67 AEUV, der zu Titel V („Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“) des Dritten Teils des AEU-Vertrags gehört – erlassen wurde, so dass es in den in Art. 107 der Verfahrensordnung festgelegten Anwendungsbereich des Eilvorabentscheidungsverfahrens fällt. Zum anderen ist die Beantwortung der Vorlagefrage für den Ausgangsrechtsstreit entscheidungserheblich, da es von ihr abhängt, ob das angerufene Gericht nach dem Unionsrecht zuständig ist.

33      Was das Kriterium der Dringlichkeit betrifft, so besteht, da das junge Kind seit Oktober 2018 mit Ausnahme eines kurzen Aufenthalts im Vereinigten Königreich dauerhaft in Indien lebt, die Gefahr, dass die Fortdauer dieser Situation das Verhältnis zwischen dem Kind und seinem Vater oder sogar zwischen ihm und beiden Elternteilen ernsthaft, wenn nicht gar irreversibel beeinträchtigt. Diese Situation könnte seiner allgemeinen emotionalen und psychischen Entwicklung einen nicht wiedergutzumachenden Schaden zufügen, zumal sich das Kind in einem für seine Entwicklung kritischen Alter befindet.

34      Da die familiäre und soziale Integration des Kindes in dem Drittstaat, in dem es nach den Feststellungen des vorlegenden Gerichts seinen derzeitigen gewöhnlichen Aufenthalt hat, bereits weit fortgeschritten ist, könnte die Fortdauer dieser Situation zudem dazu führen, dass die Integration des Kindes in sein familiäres und soziales Umfeld noch stärker beeinträchtigt wird, falls es jemals in das Vereinigte Königreich zurückkehrt.

35      Unter diesen Umständen hat die Fünfte Kammer des Gerichtshofs auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwalts am 2. Dezember 2020 entschieden, dem Antrag des vorlegenden Gerichts, das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen dem Eilvorabentscheidungsverfahren zu unterwerfen, stattzugeben.

 Zur Vorlagefrage

36      Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 dahin auszulegen ist, dass im Fall der Feststellung, dass ein Kind zum Zeitpunkt der Stellung eines die elterliche Verantwortung betreffenden Antrags infolge einer Entführung in einen Drittstaat seinen gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Staat erlangt hat, die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor seiner Entführung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, zeitlich unbegrenzt zuständig bleiben.

37      Nach ständiger Rechtsprechung sind bei der Auslegung einer Unionsvorschrift nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (Urteil vom 6. Oktober 2020, Jobcenter Krefeld, C‑181/19, EU:C:2020:794, Rn. 61 und die dort angeführte Rechtsprechung). Die Entstehungsgeschichte einer unionsrechtlichen Vorschrift kann ebenfalls relevante Anhaltspunkte für deren Auslegung liefern (Urteil vom 20. Dezember 2017, Acacia und D’Amato, C‑397/16 und C‑435/16, EU:C:2017:992, Rn. 31 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

38      Was als Erstes den Wortlaut von Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 betrifft, ist festzustellen, dass dieser Artikel in Bezug auf die Zuständigkeit in Fällen von Kindesentführung vorsieht, dass die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, zuständig bleiben, diese Zuständigkeit aber auf die Gerichte eines anderen Mitgliedstaats übergeht, sobald das Kind in diesem anderen Mitgliedstaat einen gewöhnlichen Aufenthalt erlangt hat und darüber hinaus eine der in Art. 10 genannten alternativen Voraussetzungen erfüllt ist.

39      Somit ergibt sich aus dem Wortlaut von Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003, dass die Kriterien, auf die in dieser Vorschrift hinsichtlich der Zuweisung der Zuständigkeit in Fällen von Kindesentführung abgestellt wird, einen Sachverhalt erfassen, der auf das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten beschränkt bleibt. Die Zuständigkeit ist nämlich grundsätzlich den Gerichten des Mitgliedstaats zugewiesen, in dem das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, bevor es widerrechtlich in einen anderen Mitgliedstaat verbracht oder dort zurückgehalten wurde, vorbehaltlich der Möglichkeit, dass die Zuständigkeit unter bestimmten Voraussetzungen auf die Gerichte des Mitgliedstaats übergeht, in dem das Kind infolge des widerrechtlichen Verbringens oder Zurückhaltens seinen neuen gewöhnlichen Aufenthalt erlangt hat.

40      Der Umstand, dass dieser Artikel den Ausdruck „Mitgliedstaat“ und nicht die Begriffe „Staat“ oder „Drittstaat“ verwendet und die Zuweisung der Zuständigkeit von einem gegenwärtigen oder früheren gewöhnlichen Aufenthalt „in einem Mitgliedstaat“ abhängig macht, ohne sich auf den Fall eines im Hoheitsgebiet eines Drittstaats erlangten Aufenthalts zu beziehen, lässt ebenfalls darauf schließen, dass dieser Artikel nur die Zuständigkeit bei Kindesentführungen innerhalb der Mitgliedstaaten regelt.

41      Zudem hat der Gerichtshof im Rahmen eines Verfahrens zur Auslegung von Art. 8 der Verordnung Nr. 2201/2003 bereits festgestellt, dass die Anwendung von Art. 10 dieser Verordnung dessen Wortlaut zufolge zwangsläufig einen potenziellen Zuständigkeitskonflikt zwischen Gerichten mehrerer Mitgliedstaaten voraussetzt (Urteil vom 17. Oktober 2018, UD, C‑393/18 PPU, EU:C:2018:835, Rn. 33).

42      Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003, wie die Kommission in der mündlichen Verhandlung ausgeführt hat, aus einem einzigen Satz besteht, so dass bereits aus seiner Struktur hervorgeht, dass er ein untrennbares Ganzes bildet. Daher kann diese Vorschrift nicht so verstanden werden, dass sie aus zwei unterschiedlichen Teilen besteht, von denen einer in eigenständiger Weise als Begründung dafür dienen könnte, dass die Gerichte eines Mitgliedstaats im Fall einer Kindesentführung in einen Drittstaat generell zeitlich unbegrenzt zuständig bleiben.

43      Was als Zweites den Kontext betrifft, in den sich Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 einfügt, ist festzustellen, dass diese Vorschrift im Verhältnis zu der in Art. 8 Abs. 1 dieser Verordnung genannten allgemeinen Regel, wonach für Entscheidungen, die die elterliche Verantwortung betreffen, grundsätzlich die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig sind, in dem das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, eine besondere Zuständigkeitsregel darstellt.

44      Nach Art. 8 Abs. 2 der Verordnung findet Abs. 1 dieses Art. 8 nämlich vorbehaltlich der Art. 9, 10 und 12 Anwendung.

45      Insoweit ist erstens hervorzuheben, dass die in Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 vorgesehene besondere Zuständigkeitsregel die Wirkung neutralisiert, die die Anwendung der in Art. 8 Abs. 1 dieser Verordnung aufgestellten allgemeinen Zuständigkeitsregel im Fall einer Kindesentführung hätte, nämlich den Übergang der Zuständigkeit auf den Mitgliedstaat, in dem das Kind infolge seiner Entführung einen neuen gewöhnlichen Aufenthalt erlangt hat. Da dieser Zuständigkeitsübergang dem widerrechtlich Handelnden einen prozessualen Vorteil verschaffen könnte, sieht Art. 10 dieser Verordnung, wie in Rn. 39 des vorliegenden Urteils dargelegt, vor, dass die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem das Kind vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, gleichwohl zuständig bleiben, es sei denn, dass bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind.

46      Hat aber das Kind einen gewöhnlichen Aufenthalt außerhalb der Europäischen Union erlangt, nachdem es widerrechtlich in einen Drittstaat verbracht oder dort zurückgehalten wurde, findet Art. 8 Abs. 1 dieser Verordnung mangels gewöhnlichen Aufenthalts in einem Mitgliedstaat keine Anwendung. Ein solcher Fall wird nämlich von dieser Vorschrift nicht erfasst. Daraus folgt, dass unter diesen Umständen die in Art. 10 dieser Verordnung aufgestellte Regel, nach der die Zuständigkeit verneint werden kann, auf die sich die Gerichte des Mitgliedstaats des neuen gewöhnlichen Aufenthalts nach der allgemeinen Regel berufen könnten, ihre Daseinsberechtigung verliert und somit genauso wenig anwendbar ist. Folglich kann Art. 10 nicht als Begründung dafür dienen, dass die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem das Kind vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, zeitlich unbegrenzt zuständig bleiben, wenn das Kind in einen Drittstaat entführt wurde.

47      Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass eine besondere Zuständigkeitsregel eng auszulegen ist und daher keine Auslegung erlaubt, die über die ausdrücklich in der betreffenden Verordnung vorgesehenen Fälle hinausgeht (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 3. Oktober 2013, Pinckney, C‑170/12, EU:C:2013:635, Rn. 25, vom 16. Januar 2014, Kainz, C‑45/13, EU:C:2014:7, Rn. 22 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 25. Januar 2018, Schrems, C‑498/16, EU:C:2018:37, Rn. 27).

48      Folglich darf eine solche Regel nicht dergestalt ausgelegt werden, dass nur ein Teil ihres Wortlauts für eine autonome Anwendung herangezogen wird. Dies wäre aber der Fall, wenn Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 ausschließlich anhand eines Elements des ersten Teils dieses Artikels ausgelegt würde, um daraus abzuleiten, dass im Fall der Entführung eines Kindes in einen Drittstaat die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem das Kind seinen früheren gewöhnlichen Aufenthalt hatte, generell zeitlich unbegrenzt zuständig bleiben, da die andere in diesem Artikel vorgesehene Voraussetzung, die die Erlangung eines gewöhnlichen Aufenthalts in einem anderen Mitgliedstaat betrifft, nicht erfüllt sein kann.

49      Drittens würde eine solche Auslegung dazu führen, dass in den Anwendungsbereich von Art. 10 ein Fall einbezogen wird, nämlich derjenige der Entführung eines Kindes in einen Drittstaat, den der Unionsgesetzgeber nicht erfassen wollte.

50      Insoweit ergibt sich aus der Entstehungsgeschichte der Verordnung Nr. 2201/2003, dass der Unionsgesetzgeber zwar eine strenge Regelung in Bezug auf Kindesentführungen innerhalb der Union einführen wollte, aber nicht die Absicht hatte, diese Regelung auf Kindesentführungen in einen Drittstaat zu erstrecken. Vielmehr sollten solche Entführungen insbesondere von internationalen Übereinkommen erfasst werden, wie etwa vom Haager Übereinkommen von 1980, das bereits in allen Mitgliedstaaten in Kraft war, als die Kommission am 3. Mai 2002 den der Verordnung Nr. 2201/2003 zugrunde liegenden Vorschlag für eine Verordnung des Rates über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 in Bezug auf Unterhaltssachen (KOM[2002] 222 endgültig, ABl. 2002, C 203 E, S. 155) (im Folgenden: Verordnungsvorschlag) vorlegte, oder vom Haager Übereinkommen von 1996, dem zahlreiche Mitgliedstaaten bis dahin noch nicht hatten beitreten können.

51      Dies ergibt sich eindeutig aus der Begründung dieses Verordnungsvorschlags, in der es heißt, dass „die Kommission … einen Vorschlag für eine Entscheidung des Rates zur Ermächtigung der Mitgliedstaaten, das Haager Übereinkommen von 1996 zu unterzeichnen, [unterbreitet hat,] um auf diese Weise auch außergemeinschaftliche Sachverhalte erfassen zu können“ (KOM[2002] 222 endgültig/2, S. 3).

52      Der Wille des Unionsgesetzgebers, die Koexistenz der unionsrechtlichen Vorschriften über Kindesentführungen und der in internationalen Übereinkommen enthaltenen Regelungen zu gewährleisten, wird in der Begründung des Berichts des Ausschusses für die Freiheiten und Rechte der Bürger, Justiz und innere Angelegenheiten des Europäischen Parlaments vom 7. November 2002 über den Verordnungsvorschlag (endgültig A 5‑0385/2002, S. 19) in Erinnerung gerufen, in der es heißt, dass dieser Vorschlag dadurch, dass er ein klares und kohärentes Verfahren für Fälle von Kindesentführung in der Union vorsehe, ein Instrument darstelle, „mit dem ein einheitlicheres System in der Europäischen Union herbeigeführt werden und das neben den Haager Übereinkommen von 1980 und 1996 im internationalen Bereich Anwendung finden kann“.

53      Die fragliche Auslegung von Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003, wonach der Mitgliedstaat des vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes zeitlich unbegrenzt zuständig bleibt, wenn das Kind in einen Drittstaat entführt worden ist, würde indessen bedeuten, dass Art. 7 Abs. 1 und Art. 52 Abs. 3 des Haager Übereinkommens von 1996 ihrer Wirkung beraubt wären, wenn das Kind infolge einer Entführung einen gewöhnlichen Aufenthalt in einem Drittstaat erlangt hat, der Vertragspartei dieses Übereinkommens ist.

54      Art. 7 Abs. 1 des Haager Übereinkommens von 1996 sieht nämlich genau wie Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 einen Zuständigkeitsübergang auf die Gerichte des Staates des neuen gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes vor, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. Diese Voraussetzungen betreffen insbesondere den Zeitablauf in Verbindung mit der Genehmigung oder der Passivität des betreffenden Sorgeberechtigten bei gleichzeitigem Einleben des Kindes in seinem neuen Umfeld.

55      Diese Möglichkeit eines Zuständigkeitsübergangs wäre jedoch endgültig ausgeschlossen, wenn die Gerichte eines Mitgliedstaats nach Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 zeitlich unbegrenzt zuständig blieben. Aus diesem Grund liefe diese Fortdauer der Zuständigkeit auch Art. 52 Abs. 3 des Haager Übereinkommens von 1996 zuwider, der es verbietet, dass eine von mehreren Vertragsstaaten vereinbarte Regelung im Anwendungsbereich dieses Übereinkommens – wie die in der Verordnung Nr. 2201/2003 vorgesehene Regelung – im Verhältnis zwischen diesen Staaten und anderen Vertragsstaaten die Anwendung der Bestimmungen des Übereinkommens berührt. Da die Zuständigkeit im Bereich der elterlichen Verantwortung nicht auf die betreffenden Gerichte der Vertragsstaaten übergehen könnte, wäre dieses Verhältnis indessen zwangsläufig berührt.

56      Dies hätte zur Folge, dass sich die Mitgliedstaaten – die das Haager Übereinkommen von 1996 allesamt ratifiziert haben oder ihm beigetreten sind – aufgrund des Unionsrechts gezwungen sähen, entgegen ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen zu handeln.

57      Aus diesen Erwägungen ergibt sich, dass die spezifische Regelung, die der Unionsgesetzgeber mit dem Erlass der Verordnung Nr. 2201/2003 einführen wollte, Fälle von Kindesentführungen von einem Mitgliedstaat in einen anderen betrifft. Daraus folgt, dass die dazugehörige Zuständigkeitsregel, nämlich die sich aus Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 ergebende, nicht dahin ausgelegt werden kann, dass sie auf den Fall einer Kindesentführung in einen Drittstaat Anwendung findet.

58      Als Drittes ist festzustellen, dass eine Auslegung von Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003, die zu einer zeitlich unbegrenzten Fortdauer der Zuständigkeit führen würde, nicht mit einem der grundlegenden Ziele dieser Verordnung in Einklang stünde, nämlich dem Wohl des Kindes zu entsprechen, indem zu diesem Zweck dem Kriterium der räumlichen Nähe Vorrang eingeräumt wird (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 15. Februar 2017, W und V, C‑499/15, EU:C:2017:118, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 17. Oktober 2018, UD, C‑393/18 PPU, EU:C:2018:835, Rn. 48).

59      Gemäß der Begründung des Verordnungsvorschlags (KOM[2002] 222 endgültig/2, S. 12) wollte der Unionsgesetzgeber nämlich gerade in Bezug auf die Zuweisung der Zuständigkeit in Fällen von Kindesentführung einen Interessenausgleich schaffen zwischen einerseits der Notwendigkeit, zu verhindern, dass der Entführer aus seiner rechtswidrigen Handlung einen Vorteil zieht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 1. Juli 2010, Povse, C‑211/10 PPU, EU:C:2010:400, Rn. 43), und andererseits der Möglichkeit, demjenigen Gericht, das dem Kind am nächsten ist, die Entscheidung über Anträge betreffend die elterliche Verantwortung zu gestatten.

60      Blieben die Gerichte des Ursprungsmitgliedstaats bedingungslos und zeitlich unbegrenzt zuständig, ungeachtet der Tatsache, dass die Entführung in den Drittstaat in der Zwischenzeit u. a. Gegenstand einer Zustimmung seitens jeder sorgeberechtigten Person, Behörde oder sonstigen Stelle gewesen sein kann, und ohne jegliche Bedingung, die es erlauben würde, die konkreten Umstände, durch die sich die Situation des betroffenen Kindes auszeichnet, zu berücksichtigen oder das Wohl dieses Kindes zu gewährleisten, so würde dies verhindern, dass dasjenige Gericht, das voraussichtlich am besten in der Lage ist, zu beurteilen, welche Maßnahmen zum Wohl des Kindes zu treffen sind, über Anträge bezüglich solcher Maßnahmen entscheiden kann. Ein solches Ergebnis liefe dem Ziel der Verordnung Nr. 2201/2003 zuwider, die, wie sich aus ihrem 33. Erwägungsgrund ergibt, im Licht von Art. 24 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union zu betrachten ist.

61      Im Übrigen würde eine solche Auslegung von Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003, die zu einer zeitlich unbegrenzten Fortdauer der Zuständigkeit führen würde, auch die Logik des mit dem Haager Übereinkommen von 1980 eingeführten Mechanismus der sofortigen Rückgabe oder Nichtrückgabe verkennen. Wenn gemäß Art. 16 dieses Übereinkommens entschieden ist, dass das Kind aufgrund des Übereinkommens nicht zurückzugeben ist, oder wenn innerhalb angemessener Frist kein Antrag nach dem Übereinkommen gestellt wird, werden nämlich die Gerichte oder Behörden des Staates, in den das Kind verbracht oder in dem es zurückgehalten wurde, zu den Gerichten oder Behörden des gewöhnlichen Aufenthaltsorts des Kindes und sollten als Entscheidungsinstanzen, die diesem gewöhnlichen Aufenthaltsort geografisch am nächsten sind, ihre Zuständigkeit in Bezug auf die elterliche Verantwortung ausüben können. Dieses Übereinkommen bleibt gemäß Art. 60 Buchst. e der Verordnung Nr. 2201/2003 insbesondere im Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten und den anderen Vertragsparteien des Übereinkommens anwendbar.

62      Aus den vorstehenden Erwägungen folgt, dass eine Auslegung von Art. 10 dieser Verordnung, die dazu führen würde, dass die Zuständigkeit im Ursprungsmitgliedstaat in Fällen von Kindesentführungen in einen Drittstaat zeitlich unbegrenzt fortbestünde, weder mit dem Wortlaut noch mit dem Kontext dieses Artikels und auch nicht mit den Gesetzgebungsmaterialien oder den Zielen dieser Verordnung begründet werden kann. Sie nähme außerdem den Bestimmungen des Haager Übereinkommens von 1996 im Fall der Kindesentführung in einen Drittstaat, der Vertragspartei dieses Übereinkommens ist, ihre Wirkung und liefe der Logik des Haager Übereinkommens von 1980 zuwider.

63      Daraus folgt, dass in dem Fall, dass ein Kind in einen Drittstaat entführt wurde, in dem es infolge dieser Entführung einen gewöhnlichen Aufenthalt erlangt hat, und das mitgliedstaatliche Gericht, bei dem ein Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung anhängig ist, feststellt, dass es seine Zuständigkeit mangels entsprechender Vereinbarung der Verfahrensparteien nicht auf Art. 12 der Verordnung Nr. 2201/2003 stützen kann, wie es im Ausgangsverfahren der Fall ist, das Gericht des betreffenden Mitgliedstaats seine Zuständigkeit auf der Grundlage bi- oder multilateraler internationaler Übereinkommen, soweit solche anwendbar sind, oder in Ermangelung eines solchen internationalen Übereinkommens gemäß Art. 14 dieser Verordnung auf der Grundlage seines nationalen Rechts ermitteln muss.

64      Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 dahin auszulegen ist, dass er im Fall der Feststellung, dass ein Kind zum Zeitpunkt der Stellung eines die elterliche Verantwortung betreffenden Antrags infolge einer Entführung in einen Drittstaat seinen gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Staat erlangt hat, nicht anwendbar ist. In einem solchen Fall ist die Zuständigkeit des angerufenen Gerichts gemäß den anwendbaren internationalen Übereinkommen oder, in Ermangelung eines solchen internationalen Übereinkommens, gemäß Art. 14 dieser Verordnung zu ermitteln.

 Kosten

65      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 10 der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 in der durch die Verordnung (EG) Nr. 2116/2004 des Rates vom 2. Dezember 2004 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass er im Fall der Feststellung, dass ein Kind zum Zeitpunkt der Stellung eines die elterliche Verantwortung betreffenden Antrags infolge einer Entführung in einen Drittstaat seinen gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Staat erlangt hat, nicht anwendbar ist. In einem solchen Fall ist die Zuständigkeit des angerufenen Gerichts gemäß den anwendbaren internationalen Übereinkommen oder, in Ermangelung eines solchen internationalen Übereinkommens, gemäß Art. 14 dieser Verordnung zu ermitteln.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Englisch.