Language of document : ECLI:EU:C:2006:646

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

PHILIPPE LÉGER

vom 5. Oktober 20061(1)

Rechtssache C‑110/05

Kommission der Europäischen Gemeinschaften

gegen

Italienische Republik

„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Artikel 28 EG – Freier Warenverkehr – Nationale Regelung, mit der das Ziehen von Anhängern durch Kleinkrafträder verboten wird – Mengenmäßige Beschränkungen – Maßnahmen gleicher Wirkung – Rechtfertigung – Sicherheit des Straßenverkehrs – Verhältnismäßigkeit“





1.        Mit der vorliegenden Klage beantragt die Kommission der Europäischen Gemeinschaften die Feststellung, dass die Italienische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Artikel 28 EG verstoßen hat, dass sie eine Regelung beibehält, mit der das Ziehen von Anhängern durch Kleinkrafträder verboten wird.

I –    Rechtlicher Rahmen

A –    Gemeinschaftsrecht

1.      Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft

2.        Artikel 28 EG bestimmt:

„Mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen sowie alle Maßnahmen gleicher Wirkung sind zwischen den Mitgliedstaaten verboten.“

3.        Nach Artikel 30 EG sind Einfuhrverbote oder ‑beschränkungen zwischen den Mitgliedstaaten zulässig, die u. a. aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und zum Schutze der Gesundheit und des Lebens von Menschen gerechtfertigt sind, sofern sie weder ein Mittel zur willkürlichen Diskriminierung noch eine verschleierte Beschränkung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten darstellen.

2.      Regelung der Verfahren über die Erteilung der Betriebserlaubnis und der Bauartgenehmigung für zweirädrige oder dreirädrige Kraftfahrzeuge

4.        Die Richtlinie 92/61/EWG des Rates(2) wurde zu dem Zweck erlassen, ein gemeinschaftliches Betriebserlaubnisverfahren(3) für zweirädrige oder dreirädrige Kraftfahrzeuge festzulegen.

5.        Wie aus den Begründungserwägungen dieser Richtlinie klar hervorgeht, soll mit diesem Verfahren das Funktionieren des Binnenmarktes dadurch gewährleistet werden, dass die technischen Handelshemmnisse bei Kraftfahrzeugen beseitigt werden(4). Das Verfahren soll auch zur Verbesserung der Sicherheit im Straßenverkehr sowie zum Schutz der Umwelt und zum Verbraucherschutz beitragen(5).

6.        Um die Umsetzung dieses gemeinschaftlichen Betriebserlaubnisverfahrens zu ermöglichen, sieht die Richtlinie eine vollständige Harmonisierung der technischen Anforderungen vor, denen diese Fahrzeuge genügen müssen(6). Sie sieht auch vor, dass die für die einzelnen Teile und Merkmale dieser Fahrzeuge geltenden technischen Vorschriften in Einzelrichtlinien harmonisiert werden(7).

7.        Nach Artikel 1 Absatz 1 Unterabsatz 1 gilt die Richtlinie 92/61 „für alle zur Teilnahme am Straßenverkehr bestimmten zweirädrigen und dreirädrigen Kraftfahrzeuge mit oder ohne Doppelrad sowie deren Bauteile oder technische Einheiten“.

8.        Nach Artikel 1 Absätze 2 und 3 gilt die Richtlinie insbesondere für Kleinkrafträder(8), Krafträder, dreirädrige Kraftfahrzeuge und vierrädrige Kraftfahrzeuge.

9.        Die Vorschriften über Massen und Abmessungen von zweirädrigen und dreirädrigen Kraftfahrzeugen wurden im Rahmen der Richtlinie 93/93/EWG des Rates(9) harmonisiert.

10.      Weitere technische Anforderungen, u. a. an die Anhänge‑ und Befestigungsvorrichtungen für diese Fahrzeuge, waren Gegenstand einer Harmonisierung im Rahmen der Richtlinie 97/24/EG des Europäischen Parlaments und des Rates(10).

11.      In der Präambel der Richtlinien 93/93 und 97/24 heißt es jeweils, dass die Vorschriften dieser Richtlinien nicht bezwecken bzw. bewirken dürfen, dass die Mitgliedstaaten, in deren Gebiet zweirädrige Kraftfahrzeuge keine Anhänger mitführen dürfen, ihre Regelungen ändern müssen(11).

B –    Nationales Recht

12.      Artikel 53 des Decreto legislativo Nr. 285 vom 30. April 1992(12) definiert als Motorfahrzeuge (motoveicoli) alle Kraftfahrzeuge mit zwei, drei oder vier Rädern, wobei die letztgenannten die Kategorie der „vierrädrigen Kraftfahrzeuge“ bilden.

13.      Nach Artikel 54 der Straßenverkehrsordnung sind Kraftwagen Kraftfahrzeuge mit mindestens vier Rädern, mit Ausnahme der Motorfahrzeuge (motoveicoli).

14.      Gemäß Artikel 56 der Straßenverkehrsordnung dürfen nur Kraftwagen, Oberleitungsbusse(13) und Zugmaschinen Anhänger ziehen.

II – Vorverfahren

15.      Die Kommission gelangte nach einem Schriftwechsel mit der Italienischen Republik zu der Ansicht, dass dieser Mitgliedstaat mit dem Erlass der in Rede stehenden Regelung gegen seine Verpflichtungen aus Artikel 28 EG verstoßen habe, und forderte ihn mit Schreiben vom 3. April 2003 auf, sich dazu zu äußern.

16.      Die Italienische Republik verpflichtete sich in ihrem Antwortschreiben vom 13. Juni 2003 dazu, die notwendigen Änderungen der nationalen Regelung vorzunehmen und das von der Kommission erwähnte Hindernis für die Einfuhren zu beseitigen. Sie stellte ferner klar, dass diese Änderungen nicht nur die Betriebserlaubnis für die Fahrzeuge, sondern auch die Zulassung, den Verkehr und die Hauptuntersuchung der Anhänger (Untersuchungen) beträfen.

17.      Die Kommission erhielt jedoch keine weitere Mitteilung in Bezug auf den Erlass dieser Änderungen und übersandte daher der Italienischen Republik am 19. Dezember 2003 eine mit Gründen versehene Stellungnahme, mit der sie diese aufforderte, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um ihren Verpflichtungen aus Artikel 28 binnen zwei Monaten ab Notifizierung dieser Stellungnahme nachzukommen. Da diese mit Gründen versehene Stellungnahme unbeantwortet blieb, hat die Kommission mit Klageschrift, die am 4. März 2005 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingereicht worden ist, die vorliegende Klage gemäß Artikel 226 EG erhoben.

III – Die Klage

18.      Die Kommission beantragt,

–        festzustellen, dass die Italienische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Artikel 28 EG verstoßen hat, dass sie das Ziehen von Anhängern durch Kleinkrafträder verboten hat;

–        der Italienischen Republik die Kosten aufzuerlegen.

19.      Die Italienische Republik beantragt Klageabweisung.

IV – Zur Vertragsverletzung

A –    Wesentliches Vorbringen der Parteien

20.      Die Kommission rügt, dass die Italienische Republik dadurch gegen den in Artikel 28 EG verankerten Grundsatz des freien Warenverkehrs verstoßen hat, dass sie das Ziehen von Anhängern durch Kleinkrafträder verboten hat.

21.      Die Kommission begründet diese Rüge zunächst damit, dass in Ermangelung einer harmonisierten Gemeinschaftsregelung für die Bauartgenehmigung, die Zulassung und den Verkehr von Anhängern für Kleinkrafträder die Artikel 28 EG und 30 EG Anwendung fänden.

22.      Sodann weist die Kommission darauf hin, dass die in Rede stehende Maßnahme die Verwendung von in anderen Mitgliedstaaten rechtmäßig hergestellten und in Verkehr gebrachten Anhängern verhindere, was deren Einfuhr nach Italien und den Vertrieb in diesem Land behindere. Eine solche Maßnahme, die ein Einfuhrhindernis im Sinne von Artikel 28 EG darstelle, könne nur dann als mit dem Vertrag vereinbar betrachtet werden, wenn sie aus einem der in Artikel 30 EG aufgeführten Gründe des Allgemeininteresses oder durch eines der in der Rechtsprechung des Gerichtshofes aufgestellten Erfordernisse gerechtfertigt sei.

23.      Der Umstand, dass die Italienische Republik den Verkehr von in anderen Mitgliedstaaten zugelassenen Kleinkrafträdern, die Anhänger zögen, in ihrem Gebiet erlaube, beweise, dass das in Rede stehende Verbot des Ziehens von Anhängern keinem Erfordernis im Bereich der Sicherheit des Straßenverkehrs entspreche.

24.      Schließlich seien die von der Italienischen Republik zur Stützung der in Rede stehenden Regelung angeführten Begründungserwägungen der Richtlinien 93/93 und 97/24 nicht bindend und sollten bzw. könnten nationale Regelungen der in der vorliegenden Rechtssache streitigen Art nicht mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar machen. In diesem Zusammenhang erinnert die Kommission an die ständige Rechtsprechung des Gerichtshofes zum Vorrang des primären Gemeinschaftsrechts vor dem abgeleiteten Recht.

25.      Auf dieses Vorbringens erwidert die Italienische Republik, dass die ihr zur Last gelegte Vertragsverletzung das Verbot des Ziehens von Anhängern durch in Italien zugelassene Kleinkrafträder und nicht die Versagung der Zulassung eines in einem anderen Mitgliedstaat hergestellten Kleinkraftrads und Anhängers betreffe, die dazu bestimmt seien, in Italien in den Verkehr gebracht zu werden.

26.      Ferner ermächtige der in den letzten Begründungserwägungen der Richtlinien 93/93 und 97/24 aufgeführte Vorbehalt zum Erlass der streitigen Maßnahme. Ein solcher Vorbehalt sei mit der unterschiedlichen Oberflächengestalt der nationalen Gebiete zu erklären. Er könne nur dann aufgehoben werden, wenn die technischen Vorschriften über die Bauartgenehmigung, die Zulassung und den Straßenverkehr von Anhängern, die von zweirädrigen oder dreirädrigen Kraftfahrzeugen gezogen würden, harmonisiert würden(14). Das geltende Gemeinschaftsrecht sehe eine solche Harmonisierung jedoch nicht vor. Daher stehe die gegenseitige Anerkennung der Anhänger im Ermessen der Mitgliedstaaten.

27.      Schließlich seien die technischen Merkmale der Fahrzeuge unter dem Gesichtspunkt der Sicherheit des Straßenverkehrs von Bedeutung. In Ermangelung von Normen über die Bauartgenehmigung für Fahrzeuge, die einen Anhänger zögen, seien die erforderlichen Sicherheitsvoraussetzungen nicht erfüllt.

B –    Würdigung

28.      Mit der Klage der Kommission soll festgestellt werden, dass die italienische Regelung ein vertragswidriges Hindernis für den freien Warenverkehr dadurch einführt, dass das Ziehen von Anhängern durch Kleinkrafträder verboten wird.

29.      Vorab sei darauf hingewiesen, dass die angeführten Bestimmungen des abgeleiteten Rechts die technischen Merkmale, denen Kleinkrafträder, die einen Anhänger ziehen, genügen müssen, nicht regeln. Die diese Frage betreffenden nationalen Maßnahmen sind also nicht auf Gemeinschaftsebene harmonisiert worden.

30.      Indessen bleiben die Mitgliedstaaten in Ermangelung gemeinsamer oder harmonisierter Vorschriften verpflichtet, die im Vertrag verankerten Grundfreiheiten zu wahren, zu denen der freie Warenverkehr gehört(15).

31.      Diese Freiheit wird insbesondere durch das Verbot mengenmäßiger Einfuhrbeschränkungen sowie aller Maßnahmen gleicher Wirkung zwischen den Mitgliedstaaten nach Artikel 28 EG gewährleistet.

32.      Nach ständiger Rechtsprechung ist jede staatliche Maßnahme, die geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potenziell zu behindern, eine nach Artikel 28 EG verbotene Maßnahme mit gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Beschränkung(16). Auch wenn mit einer Maßnahme nicht bezweckt ist, den Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten zu regeln, kommt es entscheidend auf ihre Wirkung auf den innergemeinschaftlichen Handel an, gleichgültig, ob diese tatsächlich oder potenziell ist.

33.      Ferner ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofes, dass in Ermangelung einer Harmonisierung der Rechtsvorschriften Maßnahmen, die unterschiedslos auf inländische und auf aus anderen Mitgliedstaaten eingeführte Erzeugnisse anwendbar sind, Beschränkungen des freien Warenverkehrs darstellen können(17).

34.      Diese Maßnahmen können jedoch gerechtfertigt sein, wenn mit ihnen legitime Ziele verfolgt werden. Denn nach ständiger Rechtsprechung verstößt eine nationale Regelung, die den freien Warenverkehr behindert, nicht notwendigerweise gegen das Gemeinschaftsrecht, wenn sie durch einen der in Artikel 30 EG aufgezählten Gründe des Gemeinwohls oder, sofern sie unterschiedslos anwendbar ist, durch eines der in der Rechtsprechung des Gerichtshofes aufgestellten zwingenden Erfordernisse gerechtfertigt werden kann(18).

35.      Wie jedoch der Gerichtshof hervorhebt, ist jede Ausnahme vom Grundprinzip des freien Warenverkehrs eng auszulegen(19). Jeder der in Artikel 30 EG aufgeführten Rechtfertigungsgründe ist daher eng auszulegen, und dieser Artikel kann nicht auf andere Fälle erstreckt werden als die, die in ihm abschließend aufgezählt sind. Daher obliegt es den zuständigen nationalen Behörden, nachzuweisen, dass ihre Regelung erforderlich ist, um das betreffende Ziel zu erreichen, und dass die Regelung in Anbetracht dessen verhältnismäßig ist(20).

36.      Im Licht dieser Grundsätze ist zu prüfen, ob die in Rede stehende nationale Regelung ein durch Artikel 28 EG verbotenes Hindernis für den freien Warenverkehr darstellt, und bejahendenfalls, ob dieses gerechtfertigt werden kann.

1.      Zum Vorliegen eines Hindernisses für den freien Warenverkehr

37.      Ich denke, dass die in der vorliegenden Rechtssache in Rede stehende nationale Regelung eine nach Artikel 28 EG verbotene Maßnahme mit gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Beschränkung darstellt.

38.      Zum einen geht aus den Akten hervor, dass das in Rede stehende Verbot eine Maßnahme ist, die unterschiedslos auf inländische und aus anderen Mitgliedstaaten eingeführte Erzeugnisse anwendbar ist. Die italienische Regierung führt hierzu in ihrer Gegenerwiderung aus, dass das Verbot sämtliche Anhänger, unabhängig vom Ort ihrer Herstellung, betreffe(21).

39.      Zum anderen behindert die nationale Regelung den freien Warenverkehr und insbesondere den freien Verkehr der Anhänger unbestreitbar dadurch, dass allgemein und absolut in ganz Italien das Ziehen eines Anhängers durch Kleinkrafträder verboten ist.

40.      Denn dieses Verbot betrifft zwar nur Kleinkrafträder, doch dürfte das Ziehen eines Anhängers durch diese Art von Fahrzeug insbesondere auf dem Land eine übliche und häufige Beförderungsart darstellen. Auch wenn diese Regelung nicht die Einfuhr und das Inverkehrbringen von Anhängern in Italien verbietet, bewirkt sie jedoch eine Beschränkung ihrer Verwendung im gesamten italienischen Hoheitsgebiet. Ich bin daher der Ansicht, dass ein solches Verbot geeignet ist, die Möglichkeiten des Handelsverkehrs zwischen der Italienischen Republik und den anderen Mitgliedstaaten zu beschränken und die Einfuhr und das Inverkehrbringen von Anhängern aus diesen Staaten nach bzw. in Italien zu behindern, obwohl diese dort rechtmäßig hergestellt und in Verkehr gebracht worden sind.

41.      Daher bin ich der Ansicht, dass die in Rede stehende nationale Regelung eine nach Artikel 28 EG grundsätzlich verbotene Maßnahme mit gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Beschränkung darstellt.

42.      Es ist jedoch zu prüfen, ob diese Regelung trotz ihrer beschränkenden Wirkungen auf dem innergemeinschaftlichen Handelsverkehr durch einen der in Artikel 30 EG aufgeführten Gründe des Allgemeininteresses oder eines der in der Rechtsprechung des Gerichtshofes aufgestellten zwingenden Erfordernisse gerechtfertigt werden kann, und gegebenenfalls, ob eine solche Beschränkung geeignet ist, das angestrebte Ziel zu erreichen, und im rechten Verhältnis zu diesem steht.

2.      Zur möglichen Rechtfertigung des Hindernisses

43.      Im vorliegenden Rechtsstreit macht die Italienische Republik geltend, dass das in Rede stehende Verbot zu dem Zweck erlassen worden sei, die Sicherheit der Kraftfahrzeugführer zu gewährleisten. Dieser Grund ist nicht ausdrücklich in Artikel 30 EG erwähnt, und diese Bestimmung ist, wie ich ausgeführt habe, eng auszulegen.

44.      Ich denke jedoch, dass der Schutz der Sicherheit des Straßenverkehrs einen legitimen Grund darstellt, der geeignet ist, unter bestimmten Umständen ein Hindernis für den Warenverkehr in der Gemeinschaft zu rechtfertigen.

45.      Denn unbestreitbar ist die Sicherheit des Straßenverkehrs ein vom Gemeinschaftsrecht anerkanntes und verfolgtes Ziel(22).

46.      Ferner gehören zu den in Artikel 30 EG erwähnten Rechtfertigungsgründen die öffentliche Sicherheit sowie der Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen. Ich denke, dass jeder dieser Gründe selbstverständlich so zu verstehen ist, dass er die Verhütung von Verkehrsunfällen umfasst.

47.      Schließlich hat der Gerichtshof bereits im Urteil vom 11. Juni 1987, Goffette und Gilliard(23), in Bezug auf eine Kontrollmaßnahme, die als Voraussetzung für die Zulassung eines aus einem anderen Mitgliedstaat eingeführten Kraftfahrzeugs vorgeschrieben war, anerkannt, dass ein Hindernis für den freien Warenverkehr auf der Grundlage von Artikel 30 EG gerechtfertigt werden kann, wenn sich diese Maßnahme als erforderlich erweist, um die Verkehrssicherheit zu gewährleisten(24).

48.      Daher bin ich der Ansicht, dass die in Rede stehende nationale Regelung auf der Grundlage von Artikel 30 EG gerechtfertigt werden könnte, sofern sie zum einen geeignet wäre, die Sicherheit der Fahrzeugführer zu gewährleisten, und zum anderen im Hinblick auf dieses Ziel verhältnismäßig wäre.

49.      Was erstens die Eignung der in Rede stehenden Maßnahme betrifft, das angestrebte Ziel zu erreichen, so meine ich, dass eine nationale Regelung, die das Ziehen eines Anhängers durch Kleinkrafträder verbietet, in bestimmten Fällen Bestrebungen um die Sicherheit des Straßenverkehrs entsprechen kann.

50.      Denn das Ankuppeln eines Anhängers an ein Kleinkraftrad kann unter bestimmten Umständen eine Gefahr für den Verkehr darstellen, da dieses Fahrzeug langsam ist und den Verkehr auf der Straße erheblich behindert. Daher kann ich verstehen, dass der Verkehr mit dieser Art von Fahrzeugen auf bestimmten Straßen wie Autobahnen oder besonders gefährlichen Strecken beschränkt ist.

51.      Somit kann nicht ausgeschlossen werden, dass diese Maßnahme zur Sicherheit des Straßenverkehrs beitragen kann.

52.      Was zweitens die Verhältnismäßigkeit dieser Maßnahme angeht, so ist daran zu erinnern, dass es zwar den Mitgliedstaaten in Ermangelung harmonisierter Regelungen betreffend den Verkehr von Kleinkrafträdern, die einen Anhänger ziehen, obliegt, über das Niveau zu entscheiden, auf dem sie die Sicherheit der Fahrzeugführer gewährleisten wollen, und die Art und Weise, auf die dieses Niveau zu erreichen ist, doch können sie dies nur in den vom Vertrag gezogenen Grenzen und insbesondere unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit tun.

53.      In Bezug auf die Vereinbarkeit einer nationalen Regelung mit diesem Grundsatz ist zu prüfen, ob die Mittel, die sie ins Werk setzt, nicht über das für den Schutz der betroffenen Interessen Notwendige hinausgehen.

54.      Zuerst ist festzustellen, dass eine nationale Maßnahme wie die, um die es in der vorliegenden Rechtssache geht, eine erhebliche Beschränkung des freien Handelsverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten mit sich bringt.

55.      Denn aus den Angaben in der Akte ergibt sich, dass die in Rede stehende Maßnahme ein allgemeines und absolutes Verbot enthält. Sie beschränkt sich nicht darauf, den Verkehr von Kleinkrafträdern, die einen Anhänger ziehen, an bestimmten Örtlichkeiten oder auf bestimmten Strecken zu verbieten, sondern gilt für das gesamte italienische Hoheitsgebiet, unabhängig von der Straßeninfrastruktur und den Verkehrsverhältnissen.

56.      Sodann geben die italienischen Behörden keinen genauen Umstand an, der geeignet wäre, darzutun, dass die vorgeschriebenen Anforderungen im rechten Verhältnis zum Zweck eines wirksamen Schutzes der Sicherheit der Fahrzeugführer stehen.

57.      Zum einen beschränkt sich die Italienische Republik auf die völlig allgemeine Feststellung, dass „die Oberflächengestalt der verschiedenen nationalen Gebiete nicht einheitlich“ sei und dass „die technischen Merkmale der Fahrzeuge für die Sicherheit der Menschen und des Verkehrs von Bedeutung“ seien.

58.      Zum anderen bestreitet die Italienische Republik nicht, dass das in Rede stehende Verbot nur die in Italien zugelassenen Kleinkrafträder betrifft(25). Die in den anderen Mitgliedstaaten zugelassenen Fahrzeuge dürften daher mit einem Anhänger auf den italienischen Straßen verkehren.

59.      Schließlich denke ich, dass die mit der in Rede stehenden Regelung bezweckte Sicherheit der Fahrzeugführer durch Maßnahmen gewährleistet werden kann, die den innergemeinschaftlichen Handelsverkehr weniger beschränken. Ich denke beispielsweise, dass ein sektorielles Verbot, das auf als gefährlich geltende Strecken wie die Alpenüberquerungen oder die besonders verkehrsreichen öffentlichen Straßen anwendbar ist, zur Verfolgung dieses Zieles beiträgt. In diesem Zusammenhang bestätigt die von der Italienischen Republik bekannt gegebene Absicht, ihre Regelung entsprechend dem Gemeinschaftsrecht zu ändern, dieses Ergebnis.

60.      Jedenfalls oblag es meiner Ansicht nach den italienischen Behörden, vor Erlass einer so einschneidenden Maßnahme wie eines allgemeinen und absoluten Verbotes aufmerksam die Möglichkeit zu prüfen, auf Maßnahmen zurückzugreifen, die für den freien Verkehr weniger beschränkend sind, und diese nur dann auszuschließen, wenn ihre Ungeeignetheit im Hinblick auf das verfolgte Ziel eindeutig nachgewiesen gewesen wäre.

61.      Nach allem bin ich daher der Ansicht, dass ein allgemeines und absolutes Verbot wie das, um das es in der vorliegenden Rechtssache geht, keine Maßnahme darstellt, die im rechten Verhältnis zu dem von den nationalen Behörden angestrebten Ziel steht.

62.      Daher denke ich, dass die nationale Regelung wegen Verstoßes gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht aus Gründen, die mit der Sicherheit des Straßenverkehrs im Zusammenhang stehen, gerechtfertigt werden kann. Diese Regelung ist daher für mit Artikel 28 EG unvereinbar zu erklären.

63.      Das Vorbringen der Italienischen Republik, wonach die letzten Begründungserwägungen der Richtlinien 93/93 und 97/24 die Mitgliedstaaten ermächtigten, eine solche Regelung beizubehalten, kann diesem Ergebnis nicht ernsthaft widersprechen.

64.      Denn nach ständiger Rechtsprechung sind „die Begründungserwägungen eines Gemeinschaftsrechtsakts rechtlich nicht verbindlich … und [können] weder herangezogen werden …, um von den Bestimmungen des betreffenden Rechtsakts abzuweichen, noch um diese Bestimmungen in einem Sinne auszulegen, der ihrem Wortlaut offensichtlich widerspricht“(26).

65.      Im vorliegenden Fall ist keine der von der Italienischen Republik angesprochenen Begründungserwägungen in die Bestimmungen der Richtlinie selbst aufgenommen worden. Wie ich bereits in Nummer 70 meiner Schlussanträge in der Rechtssache Meta Fackler(27) ausgeführt habe, geben zwar die Begründungserwägungen einer Richtlinie dem Gerichtshof im Allgemeinen Hinweise auf die Absicht des Gesetzgebers und liefern ihm nützliche Anhaltspunkte dafür, die Bedeutung ihrer Bestimmungen festzulegen, doch muss, wenn ein in einer Begründungserwägung enthaltener Begriff in den Bestimmungen der Richtlinie selbst nicht ausdrücklich konkretisiert wird, der Inhalt der Richtlinie Vorzug haben.

66.      Jedenfalls hat der Gerichtshof wiederholt entschieden, dass eine Bestimmung des abgeleiteten Rechts, im vorliegenden Fall eine Richtlinie, „nicht dahin ausgelegt werden [kann], dass [sie] die Mitgliedstaaten ermächtigt, Bedingungen vorzuschreiben, die den Vertragsbestimmungen über den Warenverkehr zuwiderlaufen“(28).

67.      Daher denke ich, dass sich die Italienische Republik nicht auf die Begründungserwägungen der Richtlinien 93/93 und 97/24 stützen kann, um das mit der fraglichen Regelung angeordnete Verbot zu rechtfertigen.

68.      Nach allem denke ich, dass die Italienische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Artikel 28 EG verstoßen hat, dass sie eine Regelung, die es verbietet, dass in Italien zugelassene Kleinkrafträder einen Anhänger ziehen, erlassen und beibehalten hat.

V –    Kosten

69.      Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kommission die Verurteilung der Italienischen Republik beantragt hat und diese mit ihrem Vorbringen im Wesentlichen unterlegen ist, sind ihr die Kosten aufzuerlegen.

VI – Ergebnis

70.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor,

1.      festzustellen, dass die Italienische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Artikel 28 EG verstoßen hat, dass sie eine Regelung, die es verbietet, dass in Italien zugelassene Kleinkrafträder einen Anhänger ziehen, erlassen und beibehalten hat;

2.      der Italienischen Republik die Kosten aufzuerlegen.


1 – Originalsprache: Französisch.


2 – Richtlinie vom 30. Juni 1992 über die Betriebserlaubnis für zweirädrige oder dreirädrige Kraftfahrzeuge (ABl. 225, S. 72).


3 – Nach Artikel 2 Nummer 6 der Richtlinie 92/61 ist unter „Betriebserlaubnis“ eine Verwaltungsmaßnahme zu verstehen, durch die ein Mitgliedstaat feststellt, dass ein Fahrzeug sowohl den technischen Vorschriften der Einzelrichtlinien als auch der Nachprüfung der in Anhang I der Richtlinie aufgeführten Angaben des Herstellers entspricht.


4 – Vgl. erste bis dritte. zwölfte und letzte Begründungserwägung.


5 – Vgl. letzte Begründungserwägung.


6 – Ebenda.


7 – Vgl. achte Begründungserwägung.


8 – Nach Artikel 1 Absatz 2 erster Gedankenstrich der Richtlinie 92/61 sind unter „Kleinkrafträder“ „zweirädrige oder dreirädrige Kraftfahrzeuge mit einem Motor und Hubraum von höchstens 50 cm³ bei innerer Verbrennung und einer bauartbedingten Höchstgeschwindigkeit von höchstens 45 km/h“ zu verstehen.


9 – Richtlinie 93/93/EWG des Rates vom 29. Oktober 1993 über Massen und Abmessungen von zweirädrigen und dreirädrigen Kraftfahrzeugen (ABl. L 311, S. 76).


10 – Richtlinie 97/24/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Juni 1997 über bestimmte Bauteile und Merkmale von zweirädrigen oder dreirädrigen Kraftfahrzeugen (ABl. L 226, S. 1).


11 – Vgl. letzte Begründungserwägungen der Richtlinien 93/93 und 97/24.


12 – GURI Nr. 114 vom 18. Mai 1992, im Folgenden: Straßenverkehrsordnung.


13 – Oberleitungsbusse sind Kraftfahrzeuge mit elektrischem Antrieb, die nicht auf Schienen verkehren und die mit einer Oberleitung zur Stromzuführung verbunden sind.


14 – Die Italienische Republik bemerkt hierzu, dass eine solche Regelung bereits für von anderen Arten von Fahrzeugen gezogene Anhänger bestehe.


15 – Nach Artikel 3 Absatz 1 Buchstabe c EG umfasst die Tätigkeit der Europäischen Gemeinschaft einen Binnenmarkt, der durch die Beseitigung der Hindernisse u. a. für den freien Warenverkehr zwischen den Mitgliedstaaten gekennzeichnet ist. Ferner sieht Artikel 14 Absatz 2 EG vor: „Der Binnenmarkt umfasst einen Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren … gemäß den Bestimmungen dieses Vertrags gewährleistet ist“; diese Bestimmungen sind insbesondere in den Artikeln 28 ff. EG enthalten. Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. Dezember 1997 in der Rechtssache C‑265/95 (Kommission/Frankreich, Slg. 1997, I‑6959, Randnrn. 24 ff.).


16 – Vgl. insbesondere Urteile vom 24. November 1993 in den Rechtssachen C‑267/91 und C‑268/91 (Keck und Mithouard, Slg. 1993, I‑6097, Randnr. 11) sowie vom 14. September 2006 in den Rechtssachen C‑158/04 und C‑159/04 (Alfa Vita Vassilopoulos und Carrefour Marinopoulos, Slg. 2006, I‑0000, Randnr. 15 und die dort angeführte Rechtsprechung).


17 – Vgl. insbesondere Urteil vom 20. Februar 1979 in der Rechtssache 120/78 (Rewe‑Zentral, „Cassis de Dijon“, Slg. 1979, 649, Randnrn. 6, 14 und 15).


18 – Vgl. in diesem Sinne Urteil Alfa Vita Vassilopoulos und Carrefour Marinopoulos, (Randnr. 20 und die angeführte Rechtsprechung). Eine mit Artikel 30 EG oder einem der vom Gemeinschaftsrecht anerkannten grundlegenden Erfordernissen begründete Rechtfertigung ist jedoch ausgeschlossen, wenn Gemeinschaftsrichtlinien die Harmonisierung der Maßnahmen vorsehen, die zur Verwirklichung des konkreten verfolgten Zieles erforderlich sind. In diesem Fall müssen die Schutzmaßnahmen in dem durch die Harmonisierungsrichtlinie festgelegten Rahmen ergriffen werden (vgl. insbesondere Urteil vom 23. Mai 1996 in der Rechtssache C‑5/94, Hedley Lomas, Slg. 1996, I‑2553, Randnr. 18).


19 – Vgl. u. a. Urteil vom 19. März 1991 in der Rechtssache C‑205/89 (Kommission/Griechenland, Slg. 1991, I‑1361, Randnr. 9).


20 – Vgl. zur Veranschaulichung Urteil vom 5. Februar 2004 in der Rechtssache C‑270/02 (Kommission/Italien, Slg. 2004, I‑1559, Randnr. 22).


21 – Nr. 2.


22 – Vgl. u. a. Empfehlung der Kommission vom 6. April 2004 zu Durchsetzungsmaßnahmen im Bereich der Straßenverkehrssicherheit (ABl. L 111, S. 75), Mitteilung der Kommission vom 2. Juni 2003: Europäisches Aktionsprogramm für die Straßenverkehrssicherheit – Halbierung der Zahl der Unfallopfer im Straßenverkehr in der Europäischen Union bis 2010: Eine gemeinsame Aufgabe (KOM[2003] 311 endg.) und Entschließung des Rates vom 26. Juni 2000 zur Verbesserung der Straßenverkehrssicherheit (ABl. C 218, S. 1).


23 – Rechtssache 406/85 (Slg. 1987, 2525, Randnr. 7).


24 – Ferner ist auf das Urteil vom 5. Oktober 1994 in der Rechtssache C‑55/93 (Van Schaik, Slg. 1994, I‑4837) hinzuweisen, in dem der Gerichtshof, der mit einer Vorlagefrage u. a. nach der Auslegung von Artikel 49 EG (freier Dienstleistungsverkehr) befasst war, ausgeführt hat, dass die Erfordernisse der Sicherheit des Straßenverkehrs zwingende Gründe des Allgemeininteresses darstellen, die eine Regelung eines Mitgliedstaats rechtfertigen können, die die Ausstellung von Prüfnachweisen für in diesem Mitgliedstaat zugelassene Fahrzeuge durch in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassene Werkstätten ausschließt (Randnr. 19).


25 – Nr. 2 der Klagebeantwortung.


26 – Vgl. insbesondere Urteil vom 24. November 2005 in der Rechtssache C‑136/04 (Deutsches Milch‑Kontor, Slg. 2005, I‑10095, Randnr. 32 und die zitierte Rechtsprechung).


27 – Urteil vom 12. Mai 2005 in der Rechtssache C‑444/03 (Slg. 2005, I‑3913).


28 – Urteil vom 9. Juni 1992 in der Rechtssache C‑47/90 (Delhaize und Le Lion Slg. 1992, I‑3669, Randnr. 26). Vgl. auch Urteil vom 2. Februar 1994 in der Rechtssache C-315/92 (Verband Sozialer Wettbewerb, „Clinique“, Slg. 1994, I‑317, Randnr. 12), wonach eine „Richtlinie ... wie das gesamte abgeleitete Recht im Licht der Bestimmungen des [EG-]Vertrags über den freien Warenverkehr auszulegen ist.“