Language of document : ECLI:EU:T:2024:217

Rechtssache T486/18 RENV

Danske Slagtermestre

gegen

Europäische Kommission

 Urteil des Gerichts (Erste Kammer) vom 10. April 2024

„Staatliche Beihilfen – Gebührensystem für die Abwassersammlung – Beschwerde eines Wettbewerbers – Beschluss, mit dem am Ende der Vorprüfungsphase festgestellt wird, dass keine staatliche Beihilfe vorliege – Erfordernis der Unparteilichkeit – Objektive Unparteilichkeit – Begriff des Vorteils – Grundsatz des marktwirtschaftlich handelnden privaten Wirtschaftsteilnehmers – Ex‑ante‑Analyse der inkrementellen Rentabilität – Bekanntmachung der Kommission zum Begriff der staatlichen Beihilfe“

1.      Grundrechte – Charta der Grundrechte – Recht auf eine gute Verwaltung – Unparteilichkeitsgebot – Objektive Unparteilichkeit – Beschluss der Kommission, mit dem festgestellt wird, dass keine staatliche Beihilfe bezüglich eines nationalen Gebührensystems für die Abwassersammlung vorliege – Von einem Mitglied der Kommission, das als nationaler Minister an der Verabschiedung der betreffenden nationalen Regelung mitgewirkt hat, vorbereiteter und unterzeichneter Beschluss – Mitglied der Kommission, das in seiner Eigenschaft als nationaler Minister öffentlich zugunsten der fraglichen nationalen Regelung Stellung genommen hat – Situation, die berechtigte Zweifel im Hinblick auf eine etwaige Voreingenommenheit dieses Kommissionsmitglieds aufkommen lassen kann – Verstoß gegen das Unparteilichkeitsgebot

(Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 41 Abs. 1)

(vgl. Rn. 26-44)

2.      Staatliche Beihilfen – Begriff – Gewährung eines Vorteils für die Begünstigten – Beurteilungskriterien – Staatlicher Eingriff wirtschaftlicher Art – Beurteilung nach dem Grundsatz des privaten Wirtschaftsteilnehmers

(Art. 107 Abs. 1 AEUV)

(vgl. Rn. 51-57)

3.      Staatliche Beihilfen – Begriff – Beurteilung nach dem Grundsatz des privaten Wirtschaftsteilnehmers – Beurteilung unter Berücksichtigung aller maßgeblichen Aspekte des streitigen Vorgangs und seines Kontexts – Ermessen der Kommission – Selbstbeschränkung dieses Ermessens durch die Verabschiedung der Bekanntmachung zum Begriff der staatlichen Beihilfe – Verpflichtung der Kommission zur Anwendung des Grundsatzes des privaten Wirtschaftsteilnehmers unter Beachtung der in dieser Bekanntmachung dargelegten Analysemethode – Verstoß

(Art. 107 Abs. 1 AEUV; Bekanntmachung 2016/C 262/01 der Kommission, Rn. 228)

(vgl. Rn. 66-91)

4.      Staatliche Beihilfen – Begriff – Beurteilung nach dem Grundsatz des privaten Wirtschaftsteilnehmers – In die Beurteilung einfließende Gesichtspunkte – Aussichten auf Rentabilität der betreffenden Maßnahme

(Art. 107 Abs. 1 AEUV)

(vgl. Rn. 92-98)

Zusammenfassung

Das Gericht, das nach Zurückverweisung durch den Gerichtshof entscheidet, erklärt den Beschluss der Kommission(1) für nichtig, mit dem diese feststellte, dass die dänische Regelung der Gebühren für Abwasserentsorgungsunternehmen eine staatliche Beihilfe zugunsten großer Schlachthöfe mit sich bringe. In diesem Rahmen erläutert das Gericht zum einen das Erfordernis der Unparteilichkeit der Kommission und zum anderen die Anwendung des Grundsatzes des marktwirtschaftlich handelnden privaten Wirtschaftsteilnehmers in einem Kontext wie dem vorliegenden. Zu diesem letzten Punkt weist das Gericht außerdem auf die Verpflichtung der Kommission hin, die insoweit in ihrer Bekanntmachung zum Begriff der staatlichen Beihilfe(2) vorgesehenen Kriterien zu beachten.

Mit einem im Jahr 2013 verabschiedeten Gesetz(3) (im Folgenden: Gesetz von 2013) ersetzte Dänemark das System der einheitlichen Abgabe pro Kubikmeter Wasser für alle an dieselbe Abwasserbehandlungsanlage angeschlossenen Verbraucher durch ein degressives Modell in Stufen, das einen Tarif nach Maßgabe der Menge des eingeleiteten Abwassers vorsieht (im Folgenden: Stufentarifierung). Dieses neue Tarifierungsmodell sieht im Wesentlichen eine Senkung des Tarifs pro Kubikmeter ab einer bestimmten Menge eingeleiteten Abwassers vor, was eine Senkung der von den größten Verbrauchern zu zahlenden Gebühren zur Folge hat.

Danske Slagtermestre – ein Berufsverband, der geltend macht, dänische Kleinmetzgereien, Schlachtbetriebe, Großhändler und verarbeitende Unternehmen zu vertreten – reichte bei der Kommission eine Beschwerde ein mit der Begründung, dass mit dem genannten Gesetz eine staatliche Beihilfe für große Schlachthöfe in Form einer Verringerung der Gebühren für die Abwasserbehandlung gewährt worden sei.

Mit Beschluss vom 19. April 2018 stellte die Kommission fest, dass die mit dem Gesetz von 2013 eingeführte Stufentarifierung keinen besonderen Vorteil für bestimmte Unternehmen schaffe und daher keine staatliche Beihilfe im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV darstelle. Zur Stützung dieses Ergebnisses führte die Kommission unter Bezugnahme auf ihre Bekanntmachung zum Begriff der staatlichen Beihilfe aus, dass auch ein marktwirtschaftlich handelnder privater Wirtschaftsteilnehmer das Stufenmodell angewandt hätte.

Danske Slagtermestre erhob beim Gericht Klage auf Nichtigerklärung dieses Beschlusses.

Mit Beschluss vom 1. Dezember 2020(4) wies das Gericht die Klage mit der Begründung als unzulässig ab, dass Danske Slagtermestre nicht klagebefugt sei. Auf ein Rechtsmittel hin entschied der Gerichtshof, dass der Berufsverband klagebefugt war, hob den vorgenannten Beschluss auf und verwies die Sache zur Prüfung der Begründetheit an das Gericht zurück(5).

Würdigung durch das Gericht

Das Gericht prüft als Erstes den Nichtigkeitsgrund, mit dem geltend gemacht wird, die Kommission habe gegen das in Art. 41 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerte Unparteilichkeitsgebot verstoßen. Nach Ansicht der Klägerin wurde dieses Gebot beim Erlass des angefochtenen Beschlusses verletzt, da das für den Wettbewerb zuständige Kommissionsmitglied, das den Beschluss unterzeichnet habe, als Ministerin der dänischen Regierung auch beim Erlass des Gesetzes von 2013 mitgewirkt habe.

Insoweit weist das Gericht darauf hin, dass es den Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union obliegt, dem Unparteilichkeitsgebot u. a. in seiner Ausprägung der objektiven Unparteilichkeit nachzukommen, wonach das betreffende Organ hinreichende Garantien bieten muss, um jeden berechtigten Zweifel im Hinblick auf etwaige Vorurteile auszuschließen, wobei auch ein Anschein von Bedeutung sein kann.

Nach dieser Klarstellung stellt das Gericht erstens fest, dass das für den Wettbewerb zuständige Kommissionsmitglied, das den angefochtenen Beschluss unterzeichnet hat, zum Zeitpunkt der Einbringung des Entwurfs des Gesetzes von 2013 und von dessen Erlass Ministerin für Wirtschaft und Inneres sowie stellvertretende Ministerpräsidentin des Königreichs Dänemark war. Da zweitens anzunehmen ist, dass sich die Stufentarifierung auf die Ausgaben von Privatpersonen und Unternehmen auswirkt, kann vernünftigerweise davon ausgegangen werden, dass sie im Einvernehmen mit der Ministerin vorgeschlagen wurde. Drittens hat das betreffende Kommissionsmitglied auf nationaler Ebene öffentlich und ausdrücklich zugunsten der Stufentarifierung Stellung genommen.

In Anbetracht dessen stellt das Gericht fest, dass das betreffende Kommissionsmitglied ein Interesse daran hatte, dass die im Gesetz von 2013 vorgesehene Abwassergebühr nicht wegen Rechtswidrigkeit im Hinblick auf die unionsrechtlichen Vorschriften über staatliche Beihilfen in Frage gestellt wird.

Sodann prüft das Gericht, ob das Verfahren zum Erlass des angefochtenen Beschlusses hinreichende Garantien bot, um auszuschließen, dass dieses Verfahren aufgrund eines solchen Interesses mit einem Verstoß gegen das Unparteilichkeitsgebot behaftet ist.

Hierzu weist das Gericht darauf hin, dass das betreffende Kommissionsmitglied trotz des kollegialen Charakters des Beschlussfassungsverfahrens innerhalb der Kommission nicht nur für die Vorbereitung des angefochtenen Beschlusses verantwortlich war, sondern darüber hinaus alleinige Unterzeichnerin dieses Beschlusses war.

Eine solche Situation ist aber geeignet, in den Augen Dritter berechtigte Zweifel hinsichtlich etwaiger Vorurteile dieses Kommissionsmitglieds aufkommen zu lassen, und zwar unabhängig von seinem persönlichen Verhalten. Somit bot das Verfahren, das zum Erlass des angefochtenen Beschlusses führte, keine hinreichenden Garantien im Hinblick auf die objektive Unparteilichkeit.

Als Zweites prüft das Gericht ergänzend den Nichtigkeitsgrund, mit dem geltend gemacht wird, die Kommission habe dadurch gegen Art. 107 Abs. 1 AEUV verstoßen, dass sie zu Unrecht festgestellt habe, dass durch die Einführung der Stufentarifierung kein Vorteil für bestimmte Unternehmen geschaffen worden sei.

Das Gericht bestätigt, dass die Kommission das Vorliegen eines Vorteils zu Recht anhand des Kriteriums des privaten Wirtschaftsteilnehmers prüfte, und stellt danach zunächst fest, dass die Kommission somit zu prüfen hatte, ob die Unternehmen, die von den niedrigeren Tarifen für die Abwasserbehandlung profitierten, einen vergleichbaren Vorteil von einem durchschnittlich vorsichtigen und sorgfältigen privaten Wirtschaftsteilnehmer hätten erhalten können, insbesondere unter Berücksichtigung von dessen Rentabilitätsaussichten.

Da die Kommission bei dieser Prüfung die in Rn. 228 ihrer Bekanntmachung zum Begriff der staatlichen Beihilfe vorgesehene Methode der Ex-ante-Rentabilitätsanalyse angewandt hat, weist das Gericht außerdem darauf hin, dass sich die Kommission durch die Verabschiedung dieser Bekanntmachung, was die Klarstellungen anbelangt, die sie darin zu den mit dem Begriff der staatlichen Beihilfe verbundenen Begriffen vorgenommen hat, in der Ausübung ihres Ermessens selbst beschränkt hat. Gemäß Rn. 228 dieser Bekanntmachung musste die Kommission folglich für jedes an eine Abwasserbehandlungsanlage angeschlossene Unternehmen prüfen, ob die nach der Stufentarifierung gezahlte Gebühr die Kosten decken konnte, die sich aus der Nutzung der betreffenden Infrastruktur durch das jeweilige Unternehmen ergaben.

Da die Kommission ihre Prüfung jedoch lediglich auf Durchschnittsdaten zu den Gesamtkosten und ‑einnahmen von sechs der 98 Gemeinden dieses Landes stützte, hat sie Rn. 228 ihrer Bekanntmachung zum Begriff der staatlichen Beihilfe missachtet und damit die Grenzen, die sie ihrem Ermessen durch die Verabschiedung dieser Bekanntmachung gesetzt hat, überschritten.

Selbst wenn man davon ausginge, dass die Kommission die Methode der Ex-ante-Rentabilitätsanalyse hätte anwenden können, ohne jeden einzelnen Nutzer zu prüfen, hätte sie zumindest überprüfen können müssen, dass die Stufentarifierung es wahrscheinlich ermöglichte, den Nutzern die inkrementellen Kosten zuzuweisen, d. h. die Kosten, die unmittelbar durch ihre Nutzung einer Abwasserbehandlungsanlage entstehen.

Im angefochtenen Beschluss wurden aber alle Kosten, die nicht mit der verbrauchten Wassermenge zusammenhingen, als Fixkosten angesehen und daher auf die einzelnen Nutzer aufgeteilt, auch wenn diese Kosten allein aufgrund der Anwesenheit eines bestimmten Nutzers im Netz entstanden sein sollten. Die Kommission konnte daher nicht behaupten, sie habe geprüft, ob die in Anwendung des Stufenmodells festgelegte Abwassergebühr die Deckung der mittelfristigen inkrementellen Kosten ermögliche.

Folglich hat die Kommission unter Missachtung der Grenzen, die sie ihrem Ermessen durch die Verabschiedung der Bekanntmachung zum Begriff der staatlichen Beihilfe gesetzt hat, angenommen, dass die Abwassergebühr mit dem Grundsatz des privaten Wirtschaftsteilnehmers in Einklang stehe.

Sodann weist das Gericht darauf hin, dass, wenn bei einem Tätigwerden eines öffentlichen Wirtschaftsteilnehmers selbst langfristig von jeder Aussicht auf Rentabilität abgesehen wird, nicht davon ausgegangen werden kann, dass dieses Tätigwerden mit dem Grundsatz des privaten Wirtschaftsteilnehmers in Einklang steht. Im angefochtenen Beschluss hat die Kommission jedoch festgestellt, dass die einzige Bedingung dafür, dass die mit der Stufentarifierung eingeführten Rabatte dem Grundsatz des privaten Wirtschaftsteilnehmers entsprächen, darin bestehe, dass die Abwassergebühr die den Betreibern von Abwasserbehandlungsanlagen entstehenden Kosten decke.

Darüber hinaus hat die Kommission dadurch, dass sie nicht geprüft hat, ob die Anwendung der Stufentarifierung es den Betreibern von Abwasserbehandlungsanlagen ermöglichte, sich eine Gewinnspanne vorzubehalten, obwohl feststand, dass diese neue Tarifierung im Vergleich zum System der Einheitsgebühr, das sie ersetzt, insgesamt zu einer Verringerung des Betrags der Abwassergebühr führt, ein zweites Mal das Erfordernis der Rentabilität verkannt und damit gegen den Grundsatz des privaten Wirtschaftsteilnehmers verstoßen. So weist das Gericht darauf hin, dass die in Rn. 228 der Bekanntmachung zum Begriff der staatlichen Beihilfe definierte Ex-ante-Analyse der Rentabilität impliziert, dass die von der Kommission geprüfte nationale Maßnahme „inkrementell“ zur Rentabilität des Betreibers einer Infrastruktur beiträgt, so dass diese Maßnahme, um mit dem Grundsatz des privaten Wirtschaftsteilnehmers in Einklang zu stehen, eine solche Rentabilität – wenn auch langfristig – erhöhen muss und nicht verringern darf.

Schließlich ging die Kommission im angefochtenen Beschluss zu Unrecht davon aus, dass ein privater Wirtschaftsteilnehmer den Umstand berücksichtigt hätte, dass die Beibehaltung hoher Tarife für die Wasseraufbereitung mit der Gefahr verbunden gewesen sei, dass die größten Verbraucher sich dafür entscheiden würden, sich vom zentralen Abwasseraufbereitungsnetz abzukoppeln, da die Gefahr einer solchen Abkopplung hypothetisch und unzureichend untermauert war.

Das Gericht kommt daher zu dem Ergebnis, dass die Kommission gegen Art. 107 Abs. 1 AEUV und die Bekanntmachung zum Begriff der staatlichen Beihilfe verstoßen hat, indem sie davon ausging, dass die Abwassergebühr deshalb keinen Vorteil schaffe, weil sich ein privater Wirtschaftsteilnehmer für diese Gebühr entschieden hätte.

Nach alledem erklärt das Gericht den angefochtenen Beschluss für nichtig.


1      Beschluss C(2018) 2259 final der Kommission vom 19. April 2018 über die staatliche Beihilfe SA.37433 (2017/FC) – Dänemark (im Folgenden: angefochtener Beschluss)


2      Bekanntmachung der Kommission zum Begriff der staatlichen Beihilfe im Sinne des Artikels 107 Absatz 1 [AEUV] (ABl. 2016, C 262, S. 1).


3      Gesetz Nr. 902/2013 zur Änderung des Gesetzes über die Regelung der Gebühren für Abwasserentsorgungsunternehmen (Gebührenstruktur für die Abwasserentsorgung mit der Möglichkeit der Erhebung besonderer Gebühren für die Behandlung besonders verschmutzter Abwässer etc.).


4      Beschluss des Gerichts vom 1. Dezember 2020, Danske Slagtermestre/Kommission (T‑486/18, nicht veröffentlicht, EU:T:2020:576).


5      Urteil vom 30. Juni 2022, Danske Slagtermestre/Kommission (C‑99/21 P, EU:C:2022:510).