Language of document : ECLI:EU:T:2006:26

URTEIL DES GERICHTS (Vierte Kammer)

26. Januar 2006(*)

„Staatliche Beihilfe – Regelung zur Steuerbefreiung für Rückstellungen, die in Deutschland niedergelassene Kernkraftwerksbetreiber für die Entsorgung ihrer Abfälle und die endgültige Stilllegung ihrer Anlagen gebildet haben – Entscheidung, mit der im Stadium der Vorprüfung das Nichtvorliegen einer Beihilfe festgestellt wird – Nichtigkeitsklage“

In der Rechtssache T‑92/02

Stadtwerke Schwäbisch Hall GmbH mit Sitz in Schwäbisch Hall (Deutschland),

Stadtwerke Tübingen GmbH mit Sitz in Tübingen (Deutschland),

Stadtwerke Uelzen GmbH mit Sitz in Uelzen (Deutschland),

Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwältin D. Fouquet,

Klägerinnen,

gegen

Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch V. Kreuschitz als Bevollmächtigten, Zustellungsanschrift in Luxemburg,

Beklagte,

unterstützt durch

E.ON Kernkraft GmbH mit Sitz in Hannover (Deutschland),

RWE Power AG mit Sitz in Essen (Deutschland),

EnBW Energie Baden-Württemberg AG mit Sitz in Karlsruhe (Deutschland),

Hamburgische Electricitäts-Werke AG mit Sitz in Hamburg (Deutschland),

Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte U. Karpenstein und D. Sellner,

Streithelferinnen,

wegen Nichtigerklärung der Entscheidung C(2001) 3967 endg. der Kommission vom 11. Dezember 2001, mit der festgestellt wird, dass die deutsche Regelung zur Steuerbefreiung für von Kernkraftwerken gebildete Rückstellungen für die Entsorgung und die endgültige Stilllegung ihrer Anlagen keine staatliche Beihilfe im Sinne von Artikel 87 Absatz 1 EG darstellt,

erlässt

DAS GERICHT ERSTER INSTANZ
DER EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFTEN (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten H. Legal sowie des Richters P. Mengozzi und der Richterin I. Wiszniewska-Białecka,

Kanzler: I. Natsinas, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 10. März 2005

folgendes

Urteil

 Vorgeschichte des Rechtsstreits

1       Nach § 249 Absatz 1 Satz 1 des deutschen Handelsgesetzbuchs (im Folgenden: HGB) sind Rückstellungen für ungewisse Verbindlichkeiten und für drohende Verluste aus schwebenden Geschäften zu bilden. Die Rückstellungen sind von dem Unternehmen auf der Passivseite zu bilanzieren, was zu einer entsprechenden Verringerung der Besteuerungsgrundlage führt.

2       Nach § 252 Absatz 1 Nummer 3 HGB sind die Vermögensgegenstände und Schulden des Unternehmens zum Stichtag des Jahresabschlusses einzeln zu bewerten.

3       Nach § 252 Absatz 1 Nummer 4 HGB hat die Bewertung der Vermögensgegenstände und Schulden im Jahresabschluss vorsichtig zu erfolgen. Dabei sind alle vorhersehbaren Risiken und Verluste zu berücksichtigen.

4       Nach § 253 Absatz 1 Satz 2 HGB sind Rückstellungen jedoch nur in Höhe des Betrages anzusetzen, der nach vernünftiger kaufmännischer Beurteilung notwendig ist.

5       Nach § 5 Absatz 1 des Einkommensteuergesetzes (im Folgenden: EStG) ist für den Schluss des Wirtschaftsjahres das Betriebsvermögen der steuerpflichtigen Unternehmen nach den handelsrechtlichen Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung anzusetzen.

6       Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (im Folgenden: BFH) ist die Bildung von Rückstellungen nur zulässig, soweit sie zur Finanzierung von Verbindlichkeiten dient, die die folgenden Voraussetzungen erfüllen:

–       Ihre wirtschaftliche Verursachung muss im Zeitraum vor dem Bilanzstichtag erfolgt sein;

–       es muss eine Wahrscheinlichkeit ihres künftigen Entstehens bestehen, wobei ihre Höhe ungewiss sein kann;

–       der Schuldner muss ernsthaft mit seiner Inanspruchnahme zu rechnen haben.

7       Ferner macht der BFH die Bildung von Rückstellungen für Verpflichtungen, die sich aus öffentlichem Recht ergeben, davon abhängig, dass diese Verpflichtungen entweder durch das Gesetz selbst oder durch eine Verfügung der zuständigen Behörde hinreichend konkretisiert sind.

8       Sind die Verpflichtungen durch das Gesetz konkretisiert, so muss dieses

–       ein Handeln inhaltlich genau bestimmen;

–       die Ausführung dieses Handelns innerhalb eines bestimmten Zeitraums vorschreiben;

–       Sanktionen vorsehen, die die Durchsetzbarkeit des Handlungsgebots sicherstellen.

9       Die deutschen Kernkraftwerksbetreiber sind gesetzlich zur Bildung von Rücklagen verpflichtet, um die Kosten zu decken, die sowohl aus der Entsorgung ihrer bestrahlten Brennelemente (Wiederaufbereitung und direkte Endlagerung) und radioaktiven Abfälle als auch aus der endgültigen Stilllegung (Stilllegungs‑, Einschluss‑ und Abbruchkosten einschließlich der Entsorgung des Restkerns) entstehen.

10     Diese Pflichten wurden näher geregelt durch das Gesetz über die friedliche Verwendung der Kernenergie und den Schutz gegen ihre Gefahren – Atomgesetz (im Folgenden: AtG) in der Fassung des Gesetzes vom 22. April 2002 zur geordneten Beendigung der Kernenergienutzung zur gewerblichen Erzeugung von Elektrizität, das am 27. April 2002 in Kraft trat, nachdem die Bundesregierung und die Energieversorgungsunternehmen am 14. Juni 2000 eine Vereinbarung geschlossen hatten.

11     Nach § 7 Absatz 1a AtG erlischt die Berechtigung zum Leistungsbetrieb einer Anlage, wenn die in Anlage 3 zum AtG für die Anlage aufgeführte Elektrizitätsmenge oder die sich aufgrund von Übertragungen nach § 7 Absatz 1b ergebende Elektrizitätsmenge produziert ist.

12     Nach § 7 Absatz 3 AtG bedürfen die Stilllegung einer kerntechnischen Anlage sowie der sichere Einschluss der endgültig stillgelegten Anlage oder der Abbau der Anlage oder von Anlageteilen der Genehmigung.

13     § 9a AtG, „Verwertung radioaktiver Reststoffe und Beseitigung radioaktiver Abfälle“, bestimmt in seinem Absatz 1, dass, wer Anlagen, in denen mit Kernbrennstoffen umgegangen wird, betreibt, stilllegt oder beseitigt, dafür zu sorgen hat, dass anfallende radioaktive Reststoffe sowie ausgebaute oder abgebaute radioaktive Anlagenteile gemäß den mit dem Gesetz verfolgten Zwecken einer friedlichen und sicheren Verwendung der Kernenergie wieder aufbereitet oder als radioaktive Abfälle geordnet beseitigt werden (direkte Endlagerung).

14     Nach § 9 Absatz 1a AtG müssen die Betreiber von Anlagen zur Spaltung von Kernbrennstoffen nachweisen, dass sie zur Erfüllung ihrer Pflichten für angefallene und noch anfallende bestrahlte Kernbrennstoffe einschließlich der im Falle der Aufarbeitung bestrahlter Kernbrennstoffe zurückzunehmenden radioaktiven Abfälle Vorsorge getroffen haben.

15     § 9a Absatz 1b AtG fordert für die geordnete Beseitigung von Abfällen den Nachweis, dass der sichere Verbleib für bestrahlte Kernbrennstoffe sowie für aus der Aufarbeitung bestrahlter Kernbrennstoffe stammende radioaktive Abfälle in Zwischenlagern bis zu deren Ablieferung an eine Anlage zur Endlagerung radioaktiver Abfälle gewährleistet ist.

16     Nach § 9a Absatz 3 AtG haben die Länder Stellen für die Zwischenlagerung radioaktiver Abfälle und der Bund Anlagen zur Sicherstellung und zur Endlagerung solcher Abfälle einzurichten. Dazu können sie sich Dritter bedienen.

17     Für die Benutzung dieser Anlagen werden nach § 21a AtG Gebühren und Vergütungen erhoben.

18     § 21b Absatz 1 AtG bestimmt, dass zur Deckung des Aufwandes für die Errichtung der Anlagen des Bundes Beiträge erhoben werden. § 21b Absatz 2 AtG stellt klar, dass von Inhabern einer Betriebsgenehmigung zum Umgang mit radioaktiven Stoffen oder zur Erzeugung ionisierender Strahlen Vorausleistungen verlangt werden können.

19     Die Pflichten der Betreiber von Kernkraftwerken beim Abbau ihrer Anlagen werden in mehreren Begleitverordnungen geregelt (atomrechtliche Verfahrensordnung, Strahlenschutzverordnung, atomrechtliche Deckungsvorsorge-Verordnung, Kostenverordnung zum Atomgesetz, atomrechtliche Sicherheitsbeauftragten‑ und Meldeverordnung und Endlagervorausleistungsverordnung).

20     Die Pflichten der Betreiber von Kernanlagen werden durch den Leitfaden zur Stilllegung von Anlagen nach § 7 AtG (im Folgenden: Leitfaden) weiter konkretisiert.

21     Mit dem Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002 vom 24. März 1999 (im Folgenden: StEntlG) wurde eine teilweise Auflösung der Rückstellungen der steuerpflichtigen Unternehmen vorgesehen. Dieses Gesetz trat mit Wirkung vom 1. Januar 1999 in Kraft.

22     Nach § 5 Absatz 4b EStG in der durch das StEntlG geänderten Fassung dürfen keine Rückstellungen für die Verpflichtung zur schadlosen Verwertung radioaktiver Reststoffe sowie ausgebauter oder abgebauter radioaktiver Anlagenteile mehr gebildet werden, soweit Aufwendungen im Zusammenhang mit der Bearbeitung oder Verarbeitung von Kernbrennstoffen stehen, die aus der Aufarbeitung bestrahlter Kernbrennstoffe gewonnen worden sind und keine radioaktiven Abfälle darstellen.

23     Im Übrigen verpflichtet § 6 Absatz 1 Nummer 3a Buchstabe e EStG in der geänderten Fassung die steuerpflichtigen Unternehmen, ihre Rückstellungen mit einem Zinssatz von 5,5 % abzuzinsen.

24     Schließlich sind nach § 6 Absatz 1 Nummer 3a Buchstabe d Satz 3 EStG in der geänderten Fassung Rückstellungen für die Verpflichtung, ein Kernkraftwerk stillzulegen, ab dem Zeitpunkt der erstmaligen Nutzung bis zum Zeitpunkt, in dem mit der Stilllegung begonnen werden muss, zeitanteilig in gleichen Raten anzusammeln; steht der Zeitpunkt der Stilllegung nicht fest, so beträgt der Zeitraum für die Ansammlung 25 Jahre.

25     § 6 Absatz 1 Nummer 3a Buchstabe e EStG stellt im letzten Satz klar, dass für die Abzinsung von Rückstellungen für die Verpflichtung, ein Kernkraftwerk stillzulegen, der Zeitraum von 25 Jahren maßgebend ist.

26     Mit Schreiben vom 19. November 1999 beantragten die Klägerinnen, drei deutsche Stadtwerke, die Strom erzeugen und vertreiben, bei der Kommission die Einleitung eines Verfahrens zur Prüfung staatlicher Beihilfen gemäß den Artikeln 87 EG und 88 EG im Hinblick auf die Steuerbefreiungsregelung für Rückstellungen der in Deutschland niedergelassenen Kernkraftwerksbetreiber für die Entsorgung und Stilllegung ihrer Anlagen.

27     Die Klägerinnen machten geltend, trotz ihrer Anwendung auf eine unbestimmte Gesamtzahl von Unternehmen und Produktionszweigen verschaffe die Steuerbefreiung der in Rede stehenden Rückstellungen den Kernkraftwerken wegen ihrer hohen Rückstellungsfähigkeit und der ungewöhnlichen Dauer der Verfügbarkeit der die Mittel, die sich von der Bildung der Rückstellung bis zu ihrer Verwendung erstrecke, besondere Vorteile.

28     Dies führe zu einer Wettbewerbsverzerrung zugunsten der Kernkraftwerke, die auf diese Weise über finanzielle Mittel verfügten, die es ihnen erlaubten, ihre Konkurrenten durch erhebliche Preissenkungen, Werbekampagnen, den Ankauf konkurrierender Unternehmen oder den Erwerb von Beteiligungen vom gemeinschaftlichen Strommarkt zu verdrängen.

29     Mit Schreiben vom 17. Juli 2000 ersuchte die Kommission die Bundesregierung um Stellungnahme und um Beantwortung von Fragen zur Vervollständigung der Untersuchung.

30     Mit Schreiben vom 12. Februar 2001 brachte die Bundesregierung vor, dass die steuerliche Behandlung von Rückstellungen der Kernkraftwerke durch die deutsche Verwaltung nicht mit den Kriterien unvereinbar sei, von denen der BFH die Bildung von Rückstellungen zur Finanzierung künftiger öffentlich-rechtlicher Verbindlichkeiten abhängig mache.

31     Sie stützte sich u. a. auf das Vorsichtsprinzip des § 252 Absatz 1 Nummer 4 HGB, der auf alle Unternehmen und alle Wirtschaftszweige anwendbar sei und wonach vorhersehbare Verluste dann ausgewiesen werden müssten, wenn sie am Bilanzstichtag verursacht seien.

32     In diesem Zusammenhang verursachten die öffentlich-rechtlichen Verpflichtungen der Kernkraftwerke für die Entsorgung ihrer Abfälle und die endgültige Stilllegung ihrer Anlagen finanzielle Belastungen ihres Betriebsergebnisses. Die für die Bildung der entsprechenden Rückstellungen erforderlichen Beträge stellten Aufwand dar, der vom Unternehmensgewinn abgehe. Kapital in entsprechender Höhe dürfe nicht an die Anteilseigner ausgeschüttet werden, sondern müsse vielmehr im Unternehmen verbleiben, um nicht die Erfüllung der Verpflichtungen zu gefährden und sie auf die öffentliche Hand abzuwälzen

33     Im Übrigen seien die Rückstellungen nach § 253 Absatz 1 Satz 2 HGB in Höhe der voraussichtlichen Kosten anzusetzen, d. h. des Betrages, der bei vernünftiger kaufmännischer Betrachtung notwendig sei, um die bis zum Bilanzstichtag entstandenen Verpflichtungen zu erfüllen. Da er gemäß § 252 Absatz 1 Nummer 3 HGB nach Maßgabe der Wert‑ und Preisverhältnisse am Bilanzstichtag zu bestimmen sei, müssten die Rückstellungen im Verlauf späterer Jahre angepasst oder erhöht werden.

34     Zudem müssten die Rückstellungen zeitanteilig durch Ansammlung in gleichen Raten aufgebaut und über die gesamte Betriebslaufzeit verteilt werden.

35     Schließlich führte die Bundesregierung aus, jedes Kernkraftwerk habe einen präzisen Stilllegungszeitpunkt, der sich aus der Reststrommenge ergebe, die das jeweilige Werk erzeugen dürfe. Diese Menge selbst werde auf der Grundlage einer Regellaufzeit von 32 Jahren seit Inbetriebnahme vorbehaltlich zulässiger Übertragungen von Strommengen zwischen den Kernkraftwerken festgelegt.

36     Mit Entscheidung vom 11. Dezember 2001 (im Folgenden: Entscheidung), die den Klägerinnen am 21. Januar 2002 mitgeteilt wurde, stellte die Kommission zum Abschluss der Vorprüfungsphase des durch Artikel 88 Absatz 3 EG eingeführten Verfahrens zur Prüfung staatlicher Beihilfen fest, dass die geprüfte steuerliche Maßnahme keine solche Beihilfe darstelle.

 Verfahren

37     Die Klägerinnen haben gegen diese Entscheidung mit Klageschrift, die am 28. März 2002 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, die vorliegende Nichtigkeitsklage erhoben.

38     Mit Beschluss vom 20. November 2002 sind die E.ON Kernkraft GmbH, die RWE Power AG, die EnBW Energie Baden-Württemberg AG und die Hamburgische Electricitäts-Werke AG als Streithelferinnen zur Unterstützung der Anträge der Kommission zugelassen worden.

39     Auf Vorschlag der Vierten erweiterten Kammer hat das Gericht nach Anhörung der Beteiligten die Rechtssache mit Entscheidung vom 20. Januar 2005 an die Vierte Kammer mit drei Richtern verwiesen.

40     Das Gericht (Vierte Kammer) hat auf Bericht des Berichterstatters beschlossen, die mündliche Verhandlung zu eröffnen. Im Rahmen prozessleitender Maßnahmen hat es die Klägerinnen und die Kommission gebeten, vor der mündlichen Verhandlung eine schriftliche Frage zu beantworten. Die Parteien haben ihre Antworten innerhalb der gesetzten Fristen vorgelegt.

41     Die Parteien haben in der Sitzung vom 10. März 2005 mündlich verhandelt und Fragen des Gerichts beantwortet.

42     Am Schluss der Sitzung hat der Präsident der Vierten Kammer die mündliche Verhandlung offen gehalten, um es der Klägerinnenseite zu ermöglichen, den Wortlaut einer nationalen gerichtlichen Entscheidung vorzulegen, und den anderen Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme dazu zu geben.

43     Nach diesem kontradiktorischen Austausch ist die mündliche Verhandlung geschlossen worden.

 Anträge der Beteiligten

44     Die Klägerinnen beantragen,

–       die Entscheidung für nichtig zu erklären;

–       der Kommission die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

45     Die Kommission, unterstützt durch die Streithelferinnen, beantragt,

–       die Klage als unbegründet abzuweisen;

–       den Klägerinnen die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

 Entscheidungsgründe

 Zum Umfang der vom Gericht vorgenommenen Überprüfung

46     Das Verfahren zur Überprüfung staatlicher Beihilfen umfasst die durch Artikel 88 Absatz 3 EG eingeführte Vorprüfungsphase und die in Artikel 88 Absatz 2 EG geregelte förmliche Prüfungsphase.

47     Während die Vorprüfungsphase nur dazu dient, der Kommission eine erste Meinungsbildung darüber zu ermöglichen, ob die ihr zur Prüfung vorgelegte nationale Maßnahme ganz oder teilweise mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar ist, ist die förmliche Phase, die es der Kommission ermöglichen soll, sich ein vollständiges Bild von allen Gegebenheiten des Falles zu verschaffen, unerlässlich, sobald die Kommission bei der Beurteilung der fraglichen Maßnahme im Hinblick auf Artikel 87 EG auf ernsthafte Schwierigkeiten stößt.

48     So darf sich die Kommission für die Feststellung, wie im vorliegenden Fall, dass keine staatliche Beihilfe vorliegt, nur dann auf die Vorprüfungsphase nach Artikel 88 Absatz 3 EG stützen, wenn sie tatsächlich in der Lage war, bei Abschluss dieser ersten Phase zu der genannten Überzeugung zu gelangen.

49     Ist die Kommission dagegen aufgrund dieser ersten Prüfung zu der gegenteiligen Überzeugung gelangt, oder hat sie auch nur alle Schwierigkeiten ausräumen können, die durch die Beurteilung der nationalen Maßnahme im Hinblick auf Artikel 87 EG aufgetreten sind, so ist sie verpflichtet, alle erforderlichen Stellungnahmen einzuholen und zu diesem Zweck die förmliche Prüfungsphase nach Artikel 88 Absatz 2 EG einzuleiten, indem sie die „Beteiligten“ im Sinne dieser Bestimmung zur Äußerung auffordert (Urteil des Gerichtshofes vom 15. Juni 1993 in der Rechtssache C‑225/91, Matra/Kommission, Slg. 1993, I‑3203, Randnrn. 16 und 33).

50     Insoweit haben die Betroffenen, zu denen die Klägerinnen in ihrer Eigenschaft als unmittelbare Konkurrenten der deutschen Kernkraftwerksbetreiber auf dem Strommarkt gehören, die Möglichkeit, die Entscheidung vor dem Gericht anzufechten, sofern die Vorprüfung, bei deren Abschluss die Kommission im vorliegenden Fall der Ansicht war, das Nichtvorliegen einer staatlichen Beihilfe feststellen zu können, es der Kommission in Wirklichkeit nicht ermöglicht hat, alle durch die Beurteilung der streitigen Steuerregelung im Hinblick auf Artikel 87 Absatz 1 EG aufgetretenen Schwierigkeiten auszuräumen..

51     Eine solche Möglichkeit stellt nämlich für die Klägerinnen, wie sie ausgeführt haben, das einzige Mittel dar, um die Einhaltung der Garantien durchzusetzen, die sie wegen ihrer Eigenschaft als Beteiligte im Sinne von Artikel 88 Absatz 2 EG hätten haben müssen, sofern die Kommission in objektiver Konfrontation mit einer ernsthaften Schwierigkeit das in dieser Bestimmung geregelte förmliche Prüfungsverfahren hätte eröffnen müssen, anstatt schon zum Abschluss der Vorprüfungsphase das Nichtvorliegen einer staatlichen Beihilfe festzustellen.

52     Was die Umstände angeht, die der Kommission im vorliegenden Fall vorgetragen worden sind, so ist die Steuerbefreiung der von den steuerpflichtigen Unternehmen gebildeten Rückstellungen als ein aus staatlichen Mitteln gewährter wirtschaftlicher Vorteil anzusehen, da der Staat auf die Erzielung von Steuereinnahmen in bestimmter Höhe verzichtet und so die finanzielle Belastung vermindert, die die betroffenen Unternehmen normalerweise zu tragen haben (vgl. in diesem Sinne Urteil des Gerichtshofes vom 19. September 2000 in der Rechtssache C‑156/98, Deutschland/Kommission, Slg. 2000, I‑6857, Randnr. 25).

53     Im vorliegenden Fall stellt sich lediglich die Frage, ob dieser Vorteil die Betreiber von Kernkraftwerken gegenüber den anderen Steuerpflichtigen begünstigt und ob daher die beanstandete Maßnahme das dem Begriff der staatlichen Beihilfe im Sinne von Artikel 87 Absatz 1 EG innewohnende Kriterium der Selektivität erfüllt.

54     Um die Selektivität einer staatlichen Maßnahme im Sinne von Artikel 87 Absatz 1 EG festzustellen, ist zu prüfen, ob sie bestimmten Unternehmen oder Branchen eine ausschließliche Vergünstigung gewährt (vgl. in diesem Sinne Urteil des Gericht vom 29. September 2000 in der Rechtssache T‑55/99, CETM/Kommission, Slg. 2000, II‑3207, Randnr. 40).

55     Im vorliegenden Fall braucht das Gericht nur zu prüfen, ob die Frage der Selektivität der in Rede stehenden steuerlichen Maßnahme eine ernsthafte Schwierigkeit darstellt, angesichts deren die Kommission verpflichtet gewesen wäre, das förmliche Prüfungsverfahren nach Artikel 88 Absatz 2 EG zu eröffnen, schon zum Abschluss der Vorprüfungsphase festzustellen, dass die in Rede stehende nationale Maßnahme keine staatliche Beihilfe im Sinne von Artikel 87 Absatz 1 EG darstelle (vgl. in diesem Sinne Urteile des Gerichtshofes vom 19. Mai 1993 in der Rechtssache C‑198/91, Cook/Kommission, Slg. 1993, I‑2487, Randnr. 31, und Matra/Kommission, Randnrn. 34; Urteil des Gerichts vom 13. Januar 2004 in der Rechtssache T‑158/99, Thermenhotel Stoiser Franz u. a./Kommission, Slg. 2004, II‑1, Randnr. 91).

56     Die Klägerinnen stützen ihre Klage auf die beiden Gründe Unzulänglichkeit der Prüfung der in Rede stehenden Steuerregelung durch die Kommission und Selektivität dieser Regelung. Diese beiden Klagegründe sind gemeinsam zu prüfen, da die Frage der Selektivität der streitigen Steuerregelung, unter dem Gesichtspunkt des Bestehens einer ernsthaften Schwierigkeit, die die Eröffnung eines förmlichen Prüfungsverfahrens rechtfertigt, betrachtet, vollständig mit der Frage übereinstimmt, ob die Kommission die genannte Selektivität ausreichend geprüft hat.

 Zu dem Problem, ob die Frage der Selektivität der in Rede stehenden Steuerregelung eine ernsthafte Schwierigkeit darstellt

57     Nach Ansicht der Klägerinnen ist die Regelung der streitigen Steuerbefreiung für die Kernkraftwerksbetreiber eine selektive Vergünstigung, weil es sich dabei um eine Ausnahme von der allgemeinen Steuerregelung handelt, sie von der Verwaltung willkürlich durchgeführt wird und sie besondere Auswirkungen auf den betreffenden Wirtschaftszweig hat.

58     Das Vorbringen der Klägerinnen ist daher unter diesen drei Gesichtspunkten zu prüfen.

 Zur angeblichen Ausnahme von der allgemeinen Steuerregelung

–       Vorbringen der Beteiligten

59     Die Klägerinnen vertreten die Ansicht, dass die den Kernkraftwerksbetreibern auferlegten Verpflichtungen im Hinblick auf die Entsorgung ihrer Abfälle und die endgültige Stilllegung ihrer Anlagen entgegen dem allgemeinen Steuerrecht in seiner Auslegung durch den BFH inhaltlich, zeitlich und nach ihrer Verbindlichkeit nicht hinreichend konkret seien.

60     Erstens enthielten die Vorschriften des AtG nur allgemeine Bestimmungen über die Verwertung und Beseitigung radioaktiver Abfälle. Das AtG schaffe auch keine hinreichend streng festgelegten Verpflichtungen zur Beseitigung der Anlagen. Der Leitfaden sei nicht verbindlich, beschneide den Ermessensspielraum der Verwaltung nicht und mache die Modalitäten der endgültigen Stilllegung, die später gewählt würden, nicht vorhersehbar.

61     Zweitens sei der Zeitpunkt der endgültigen Stilllegung der Kernkraftanlagen nicht mit der von den §§ 249 und 253 HGB geforderten Konkretheit bestimmt. Die Regelbetriebsdauer der Kernkraftwerke von 32 Jahren erlaube nicht die Bestimmung des Zeitpunkts ihrer endgültigen Stilllegung, sondern nur die individuelle Festlegung der Stromerzeugungsquoten, deren Übertragung zwischen Reaktoren reale Laufzeiten von etwa 35 Jahren ermögliche.

62     Drittens seien die Verpflichtungen zur Entsorgung und endgültigen Stilllegung der Kernkraftwerke nicht vollstreckbar. Keiner der in § 46 AtG aufgeführten Sanktionstatbestände verweise auf die Stilllegung oder den Abbau von Kernkraftwerken. Außerdem stelle die Begrenzung der Höhe der Geldbuße auf 50 000 Euro durch § 46 Absatz 2 AtG eine effektive Anwendung der aufgestellten Regelungen in Frage.

63     Auch durch § 326 des Strafgesetzbuchs (im Folgenden: StGB) werde die Durchsetzung der Verpflichtungen zur Stilllegung der Kraftwerke und zur Entsorgung der Abfälle nicht ermöglicht. Die Entsorgung der Abfälle eines Kernkraftwerks lasse sich nicht unter den Tatbestand dieser Bestimmung subsumieren.

64     Schließlich widerlege, viertens, die ausdrückliche Erwähnung der Rückstellungsberechtigung bei Kernkraftwerken, die durch das StEntlG in das EStG eingefügt worden sei, die Behauptung der Kommission, die einschlägigen Regelungen enthielten keinerlei Differenzierung im Sinne einer Sonderstellung der Kernkraftwerke.

65     Die Kommission und die Streithelferinnen machen im Kern geltend, dass die in Rede stehende deutsche Regelung im Einklang mit der Rechtsprechung des BFH stehe, da die öffentlich-rechtliche Entsorgungs‑ und Stilllegungsverpflichtung der Kernkraftwerksbetreiber inhaltlich und zeitlich hinreichend konkretisiert sei und da für die Nichterfüllung dieser Verpflichtung Sanktionen gemäß § 46 AtG sowie gemäß §§ 326 und 327 StGB vorgesehen seien.

66     Im Übrigen führten die Klägerinnen nichts dazu aus, dass das StEntlG die Kernkraftwerke nicht begünstige, sondern ihnen vielmehr zusätzliche Belastungen auferlege.

–       Würdigung durch das Gericht

67     Das Vorbringen der Klägerinnen ändert nichts daran, dass die drei allgemeinen Voraussetzungen (vgl. oben, Randnr. 6), von denen der BFH die Bildung von Rückstellungen abhängig macht, erfüllt sind.

68     Die Klägerinnen machen nur geltend, dass die besonderen öffentlich-rechtlichen Entsorgungs‑ und Stilllegungsverpflichtungen der Kernkraftwerke (vgl. oben, Randnr. 8) inhaltlich, zeitlich und nach ihrer Verbindlichkeit nicht den Kriterien entsprächen, von denen der BFH die Bildung entsprechender Rückstellungen abhängig mache.

69     Die Klägerinnen haben ihr Vorbringen jedoch nicht auf Argumente gestützt, die geeignet sind, das Gericht davon zu überzeugen.

70     Erstens verpflichtet das AtG, wie sich aus der Darstellung des rechtlichen Rahmens des Rechtsstreits ergibt, in § 9a die Betreiber von Kernkraftwerken, für eine sichere Aufbereitung oder eine geordnete Beseitigung radioaktiver Reststoffe sowie ausgebauter oder abgebauter radioaktiver Anlagenteile zu sorgen.

71     Nach § 9a Absatz 1a müssen die Betroffenen nachweisen, dass sie zur Erfüllung ihrer Pflichten für angefallene und noch anfallende bestrahlte Kernbrennstoffe einschließlich der im Falle der Aufarbeitung bestrahlter Kernbrennstoffe zurückzunehmenden radioaktiven Abfälle Vorsorge getroffen haben.

72     Für die geordnete Beseitigung von Abfällen verlangt § 9a Absatz 1b den Nachweis, dass der sichere Verbleib für bestrahlte Kernbrennstoffe sowie für aus der Aufarbeitung bestrahlter Kernbrennstoffe stammende radioaktive Abfälle bis zu deren Ablieferung an eine Anlage zur Endlagerung radioaktiver Abfälle gewährleistet ist.

73     Im Übrigen müssen die Betreiber von Kernkraftwerke nach § 7 Absatz 3 in Verbindung mit § 9a AtG die Kosten des Einschlusses oder des Abbaus der stillgelegten Anlagen tragen.

74     Die Klägerinnen haben der Auslegung von § 9a AtG durch die deutsche Regierung in ihrem Schreiben vom 12. Februar 2001, wonach diese Bestimmung eine Pflicht zur vollständigen Dekontamination der Anlagen innerhalb angemessener Frist begründet, nicht schlüssig widersprochen und nicht dargetan, dass die Betroffenen nicht die finanziellen Belastungen des Einschlusses oder des Abbaus der stillgelegten Anlagen zu tragen hätten.

75     Die Klägerinnen haben selbst in ihren Schriftsätzen ausgeführt, dass das Verfahren für die Genehmigung der endgültigen Stilllegung, die Sicherheit des Einschlusses und der Abbau der Kernkraftanlagen unbeschadet der Anwendung von in den anderen in Randnummer 19 erwähnten Verordnungen enthaltenen Normen durch die atomrechtliche Verfahrensverordnung geregelt werden.

76     Zweitens vermag das Gericht nicht zu erkennen, dass der Zeitpunkt der Stilllegung der Kernkraftwerke nicht mit der von den §§ 249 und 253 HGB verlangten Genauigkeit feststeht.

77     Nach § 7 Absatz 1a AtG erlischt die Berechtigung zum Leistungsbetrieb einer kerntechnischen Anlage, wenn es die in Anlage 3 zum AtG aufgeführte Elektrizitätsmenge oder die sich aufgrund von Übertragungen von Produktionsquoten nach § 7 Absatz 1b AtG ergebende Elektrizitätsmenge produziert ist.

78     Somit lässt sich der Zeitpunkt der Stilllegung der Anlagen und damit der Fälligkeit der entsprechenden Pflichten für die Betreiber nach dem objektiven Kriterium der Erschöpfung der zugestandenen Elektrizitätsmenge bestimmen, die der Betreiber den zuständigen Behörden mitzuteilen hat.

79     Dem Vorbringen der Klägerinnen, dass die Betriebsgenehmigungen der deutschen Kernkraftwerke für unbestimmte Dauer erteilt worden seien, kann daher nicht gefolgt werden.

80     Drittens geht aus dem Vorbringen der Klägerinnen nicht hervor, dass die Verpflichtungen der Kernkraftwerksbetreiber in Bezug auf den Abbau ihrer Anlagen und die Entsorgung ihrer Abfälle nicht mit Sanktionen bewehrt sind, unabhängig davon, ob diese straf‑ oder verwaltungsrechtlicher Art sind.

81     Das AtG sieht in § 17 Absatz 3 den Widerruf der Betriebsgenehmigung bei Verstößen gegen die Vorschriften des AtG oder der aufgrund dieses Gesetzes erlassenen Rechtsverordnungen oder gegen die hierauf beruhenden Anordnungen und Verfügungen der Aufsichtsbehörden vor.

82     Im Übrigen haben die Klägerinnen schlüssig der Ansicht der Kommission widersprochen, dass § 46 Absatz 1 Nummer 4 AtG Sanktionen vorsehe für Zuwiderhandlungen gegen die auf der Grundlage von § 12 Absatz 1 Nummer 9 AtG erlassenen Verordnungen, die bestimmen, welchen Anforderungen die schadlose Verwertung und die geordnete Beseitigung radioaktiver Reststoffe sowie ausgebauter oder abgebauter radioaktiver Anlagenteile zu genügen hat, dass und mit welchem Inhalt Angaben zur Erfüllung der Pflichten nach § 9a AtG vorzulegen und fortzuschreiben sind und in welcher Weise radioaktive Abfälle vor der Ablieferung an die Landessammelstellen und an die Anlagen des Bundes zu behandeln sind.

83     Schließlich bedroht §326 StGB jeden, der unbefugt Abfälle, die nicht nur geringfügig radioaktiv sind, außerhalb einer dafür zugelassenen Anlage oder unter wesentlicher Abweichung von einem vorgeschriebenen oder zugelassenen Verfahren behandelt, lagert, ablässt oder sonst beseitigt, mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe.

84     Schließlich wird nach § 327 Absatz 1 StGB mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wer ohne die erforderliche Genehmigung eine betriebsbereite oder stillgelegte kerntechnische Anlage innehat oder ganz oder teilweise abbaut oder eine solche Anlage oder ihren Betrieb wesentlich ändert.

85     Diese Bestimmungen sind zu §7 Absatz 3 AtG in Bezug zu setzen, wonach die Stilllegung einer Anlage sowie der sichere Einschluss der endgültig stillgelegten Anlage oder der Abbau der Anlage oder von Anlageteilen der Genehmigung bedürfen.

86     Daher kann angenommen werden, dass die Einstellung des Betriebs eines Kernkraftwerks unter Verletzung des vorgeschriebenen Verfahrens und damit der durch die einschlägigen Bestimmungen des AtG aufgestellten Verpflichtungen den in § 327 StGB vorgesehenen Sanktionen unterliegt, da ein solcher Verstoß den Straftatbestand des Innehabens einer stillgelegten kerntechnischen Anlage ohne Genehmigung erfüllen kann.

87     Das Gericht vermag daher die Einhaltung der den Kernkraftwerksbetreibern in Bezug auf die Behandlung ihrer radioaktiven Abfälle und die Stilllegung ihrer Anlagen obliegenden Verpflichtungen nicht für zwangsfrei zu halten, da diese Verpflichtungen durch Verwaltungsverfahren durchgesetzt werden können, deren Nichtdurchführung mit Sanktionen belegt ist.

88     Schließlich weist viertens die durch das StEntlG in das EStG eingefügte besondere Erwähnung der Rückstellungen der Kernkraftwerke nicht auf eine Behandlung hin, die eine besondere Vergünstigung für die Kernkraftwerke bedeutet.

89     Denn das StEntlG schreibt den Kernkraftwerken nunmehr wie allen anderen steuerpflichtigen Unternehmen den Abzug der Zinsen vom Betrag der gebildeten Rückstellungen vor, und die Klägerinnen beziffern die zusätzlichen Belastungen für die Kernkraftwerke aufgrund dieser neuen Bestimmungen selbst auf 13,5 Milliarden DM (6 902 440 396 Euro).

90     Desgleichen verringert die Verlängerung der Dauer der Bildung der Rückstellungen von 19 auf 25 Jahre durch das StEntlG den Wert, den die Kernkraftwerksbetreiber den bereits gebildeten Rückstellungen beimessen, entsprechend. Das neue Verbot der Bildung von Rückstellungen für die Kosten der Wiederaufbereitung von Kernbrennstoffen und die Abzinsung der Rückstellungen auf der Grundlage eines Zinssatzes von 5,5 % verursachen ebenfalls neue finanzielle Belastungen für die Kernkraftwerksbetreiber.

91     Zwar enthält das StEntlG bestimmte Maßnahmen, die eigens die Rückstellungen der Kernkraftwerke betreffen. Jedoch ist mit diesen Maßnahmen, wie die Kommission in diesem Punkt unwidersprochen ausgeführt hat, bezweckt, gebildete Rückstellungen nicht zu berücksichtigen oder ihren Betrag nach Maßgabe der neuen Bewertungsregeln herabzusetzen, die dazu bestimmt sind, steuerbare Vermögenswerte für die Zwecke der Finanzierung von Maßnahmen zur dauerhaften Wiederbelebung der Binnennachfrage und Steuerfreibeträge zugunsten der Arbeitnehmer und der Familien bereitzustellen, ohne dass die Kernkraftwerksbetreiber den wesentlichen Teil der Belastung tragen.

92     Die Klägerinnen haben nicht die Stichhaltigkeit der Angabe im Schreiben der deutschen Regierung vom 12. Februar 2001 in Frage gestellt, wonach das StEntlG eine größere Objektivität bei der Bewertung der Gewinne sämtlicher steuerpflichtiger Unternehmen erreichen und diese verpflichten soll, die mit den Rückstellungen erzielten Zinsen zu berücksichtigen.

93     Somit kann nicht als nachgewiesen erachtet werden, dass die Regelung der Steuerbefreiung für Rückstellungen zugunsten der Kernkraftwerksbetreiber eine Ausnahme darstellen könnte, die eine unter den Begriff der staatlichen Beihilfe im Sinne von Artikel 87 Absatz 1 EG fallende selektive Vergünstigung bildet.

 Zur Durchführung der in Rede stehenden steuerlichen Maßnahme durch die Verwaltung

–       Vorbringen der Beteiligten

94     Die Klägerinnen machen geltend, dass die Finanzverwaltungen der Länder praktisch stets an die Beurteilung der Höhe der von den Kernkraftwerksbetreibern gebildeten Rückstellungen durch die unabhängigen Wirtschaftsprüfer gebunden seien. Die Klägerinnen rügen in dieser Hinsicht die Undurchsichtigkeit der Nachprüfungen, die fortgesetzte Unsicherheit über die Höhe der Rückstellungsvolumina und die quasi hierarchische faktische Bindung der Landesbehörden an die Wirtschaftsprüfer. Deren Unabhängigkeit sei im Übrigen durch die geringe Größe des Marktes wegen der geringen Anzahl von Erzeugern von Strom durch Kernkraft begrenzt.

95     Die Kommission, unterstützt durch die Streithelferinnen, rügt im Wesentlichen, dass die Klägerinnen ihre Behauptungen durch keinerlei Beweismittel, wie etwa eine vergleichende Untersuchung des tatsächlichen Betrages der zu bildenden Rückstellungen, untermauerten.

–       Würdigung durch das Gericht

96     Nach § 252 Absatz 1 Nummer 3 HGB ist die Höhe der von allen steuerpflichtigen Unternehmen zu bildenden Rückstellungen nach Maßgabe der zum Stichtag des Jahresabschlusses zu bewertenden Betriebskosten zu beziffern.

97     Der Betrag der Rückstellungen ist daher grundsätzlich nach Maßgabe der jeweils zum Stichtag der Vorlage der Jahresbilanz bestehenden Höhe der Kosten anzupassen.

98     Dem Vorbringen der Klägerinnen ist jedoch nicht zu entnehmen, dass der Betrag der von Kernkraftwerken unter der gemeinsamen Kontrolle der Wirtschaftsprüfer und der Länderverwaltungen gebildeten Rückstellungen außer Verhältnis zu den tatsächlich veranschlagten Kosten für die Entsorgung der radioaktiven Abfälle und die Erfüllung der Verpflichtungen aufgrund des Abbaus der Kernanlagen stünde.

99     Den Klägerinnen ist, ohne dass sie dem widersprochen hätten, entgegengehalten worden, dass die von den Kernkraftwerksbetreibern zu bildenden Rückstellungen sowohl die Kosten des Abbaus als auch die Kosten der Bewirtschaftung der Brennstoffe und der radioaktiven Betriebsabfälle, also die Gesamtkosten im Zusammenhang mit der endgültigen Stilllegung ihrer Stromerzeugung einschließlich der Kosten der Stilllegung selbst (Kosten des Abbaus des Kraftwerks einschließlich der Kosten der Einschließung), und diejenigen der Endlagerung der radioaktiven Abfälle decken sollen.

100   Die Streithelferinnen haben von den Klägerinnen unwidersprochen ausgeführt, dass ungefähr 55 % der von den Kernkraftwerksbetreibern gebildeten Rückstellungen für die Bewirtschaftung der Rückstände der Brennelemente und der radioaktiven Rückstände bestimmt seien.

101   Die Klägerinnen haben auch nicht bestritten, dass die schnelle Entwicklung der technischen Normen für die Entsorgung der Abfälle und die Stilllegung der Anlagen eine flexible Beurteilung verlangt und eine gewisse Unsicherheit über die Kosten hervorruft und dass die technischen Ausgaben und damit der Betrag der durch die Rückstellungen zu deckenden Kosten, auch wenn er nicht mit Sicherheit festgelegt werden kann, bestimmt daraus folgt.

102   Somit kann das Gericht nicht annehmen, dass die Einzelheiten der Durchführung der streitigen Steuerregelung durch die Verwaltung gegenüber den Kernkraftwerken eine besondere Vergünstigung für diese darstellt, die vom Begriff der staatlichen Beihilfe im Sinne von Artikel 87 Absatz 1 EG erfasst wird.

 Zu den besonderen Auswirkungen der in Rede stehenden steuerlichen Maßnahme auf den betroffenen Wirtschaftszweig

–       Vorbringen der Beteiligten

103   Die Klägerinnen machen geltend, dass die Summe der Auswirkungen der Einzelheiten der Anwendung der Steuerbefreiungsregelung auf die Rückstellungen der Kernkraftwerke, die erhebliche Beträge erreichten, und die freie Verfügbarkeit dieser Mittel entgegen dem handelsrechtlichen Vorsichtsgrundsatz eine Verletzung der allgemeinen Regeln des Steuerrechts darstellten und auf diese Weise eine staatliche Beihilfe im Sinne von Artikel 87 Absatz 1 EG bildeten.

104   Die Verwendung der Rückstellungen unterliege keinerlei gesetzlichen Vorgaben, die Anforderungen an das Risiko, die Rendite oder die Verfügbarkeit des Finanzvolumens stellten. Daher könne nicht ausgeschlossen werden, dass die Mittel im Falle einer endgültigen Stilllegung anderweitig vergeben seien. So seien die gebildeten Rückstellungen im Falle eines Konkurses des Kernkraftwerksbetreibers nicht mehr verfügbar.

105   Durch das Belassen der Rückstellungsbeträge zur freien Verfügbarkeit ohne genaue Kostenanalyse, Zeitplanung und Risikoverteilung für den späteren Rückbau der Kernkraftwerke habe die Bundesrepublik Deutschland letztlich eine staatliche Einstandsgarantie in unbezifferter Höhe abgegeben, die selbst eine staatliche Beihilfe im Sinne von Artikel 87 Absatz 1 EG darstelle.

106   Da sich ein erheblicher Teil der den Kernkraftwerken für Investitionen und den Ankauf von Konkurrenzunternehmen zur Verfügung stehenden Mittel aus der Steuerbegünstigung der Rückstellungen ergebe, bestehe ein Kausalzusammenhang zwischen diesem Wettbewerbsvorteil und der Begünstigung durch staatliche Mittel in Form der Berücksichtigung ungerechtfertigter und überhöhter Rückstellungen.

107   Nach Ansicht der Kommission, unterstützt durch die Streithelferinnen, führen weder die freie Verfügbarkeit der Rückstellungen der Kernkraftwerke noch ihre Höhe noch die schließlich die Gefahr, dass ihre Anlage ihren Einsatz bei Anfall der entsprechenden Verpflichtungen gefährde, zu einer besonderen Vergünstigung für die Kernkraftwerke aufgrund des den steuerpflichtigen Unternehmen durch die Steuerbefreiung der Rückstellungen gewährten Steuervorteils.

–       Würdigung durch das Gericht

108   Aus der Übersicht über die einschlägigen Bestimmungen des deutschen Steuerrechts geht hervor, dass die Rückstellungen grundsätzlich für alle steuerpflichtigen Unternehmen unabhängig von ihrem Gesellschaftszweck und dem Umfang der fraglichen Beträge frei verfügbar sind. Wie sich aus den vorstehenden Ausführungen ergibt, bestimmt sich die Höhe der von den Kernkraftwerken gebildeten Rückstellungen in Ermangelung einer gegenteiligen Darlegung durch die Klägerinnen nach den tatsächlichen Merkmalen dieser Betriebe und stehen diese Rückstellungen im Verhältnis zum Umfang der Verpflichtungen der Unternehmen bei deren Fälligkeit gemäß dem in § 252 Absatz 1 Nummer 4 HGB verankerten Vorsichtsgrundsatz, wonach alle steuerpflichtigen Unternehmen die finanzielle Deckung der vorhersehbaren Belastungen, die zum Stichtag des Jahresabschlusses entstanden sind, zu berücksichtigen haben.

109   Der Umstand, dass die Kernkraftwerke aus der Steuerbefreiung wegen des möglicherweise höheren Betrages ihrer Rückstellungen einen größeren Vorteil als andere Unternehmen ziehen können, erlaubt es daher dem Gericht nicht, diese Steuerbefreiung als selektive Vergünstigung zu betrachten, die eine staatliche Beihilfe begründet.

110   Ebenso besteht das Risiko, dass die Anlage der von den Kernkraftwerken gebildeten Rückstellungen deren Einsatz bei Fälligkeit der gedeckten Verpflichtungen gefährdet, für alle steuerpflichtigen Unternehmen und alle Wirtschaftszweige. Eine hypothetische Nichterfüllung der Verpflichtungen der Betreiber der Kernkraftwerke bei Fälligkeit kann daher nicht als Anhaltspunkt für eine selektive Begünstigung der Kernkraftwerke durch die Steuerregelung betrachtet werden.

111   Schließlich stellt der Umstand, dass die Kernkraftwerksbetreiber wegen der erheblichen Höhe der gebildeten Rückstellungen angeblich die Möglichkeit haben, für ihre Investitionen und den Ankauf von konkurrierenden Unternehmen auf eine interne kostengünstige Finanzierung zurückgreifen, das Fehlen der Selektivität der streitigen nationalen Maßnahme nicht in Frage.

112   Zum einen können alle steuerpflichtigen Unternehmen frei über ihre Rückstellungen verfügen, wie bereits ausgeführt worden ist. Zum anderen ist nicht dargetan worden, dass die Höhe der von den Kernkraftwerksbetreibern gebildeten Rückstellungen als außer Verhältnis zum Umfang der Kosten stehend zu betrachten wäre, die die Kernkraftwerksbetreiber für die Finanzierung ihrer öffentlich-rechtlichen Verpflichtung zur Entsorgung ihrer radioaktiven Abfälle und Stilllegung ihrer Anlagen zu tragen haben.

113   Unter diesen Umständen erlaubt das Vorbringen der Klägerinnen dem Gericht nicht die Annahme, dass die Regelung der steuerlichen Entlastung der Rückstellungen der Kernkraftwerksbetreiber wegen ihrer besonderen Auswirkungen zu deren Gunsten den besonderen Vorteil darstellen würde, der dem Begriff der staatlichen Beihilfe innewohnt.

114   Somit hat die Prüfung der Frage der Selektivität der streitigen Steuerregelung keine Beurteilungselemente ergeben, aufgrund deren die Kommission verpflichtet gewesen wäre, das förmliche Verfahren zur Prüfung staatlicher Beihilfen im Sinne von Artikel 88 Absatz 2 EG zu eröffnen.

115   Daher ist die Klage abzuweisen.

 Kosten

116   Nach Artikel 87 § 2 der Verfahrensordnung des Gerichts ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen.

117   Da die Klägerinnen unterlegen sind, sind ihnen neben ihren eigenen Kosten die Kosten der Kommission und der Streithelferinnen gemäß deren entsprechenden Anträgen aufzuerlegen.

Aus diesen Gründen

hat

DAS GERICHT (Vierte Kammer)

für Recht erkannt und entschieden:

1.      Die Klage wird abgewiesen.

2.      Die Klägerinnen tragen neben ihren eigenen Kosten die Kosten der Kommission und der Streithelferinnen.

Legal

Mengozzi

Wiszniewska-Białecka

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 26. Januar 2006.

Der Kanzler

 

      Der Präsident

E. Coulon

 

      H. Legal


* Verfahrenssprache: Deutsch.