Language of document : ECLI:EU:C:2022:97

Rechtssache C156/21

Ungarn

gegen

Europäisches Parlament
und
Rat der Europäischen Union

 Urteil des Gerichtshofs (Plenum) vom 16. Februar 2022

„Nichtigkeitsklage – Verordnung (EU, Euratom) 2020/2092 – Allgemeine Konditionalitätsregelung zum Schutz des Haushalts der Europäischen Union – Schutz des Haushalts der Union im Fall von Verstößen gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten – Rechtsgrundlage – Art. 322 Abs. 1 Buchst. a AEUV – Behauptete Umgehung von Art. 7 EUV und Art. 269 AEUV – Geltend gemachte Verstöße gegen Art. 4 Abs. 1, Art. 5 Abs. 2 und Art. 13 Abs. 2 EUV sowie gegen die Grundsätze der Rechtssicherheit, der Verhältnismäßigkeit und der Gleichheit der Mitgliedstaaten vor den Verträgen“

1.        Gerichtliches Verfahren – Beschleunigtes Verfahren – Voraussetzungen – Umstände, die eine rasche Erledigung rechtfertigen – Grundlegende Bedeutung der Rechtssache für die Unionsrechtsordnung – Rechtssache, die die Befugnisse der Union betrifft, ihren Haushalt gegen Beeinträchtigungen zu verteidigen, die sich aus Verletzungen der in Art. 2 EUV genannten Werte ergeben können – Statthaftigkeit der Anwendung dieses Verfahrens

(Art. 2 EUV; Art. 263 AEUV; Verfahrensordnung des Gerichtshofs, Art. 133 Abs. 1)

(vgl. Rn. 30, 31)

2.        Organe der Europäischen Union – Recht der Öffentlichkeit auf Zugang zu Dokumenten – Verordnung Nr. 1049/2001 – Ausnahmen vom Recht auf Zugang zu Dokumenten – Schutz der Rechtsberatung – Überwiegendes öffentliches Interesse der Transparenz, das die Verbreitung von Dokumenten rechtfertigt – Begriff – Verpflichtung des Organs, die widerstreitenden Interessen gegeneinander abzuwägen – Verbreitung von Rechtsgutachten zu Gesetzgebungsverfahren und Vorlage derselben vor Gericht – Pflicht des Organs, eine Entscheidung über die Verweigerung des Zugangs substantiiert zu begründen – Eigenes Interesse des Klägers daran, das betreffende Rechtsgutachten vor Gericht vorzulegen – Keine Auswirkung

(Art. 10 Abs. 3 EUV; Art. 15 Abs. 1 und Art. 298 Abs. 1 AEUV; Verordnung Nr. 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 4 Abs. 2 zweiter Gedankenstrich; Beschluss 2009/937 des Rates, Art. 6 Abs. 2)

(vgl. Rn. 50-52, 55, 56, 58-60, 62-64)

3.        Handlungen der Organe – Wahl der Rechtsgrundlage – Kriterien – Verordnung 2020/2092 über eine allgemeine Konditionalitätsregelung zum Schutz des Haushalts der Union – Zweck – Schutz des Unionshaushalts vor Beeinträchtigungen durch Verstöße gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit in einem Mitgliedstaat – Inhalt – Konditionalitätsmechanismus, der den Erhalt von Mitteln aus dem Unionshaushalt davon abhängig macht, dass ein Mitgliedstaat den Wert der Rechtsstaatlichkeit achtet – Erlass auf der Grundlage von Art. 322 Abs. 1 Buchst. a AEUV – Zulässigkeit – Mechanismus der horizontalen Konditionalität, der unter den Begriff der Haushaltsvorschriften im Sinne dieser Bestimmung fällt

(Art. 2, Art. 5 Abs. 2 und Art. 49 EUV; Art. 7, 310, 315 bis 317 und 322 Abs. 1 Buchst. a AEUV; Verordnung 2020/2092 des Europäischen Parlaments und des Rates, Erwägungsgründe 5 und 13 sowie Art. 1, Art. 2 Buchst. a, Art. 3, Art. 4 Abs. 1 und 2, Art. 5 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 1)

(vgl. Rn. 98-101, 104, 107, 108, 110, 111, 114, 116, 118-120, 122, 124-133, 139-141, 144-147, 150-153)

4.        Haushalt der Europäischen Union – Erlass der Haushaltsvorschriften, in denen die Aufstellung und Ausführung des Haushaltsplans sowie die Rechnungslegung und Rechnungsprüfung im Einzelnen geregelt werden, durch das Parlament und den Rat – Rechtsgrundlage – Art. 322 Abs. 1 AEUV – Begriff der Haushaltsvorschriften – Vorschriften, die die Art und Weise regeln, wie die in den Haushaltsplan eingesetzten Ausgaben getätigt werden – Vorschriften zur Festlegung sowohl der Kontroll- und Wirtschaftsprüfungspflichten, die den Mitgliedstaaten obliegen, wenn die Kommission den Haushaltsplan zusammen mit ihnen ausführt, als auch der damit verbundenen Verantwortlichkeiten – Einbeziehung – Vorschriften, mit denen sichergestellt werden soll, dass der Grundsatz der Wirtschaftlichkeit der Haushaltsführung beachtet wird

(Art. 322 Abs. 1 Buchst. a AEUV)

(vgl. Rn. 105, 151, 186)

5.        Recht der Europäischen Union – Grundsätze – Grundsatz der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten – Haushaltssolidarität, die auf dem gegenseitigen Vertrauen der Mitgliedstaaten beruht – Gegenseitiges Vertrauen, das darauf beruht, dass die Mitgliedstaaten die in Art. 2 EUV genannten Werte achten, zu denen der Wert der Rechtsstaatlichkeit zählt

(Art. 2 EUV; Verordnung 2020/2092 des Europäischen Parlaments und des Rates, fünfter Erwägungsgrund)

(vgl. Rn. 129)

6.        Recht der Europäischen Union – Werte und Ziele der Union – Werte – Achtung der Rechtsstaatlichkeit – Umfang – Verordnung 2020/2092 über eine allgemeine Konditionalitätsregelung zum Schutz des Haushalts der Union – Verordnung, die die Kommission und den Rat ermächtigt, zu kontrollieren, ob die Mitgliedstaaten die Rechtsstaatlichkeit achten – Kontrolle, die auf die Prüfung von Verhaltensweisen nationaler Behörden beschränkt ist, die sich auf die Ausführung des Haushaltsplans der Union beziehen – Verordnung, die es dem Gerichtshof erlaubt, im Rahmen einer Nichtigkeitsklage die Rechtmäßigkeit von auf dieser Grundlage ergangenen Beschlüssen des Rates zu kontrollieren – Durch den Erlass dieser Verordnung bewirkte Umgehung des in Art. 7 EUV vorgesehenen Verfahrens und der dem Gerichtshof durch Art. 269 AEUV zugewiesenen Befugnisse – Verletzung des institutionellen Gleichgewichts – Fehlen

(Art. 2, Art. 7, Art. 13 Abs. 2 und Art. 19 EUV; Art. 8, Art. 10, Art. 19 Abs. 1, Art. 153 Abs. 1 Buchst. i, Art. 157 Abs. 1 und Art. 269 AEUV; Charta der Grundrechte der Europäischen Union; Verordnung 2020/2092 des Europäischen Parlaments und des Rates)

(vgl. Rn. 156-164, 167-172, 179-182, 192-197)

7.        Recht der Europäischen Union  – Grundsätze – Rechtssicherheit – Unionsregelung – Gebot der Klarheit und Vorhersehbarkeit – Verordnung 2020/2092 über eine allgemeine Konditionalitätsregelung zum Schutz des Haushalts der Union – Verordnung, mit der ein Konditionalitätsmechanismus eingeführt wird, der darauf abstellt, dass die Mitgliedstaaten die Rechtsstaatlichkeit achten – Begriff der Rechtsstaatlichkeit – Verweis auf den in Art. 2 EUV verankerten Wert der Union – Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit, die auf den Mitgliedstaaten gemeinsame Werte zurückgehen – Hinreichende Klarheit dieser Grundsätze

(Art. 2, Art. 4 Abs. 2 und Art. 19 EUV; Verordnung 2020/2092 des Europäischen Parlaments und des Rates, dritter Erwägungsgrund sowie Art. 2 Buchst. a und Art. 4 Abs. 1)

(vgl. Rn. 223-229, 231-237, 240)

8.        Recht der Europäischen Union – Grundsätze – Rechtssicherheit – Tragweite – Verordnung 2020/2092 über eine allgemeine Konditionalitätsregelung zum Schutz des Haushalts der Union – Verordnung, mit der ein Konditionalitätsmechanismus eingeführt wird, der darauf abstellt, dass die Mitgliedstaaten die Rechtsstaatlichkeit achten – Hinreichend klarer Zusammenhang zwischen den Bestimmungen der Verordnung, mit denen dieser Mechanismus eingeführt wird – Verwendung von Begriffen, die in anderen Bestimmungen der angefochtenen Regelung oder in anderen Vorschriften des Unionsrechts definiert werden – Gewährung eines Ermessens zugunsten der Kommission und des Rates hinsichtlich der Wahl der Handlung, auf die sich die zu erlassende Maßnahme zum Schutz des Haushalts bezieht – Zulässigkeit

(Art. 2 und Art. 4 Abs. 2 EUV; Verordnungen des Europäischen Parlaments und des Rates 2018/1046, Art. 63 Abs. 2 Buchst. d, sowie 2020/2092, Art. 2 Buchst. a, Art. 3 und Art. 4 Abs. 2 Buchst. h)

(vgl. Rn. 242, 243, 248-250, 252, 254, 259)

9.        Recht der Europäischen Union – Grundsätze – Rechtssicherheit – Tragweite – Verordnung 2020/2092 über eine allgemeine Konditionalitätsregelung zum Schutz des Haushalts der Union – Maßnahmen zum Schutz des Haushalts der Union – Voraussetzungen für die Annahme von Maßnahmen im Fall des Verstoßes gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit – Beeinträchtigung oder ernsthaft drohende Beeinträchtigung der wirtschaftlichen Führung des Unionshaushalts oder des Schutzes der finanziellen Interessen der Union – Hinreichend präzise Erfordernisse hinsichtlich der Verwirklichung dieser Gefahr – Hinreichend klare Festlegung von Art und Umfang der Maßnahmen zum Schutz des Haushalts der Union – Wahrung des Zusammenhangs zwischen dem festgestellten Verstoß gegen einen Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit und den ergriffenen Maßnahmen – Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit

(Art. 317 Abs. 1 AEUV; Verordnungen des Europäischen Parlaments und des Rates 2018/1046, Art. 2 Nr. 59 und Art. 63 Abs. 2 Buchst. d, und 2020/2092, Art. 4 Abs. 1 und 2 sowie Art. 5 Abs. 1 und 3)

(vgl. Rn. 261-263, 267-275, 277-279, 329-333, 341-345)

10.      Recht der Europäischen Union – Grundsätze – Rechtssicherheit – Tragweite – Verordnung 2020/2092 über eine allgemeine Konditionalitätsregelung zum Schutz des Haushalts der Union – Voraussetzungen für die Annahme von Maßnahmen im Fall des Verstoßes gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit – Von der Kommission selbst vorzunehmende Prüfung der Beeinträchtigung oder der ernsthaft drohenden Beeinträchtigung der wirtschaftlichen Führung des Unionshaushalts oder des Schutzes der finanziellen Interessen der Union – Verantwortlichkeit der Kommission für die Sachdienlichkeit der verwendeten Informationen und für die Zuverlässigkeit der herangezogenen Quellen

(Verordnung 2020/2092 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 4, Art. 5 Abs. 3 und Art. 6 Abs. 1 bis 9)

(vgl. Rn. 280, 282, 284, 287, 289, 354-359)

11.      Nichtigkeitsklage – Nichtigkeitsurteil – Tragweite – Teilweise Nichtigerklärung eines Unionsrechtsakts – Voraussetzung – Abtrennbarkeit der für nichtig erklärbaren Teile des angefochtenen Rechtsakts – Verordnung 2020/2092 über eine allgemeine Konditionalitätsregelung zum Schutz des Haushalts der Union – Fehlende Abtrennbarkeit einer Bestimmung der Verordnung, in der die Voraussetzungen für die Annahme der in Betracht kommenden Maßnahmen zum Schutz des Haushalts der Union festgelegt werden

(Art. 264 AEUV; Verordnung 2020/2092 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 4 Abs. 1 und Art. 5 Abs. 1)

(vgl. Rn. 293-295)

12.      Nichtigkeitsklage – Klage der Mitgliedstaaten – Klage gegen eine Verordnung, mit der eine Konditionalitätsregelung zum Schutz des Unionshaushalts eingeführt wird – Gründe – Klagegrund eines Verstoßes gegen die unionsrechtlichen Vorschriften über öffentliche Defizite und gegen den Grundsatz der Gleichheit der Mitgliedstaaten vor den Verträgen – Nach dieser Verordnung ergriffene Maßnahmen, die die bereits bestehenden Verpflichtungen der Mitgliedstaaten, die sich u. a. aus den anwendbaren sektorspezifischen Vorschriften oder Haushaltsvorschriften ergeben, unberührt lassen – Verordnung, die den Mitgliedstaaten keine neue Verpflichtung auferlegt – Unbegründeter Klagegrund

(Verordnung 2020/2092 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 5 Abs. 2)

(vgl. Rn. 312-317)

Zusammenfassung

Mit der Verordnung 2020/2092 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2020(1) wurde ein „Mechanismus der horizontalen Konditionalität“ geschaffen, der darauf abzielt, den Haushalt der Europäischen Union im Fall von in einem Mitgliedstaat begangenen Verstößen gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit zu schützen. Zu diesem Zweck kann der Rat der Europäischen Union gemäß dieser Verordnung – unter den dort näher bestimmten Voraussetzungen – auf Vorschlag der Europäischen Kommission geeignete Schutzmaßnahmen wie etwa die Aussetzung der zulasten des Unionshaushalts gehenden Zahlungen oder die Aussetzung der Genehmigung eines oder mehrerer aus Haushaltsmitteln der Union finanzierter Programme treffen. Die angefochtene Verordnung macht den Erlass solcher Maßnahmen davon abhängig, dass konkrete Belege vorgebracht werden, aus denen nicht nur hervorgeht, dass ein Verstoß gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit vorliegt, sondern auch, dass sich dieser Verstoß auf die Ausführung des Haushaltsplans der Union auswirkt.

Die angefochtene Verordnung knüpft an eine Reihe früherer Initiativen an, die allgemeiner den Schutz der Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten zum Gegenstand hatten(2) und darauf abzielten, auf Unionsebene wachsende Bedenken auszuräumen, die gegenüber mehreren Mitgliedstaaten hinsichtlich der Einhaltung der in Art. 2 EUV genannten gemeinsamen Werte der Union bestanden(3).

Ungarn erhob eine von der Republik Polen unterstützte Klage(4) auf Nichtigerklärung der angefochtenen Verordnung, hilfsweise auf Nichtigerklärung einiger ihrer Bestimmungen. Zur Stützung seiner Anträge machte Ungarn im Wesentlichen geltend, diese Verordnung werde zwar formal als Rechtsakt präsentiert, der unter den Begriff der Haushaltsvorschriften im Sinne von Art. 322 Abs. 1 Buchst. a AEUV falle, ziele aber in Wirklichkeit darauf ab, jeglichen Verstoß eines Mitgliedstaats gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit als solchen zu ahnden, wobei die Anforderungen bezüglich der Rechtsstaatlichkeit jedenfalls nicht hinreichend klar seien. Ungarn stützte seine Klage demnach insbesondere auf die Unzuständigkeit der Union für den Erlass einer solchen Verordnung – sowohl wegen des Fehlens einer Rechtsgrundlage als auch wegen der Umgehung des in Art. 7 EUV vorgesehenen Verfahrens – sowie auf die Missachtung der Erfordernisse des Grundsatzes der Rechtssicherheit.

Der Gerichtshof hatte somit darüber zu entscheiden, inwieweit die Union befugt ist, ihren Haushalt und ihre finanziellen Interessen gegen Beeinträchtigungen zu verteidigen, die sich aus Verletzungen der in Art. 2 EUV genannten Werte ergeben können. Da die Rechtssache nach Auffassung des Gerichtshofs von grundlegender Bedeutung war, hat er sie an das Plenum verwiesen. Aus denselben Gründen ist dem Antrag des Europäischen Parlaments, die Rechtssache im beschleunigten Verfahren zu behandeln, stattgegeben worden. Unter diesen Rahmenbedingungen hat der Gerichtshof die Nichtigkeitsklage Ungarns in vollem Umfang abgewiesen.

Würdigung durch den Gerichtshof

Vor der Prüfung der Begründetheit der Klage hat der Gerichtshof über den Antrag des Rates entschieden, verschiedene Passagen der Klageschrift Ungarns unberücksichtigt zu lassen, soweit sie sich auf Ausführungen stützten, die einem ohne die erforderliche Genehmigung verbreiteten vertraulichen Gutachten des Juristischen Dienstes des Rates entnommen waren. Insoweit hat der Gerichtshof bestätigt, dass es dem betreffenden Organ grundsätzlich freisteht, die gerichtliche Vorlage eines solchen internen Dokuments von einer vorherigen Genehmigung abhängig zu machen. Wenn sich das fragliche Rechtsgutachten jedoch, wie im vorliegenden Fall, auf ein Gesetzgebungsverfahren bezieht, ist der Grundsatz der Transparenz zu berücksichtigen, da die Verbreitung eines solchen Gutachtens dann geeignet ist, die Transparenz und die Offenheit des Gesetzgebungsverfahrens zu erhöhen. Daher hat bei der Verbreitung eines internen Rechtsgutachtens das überwiegende öffentliche Interesse an der Transparenz und der Offenheit des Gesetzgebungsverfahrens grundsätzlich Vorrang vor dem Interesse der Organe. Da der Rat im vorliegenden Fall nicht nachgewiesen hatte, dass das fragliche Gutachten besonders sensibel oder von besonders großer Tragweite wäre, die über den Rahmen des betreffenden Gesetzgebungsverfahrens hinausginge, hat der Gerichtshof den Antrag des Rates zurückgewiesen.

In der Sache hat der Gerichtshof als Erstes die zur Stützung des Hauptantrags auf vollständige Nichtigerklärung der angefochtenen Verordnung geltend gemachten Klagegründe geprüft, mit denen zum einen die Unzuständigkeit der Union für den Erlass dieser Verordnung und zum anderen ein Verstoß gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit gerügt worden war.

Zur Rechtsgrundlage der angefochtenen Verordnung hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass das in dieser Verordnung vorgesehene Verfahren nur dann eingeleitet werden kann, wenn hinreichende Gründe nicht nur für die Feststellung vorliegen, dass in einem Mitgliedstaat gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit verstoßen wird, sondern vor allem auch für die Feststellung, dass diese Verstöße die wirtschaftliche Führung des Unionshaushalts oder den Schutz der finanziellen Interessen der Union hinreichend unmittelbar beeinträchtigen oder ernsthaft zu beeinträchtigen drohen. Zudem beziehen sich die Maßnahmen, die nach der angefochtenen Verordnung getroffen werden können, ausschließlich auf die Ausführung des Haushaltsplans der Union und sind allesamt darauf ausgerichtet, die aus dem Unionshaushalt stammenden Mittel in Abhängigkeit davon zu begrenzen, wie stark sich eine solche Beeinträchtigung bzw. ernsthaft drohende Beeinträchtigung auf diesen Haushalt auswirkt. Folglich besteht das Ziel der angefochtenen Verordnung darin, den Unionshaushalt vor Beeinträchtigungen zu schützen, die sich hinreichend unmittelbar aus Verstößen gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit ergeben, und nicht etwa darin, derartige Verstöße als solche zu ahnden.

In Erwiderung auf das Vorbringen Ungarns, dass Haushaltsvorschriften nicht dazu dienen könnten, den Umfang der den Werten nach Art. 2 EUV innewohnenden Anforderungen zu präzisieren, hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass das gegenseitige Vertrauen der Mitgliedstaaten darauf beruht, dass diese die gemeinsamen Werte achten, auf die sich die Union gründet. Diese Werte haben die Mitgliedstaaten festgelegt, und sie sind ihnen gemeinsam. Sie geben der Union als Rechtsgemeinschaft der Mitgliedstaaten schlechthin ihr Gepräge. Zu ihnen zählen Rechtsstaatlichkeit und Solidarität. Da die Achtung der gemeinsamen Werte somit eine Voraussetzung für den Genuss all jener Rechte ist, die sich aus der Anwendung der Verträge auf einen Mitgliedstaat ergeben, muss die Union auch in der Lage sein, diese Werte im Rahmen der ihr übertragenen Aufgaben zu verteidigen.

In dieser Hinsicht hat der Gerichtshof zum einen ausgeführt, dass die Achtung dieser Werte nicht auf eine Verpflichtung reduziert werden kann, der ein Beitrittskandidat im Hinblick auf seinen Beitritt zur Union unterläge und der er danach wieder entsagen könnte. Zum anderen hat der Gerichtshof hervorgehoben, dass der Unionshaushalt eines der wichtigsten Instrumente ist, mit denen in den Politiken und Maßnahmen der Union der tragende Grundsatz der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten konkretisiert werden kann. Soweit dieser Grundsatz mittels des Unionshaushalts umgesetzt wird, basiert dies auf dem gegenseitigen Vertrauen der Mitgliedstaaten in die verantwortungsvolle Verwendung der in diesen Haushalt eingeflossenen gemeinsamen Mittel.

Die wirtschaftliche Führung des Unionshaushalts und die finanziellen Interessen der Union können jedoch durch in einem Mitgliedstaat begangene Verstöße gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit schwer beeinträchtigt werden. Solche Verstöße können nämlich u. a. zur Folge haben, dass keine Gewähr dafür besteht, dass vom Unionshaushalt gedeckte Ausgaben allen unionsrechtlich vorgesehenen Finanzierungsbedingungen genügen und damit den Zielen entsprechen, die die Union verfolgt, wenn sie solche Ausgaben finanziert.

Folglich kann ein „Mechanismus der horizontalen Konditionalität“ wie der durch die angefochtene Verordnung eingeführte, der den Erhalt von Mitteln aus dem Unionshaushalt davon abhängig macht, dass ein Mitgliedstaat die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit einhält, unter die der Union durch die Verträge verliehene Zuständigkeit fallen, „Haushaltsvorschriften“ über die Ausführung des Haushaltsplans der Union zu erlassen. Der Gerichtshof hat klargestellt, dass diejenigen Bestimmungen der angefochtenen Verordnung, die diese Grundsätze benennen, eine Aufzählung von Fällen enthalten, die auf einen Verstoß gegen diese Grundsätze hindeuten können, die Umstände und Verhaltensweisen präzisieren, die von solchen Verstößen betroffen sein müssen, sowie Art und Umfang der Schutzmaßnahmen bestimmen, die gegebenenfalls erlassen werden können, als grundlegende Bestandteile fest zu diesem Mechanismus gehören.

Was die Rüge anbelangt, das in Art. 7 EUV vorgesehene Verfahren und die Bestimmungen von Art. 269 AEUV würden umgangen, so hat der Gerichtshof das Vorbringen Ungarns zurückgewiesen, dass allein das in Art. 7 EUV vorgesehene Verfahren den Unionsorganen die Zuständigkeit verleihe, in einem Mitgliedstaat begangene Verstöße gegen die in Art. 2 EUV genannten Werte zu prüfen, festzustellen und gegebenenfalls zu ahnden. Über das in Art. 7 EUV vorgesehene Verfahren hinaus verleihen nämlich zahlreiche weitere Bestimmungen der Verträge, die oftmals durch verschiedene Sekundärrechtsakte konkretisiert werden, den Unionsorganen die Befugnis, in einem Mitgliedstaat begangene Verstöße gegen die in Art. 2 EUV genannten Werte zu prüfen, festzustellen und gegebenenfalls ahnden zu lassen.

Außerdem hat der Gerichtshof ausgeführt, dass das in Art. 7 EUV vorgesehene Verfahren dem Rat die Möglichkeit geben soll, schwerwiegende und anhaltende Verletzungen eines jeden der gemeinsamen Werte, auf die sich die Union gründet und die ihre Identität ausmachen, zu ahnden, und zwar insbesondere mit dem Ziel, den betreffenden Mitgliedstaat dazu anzuhalten, diese Verletzungen abzustellen. Dagegen zielt die angefochtene Verordnung darauf ab, den Unionshaushalt zu schützen, und zwar allein im Fall eines in einem Mitgliedstaat begangenen Verstoßes gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit, der die ordnungsgemäße Ausführung des Haushaltsplans der Union beeinträchtigt oder ernsthaft zu beeinträchtigen droht. Zudem unterscheiden sich das Verfahren nach Art. 7 EUV und das mit der angefochtenen Verordnung eingeführte Verfahren in Bezug auf ihren Gegenstand, die Voraussetzungen für ihre Einleitung, die Voraussetzungen für den Erlass und die Aufhebung der vorgesehenen Maßnahmen sowie deren Natur. Mithin verfolgen diese beiden Verfahren unterschiedliche Ziele, und jedes dieser Verfahren hat einen eigenen, klar abgegrenzten Gegenstand. Daraus folgt im Übrigen, dass auch nicht davon ausgegangen werden kann, dass das mit der angefochtenen Verordnung eingeführte Verfahren darauf abzielt, die in Art. 269 AEUV vorgesehene Beschränkung der allgemeinen Zuständigkeit des Gerichtshofs zu umgehen, da der Wortlaut dieser Bestimmung nur die Kontrolle der Rechtmäßigkeit eines nach Art. 7 EUV erlassenen Rechtsakts des Europäischen Rates oder des Rates betrifft.

Da die Kommission und der Rat außerdem gemäß der angefochtenen Verordnung nur Umstände oder Verhaltensweisen prüfen können, die den Behörden eines Mitgliedstaats zurechenbar sind und für die wirtschaftliche Führung des Unionshaushalts von Bedeutung erscheinen, überschreiten die Befugnisse, die diesen Organen durch die Verordnung verliehen werden, nicht die Grenzen der Zuständigkeiten der Union.

Im Rahmen der Prüfung des Klagegrundes, mit dem ein Verstoß gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit gerügt wurde, hat der Gerichtshof das Vorbringen Ungarns, dass die angefochtene Verordnung sowohl in Bezug auf die Kriterien, nach denen die Voraussetzungen für die Einleitung des Verfahrens zu prüfen seien, als auch in Bezug auf Auswahl und Umfang der zu erlassenden Maßnahmen zu unbestimmt sei, als gänzlich unbegründet erachtet. Insoweit hat der Gerichtshof zunächst festgestellt, dass die in der angefochtenen Verordnung als Bestandteile des Begriffs „Rechtsstaatlichkeit“ angeführten Grundsätze(5) in der Rechtsprechung des Gerichtshofs umfänglich konkretisiert worden sind, dass diese Grundsätze ihren Ursprung in gemeinsamen Werten haben, die auch von den Mitgliedstaaten in ihren eigenen Rechtsordnungen anerkannt und angewandt werden, und dass sie auf einem Verständnis von „Rechtsstaatlichkeit“ basieren, das die Mitgliedstaaten teilen und dem sie sich im Sinne eines ihren Verfassungstraditionen gemeinsamen Wertes anschließen. Infolgedessen hat der Gerichtshof befunden, dass die Mitgliedstaaten in der Lage sind, den Wesensgehalt jedes dieser Grundsätze sowie die aus ihnen folgenden Erfordernisse hinreichend genau zu bestimmen.

Was speziell die Kriterien, nach denen die Voraussetzungen für die Einleitung des Verfahrens zu prüfen sind, sowie Auswahl und Umfang der zu erlassenden Maßnahmen betrifft, hat der Gerichtshof klargestellt, dass die angefochtene Verordnung für die Annahme der in ihr vorgesehenen Schutzmaßnahmen voraussetzt, dass ein tatsächlicher Zusammenhang zwischen einem Verstoß gegen einen Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit und einer Beeinträchtigung bzw. einer ernsthaft drohenden Beeinträchtigung der wirtschaftlichen Führung des Unionshaushalts oder des Schutzes der finanziellen Interessen der Union festgestellt wird. Zudem muss ein solcher Verstoß einen Umstand oder ein Verhalten betreffen, der bzw. das einer mitgliedstaatlichen Behörde zurechenbar und für die wirtschaftliche Führung des Unionshaushalts von Bedeutung ist. Der Ausdruck „ernsthaft drohend“ wird im Haushaltsrecht der Union präzisiert. Außerdem hat der Gerichtshof hervorgehoben, dass die in Betracht kommenden Schutzmaßnahmen strikt im Verhältnis zur Auswirkung des festgestellten Verstoßes auf den Unionshaushalt stehen müssen. Insbesondere können diese Maßnahmen ausschließlich im Rahmen dessen, was zur Erreichung des Ziels, diesen Haushalt in seiner Gesamtheit zu schützen, unbedingt erforderlich ist, auf andere Aktionen und Programme als die von einem solchen Verstoß betroffenen abzielen. Im Übrigen muss die Kommission – unter der Kontrolle der Unionsgerichte – strenge Verfahrenserfordernisse beachten, zu denen u. a. die Verpflichtung zählt, dem betroffenen Mitgliedstaat mehrfach Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Aufgrund dessen ist der Gerichtshof zu dem Ergebnis gelangt, dass die angefochtene Verordnung den Erfordernissen des Grundsatzes der Rechtssicherheit genügt.

Als Zweites hat der Gerichtshof die Hilfsanträge auf teilweise Nichtigerklärung der angefochtenen Verordnung geprüft. Insoweit hat er zum einen entschieden, dass die Nichtigerklärung von Art. 4 Abs. 1 der angefochtenen Verordnung zur Folge hätte, dass der Wesensgehalt dieser Verordnung verändert würde, da diese Bestimmung die Voraussetzungen festlegt, die für die Annahme der in der Verordnung vorgesehenen Schutzmaßnahmen erfüllt sein müssen. Der Antrag auf Nichtigerklärung allein dieser Bestimmung war daher als unzulässig anzusehen. Zum anderen hat der Gerichtshof die Rügen, die sich gegen eine Reihe anderer Bestimmungen der angefochtenen Verordnung richteten und sich auf das Fehlen einer Rechtsgrundlage sowie auf Verstöße sowohl gegen die unionsrechtlichen Vorschriften über öffentliche Defizite als auch gegen die Grundsätze der Rechtssicherheit, der Verhältnismäßigkeit und der Gleichheit der Mitgliedstaaten vor den Verträgen bezogen, für unbegründet befunden. Er hat daher sämtliche Hilfsanträge zurückgewiesen und die Klage Ungarns in vollem Umfang abgewiesen.


1      Verordnung (EU, Euratom) 2020/2092 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2020 über eine allgemeine Konditionalitätsregelung zum Schutz des Haushalts der Union (ABl. 2020, L 433I, S. 1, berichtigt in ABl. 2021, L 373, S. 94, im Folgenden: angefochtene Verordnung).


2      Vgl. insbesondere die Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Europäischen Rat, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen vom 17. Juli 2019 mit dem Titel „Die Stärkung der Rechtsstaatlichkeit in der Union – Ein Konzept für das weitere Vorgehen“, COM(2019) 343 final, ihrerseits anknüpfend an die Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat vom 11. März 2014 mit dem Titel „Ein neuer EU-Rahmen zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips“, COM(2014) 158 final.


3      Die grundlegenden und allen Mitgliedstaaten gemeinsamen Werte der Union, die in Art. 2 EUV genannt werden, umfassen die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte, und zwar in einer Gesellschaft, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.


4      Die Republik Polen erhob ebenfalls eine Klage auf Nichtigerklärung der Verordnung 2020/2092 (Rechtssache C‑157/21).


5      Nach Art. 2 Buchst. a der angefochtenen Verordnung umfasst der Begriff „Rechtsstaatlichkeit“ „die Grundsätze der Rechtmäßigkeit, die transparente, rechenschaftspflichtige, demokratische und pluralistische Gesetzgebungsverfahren voraussetzen, der Rechtssicherheit, des Verbots der willkürlichen Ausübung von Hoheitsgewalt, des wirksamen Rechtsschutzes – einschließlich des Zugangs zur Justiz – durch unabhängige und unparteiische Gerichte, auch in Bezug auf Grundrechte, der Gewaltenteilung und der Nichtdiskriminierung und der Gleichheit vor dem Gesetz“.