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SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

JEAN RICHARD DE LA TOUR

vom 17. Mai 2023(1)

Rechtssache C402/22

Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid

gegen

M. A.

(Vorabentscheidungsersuchen des Raad van State [Staatsrat, Niederlande])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 2011/95/EU – Normen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder des subsidiären Schutzstatus – Art. 14 Abs. 4 Buchst. b und Abs. 5 – Verweigerung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft – Drittstaatsangehöriger, der eine besonders schwere Straftat begangen hat – Begriff ‚besonders schwere Straftat‘“






I.      Einleitung

1.        Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes(2).

2.        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen M. A., einem Drittstaatsangehörigen, und dem Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Staatssekretär für Justiz und Sicherheit, Niederlande) (im Folgenden: Staatssekretär) wegen dessen Entscheidung, den Antrag von M. A. auf internationalen Schutz abzulehnen.

3.        Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 sieht vor, dass die Mitgliedstaaten die einem Flüchtling zuerkannte Rechtsstellung aberkennen können, wenn er eine Gefahr für die Allgemeinheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem er sich aufhält, weil er wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde.

4.        Gemäß Art. 14 Abs. 5 dieser Richtlinie können die Mitgliedstaaten in einem solchen Fall auch entscheiden, die Flüchtlingseigenschaft nicht zuzuerkennen, solange noch keine Entscheidung darüber gefasst worden ist. Die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Entscheidung wurde auf der Grundlage dieser Bestimmung erlassen.

5.        In meinen Schlussanträgen in den Rechtssachen AA (Flüchtling, der eine schwere Straftat begangen hat) und Commissaire général aux réfugiés et aux apatrides (Flüchtling, der eine schwere Straftat begangen hat)(3) habe ich die Auslegung befürwortet, nach der Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 zwei kumulative Voraussetzungen aufstellt, unter denen ein Mitgliedstaat die Flüchtlingseigenschaft aberkennen kann. In diesem Zusammenhang habe ich erläutert, warum ich eine rechtskräftige Verurteilung wegen einer besonders schweren Straftat als eine notwendige, nicht aber als eine hinreichende Voraussetzung ansehe, um es einem Mitgliedstaat zu erlauben, diese Eigenschaft abzuerkennen.

6.        In diesen Schlussanträgen habe ich auch begründet, warum ich der Auffassung bin, dass die Gefahr, die von der verurteilten Person zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft für die Allgemeinheit des betreffenden Mitgliedstaats ausgeht, tatsächlich, gegenwärtig und hinreichend erheblich sein muss. Ebenso habe ich klargestellt, dass eine Entscheidung, die Flüchtlingseigenschaft abzuerkennen, meines Erachtens den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und im weiteren Sinne die Grundrechte der betroffenen Person, wie sie in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union garantiert werden, beachten muss.

7.        Da sich jedoch keine der von den vorlegenden Gerichten in den Rechtssachen C‑663/21 und C‑8/22 gestellten Fragen unmittelbar auf die Bedeutung der Voraussetzung bezog, dass der betreffende Drittstaatsangehörige „wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt“ worden sein muss, habe ich zu diesem Gesichtspunkt nicht Stellung genommen.

8.        In der vorliegenden Rechtssache befragt der Raad van State (Staatsrat, Niederlande) den Gerichtshof in seiner ersten Vorlagefrage zu einer Entscheidung über die Ablehnung eines Antrags auf internationalen Schutz ausdrücklich zu diesem Gesichtspunkt.

9.        Auf Wunsch des Gerichtshofs werden sich die vorliegenden Schlussanträge auf diese erste Vorlagefrage konzentrieren, mit der das vorlegende Gericht den Gerichtshof um Klärung der Kriterien für die Bestimmung des Begriffs „besonders schwere Straftat“ im Sinne von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 ersucht.

10.      Im Folgenden werde ich darlegen, weshalb diese Bestimmung meines Erachtens dahin ausgelegt werden sollte, dass eine „besonders schwere Straftat“ im Sinne dieser Bestimmung eine durch einen außerordentlichen Schweregrad gekennzeichnete Straftat ist. Ich werde die Methode und Kriterien erläutern, die es den Mitgliedstaaten meiner Ansicht nach ermöglichen sollten, das Vorliegen einer solchen Straftat zu beurteilen.

II.    Rechtlicher Rahmen

A.      Völkerrecht

11.      Art. 33 des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge(4)in der durch das Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge(5) ergänzten Fassung (im Folgenden: Genfer Konvention) sieht vor:

„1.      Keiner der vertragschließenden Staaten wird einen Flüchtling auf irgendeine Weise über die Grenzen von Gebieten ausweisen oder zurückweisen, in denen sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sein würde.

2.      Auf die Vergünstigung dieser Vorschrift kann sich jedoch ein Flüchtling nicht berufen, der aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit des Landes anzusehen ist, in dem er sich befindet, oder der eine Gefahr für die Allgemeinheit dieses Staates bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder eines besonders schweren Vergehens rechtskräftig verurteilt wurde.“

B.      Unionsrecht

12.      Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 bestimmt:

„Ein Drittstaatsangehöriger oder ein Staatenloser ist von der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen, wenn schwerwiegende Gründe zu der Annahme berechtigen, dass er

a)      ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne der internationalen Vertragswerke begangen hat, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen festzulegen;

b)      eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Aufnahmelandes begangen hat, bevor er als Flüchtling aufgenommen wurde, das heißt vor dem Zeitpunkt der Ausstellung eines Aufenthaltstitels aufgrund der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft …;

c)      sich Handlungen zuschulden kommen ließ, die den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen … zuwiderlaufen.“

13.      Art. 14 Abs. 4 und 5 dieser Richtlinie lautet:

„4.      Die Mitgliedstaaten können einem Flüchtling die ihm von einer Regierungs- oder Verwaltungsbehörde, einem Gericht oder einer gerichtsähnlichen Behörde zuerkannte Rechtsstellung aberkennen, diese beenden oder ihre Verlängerung ablehnen, wenn

a)      es stichhaltige Gründe für die Annahme gibt, dass er eine Gefahr für die Sicherheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem er sich aufhält;

b)      er eine Gefahr für die Allgemeinheit dieses Mitgliedstaats darstellt, weil er wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde.

5.      In den in Absatz 4 genannten Fällen können die Mitgliedstaaten entscheiden, einem Flüchtling eine Rechtsstellung nicht zuzuerkennen, solange noch keine Entscheidung darüber gefasst worden ist.“

14.      In Art. 17 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie heißt es:

„Ein Drittstaatsangehöriger oder ein Staatenloser ist von der Gewährung subsidiären Schutzes ausgeschlossen, wenn schwerwiegende Gründe die Annahme rechtfertigen, dass er

b)      eine schwere Straftat begangen hat.“

15.      Art. 21 Abs. 1 und 2 der Richtlinie bestimmt:

„1.      Die Mitgliedstaaten achten den Grundsatz der Nichtzurückweisung in Übereinstimmung mit ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen.

2.      Ein Mitgliedstaat kann, sofern dies nicht aufgrund der in Absatz 1 genannten völkerrechtlichen Verpflichtungen untersagt ist, einen Flüchtling unabhängig davon, ob er als solcher förmlich anerkannt ist oder nicht, zurückweisen, wenn

a)      es stichhaltige Gründe für die Annahme gibt, dass er eine Gefahr für die Sicherheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem er sich aufhält, oder

b)      er eine Gefahr für die Allgemeinheit dieses Mitgliedstaats darstellt, weil er wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde.“

C.      Niederländisches Recht

16.      In Abschnitt C2/7.10.1 („Öffentliche Ordnung als Verweigerungsgrund“) des Vreemdelingencirculaire 2000 (Ausländer-Runderlass 2000) heißt es:

„Bei der Beurteilung eines Antrags auf Erteilung eines befristeten Aufenthaltstitels für Asylberechtigte prüft der Immigratie- en Naturalisatiedienst [(Einwanderungs- und Einbürgerungsdienst, Niederlande) (im Folgenden: IND)], ob der ausländische Staatsangehörige eine Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die nationale Sicherheit darstellt. Ist der ausländische Staatsangehörige ein Flüchtling im Sinne der [Genfer] Konvention, so prüft der IND, ob eine besonders schwere Straftat vorliegt …

Der IND beurteilt das Vorliegen einer (besonders) schweren Straftat jeweils im Einzelfall anhand aller relevanten tatsächlichen und rechtlichen Umstände. Dabei berücksichtigt er jedenfalls die vom ausländischen Staatsangehörigen geltend gemachten besonderen Umstände, die sich auf die Art und Schwere der Straftat beziehen, sowie die seit dem Sachverhalt verstrichene Zeit.

Der IND beurteilt die Frage, ob eine (besonders) schwere Straftat vorliegt, indem er prüft, ob die Summe der verhängten Strafen insgesamt mindestens dem anwendbaren Richtwert entspricht. In diesem Rahmen wird den individuellen Umständen große Bedeutung beigemessen, unter anderem der Frage, wie hoch der Anteil der Straftaten ist, die eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellen. In jedem Fall muss mindestens eine der Verurteilungen mit einer Straftat in Zusammenhang stehen, die eine solche Gefahr darstellt.

In Bezug auf die Frage, ob die Summe der verhängten Strafen dem anwendbaren Richtwert entspricht, berücksichtigt der IND jedenfalls den unbedingt zu vollstreckenden Teil der Strafen.

Bei der Beurteilung berücksichtigt er den bedingt verhängten Teil der Strafen, wenn und soweit es sich dabei (auch) um Folgendes handelt:

–        Drogen‑, Sexual- und Gewaltstraftaten,

–        Menschenhandel, oder

–        Begehung, Vorbereitung oder Erleichterung einer terroristischen Straftat.

Bei der Beurteilung, ob eine Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die nationale Sicherheit vorliegt, berücksichtigt der IND auch Verurteilungen zu gemeinnütziger Arbeit. Er berechnet den anwendbaren Richtwert anhand folgender Elemente:

–        die Dauer der vom Gericht verhängten Ersatzfreiheitsstrafe,

–        die Dauer der vom Gericht für den Fall, dass der ausländische Staatsangehörige die gemeinnützige Arbeit, zu der er verurteilt wurde, nicht ordnungsgemäß leisten sollte, verhängten Freiheitsstrafe, und

–        für jeden Zeitraum von zwei Stunden [durch Strafbefehl verhängter gemeinnütziger Arbeit]: ein Tag Freiheitsstrafe.

Öffentliche Ordnung, wenn der ausländische Staatsangehörige ein Flüchtling im Sinne der [Genfer] Konvention ist

Der IND erteilt einem ausländischen Staatsangehörigen, bei dem alle nachfolgend genannten Bedingungen vorliegen, keinen befristeten Aufenthaltstitel für Asylberechtigte:

–        Er erfüllt die Voraussetzungen für einen befristeten Aufenthaltstitel für Asylberechtigte …, und

–        er wurde wegen einer ,besonders schweren Straftat‘ verurteilt und stellt eine ‚Bedrohung für die Allgemeinheit‘ dar.

Eine ‚besonders schwere Straftat‘ liegt vor, wenn alle folgenden Voraussetzungen erfüllt sind:

–        Der ausländische Staatsangehörige wurde rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehenden Maßnahme verurteilt, und

–        die Dauer der verhängten Strafe oder Maßnahme beläuft sich insgesamt auf mindestens zehn Monate.

Der IND berücksichtigt bei dieser Beurteilung auch Straftaten, die im Ausland begangen wurden. Insoweit prüft der IND auf der Grundlage der vom Openbaar Ministerie [(Staatsanwaltschaft, Niederlande)] vorgelegten Informationen, welche Folgen diese Straftaten nach niederländischem Recht hätten, wenn sie in den Niederlanden begangen und bestraft worden wären.

Der IND beurteilt die Gefahr für die Allgemeinheit jeweils im Einzelfall und anhand aller relevanten tatsächlichen und rechtlichen Umstände.

Bei der Beurteilung der ‚Gefahr für die Allgemeinheit‘, die der ausländische Staatsangehörige darstellt, berücksichtigt der IND jedenfalls u. a. die folgenden Gesichtspunkte:

–        Die Art der Straftat und

–        die verhängte Strafe.

Der IND beurteilt die Gefahr, die der Ausländer für die Allgemeinheit darstellt, anhand der Situation zum Zeitpunkt der Prüfung des Antrags („Ex-nunc“-Beurteilung).

Der IND kann in jedem Fall beim Vorliegen der folgenden Straftaten eine Gefahr für die Allgemeinheit annehmen:

–        Drogen‑, Sexual- und Gewaltstraftaten,

–        Brandstiftung,

–        Menschenhandel,

–        Handel mit Waffen, Munition und Sprengstoff, und

–        Handel mit menschlichen Organen und menschlichem Gewebe.

…“

III. Sachverhalt des Ausgangsverfahrens und Vorlagefragen

17.      Am 5. Juli 2018 stellte M. A. in den Niederlanden einen vierten Antrag auf internationalen Schutz.

18.      Mit Bescheid vom 12. Juni 2020 lehnte der Staatssekretär diesen Antrag ab. Darin vertrat er die Auffassung, dass M. A. begründete Furcht vor Verfolgung in seinem Herkunftsland gehabt habe, aber durch ein rechtskräftiges Urteil wegen einer besonders schweren Straftat verurteilt worden sei und daher eine Gefahr für die Allgemeinheit darstelle.

19.      Der Staatssekretär stützte sich insoweit darauf, dass M. A. im Jahr 2018 wegen sexueller Nötigung in drei Fällen, versuchter sexueller Nötigung in einem Fall und Diebstahls eines Mobiltelefons, wobei diese Straftaten am gleichen Abend begangen worden seien, rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von 24(6) Monaten verurteilt worden sei.

20.      M. A. erhob Klage gegen den Bescheid vom 12. Juni 2020.

21.      Mit Urteil vom 13. Juli 2020 hob die Rechtbank Den Haag (Bezirksgericht Den Haag, Niederlande) diesen Bescheid mit der Begründung auf, dass der Staatssekretär nicht hinreichend begründet habe, zum einen, dass die von M. A. begangenen Straftaten so schwerwiegend seien, dass sie die Verweigerung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft rechtfertigten, und zum anderen, dass M. A. eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend erhebliche Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstelle.

22.      Der Staatssekretär legte gegen dieses Urteil Berufung beim Raad van State (Staatsrat) ein. Zur Begründung dieser Berufung macht er erstens geltend, dass die M. A. vorgeworfenen Handlungen angesichts ihrer Art, der verhängten Strafe und der zerrüttenden Wirkung dieser Handlungen für die niederländische Gesellschaft als eine einzige Straftat anzusehen seien, die eine besonders schwere Straftat darstelle. Zweitens trägt er vor, dass die Verurteilung von M. A. wegen einer besonders schweren Straftat grundsätzlich belege, dass er eine Gefahr für die Allgemeinheit darstelle.

23.      M. A. macht geltend, der Staatssekretär habe zu Unrecht das Strafmaß zum Ausgangspunkt für die Prüfung und die Beurteilung genommen, ob die Straftat besonders schwer sei. Jeder Fall müsse individuell geprüft werden, was nach der vom Staatssekretär angewandten Methode nicht möglich sei. Auch sei die sexuelle Nötigung die am wenigsten schwerwiegende Form einer Sexualstraftat. Was darüber hinaus die Voraussetzung für das Vorliegen einer Gefahr für die Allgemeinheit anbelangt, hält M. A. die Beurteilung der Rechtbank Den Haag (Bezirksgericht Den Haag) für zutreffend.

24.      Das vorlegende Gericht ist der Ansicht, dass es im Hinblick auf die Entscheidung über diese Berufung Klarstellungen zu den Umständen benötige, auf deren Grundlage die Mitgliedstaaten festzustellen hätten, ob ein Drittstaatsangehöriger wegen eines besonders schweren Verbrechens rechtskräftig verurteilt worden sei. Es stellt sich u. a. die Frage, inwieweit die vom Gerichtshof im Urteil vom 13. September 2018, Ahmed(7), zu Art. 17 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 gewählte Lösung auf Art. 14 Abs. 4 Buchst. b dieser Richtlinie übertragen werden kann, obwohl der erstgenannte Artikel eine „schwere Straftat“ betrifft, während der letztgenannte Artikel von einer „besonders schweren Straftat“ spricht.

25.      Im Übrigen macht sich das vorlegende Gericht angesichts der Uneinigkeit zwischen den Parteien über die Tragweite des Begriffs „Gefahr für die Allgemeinheit“ die vom Conseil d’État (Staatsrat, Belgien) in der Rechtssache C‑8/22 zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen zu eigen(8).

26.      Unter diesen Umständen hat der Raad van State (Staatsrat) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      a)      Wann ist eine Straftat derart „besonders schwer“ im Sinne von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95, dass ein Mitgliedstaat einer Person, die internationalen Schutz benötigt, die Flüchtlingseigenschaft verweigern darf?

b)      Sind die Kriterien, die für eine „schwere Straftat“ im Sinne von Art. 17 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 gelten und in Rn. 56 des Urteils Ahmed dargelegt sind, bei der Beurteilung von Bedeutung, ob eine „besonders schwere Straftat“ vorliegt? Falls ja, gibt es dann noch zusätzliche Kriterien, die dazu führen, dass eine Straftat als „besonders“ schwer einzustufen ist?

2.      Ist Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen, dass die Gefahr für die Allgemeinheit schon allein dadurch erwiesen ist, dass der Inhaber der Rechtsstellung als Flüchtling wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde, oder ist diese Bestimmung dahin auszulegen, dass die rechtskräftige Verurteilung wegen einer besonders schweren Straftat allein nicht ausreicht, um nachzuweisen, dass eine Gefahr für die Allgemeinheit besteht?

3.      Wenn die rechtskräftige Verurteilung wegen einer besonders schweren Straftat allein nicht ausreicht, um nachzuweisen, dass eine Gefahr für die Allgemeinheit besteht, ist dann Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen, dass er verlangt, dass der Mitgliedstaat nachweist, dass der Antragsteller seit seiner Verurteilung weiterhin eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt? Muss der Mitgliedstaat nachweisen, dass diese Gefahr tatsächlich und gegenwärtig ist, oder reicht es aus, wenn eine potenzielle Gefahr gegeben ist? Ist Art. 14 Abs. 4 Buchst. b dieser Richtlinie für sich genommen oder in Verbindung mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dahin auszulegen, dass er die Aberkennung der Rechtsstellung als Flüchtling nur dann erlaubt, wenn diese Aberkennung verhältnismäßig ist und die Gefahr, die der Inhaber dieser Rechtsstellung darstellt, hinreichend erheblich ist, um die Aberkennung zu rechtfertigen?

4.      Wenn der Mitgliedstaat nicht nachweisen muss, dass der Antragsteller seit seiner Verurteilung weiterhin eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt und dass diese Gefahr tatsächlich, gegenwärtig und hinreichend erheblich ist, um die Aberkennung der Rechtsstellung als Flüchtling zu rechtfertigen, ist dann Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen, dass aus ihm folgt, dass grundsätzlich der Nachweis der Gefahr für die Allgemeinheit dadurch erbracht ist, dass der Inhaber der Rechtsstellung als Flüchtling wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde, dass dieser aber nachweisen kann, dass er keine solche Gefahr (mehr) darstellt?

27.      M. A., die niederländische und die ungarische Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht.

IV.    Würdigung

28.      Mit seiner ersten Vorlagefrage fragt das vorlegende Gericht den Gerichtshof nach der Tragweite von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95, um zu bestimmen, nach welcher Methode und welchen Kriterien der Begriff „besonders schwere Straftat“ im Sinne dieser Bestimmung zu definieren ist.

29.      Es möchte insbesondere wissen, ob die für die Feststellung, dass eine Person eine „schwere Straftat“ im Sinne von Art. 17 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 begangen hat, zu berücksichtigenden Anforderungen und Parameter, wie sie sich insbesondere aus dem Urteil Ahmed ergeben, auch für die Entscheidung relevant sind, ob eine Person eine „besonders schwere Straftat“ im Sinne von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b dieser Richtlinie begangen hat.

30.      Ich weise darauf hin, dass das Vorliegen einer besonders schweren Straftat eine notwendige – wenn auch nicht hinreichende – Voraussetzung dafür darstellt, dass die Mitgliedstaaten die ihnen nach dieser Bestimmung oder Art. 14 Abs. 5 der Richtlinie 2011/95 eingeräumte Befugnis ausüben können, die Flüchtlingseigenschaft abzuerkennen oder ihre Zuerkennung zu verweigern.

31.      Weder Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 noch eine andere Bestimmung dieser Richtlinie enthalten eine Definition des Begriffs „besonders schwere Straftat“.

32.      Ferner ist festzustellen, dass Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 für die Definition des in dieser Bestimmung enthaltenen Begriffs „besonders schwere Straftat“ nicht auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist. Aus den Anforderungen sowohl der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts als auch des Gleichheitsgrundsatzes folgt jedoch, dass eine Bestimmung des Unionsrechts, die für die Ermittlung ihres Sinnes und ihrer Bedeutung nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der Regel in der gesamten Union eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten muss(9).

33.      Hierzu möchte ich klarstellen, dass eine autonome und einheitliche Auslegung des Begriffs „besonders schwere Straftat“ im Sinne von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 nicht dazu führen darf, dass den Mitgliedstaaten ihr Ermessen bei der Festlegung ihrer jeweiligen Strafrechtspolitik genommen wird. Mit anderen Worten geht es nicht darum, zu versuchen, die Strafrechtspolitik der Mitgliedstaaten auf Umwegen zu vereinheitlichen. Eine solche Auslegung soll lediglich sicherstellen, dass die Beurteilung der in dieser Bestimmung enthaltenen Voraussetzung der besonderen Schwere eines Verbrechens auf einer gemeinsamen Methode und gemeinsamen Kriterien beruht, um zu gewährleisten, dass die Ausübung der Befugnis, die Flüchtlingseigenschaft abzuerkennen oder ihre Zuerkennung zu verweigern, in allen Mitgliedstaaten den gleichen Einschränkungen unterliegt.

34.      Alles in allem geht es nicht darum, die unterschiedlichen strafrechtspolitischen Vorstellungen, die zwischen den Mitgliedstaaten bestehen können, zu leugnen. Es geht darum, den zuständigen Behörden die notwendigen Instrumente an die Hand zu geben, um die besondere Schwere eines Verbrechens auf einer gemeinsamen Grundlage festzustellen.

35.      Da die Richtlinie 2011/95 die Wendung „besonders schwere Straftat“ jedoch nicht definiert, ist sie entsprechend ihrem Sinn nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch auszulegen, wobei der Zusammenhang, in dem sie verwendet wird, und die Ziele zu berücksichtigen sind, die mit der Regelung verfolgt werden, zu der sie gehört(10).

36.      Der Begriff „Straftat“ ist meines Erachtens so zu verstehen, dass er sich allgemein auf eine im Strafrecht des betreffenden Mitgliedstaats vorgesehene Straftat bezieht, ohne auf bestimmte Kategorien von Straftaten beschränkt zu sein.

37.      Das Unterscheidungskriterium, mit dem die Tragweite des Begriffs „besonders schwere Straftat“ eingeschränkt werden kann, bezieht sich in Wirklichkeit auf den Schweregrad der betreffenden Straftat. So können nur Straftaten mit einem besonderen Schweregrad es den Mitgliedstaaten ermöglichen, von ihrer Befugnis Gebrauch zu machen, die Flüchtlingseigenschaft abzuerkennen oder ihre Zuerkennung zu verweigern.

38.      Was den gewöhnlichen Sinn des Begriffs „besonders schwer“ anbelangt, bezeichnet dieser in der Umgangssprache einen Schweregrad, der aufgrund seines Ausmaßes ungewöhnlich oder unüblich ist und daher als „außerordentlich“ bezeichnet werden kann. Dieser Begriff ist daher gleichbedeutend mit „außerordentlich schwerwiegend“, „außergewöhnlich schwerwiegend“ oder „äußerst schwerwiegend“.

39.      Daraus folgt, dass eine „besonders schwere Straftat“ eine Straftat ist, die durch bestimmte spezifische Merkmale gekennzeichnet ist, aufgrund deren sie in die Kategorie der schwersten Straftaten eingeordnet werden kann.

40.      Dies veranlasst mich zu der Annahme, dass eine „besonders schwere Straftat“ im Sinne von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 eine Straftat ist, die durch die außerordentliche Schwere gekennzeichnet ist, die ihr in dem Mitgliedstaat zuerkannt wird, der von seiner Befugnis Gebrauch machen möchte, die Flüchtlingseigenschaft abzuerkennen oder ihre Zuerkennung zu verweigern.

41.      Die Berücksichtigung des Zusammenhangs, in den sich diese Bestimmung einfügt, erlaubt es meines Erachtens, diese ersten Prüfungsgesichtspunkte zu bestätigen.

42.      Insoweit stelle ich fest, dass dieser Zusammenhang zu einer engen Auslegung dieser Bestimmung führen muss.

43.      Ich weise nämlich darauf hin, dass einer Person die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist, wenn sie die im Unionsrecht festgelegten Mindestnormen erfüllt. So erkennen die Mitgliedstaaten nach Art. 13 der Richtlinie 2011/95 einem Drittstaatsangehörigen oder einem Staatenlosen, der die Voraussetzungen der Kapitel II und III dieser Richtlinie erfüllt, die Flüchtlingseigenschaft zu.

44.      Art. 14 Abs. 4 Buchst. b und Abs. 5 der Richtlinie 2011/95 sieht hingegen einen Grund für die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft bzw. die Verweigerung ihrer Zuerkennung vor, der eine Ausnahme von der allgemeinen Regel von Art. 13 dieser Richtlinie darstellt und bewirkt, dass die in Kapitel VII dieser Richtlinie aufgeführten Rechte und Leistungen eingeschränkt werden. Dieser Aberkennungs- bzw. Verweigerungsgrund muss als Ausnahmeregelung daher meines Erachtens restriktiv ausgelegt werden, was bedeutet, dass er nur angewandt werden kann, wenn die zuständige Behörde nachweist, dass der betreffende Drittstaatsangehörige wegen einer von außerordentlicher Schwere gekennzeichneten Straftat rechtskräftig verurteilt wurde.

45.      Diese Auslegung wird meiner Ansicht nach durch den Vergleich mit anderen Bestimmungen der Richtlinie 2011/95 bestätigt. So wird in Art. 12 Abs. 2 Buchst. b dieser Richtlinie als einer der Gründe für den Ausschluss von der Anerkennung als Flüchtling die Begehung einer „schweren nichtpolitischen Straftat“ und in Art. 17 Abs. 1 Buchst. b dieser Richtlinie als einer der Gründe für den Ausschluss von der Gewährung subsidiären Schutzes die Begehung einer „schweren Straftat“ genannt. Mit der Bezugnahme auf eine „besonders schwere Straftat“ in Art. 14 Abs. 4 Buchst. b dieser Richtlinie wollte der Unionsgesetzgeber den Anwendungsbereich dieser Bestimmung offensichtlich dadurch einschränken, dass er nicht nur verlangt, dass der nach dieser Bestimmung erforderliche Schweregrad höher ist als der für die Anwendung der Ausschlussgründe geforderte, sondern auch, dass es sich um einen außerordentlichen Schweregrad handelt. Außerdem weise ich darauf hin, dass der Unionsgesetzgeber den Ausdruck „besonders schwer“ und nicht den Ausdruck „sehr schwer“ verwendet hat.

46.      Im Übrigen ist im Einklang mit dem, was der Gerichtshof zum entsprechenden Grund in Art. 21 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 für die Zurückweisung eines Flüchtlings ausgeführt hat, davon auszugehen, dass Art. 14 Abs. 4 Buchst. b dieser Richtlinie die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft strengen Voraussetzungen unterwirft, da insbesondere nur ein Flüchtling, der wegen einer „besonders schweren Straftat“ rechtskräftig verurteilt wurde, als „Gefahr für die Allgemeinheit dieses Mitgliedstaats“ angesehen werden kann(11). Diese strengen Voraussetzungen stehen in angemessenem Verhältnis zu den erheblichen Folgen der Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft, nämlich dass die betreffende Person nicht oder nicht mehr über alle in Kapitel VII dieser Richtlinie genannten Rechte und Leistungen verfügt, da diese mit dieser Rechtsstellung verbunden sind(12).

47.      Die Auslegung, nach der der Anwendungsbereich von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b und Abs. 5 der Richtlinie 2011/95 auf Straftaten mit einem außerordentlichen Schweregrad zu beschränken ist, steht meines Erachtens auch im Einklang mit der Auslegung von Art. 33 Abs. 2 der Genfer Konvention, wo es u. a. heißt, dass sich ein Flüchtling, der „eine Gefahr für die Allgemeinheit [des Aufenthaltsstaats] bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder eines besonders schweren Vergehens rechtskräftig verurteilt wurde“, nicht auf den Grundsatz der Nichtzurückweisung berufen kann. In diesem Zusammenhang weise ich darauf hin, dass diese Bestimmung zwar einen anderen Zweck verfolgt, weil sie Ausnahmen vom Grundsatz der Nichtzurückweisung vorsieht, es aber feststeht, dass sie Vorbild für die vom Unionsgesetzgeber in Art. 14 Abs. 4 und 5 der Richtlinie 2011/95 genannten Gründe für die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft bzw. die Verweigerung ihrer Zuerkennung war. Ich halte es daher für angebracht, die Auslegung von Art. 33 Abs. 2 dieser Konvention zu berücksichtigen, die, wie aus den Erwägungsgründen 4, 23 und 24 der Richtlinie 2011/95 hervorgeht, einen wesentlichen Bestandteil des internationalen Rechtsrahmens für den Schutz von Flüchtlingen darstellt(13).

48.      Da die in Art. 14 Abs. 4 und 5 der Richtlinie 2011/95 genannten Fälle, in denen die Mitgliedstaaten die Flüchtlingseigenschaft aberkennen oder ihre Zuerkennung verweigern können, im Wesentlichen denen entsprechen, in denen die Mitgliedstaaten einen Flüchtling nach Art. 21 Abs. 2 dieser Richtlinie und Art. 33 Abs. 2 der Genfer Konvention zurückweisen können, bin ich auch allgemein der Ansicht, dass die in diesen Bestimmungen genannten Gründe in gleicher Weise auszulegen sind.

49.      Die Auslegung von Art. 33 Abs. 2 der Genfer Konvention scheint der von mir empfohlenen Auslegung von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 zu entsprechen, wonach eine „besonders schwere“ Straftat eine Straftat ist, die einen außerordentlichen Schweregrad aufweist.

50.      Was den Begriff „Verbrechen“ bzw. „Straftat“ anbelangt, habe ich bereits darauf hingewiesen, dass dieser in den nationalen Rechtsordnungen unterschiedliche Bedeutungen haben kann, was im Zusammenhang mit der Auslegung von Art. 33 Abs. 2 der Genfer Konvention hervorgehoben wurde(14). Die Anwendbarkeit dieser Bestimmung hängt somit nicht davon ab, dass die Handlung, wegen der eine Person verurteilt wurde, in eine bestimmte Kategorie des nationalen Strafrechts eingestuft wird, sondern vielmehr von der Feststellung, dass es sich um eine „besonders schwerwiegende“ Handlung handelt, die von dieser Rechtsordnung als solche aufgefasst wird(15).

51.      Im Übrigen ist der Ausnahmecharakter der Umsetzung von Art. 33 Abs. 2 der Genfer Konvention hervorgehoben worden(16). Unter diesem Blickwinkel stellt das „besonders schwere Verbrechen“ („crime particulièrement grave“) eine auf „Ausnahmefälle“ beschränkte Variante des „schweren Verbrechens“ dar(17). Das Erfordernis eines „besonders schweren Verbrechens“ steht aufgrund der darin zum Ausdruck kommenden Einschränkung im Einklang mit der Notwendigkeit, eine besonders hohe Schwelle für die Anwendbarkeit der in Art. 33 Abs. 2 des Genfer Abkommens enthaltenen Ausnahme vom Grundsatz der Nichtzurückweisung festzulegen(18).

52.      Das wesentliche Ziel der Richtlinie 2011/95 besteht darin, zu gewährleisten, dass die Mitgliedstaaten gemeinsame Kriterien zur Bestimmung der Personen anwenden, die tatsächlich Schutz benötigen, und sicherzustellen, dass diesen Personen in allen Mitgliedstaaten ein Mindestniveau von Leistungen geboten wird(19), spricht meines Erachtens ebenfalls für eine Auslegung, die den Anwendungsbereich von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b und Abs. 5 dieser Richtlinie auf Ausnahmefälle beschränkt, d. h. auf die am strengsten geahndeten Handlungen und die schwerwiegendsten Formen der Kriminalität innerhalb des betreffenden Mitgliedstaats.

53.      Nach diesen erläuternden Ausführungen ist nunmehr auf die Methode und die Kriterien einzugehen, anhand deren die Mitgliedstaaten das Vorliegen einer „besonders schweren Straftat“ im Sinne von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 feststellen können.

54.      Die Rechtsprechung des Gerichtshofs enthält insoweit eine Reihe von Erkenntnissen, die meines Erachtens weitgehend analog angewendet werden können, jedoch ergänzt werden sollten.

55.      Was die Methode anbelangt, ergibt sich aus dieser Rechtsprechung, dass sich die zuständige Behörde des betreffenden Mitgliedstaats auf den in Art. 12 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 und Art. 17 Abs. 1 Buchst. b dieser Richtlinie – die sich auf die Begehung einer „schweren Straftat“ durch die Person, die internationalen Schutz beantragt, beziehen – vorgesehenen Ausschlussgrund erst berufen darf, nachdem sie in jedem Einzelfall eine Würdigung der genauen tatsächlichen Umstände, die ihr bekannt sind, vorgenommen hat, um zu ermitteln, ob schwerwiegende Gründe zu der Annahme berechtigen, dass die Handlungen des Betreffenden, der im Übrigen die Voraussetzungen für die Zuerkennung subsidiären Schutzes erfüllt, unter diesen Ausschlusstatbestand fallen, wobei die Beurteilung der Schwere der fraglichen Straftat eine vollständige Prüfung sämtlicher besonderer Umstände des jeweiligen Einzelfalls erfordert(20).

56.      Die damit festgelegte Methode scheint mir im Interesse der Rechtssicherheit damit vereinbar zu sein, dass die Mitgliedstaaten Mindeststrafmaße festlegen, ab denen die ihnen nach Art. 14 Abs. 4 Buchst. b und Abs. 5 der Richtlinie 2011/95 zustehende Befugnis zum Widerruf oder zur Verweigerung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ausgeübt werden kann(21). Die Mitgliedstaaten können auch beschließen, die Ausübung dieser Befugnis für bestimmte Arten von Straftaten vorzubehalten. In jedem Einzelfall ist jedoch jeder Automatismus bei der Ausübung dieser Befugnis auszuschließen(22). Daher ist stets eine Würdigung aller individuellen Umstände vorzunehmen, unabhängig davon, ob die Mitgliedstaaten ein Mindeststrafmaß vorsehen oder nicht. Eine solche Würdigung ist umso wichtiger und schwieriger, als der Straftäter und nicht das Verbrechen bestraft wird(23). Im Übrigen kann ein und dieselbe strafrechtliche Einstufung ein breites Spektrum von Verhaltensweisen von unterschiedlichem Schweregrad umfassen.

57.      Die Gründe des Strafurteils spielen meines Erachtens eine entscheidende Rolle bei der Durchführung der vorzunehmenden Würdigung. Daher ist zu prüfen, ob das Gericht, das die betreffende Person verurteilt hat, die Taten als „schwer“ oder „besonders schwer“ eingestuft hat, und welche Elemente es zur Stützung dieser Einstufung herangezogen hat.

58.      Wie ich bereits erwähnt habe, geht es daher nicht darum, auf Unionsebene eine Schwelle für die besondere Schwere einer Straftat festzulegen, da dies nicht nur den Unterschieden in der Strafrechtspolitik der Mitgliedstaaten zuwiderlaufen würde, sondern auch mit der Methode unvereinbar wäre, die darin besteht, eine Prüfung aller besonderen Umstände des jeweiligen Einzelfalls zu verlangen.

59.      Außerdem ist mit der Kommission klarzustellen, dass die Mitgliedstaaten, da das materielle Strafrecht nur begrenzt harmonisiert ist, bei der Definition dessen, was für die Zwecke der Anwendung von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 eine „besonders schwere Straftat“ darstellt, einen gewissen Ermessensspielraum behalten.

60.      Was nunmehr die Kriterien anbelangt, hat der Gerichtshof im Urteil Ahmed festgestellt, dass diese Auslegung, wonach eine Würdigung aller maßgeblichen Umstände vorzunehmen ist, „durch den Bericht des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen (EASO)[(24)] von Januar 2016 mit dem Titel ‚Ausschluss: Artikel 12 und Artikel 17 der Anerkennungsrichtlinie (Richtlinie 2011/95/EU)‘ gestützt wird, der in Punkt 3.2.2 in Bezug auf Art. 17 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 empfiehlt, dass die Schwere der Straftat, aufgrund deren eine Person vom subsidiären Schutz ausgeschlossen werden könne, anhand einer Vielzahl von Kriterien, wie u. a. der Art der Straftat, der verursachten Schäden, der Form des zur Verfolgung herangezogenen Verfahrens, der Art der Strafmaßnahme und der Berücksichtigung der Frage beurteilt werden solle, ob die fragliche Straftat in den anderen Rechtsordnungen ebenfalls überwiegend als schwere Straftat angesehen werde. D[ie EUAA] führt hierzu bestimmte Entscheidungen aus der Rechtsprechung der mitgliedstaatlichen Höchstgerichte an“(25).

61.      Auch wenn die Kriterien, die der Gerichtshof in diesem Urteil hervorgehoben hat, den Begriff „schwere Straftat“ im Sinne von Art. 17 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 betrafen, bin ich der Ansicht, dass diese Kriterien auch für die Feststellung einer „besonders schweren Straftat“ im Sinne von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b dieser Richtlinie hilfreich sind(26), wobei diese Kriterien in diesem Zusammenhang darauf abzielen müssen, die außerordentliche Schwere der fraglichen Straftat nachzuweisen, was einen sehr wesentlichen graduellen Unterschied zu der schweren Straftat darstellt(27).

62.      Hierzu weise ich darauf hin, dass zu den Faktoren, die bei der Anwendung von Art. 33 Abs. 2 der Genfer Konvention berücksichtigt werden, die Art des Verbrechens, der tatsächlich zugefügte Schaden, die Art des Verfahrens, das zur Strafverfolgung verwendet wird, und die Frage gehören, ob die meisten Rechtsordnungen die in Frage kommende Tat als schwer einstufen würden(28).

63.      Folglich sind meines Erachtens folgende Kriterien für den Nachweis des Vorliegens einer „besonders schweren Straftat“ im Sinne von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 zu berücksichtigen: die Art der fraglichen Handlung(29), der verursachte Schaden(30), die Art des Verfahrens, das zur Verfolgung und Aburteilung der betreffenden Person verwendet wurde, die Art und Dauer der verhängten Strafe(31), sowie die Berücksichtigung der Frage, ob die meisten Gerichte die fragliche Handlung ebenfalls als besonders schwere Straftat ansehen.

64.      Außerdem ist zu berücksichtigen, dass der Gerichtshof im Urteil Ahmed in Bezug auf das Strafmaß entschieden hat, dass Art. 17 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der ausschließlich anhand des Strafmaßes, das nach dem Recht dieses Mitgliedstaats für eine bestimmte Straftat vorgesehen ist, davon ausgegangen werden kann, dass eine Person, die internationalen Schutz beantragt hat, eine schwere Straftat begangen hat(32). In diesem Urteil wird jedoch anerkannt, dass dem Kriterium des vorgesehenen Strafmaßes eine besondere Bedeutung bei der Beurteilung der Schwere einer Straftat zukommt(33).

65.      Im Zusammenhang mit einer verhängten und nicht mehr nur vorgesehenen Strafe muss dem Kriterium der Art und der Dauer der Strafe meines Erachtens eine noch wichtigere Rolle zukommen(34).

66.      Ich räume jedoch analog zu dem, was der Gerichtshof im Urteil Ahmed entschieden hat, ein, dass das Kriterium der verhängten Strafe nicht ausschließlich und automatisch zur Prüfung herangezogen werden sollte, ob ein Verbrechen besonders schwer ist. Dieses Kriterium, wie auch das der Art des Verbrechens, muss durch eine Beurteilung aller Umstände ergänzt werden, einschließlich einer Prüfung des Kontexts, in dem die Straftat begangen wurde, und des Verhaltens der betreffenden Person(35), wobei diese Beurteilung insbesondere auf den im Strafurteil enthaltenen Gründen beruhen muss.

67.      Da sich Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 auf eine rechtskräftige Verurteilung bezieht, ist nämlich davon auszugehen, dass das Gericht, das eine solche Verurteilung ausgesprochen hat, bei der Verhängung der Strafe, die es für angemessen hielt, alle individuellen Umstände berücksichtigt hat. Insoweit ergibt sich meines Erachtens die ausschlaggebende Bedeutung der Gründe des Strafurteils und der von dem Strafgericht, das das Urteil erlassen hat, vorgenommenen Beurteilung, auf die ich bereits hingewiesen habe, aus dem Unterschied zwischen den in Art. 12 Abs. 2 Buchst. b und Art. 17 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 genannten Gründen für den Ausschluss von der Anerkennung als Flüchtling bzw. vom subsidiären Schutz, die sich darauf beziehen, dass eine schwere Straftat „begangen“ wurde, und dem Grund für die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft bzw. die Verweigerung ihrer Zuerkennung in Art. 14 Abs. 4 Buchst. b und Abs. 5 dieser Richtlinie, der sich darauf bezieht, dass „rechtskräftig verurteilt“ wurde.

68.      Im Übrigen erscheint es mir im Rahmen der vorzunehmenden Würdigung besonders relevant, die verhängte Strafe mit dem gesetzlichen Höchstmaß für die in Rede stehende Straftat zu vergleichen(36). Darüber hinaus ist zu prüfen, wie sich die verhängte Strafe innerhalb der in dem betreffenden Mitgliedstaat geltenden Strafmaßskala einordnet(37).

69.      Ich füge außerdem die folgenden Kriterien hinzu, die meines Erachtens zu dem Bündel von Kriterien gehören sollten, die für die Beurteilung, ob eine Straftat einen außerordentlichen Schweregrad aufweist, relevant sind:

–        Das Überwiegen erschwerender oder – im Gegenteil – mildernder Umstände, und

–        die Art des beeinträchtigten rechtlichen Interesses(38).

70.      Ferner ist klarzustellen, dass sich Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 auf den Umstand bezieht, dass ein Flüchtling „wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt“ wurde(39). Die Verwendung des Singulars sowie die Notwendigkeit einer engen Auslegung dieser Bestimmung schließen meiner Ansicht nach aus, dass dieser Grund für die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft bzw. die Verweigerung ihrer Zuerkennung auf der Grundlage einer Kumulierung der für mehrere Straftaten verhängten Strafen angewandt werden kann, von denen keine für sich genommen als „besonders schwere Straftat“ eingestuft werden kann(40).

71.      Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, anhand der von mir beschriebenen Methode und Kriterien zu beurteilen, ob es die gegen M. A. ausgesprochene Verurteilung als eine wegen einer „besonders schweren Straftat“ ausgesprochene Verurteilung einstufen kann. Insbesondere hat es die Art und die Höhe der gegen M. A. verhängten Strafe zu berücksichtigen, im vorliegenden Fall eine Freiheitsstrafe von 24 Monaten. Ebenso muss es prüfen, ob diese Strafe, wie sich aus den schriftlichen Erklärungen von M. A. und der niederländischen Regierung zu ergeben scheint, mit einer achtmonatigen Bewährungsfrist versehen ist.

72.      Wie bereits ausgeführt, ist außerdem die Methode, die darin besteht, dass in der niederländischen Regelung für die verhängte Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehende Maßnahme ein Strafmaß, im vorliegenden Fall von zehn Monaten, als Mindestschwelle festgelegt wird, um es einem Mitgliedstaat zu ermöglichen, die ihm zustehende Befugnis auszuüben, die Flüchtlingseigenschaft abzuerkennen oder ihre Zuerkennung zu verweigern, meines Erachtens nicht grundsätzlich zu beanstanden. Diese Methode muss jedoch eine Beurteilung sämtlicher besonderer Umstände des jeweiligen Einzelfalls beinhalten, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.

73.      Darüber hinaus würde es, wie die Kommission zu Recht feststellt, meines Erachtens gegen Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 verstoßen, wenn die niederländische Regelung es der zuständigen Behörde gestatten würde, mehrere Strafen, die für mehrere Straftaten verhängt wurden, zusammenzurechnen, um festzustellen, ob diese Mindestschwelle überschritten wird. In diesem Zusammenhang halte ich es für relevant, danach zu unterscheiden, ob das Strafrecht eines Mitgliedstaats für den Fall konkurrierender Straftaten die Kumulierung von Strafen oder die Nichtkumulierung von Strafen unter Verhängung der schwersten vorgesehenen Strafe vorsieht. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob die gegen M. A. verhängte Strafe auf der Grundlage des einen oder des anderen dieser Fälle verhängt wurde, wobei der erste Fall die zuständige Behörde nicht dazu veranlassen kann, durch Zusammenrechnung mehrerer, für mehrere Straftaten verhängte Strafen, eine Einstufung als „besonders schwere Straftat“ im Sinne dieser Bestimmung vorzunehmen.

V.      Ergebnis

74.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die erste Vorabentscheidungsfrage des Raad van State (Staatsrat, Niederlande) wie folgt zu beantworten:

Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes

ist dahin auszulegen, dass

–        eine „besonders schwere Straftat“ im Sinne dieser Bestimmung eine durch einen außerordentlichen Schweregrad gekennzeichnete Straftat bezeichnet;

–        sich ein Mitgliedstaat auf den in Art. 14 Abs. 4 Buchst. b bzw. Abs. 5 der Richtlinie 2011/95 vorgesehenen Grund für die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft bzw. die Verweigerung ihrer Zuerkennung erst berufen darf, nachdem er in jedem Einzelfall eine Würdigung der genauen tatsächlichen Umstände, die ihm bekannt sind, vorgenommen hat, um zu ermitteln, ob schwerwiegende Gründe zu der Annahme berechtigen, dass die Handlungen der betreffenden Person unter diesen Aberkennungs- bzw. Verweigerungsgrund fallen, wobei die Beurteilung des außerordentlichen Schweregrads der Straftat, für die diese Person rechtskräftig verurteilt wurde, eine vollständige Prüfung sämtlicher besonderer Umstände des jeweiligen Einzelfalls erfordert;

–        der betreffende Mitgliedstaat seine Prüfung zur Feststellung, ob eine „besonders schwere Straftat“ im Sinne von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 vorliegt, insbesondere auf die folgenden Kriterien stützen muss: die Art der fraglichen Handlung, den verursachten Schaden, die Art des Verfahrens, das zur Verfolgung und Aburteilung der betreffenden Person verwendet wurde, die Art und Dauer der verhängten Strafe, wobei diese Strafe mit dem gesetzlichen Höchstmaß für die in Rede stehende Straftat zu vergleichen und zu prüfen ist, wie sich diese Strafe innerhalb der in diesem Mitgliedstaat geltenden Strafmaßskala einordnet, die Berücksichtigung der Frage, ob die meisten Gerichte die fragliche Handlung ebenfalls als besonders schwere Straftat ansehen, das Überwiegen erschwerender oder – im Gegenteil – mildernder Umstände und die Art des beeinträchtigten rechtlichen Interesses;

–        er einer nationalen Regelung, die eine Mindestschwelle für die Dauer der verhängten Strafe festlegt, ab der eine Straftat als „besonders schwere Straftat“ im Sinne von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 eingestuft werden kann, nicht entgegensteht, sofern zum einen die Berücksichtigung dieser Mindestschwelle mit einer Beurteilung sämtlicher besonderer Umstände des jeweiligen Einzelfalls einhergeht und zum anderen diese Regelung es nicht zulässt, dass mehrere Strafen, die für mehrere Straftaten verhängt wurden, von denen keine für sich genommen den von dieser Bestimmung verlangten außerordentlichen Schweregrad erreicht, zusammengerechnet werden, um festzustellen, ob diese Mindestschwelle überschritten wird.


1      Originalsprache: Französisch.


2      ABl. 2011, L 337, S. 9.


3      C‑663/21 und C‑8/22, EU:C:2023:114.


4      Unterzeichnet in Genf am 28. Juli 1951 (United Nations Treaty Series, Band 189, S. 150, Nr. 2545 [1954]) und in Kraft getreten am 22. April 1954.


5      Abgeschlossen in New York am 31. Januar 1967 und in Kraft getreten am 4. Oktober 1967.


6      Davon acht Monate auf Bewährung, wie aus den von M. A. und der niederländischen Regierung vorgelegten Stellungnahmen hervorzugehen scheint.


7      C‑369/17, im Folgenden: Urteil Ahmed, EU:C:2018:713.


8      Siehe Fn. 3 der vorliegenden Schlussanträge.


9      Vgl. u. a. Urteile Ahmed (Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung), vom 31. März 2022, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl u. a. (Unterbringung eines Asylbewerbers in einem psychiatrischen Krankenhaus) (C‑231/21, EU:C:2022:237, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung), sowie vom 12. Januar 2023, TP (Videoredakteur beim öffentlich-rechtlichen Fernsehen) (C‑356/21, EU:C:2023:9, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).


10      Vgl. u. a. Urteil vom 12. Januar 2023, TP (Videoredakteur beim öffentlich-rechtlichen Fernsehen) (C‑356/21, EU:C:2023:9, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).


11      Vgl. Urteil vom 24. Juni 2015, T. (C‑373/13, EU:C:2015:413, Rn. 72).


12      Vgl. Urteil vom 14. Mai 2019, M u. a. (Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft) (C‑391/16, C‑77/17 und C‑78/17, EU:C:2019:403, Rn. 99).


13      Vgl. u. a. Urteil vom 14. Mai 2019, M u. a. (Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft) (C‑391/16, C‑77/17 und C‑78/17, EU:C:2019:403, Rn. 81 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). Zur Notwendigkeit, die Bestimmungen der Richtlinie 2011/95 im Einklang mit der Genfer Konvention auszulegen, vgl. auch Urteil Ahmed (Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).


14      Vgl. zu Art. 33 Abs. 2 der Genfer Konvention „The refugee Convention, 1951: the Travaux préparatoires analysed with a Commentary by Dr. Paul Weis“, S. 246, abrufbar unter der Internetadresse https://www.unhcr.org/protection/travaux/4ca34be29/refugee-convention-1951-travaux-preparatoires-analysed-commentary-dr-paul.html. Der Autor führt aus, dass „[i]n Bezug auf kriminelle Aktivitäten … der Begriff ‚Verbrechen‘ nicht im technischen Sinne eines Strafgesetzbuches zu verstehen [ist], sondern … lediglich eine schwere Straftat [bedeutet]“ (freie Übersetzung). Vgl. auch zu Art. 1 Abschnitt F Buchst. b der Genfer Konvention, Hoher Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR), Handbook on Procedures and Criteria for Determining Refugee Status and Guidelines on International Protection under the 1951 Convention and the 1967 Protocol relating to the Status of Refugees, Nr. 155, S. 36, wo es heißt: „Der Begriff ‚Verbrechen‘ hat in den verschiedenen Rechtsordnungen unterschiedliche Bedeutungen. In einigen Ländern bezeichnet das Wort ‚Verbrechen‘ nur schwere Straftaten. In anderen Ländern kann es alles von geringfügigem Diebstahl bis hin zu Mord umfassen“ (freie Übersetzung).


15      Vgl. zu Art. 33 Abs. 2 der Genfer Flüchtlingskonvention den im Jahr 1997 von der Division of International Protection of the United Nations High Commissioner for Refugees (Abteilung für internationalen Schutz, Amt des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen) veröffentlichten Kommentar zu dieser Konvention, abrufbar unter der Internetadresse https://www.unhcr.org/3d4ab5fb9.pdf, (S. 142). Unter diesem Gesichtspunkt ist der Unterschied zwischen der französischen Sprachfassung von Art. 33 Abs. 2 der Genfer Konvention, in der von einem „crime ou délit“ (Verbrechen oder Vergehen) die Rede ist, und der englischen Sprachfassung, in der der Begriff „crime“ (Verbrechen) verwendet wird, zu relativieren, da es auf das Vorliegen einer Verurteilung wegen einer besonders schweren Straftat ankommt.


16      Vgl. Grahl-Madsen, A., „Expulsion of Refugees“, in Macalister-Smith, P., und Alfredsson, G., The Land Beyond : Collected Essays on Refugee Law and Policy, Martinus Nijhoff Publishers, Den Haag, 2001, S. 7 bis 16. Nach Auffassung des Autors „kann mit Sicherheit gesagt werden, dass die Zurückweisung eines Flüchtlings gemäß Art. 33 [der Genfer Konvention] eine außergewöhnliche Maßnahme ist, auf die nur unter außergewöhnlichen Umständen zurückgegriffen werden sollte“ (freie Übersetzung) (S. 14).


17      Vgl. das in Fn. 14 der vorliegenden Schlussanträge angeführte Handbook on Procedures and Criteria for Determining Refugee Status and Guidelines on International Protection under the 1951 Convention and the 1967 Protocol relating to the Status of Refugees, S. 36, Nr. 154.


18      Vgl. Chetail, V., „Le principe de non-refoulement et le statut de réfugié en droit international“, in La Convention de Genève du 28 juillet 1951 relative au statut des réfugiés 50 ans après : bilan et perspectives, Bruylant, Brüssel, 2001, S. 3 bis 61, insbesondere S. 44.


19      Vgl. zwölfter Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95.


20      Vgl. u. a. Urteile vom 2. April 2020, Kommission/Polen, Ungarn und Tschechische Republik (Vorübergehender Umsiedlungsmechanismus für internationalen Schutz beantragende Personen) (C‑715/17, C‑718/17 und C‑719/17, EU:C:2020:257, Rn. 154 und die dort angeführte Rechtsprechung), sowie vom 22. September 2022, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság u. a. (C‑159/21, EU:C:2022:708, Rn. 92).


21      Solche Mindeststrafmaße sind in einigen Mitgliedstaaten in unterschiedlicher Form vorgesehen, während andere eine Einzelfallanalyse bevorzugen. Vgl. u. a. Bericht der Kommission mit dem Titel „Evaluation of the application of the recast qualification Directive (2011/95/EU)“, 2019, S. 135, abrufbar unter der Internetadresse https://www.statewatch.org/media/documents/news/2019/feb/eu-ceas-qualification-directive-application-evaluation-1-19.pdf. Für die Mitgliedstaaten, die in ihren nationalen Rechtsordnungen Mindeststrafmaße vorsehen, nennt die Kommission Mindeststrafmaße von drei bis zehn Jahren Freiheitsstrafe.


22      Wie die Kommission in ihren schriftlichen Stellungnahmen zu Recht feststellt, entsprechen die Ablehnung von Automatismen und die Notwendigkeit einer individuellen Würdigung auf der Grundlage aller relevanten Umstände der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Richtlinie 2011/95: vgl. u. a. Urteile vom 9. November 2010, B und D (C‑57/09 und C‑101/09, EU:C:2010:661, Rn. 87, 88, 93 und 94), vom 24. Juni 2015, T. (C‑373/13, EU:C:2015:413, Rn. 86 bis 89), Ahmed (Rn. 48 bis 50), sowie vom 22. September 2022, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság u. a. (C‑159/21, EU:C:2022:708, Rn. 80, 81 und 92).


23      Vgl. „The refugee Convention, 1951: the Travaux préparatoires analysed with a Commentary by Dr Paul Weis“, a. a. O., S. 246.


24      Nunmehr Asylagentur der Europäischen Union (EUAA) (vgl. Verordnung [EU] 2021/2303 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Dezember 2021 über die Asylagentur der Europäischen Union und zur Aufhebung der Verordnung [EU] Nr. 439/2010 [ABl. 2021, L 468, S. 1]).


25      Vgl. Urteil Ahmed (Rn. 56).


26      Vgl. hierzu EUAA, Judicial analysis : Ending international protection, 2. Aufl., 2021, S. 62.


27      Zu den vom Conseil du contentieux des étrangers (Rat für Ausländerstreitsachen, Belgien) herangezogenen Kriterien vgl. beispielsweise Hardy, J., und Mathues, G., „Retrait du statut de réfugié pour motifs d’ordre public – ‚Constituer un danger pour la société du fait qu’il a été condamné définitivement pour une infraction particulièrement grave‘“, Revue du droit des étrangers, Association pour le droit des étrangers, Brüssel, 2020, Nr. 207, S. 5 bis 14, insbesondere S. 6 bis 9.


28      Vgl. Stellungnahme des UNHCR zur Eidgenössischen Volksinitiative „Für die Ausschaffung krimineller Ausländer“ (Ausschaffungsinitiative), 10. September 2008, Rn. 21, S. 11.


29      Der Umstand, dass eine Handlung durch einen hohen Grad an Grausamkeit gekennzeichnet ist, kann ein Indiz dafür sein, dass eine Straftat besonders schwer ist, ebenso wie der vorsätzliche oder nicht vorsätzliche Charakter der geahndeten Handlung.


30      In diese Kategorie können die konkreten Tatauswirkungen in der gesellschaftlichen Wirklichkeit fallen, d. h. Art und Ausmaß der Nachteile für die Opfer und im weiteren Sinne für die Gesellschaft: gesellschaftliche Störung, Berücksichtigung der Besorgnisse und der Maßnahmen, die ergriffen werden, um diesen entgegenzuwirken. Vgl. Hinterhofer, H., „Das ‚besonders schwere Verbrechen‘ iS des § 6 Abs 1 Z 4 AsylG – Ein konkretisierender Auslegungsvorschlag aus strafrechtlicher Sicht“, Fremden- und asylrechtliche Blätter: FABL: Jahrgangsband mit Judikatursammlung, Sramek, Wien, 2009, Nr. 1, S. 38 bis 41.


31      Der Feststellung, ob eine Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt wird oder nicht, kommt meines Erachtens eine gewisse Bedeutung zu.


32      Vgl. Urteil Ahmed (Rn. 58).


33      Vgl. Urteil Ahmed (Rn. 55).


34      Vgl. zum Kriterium der Strafe Kraft, I., „Article 14, Revocation of, ending of or refusal to renew refugee status“, in Hailbronner, K. und Thym, D., EU Immigration and Asylum Law : A Commentary, 2. Aufl., C. H. Beck, München, 2016, S. 1225 bis 1233, insbesondere S. 1231. Der Autor stellt fest, dass „im Rahmen von Art. 33 Abs. 2 der Genfer Konvention im Allgemeinen von einem besonders schweren Verbrechen auszugehen ist, wenn eine Person wegen Verbrechen verurteilt wird, die mit langer Freiheitsstrafe geahndet werden, wie Mord, Vergewaltigung, bewaffneter Raub, Brandstiftung, internationaler Terrorismus usw.“ (freie Übersetzung).


35      Vgl. zu Art. 33 Abs. 2 der Genfer Konvention Goodwin-Gill, G. S., und McAdam, J., The refugee in international law, 3. Aufl., Oxford University Press, Oxford, 2007, S. 239, und Hathaway, J. C., The Rights of Refugees under International Law, Cambridge University Press, Cambridge, 2021, S. 413 bis 416.


36      Je näher die verhängte Freiheitsstrafe an der Höchststrafe liegt, desto eher kann die zuständige Behörde davon ausgehen, dass es sich um eine besonders schwere Straftat handelt (vgl. Hinterhofer, H., a. a. O.).


37      Befindet sich die verhängte Strafe im oberen Teil der Strafmaßskala, kann dies ein Hinweis darauf sein, dass die fragliche Straftat besonders schwer ist.


38      Es ist zu prüfen, ob es sich um Vermögens- oder Personendelikte handelt: Gewalt gegen Personen könnte häufiger als besonders schwerwiegend erscheinen. Darüber hinaus kann die Medienresonanz einer Straftat ein Indiz für den grundlegenden Charakter des beeinträchtigten rechtlichen Interesses sein.


39      Hervorhebung nur hier.


40      Vgl. Hardy, J. und Mathues, G., a. a. O., die die Auffassung vertreten, dass „[s]ehr zahlreiche Verurteilungen wegen Handlungen, die keine außerordentliche Schwere aufweisen, … a priori nicht ausreichen [dürften], selbst wenn sie eine unkontrollierbare Tendenz zur Gefährdung der öffentlichen Ordnung belegen“ (S. 9). Vgl. auch Neusiedler, M., „Der Asylaberkennungsgrund des ,besonders schweren Verbrechens‘“, Migralex: Zeitschrift für Fremden- und Minderheitenrecht, Braumüller, Wien, 2021, Nr. 1, S. 8 bis 14, und die in Fn. 26 der vorliegenden Schlussanträge angeführte Richterliche Analyse der EUAA, S. 62, Rn. 5.3.