URTEIL DES GERICHTS (Dritte erweiterte Kammer)
6. Februar 1998
(1)
„Beschluß 94/90/EGKS, EG, Euratom der Kommission über den Zugang der
Öffentlichkeit zu den der Kommission vorliegenden Dokumenten
Verweigerung des Zugangs zu Dokumenten
Schutz des öffentlichen Interesses (Rechtspflege)“
In der Rechtssache T-124/96
Interporc Im- und Export GmbH, Gesellschaft deutschen Rechts mit Sitz in
Hamburg (Deutschland), Prozeßbevollmächtigter: Rechtsanwalt Georg M. Berrisch,
Hamburg, Zustellungsanschrift: Kanzlei des Rechtsanwalts Guy Harles, 8-10, rue
Mathias Hardt, Luxemburg,
gegen
Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch Ulrich Wölker,
Juristischer Dienst, als Bevollmächtigten, Zustellungsbevollmächtigter: Carlos
Gómez de la Cruz, Juristischer Dienst, Centre Wagner, Luxemburg-Kirchberg,
wegen Nichtigerklärung der Entscheidung der Kommission vom 29. Mai 1996, mit
der diese ihre Weigerung, der Klägerin Zugang zu bestimmten der Kommission
vorliegenden Dokumenten zu gewähren, bestätigt hat,
erläßt
DAS GERICHT ERSTER INSTANZ
DER EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFTEN (Dritte erweiterte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten B. Vesterdorf sowie der Richter C. P. Briët,
P. Lindh, A. Potocki, und J. D. Cooke,
Kanzler: A. Mair, Verwaltungsrat
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 21.
Oktober 1997,
folgendes
Urteil
Rechtlicher Rahmen
- 1.
- In die Schlußakte des am 7. Februar 1992 in Maastricht unterzeichneten Vertrages
über die Europäische Union wurde von den Mitgliedstaaten eine Erklärung
(Nr. 17) zum Recht auf Zugang zu Informationen aufgenommen, die wie folgt
lautet:
„Die Konferenz ist der Auffassung, daß die Transparenz des Beschlußverfahrens
den demokratischen Charakter der Organe und das Vertrauen der Öffentlichkeit
in die Verwaltung stärkt. Die Konferenz empfiehlt daher, daß die Kommission dem
Rat spätestens 1993 einen Bericht über Maßnahmen vorlegt, mit denen die den
Organen vorliegenden Informationen der Öffentlichkeit besser zugänglich gemacht
werden sollen.“
- 2.
- Auf diese Erklärung hin führte die Kommission eine vergleichende Untersuchung
über die Rechtsvorschriften durch, die in den Mitgliedstaaten und in bestimmten
Drittländern für den Zugang der Öffentlichkeit zu Informationen gelten. Die
Ergebnisse dieser Untersuchung wurden in der an den Rat, das Parlament und den
Wirtschafts- und Sozialausschuß gerichteten Mitteilung 93/C 156/05 über den
Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten, die sich im Besitz der
Gemeinschaftsorgane befinden, veröffentlicht (ABl. C 156, S. 5; im folgenden:
Mitteilung von 1993). In dieser Mitteilung gelangte die Kommission zu dem
Ergebnis, daß der Zugang zu Gemeinschaftsdokumenten erweitert werden müsse.
- 3.
- Am 2. Juni 1993 erließ die Kommission die Mitteilung 93/C 166/04 über die
Transparenz in der Gemeinschaft (ABl. C 166, S. 4), in der die Grundprinzipien
für den Zugang zu Dokumenten dargelegt sind.
- 4.
- Am 6. Dezember 1993 nahmen die Kommission und der Rat gemeinsam einen von
ihnen verfaßten Verhaltenskodex für den Zugang der Öffentlichkeit zu
Kommissions- und Ratsdokumenten (im folgenden: Verhaltenskodex) an und
verpflichteten sich jeweils, die zur Durchführung der dort niedergelegten
Grundsätze erforderlichen Maßnahmen vor dem 1. Januar 1994 zu ergreifen.
- 5.
- Zur Erfüllung dieser Verpflichtung erließ die Kommission am 8. Februar 1994 auf
der Grundlage von Artikel 162 EG-Vertrag den Beschluß 94/90/EGKS, EG,
Euratom über den Zugang der Öffentlichkeit zu den der Kommission vorliegenden
Dokumenten (ABl. L 46, S. 58). Durch Artikel 1 dieses Beschlusses wurde der in
seinem Anhang wiedergegebene Verhaltenskodex förmlich angenommen.
- 6.
- Im Verhaltenskodex wird folgender allgemeiner Grundsatz aufgestellt:
„Die Öffentlichkeit erhält möglichst umfassenden Zugang zu den Dokumenten der
Kommission und des Rates. Der Ausdruck .Dokument' bezeichnet unabhängig
vom Datenträger jedes im Besitz der Kommission oder des Rates befindliche
Schriftstück mit bereits vorhandenen Informationen.“
- 7.
- Zur Rechtfertigung der Ablehnung eines Antrags auf Zugang zu Dokumenten kann
sich ein Gemeinschaftsorgan nach dem Verhaltenskodex auf folgende Umstände
berufen:
„Die Organe verweigern den Zugang zu Dokumenten, wenn sich durch deren
Verbreitung eine Beeinträchtigung ergeben könnte in bezug auf
den Schutz des öffentlichen Interesses (öffentliche Sicherheit, internationale
Beziehungen, Währungsstabilität, Rechtspflege, Inspektionstätigkeiten);
den Schutz des einzelnen und der Privatsphäre;
den Schutz des Geschäfts- und Industriegeheimnisses;
den Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaft;
die Wahrung der Vertraulichkeit, wenn dies von der natürlichen oder
juristischen Person, die die Information zur Verfügung gestellt hat,
beantragt wurde oder aufgrund der Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats,
der die Information bereitgestellt hat, erforderlich ist.
Die Organe können ferner den Zugang verweigern, um den Schutz des Interesses
des Organs in bezug auf die Geheimhaltung seiner Beratungen zu gewährleisten.“
- 8.
- Am 4. März 1994 veröffentlichte die Kommission eine Mitteilung über die
Verbesserung des Zugangs zu den Dokumenten (ABl. C 67, S. 5, im folgenden:
Mitteilung von 1994), in der die Kriterien zur Durchführung des Beschlusses 94/90
dargelegt sind. Gemäß dieser Mitteilung „kann ... jedermann die Einsicht in ein
unveröffentlichtes Kommissionsdokument einschließlich der vorbereitenden
Dokumente und sonstiger Materialien beantragen ... Die Kommission garantiert,
daß Anträge auf Zugang zu Dokumenten angemessen und innerhalb zumutbarer
Fristen bearbeitet werden.“ Insoweit stellt die Mitteilung klar: „Anträge auf
Einsicht in Kommissionsdokumente werden innerhalb eines Monats beantwortet ...“
Zu den im Verhaltenskodex vorgesehenen Ausnahmen heißt es in der Mitteilung:
„Die Kommission kann der Auffassung sein, daß der Zugang zu einem Dokument
verweigert werden muß, da seine Weitergabe öffentliche und private Interessen
schädigen und die Arbeit des Organs beeinträchtigen könnte.“ Zu diesem Punkt
hebt die Mitteilung hervor: „Es gibt keine automatische Ablehnung. Jeder Antrag
wird einzeln geprüft.“
Sachverhalt
- 9.
- Die Gemeinschaft eröffnet jährlich ein sogenanntes „Hilton-Kontingent“. Im
Rahmen dieses Kontingents können bestimmte Mengen hochwertigen Rindfleischs
(„Hilton Beef“) abschöpfungsfrei aus Argentinien in die Gemeinschaft eingeführt
werden. Diese Befreiung wird nur auf Vorlage einer von den argentinischen
Behörden ausgestellten Echtheitsbescheinigung gewährt.
- 10.
- Nachdem die Kommission darüber informiert worden war, daß Fälschungen von
Echtheitsbescheinigungen entdeckt worden waren, leitete sie Ende 1992/Anfang
1993 in Zusammenarbeit mit den Zollbehörden der Mitgliedstaaten entsprechende
Untersuchungen ein. In den Fällen, in denen die Zollbehörden zu dem Ergebnis
kamen, daß ihnen gefälschte Echtheitsbescheinigungen vorgelegt worden waren,
erhoben sie die Eingangsabgaben nach.
- 11.
- Nach Entdeckung dieser Fälschungen erhoben die deutschen Behörden
Eingangsabgaben von der Klägerin nach. Diese beantragte, ihr die Einfuhrabgaben
zu erlassen, da sie die Echtheitsbescheinigungen gutgläubig vorgelegt habe und da
bestimmte Schwachpunkte bei den Kontrollen den zuständigen argentinischen
Behörden und der Kommission zuzurechnen seien.
- 12.
- Mit an die Bundesrepublik Deutschland gerichteter Entscheidung vom 26. Januar
1996 entschied die Kommission, daß der Antrag der Klägerin auf Erlaß der
Eingangsabgaben nicht gerechtfertigt sei.
- 13.
- Mit Schreiben vom 23. Februar 1996 an den Generalsekretär der Kommission
sowie die Generaldirektoren der Generaldirektionen (GD) I, VI und XXI
beantragte der Prozeßbevollmächtigte der Klägerin die Einsichtnahme in bestimmte
Dokumente über die Kontrolle der Rindfleischeinfuhren („Hilton Beef“) und die
Untersuchungen, die zu den Entscheidungen der deutschen Behörden, die
Eingangsabgaben nachzuerheben, geführt hätten. Der Antrag bezog sich auf zehn
Gruppen von Dokumenten: 1. die Meldungen der Mitgliedstaaten über die von
1985 bis 1992 aus Argentinien eingeführten Mengen „Hilton“-Rindfleisch, 2. die
Meldungen der argentinischen Behörden über die im gleichen Zeitraum in die
Gemeinschaft ausgeführten Mengen „Hilton“-Rindfleisch, 3. die von der
Kommission auf der Grundlage dieser Meldungen erstellten Listen, 4. die
Dokumente über die Eröffnung des „Hilton-Kontingents“, 5. die Dokumente über
die Bestimmung der für die Ausstellung der Echtheitsbescheinigungen zuständigen
Stellen, 6. die Dokumente über die zwischen der Gemeinschaft und Argentinien
nach Aufdeckung der Fälschungen erzielte Einigung über eine Kürzung des
Kontingents, 7. die etwaigen Untersuchungsberichte über die von der Kommission
1991 und 1992 durchgeführten Kontrollen in bezug auf das „Hilton-Kontingent“,
8. die Dokumente betreffend die Untersuchungen über etwaige
Unregelmäßigkeiten bei den Einfuhren zwischen 1985 und 1988, 9. die
Stellungnahmen der GD VI und der GD XXI zu in ähnlichen Angelegenheiten
ergangenen Entscheidungen und 10. die Protokolle der Sitzungen des Ausschusses
der Experten der Mitgliedstaaten vom 2. Oktober und 4. Dezember 1995.
- 14.
- Mit Schreiben vom 22. März 1996 lehnte der Generaldirektor der GD VI den
Antrag auf Einsichtnahme in den Schriftverkehr mit den argentinischen Behörden
und in die Protokolle der Verhandlungen, die der Gewährung und der Eröffnung
der „Hilton-Kontingente“ vorausgegangen waren, sowie in den Schriftverkehr mit
den argentinischen Behörden nach Aufdeckung der Fälschung von
Echtheitsbescheinigungen ab. Diese Ablehnung wurde auf die zum Schutz des
öffentlichen Interesses (internationale Beziehungen) vorgesehene Ausnahme
gestützt. Den Zugang zu den übrigen, von den Mitgliedstaaten oder den
argentinischen Behöden stammenden Dokumenten lehnte der Generaldirektor
unter Hinweis darauf ab, daß die Klägerin ihren Antrag unmittelbar an die
jeweiligen Verfasser dieser Dokumente richten müsse.
- 15.
- Der Generaldirektor der GD XXI lehnte den Antrag auf Einsichtnahme in den von
der Kommission erstellten Bericht über die interne Untersuchung der Fälschungen
mit Schreiben vom 25. März 1996 unter Berufung auf die zum Schutz des
öffentlichen Interesses (Untersuchungstätigkeiten) und zum Schutz des einzelnen
und seiner Privatsphäre vorgesehenen Ausnahmen ab. Den Zugang zu den
Stellungnahmen der GD VI und der GD XXI zu anderen Anträgen auf Erlaß von
Eingangsabgaben sowie den Zugang zu den Protokollen der Sitzungen des
Ausschusses der Experten der Mitgliedstaaten lehnte der Generaldirektor der
GD XXI unter Berufung auf die zum Schutz des Interesses des Organs an der
Geheimhaltung seiner Beratungen vorgesehene Ausnahme ab. Den Zugang zu von
den Mitgliedstaaten stammenden Dokumenten lehnte er mit der Begründung ab,
die Klägerin müsse ihren Antrag unmittelbar an die jeweiligen Verfasser dieser
Dokumente richten.
- 16.
- Mit Schreiben vom 27. März 1996 stellte der Prozeßbevollmächtigte der Klägerin
beim Generalsekretär der Kommission einen Zweitantrag im Sinne des
Verhaltenskodex. In diesem Schreiben wies er die Gründe zurück, die von den
Generaldirektoren der GD VI und der GD XXI für die Ablehnung des Zugangs
zu den Dokumenten angeführt worden waren.
- 17.
- Mit am 12. April 1996 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangener Klageschrift
erhob die Klägerin zusammen mit zwei weiteren deutschen Unternehmen Klage auf
Nichtigerklärung der Entscheidung der Kommission vom 26. Januar 1996
(Rechtssache T-50/96, Primex u. a./Kommission).
- 18.
- Mit Schreiben vom 29. Mai 1996 lehnte der Generalsekretär der Kommission den
Zweitantrag ab. In diesem Schreiben (im folgenden: angefochtene Entscheidung)
heißt es:
„Nach Prüfung Ihres Antrags muß ich Ihnen leider mitteilen, daß ich den Bescheid
der GD VI und GD XXI aus folgenden Gründen bestätige.
Die gewünschten Dokumente beziehen sich alle auf eine Kommissionsentscheidung
vom 26. Januar 1996 (Dok. KOM K[96] 180 endg.), die inzwischen Gegenstand
einer Nichtigkeitsklage ist, die Ihr Mandant erhoben hat (Rechtssache T-50/96).
Folglich und unbeschadet anderer Ausnahmen, die die Verweigerung des Zugangs
zu den gewünschten Dokumenten rechtfertigen könnten, findet die Ausnahme des
Schutzes des öffentlichen Interesses (Rechtspflege) Anwendung. Im Rahmen einer
laufenden Sache kann der Verhaltenskodex die Kommission nicht zwingen, der
Gegenpartei den Rechtsstreit betreffende Dokumente zu liefern.“
- 19.
- Mit am 25. Juni 1996 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangenem Schriftsatz hat
die Klägerin im Verfahren T-50/95 beantragt, der Kommission im Wegeprozeßleitender Maßnahmen aufzugeben, die gewünschten Dokumente vorzulegen.
Verfahren und Anträge der Parteien
- 20.
- Mit am 9. August 1996 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangener Klageschrift hat
die Klägerin die vorliegende Klage erhoben. Die Rechtssache ist einer Kammer mit
drei Richtern zugewiesen worden. Nach Anhörung der Parteien hat das Gericht die
Rechtssache mit Beschluß vom 2. Juli 1997 an die Dritte erweiterte Kammer
verwiesen, der fünf Richter angehören.
- 21.
- Auf Bericht des Berichterstatters hat das Gericht (Dritte erweiterte Kammer)
beschlossen, die mündliche Verhandlung ohne vorherige Beweisaufnahme zu
eröffnen.
- 22.
- Die Parteien haben in der öffentlichen Sitzung vom 21. Oktober 1997 mündlich
verhandelt und mündliche Fragen des Gerichts beantwortet.
- 23.
- Die Klägerin beantragt,
die angefochtene Entscheidung für nichtig zu erklären;
festzustellen, daß die Kommission nicht berechtigt ist, den Zugang zu den
im Schreiben ihres Prozeßbevollmächtigten vom 23. Februar 1996 an den
Generalsekretär der Kommission im einzelnen bezeichneten Dokumenten
zu verweigern;
der Kommission die Kosten dieses Verfahrens aufzuerlegen.
- 24.
- Die Kommission beantragt,
den Feststellungsantrag als unzulässig abzuweisen;
die Klage im übrigen als unbegründet abzuweisen;
der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.
Zum ersten Klageantrag, mit dem die Nichtigerklärung der angefochtenen
Entscheidung begehrt wird
- 25.
- Diesen Klageantrag stützt die Klägerin auf drei Klagegründe. Mit dem ersten rügt
sie einen Verstoß gegen den Verhaltenskodex und den Beschluß 94/90. Mit dem
zweiten Klagegrund wird ein Verstoß gegen Artikel 190 des Vertrages geltend
gemacht. Der dritte, in der mündlichen Verhandlung geltend gemachte Klagegrund
wird auf eine Verletzung der Verteidigungsrechte gestützt, soweit sich der
Generalsekretär in der angefochtenen Entscheidung auf einen neuen, bisher noch
nicht angeführten Ablehnungsgrund berufen habe.
- 26.
- Das Gericht hält es unter den im vorliegenden Fall gegebenen Umständen für
zweckmäßig, die ersten beiden Klagegründe zusammen zu prüfen.
Gemeinsame Prüfung des ersten und des zweiten Klagegrundes, mit denen ein Verstoß
gegen den Verhaltenskodex und den Beschluß 94/90 sowie ein Verstoß gegen Artikel
190 des Vertrages gerügt werden
Vorbringen der Parteien
Zum Verstoß gegen den Beschluß 94/90 und den Verhaltenskodex
- 27.
- Die Klägerin trägt zunächst vor, die Kommission habe ihren Antrag auf Zugang zu
den Dokumenten nur mit der Begründung abgelehnt, daß die zum Schutz des
öffentlichen Interesses (Rechtspflege) vorgesehene Ausnahme Anwendung finde.
Damit habe sie jedoch gegen die Bestimmungen des Verhaltenskodex über die
Ausnahmen vom Recht auf Zugang zu Dokumenten und mithin gegen die
Bestimmungen des Beschlusses 94/90 verstoßen.
- 28.
- Der Beschluß 94/90 und der Verhaltenskodex seien für die Kommission rechtlich
bindend. Diese Rechtsakte erlegten der Kommission die rechtliche Verpflichtung
auf, möglichst umfassenden Zugang zu den in ihrem Besitz befindlichen
Dokumenten zu gewähren (Urteile des Gerichts vom 5. März 1997 in der
Rechtssache T-105/95, WWF UK/Kommission, Slg. 1997, II-313, Randnr. 55, und
vom 19. Oktober 1995 in der Rechtssache T-194/94, Carvel und Guardian
Newspapers/Rat, Slg. 1995, II-2765, zu dem entsprechenden Beschluß des Rates
[Beschluß 93/731/EG vom 20. Dezember 1993 über den Zugang der Öffentlichkeit
zu Ratsdokumenten, ABl. L 340, S. 43]).
- 29.
- Die Ausnahmen vom Recht auf Zugang zu den Dokumenten seien eng auszulegen,
damit nicht der spezifische Zweck des Verhaltenskodex vereitelt werde, der
Öffentlichkeit „möglichst umfassenden Zugang zu den Dokumenten“ zu gewähren.
- 30.
- Die Kommission könne sich auf die Ausnahmen nicht allgemein berufen. Bei der
Prüfung der Frage, ob die Offenlegung eines Dokuments unter eine der
Ausnahmen falle, müsse sie erstens die Interessen, die durch die jeweilige
Ausnahme geschützt werden sollten, gegen das allgemeine Ziel des
Verhaltenskodex abwägen und zweitens für jedes einzelne Dokument die
„zwingenden Gründe“ darlegen, aus denen die Voraussetzungen der Ausnahme
erfüllt seien (Beschluß des Gerichtshofes vom 6. Dezember 1990 in der
Rechtssache C-2/88 Imm., Zwartveld u. a., Slg. 1990, I-4405, Randnrn. 11 und 12).
- 31.
- Die Kommission vertrete zu Unrecht die Auffassung, sie könne unter Berufung auf
die zum Schutz des öffentlichen Interesses (Rechtspflege) vorgesehene Ausnahme
den Zugang zu allen Dokumenten verweigern, die sich auf eine Entscheidung
bezögen, die Gegenstand einer Nichtigkeitsklage sei. Der Standpunkt der
Kommission sei vielmehr geeignet, die Rechtspflege zu verhindern.
- 32.
- Da der Zugang zu den gewünschten Dokumenten in der angefochtenen
Entscheidung mit der Begründung verweigert worden sei, diese Dokumente
könnten in einem gerichtlichen Verfahren gegen die Kommission verwendet
werden, in dem diese Beklagte sei, könne die angefochtene Entscheidung bewirken,
daß mehrere Entscheidungen der Kommission der gerichtlichen Kontrolle entzogen
würden. Die Kommission sei als öffentliche Verwaltung, die im allgemeinen
Interesse handele, nicht befugt, die von ihr erlassenen Rechtsakte durch
Geheimhaltung einer gerichtlichen Kontrolle zu entziehen.
- 33.
- Die fragliche Ausnahme sei nach Nummer 2.2 der Mitteilung von 1993 auszulegen,
die die Interessen aufzähle, die in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten durch
diese Ausnahme geschützt werden sollten. Tatsächlich beziehe sich die Ausnahme
nur auf diejenigen Informationen, die zum Schutz der Rechtspflege (gerichtliches
Schweigegebot) verweigert werden könnten.
- 34.
- Schließlich stehe die Auffassung der Kommission in der vorliegenden Rechtssache
im Widerspruch zu ihren Ausführungen in der Rechtssache Primex
u. a./Kommission, mit denen sie zum Antrag auf Vorlage der gleichen Dokumente
im Rahmen prozeßleitender Maßnahmen Stellung genommen habe. In dieser
Rechtssache habe die Kommission nämlich vorgetragen, daß die Dokumente für
das Verfahren nicht relevant seien.
- 35.
- Die Kommission bejaht zwar die politische Bedeutung des Zugangs der
Öffentlichkeit zu den Dokumenten, die sich im Besitz der Gemeinschaftsorgane
befänden; fraglich sei aber die rechtliche Bedeutung des Grundsatzes des Zugangs
zu den Dokumenten, wie er sich aus den Erklärungen zur Transparenz ergebe.
Zum rechtlichen Stellenwert des Beschlusses 94/90 hebt sie hervor, dieser sei im
Rahmen ihrer internen Organisationsgewalt ergangen, aufgrund deren sie
notwendige Organisationsmaßnahmen treffen könne, um das reibungslose Arbeiten
ihrer Dienststellen im Interesse einer ordnungsgemäßen Verwaltung zu
gewährleisten (Urteil des Gerichtshofes vom 30. April 1996 in der Rechtssache C-58/94, Niederlande/Rat, Slg. 1996, I-2169, Randnr. 37).
- 36.
- Die Kommission macht erstens geltend, nach der zum Schutz des öffentlichen
Interesses (Rechtspflege) vorgesehenen Ausnahme sei sie im Rahmen des
Beschlusses 94/90 befugt, die Herausgabe sämtlicher einen anhängigen Rechtsstreit
betreffenden Dokumente an die Öffentlichkeit und an die Klägerin abzulehnen.
Für die Anwendung dieser Ausnahme genüge es, daß die gewünschten Dokumente
den bereits anhängigen Rechtsstreit beträfen oder sich auf dessen Gegenstand
bezögen. Dies sei hier der Fall.
- 37.
- Eine andere Auslegung würde ihre Verteidigungsrechte und damit das öffentliche
Interesse ernsthaft gefährden. Auch wenn wahrscheinlich ihre Verteidigungsrechte
nicht durch die Offenlegung jedes Dokuments beeinträchtigt würden, könnte sie
sich doch nicht mehr angemessen verteidigen, wenn sie, wie die Klägerin vortrage,
die Relevanz jedes einzelnen Dokuments für den Prozeß nachweisen müßte. Sie sei
auch nicht verpflichtet, „zwingende Gründe“ anzugeben, wenn sie einen Antrag auf
Zugang zu Dokumenten ablehnen wolle.
- 38.
- Die Mitteilung von 1993 führe zu keiner anderen Auslegung. Die im
Verhaltenskodex aufgeführte Ausnahme habe nämlich einen weiteren
Anwendungsbereich als die entsprechenden Ausnahmen, die in den nationalen
Rechtsordnungen vorgesehen seien, da der Verhaltenskodex nicht den
einschränkenden Zusatz „gerichtliches Schweigegebot“ enthalte, der der
Beschreibung der entsprechenden Ausnahmetatbestände nach nationalem Recht
hinzugefügt worden sei.
- 39.
- Zweitens sei die Frage, ob die Klägerin Zugang zu den gewünschten Dokumenten
erhalten könne, nach den Bestimmungen der Verfahrensordnung des Gerichts über
prozeßleitende Maßnahmen und nicht nach denjenigen des Verhaltenskodex zu
beantworten. Der Verhaltenskodex sei nicht die geeignete Regelung zur Lösung der
im vorliegenden Fall aufgeworfenen Frage und wolle dies auch gar nicht sein.
- 40.
- Da in der Rechtssache Primex u. a./Kommission von den Klägerinnen
prozeßleitende Maßnahmen beantragt worden seien, sei es Sache des Gerichts, zu
entscheiden, in welchem Umfang es diesem Antrag nach seiner Verfahrensordnung
stattgeben könne. Ob die von der Klägerin gewünschten Dokumente für die gegen
die Entscheidung vom 26. Januar 1996 (siehe oben, Randnr. 12) gerichtete Klage
tatsächlich relevant seien, sei allein im Rahmen jenes Prozesses zu entscheiden.
Zum Verstoß gegen Artikel 190 des Vertrages
- 41.
- Die Klägerin macht geltend, die Begründung der angefochtenen Entscheidung
genüge nicht den Anforderungen von Artikel 190 des Vertrages.
- 42.
- Zum einen sei dem Wortlaut der angefochtenen Entscheidung nicht zu entnehmen,
ob die Einzelheiten des vorliegenden Falles geprüft worden seien. Zum anderen
habe die Kommission nicht im einzelnen begründet, warum die zum Schutz des
öffentlichen Interesses (Rechtspflege) vorgesehene Ausnahme ihrer Ansicht nach
eingreife.
- 43.
- Insbesondere habe die Kommission entgegen ihren Verpflichtungen nicht für jedes
einzelne Dokument angegeben, aus welchen „zwingenden Gründen“ eine
Offenlegung den Schutz des öffentlichen Interesses beeinträchtigen könnte.
- 44.
- Schließlich könne sich die Kommission im vorliegenden Fall nicht auf andere im
Verhaltenskodex vorgesehene Ausnahmen berufen, da die angefochtene
Entscheidung insoweit unzureichend begründet sei.
- 45.
- Die Kommission stellt in Abrede, gegen Artikel 190 des Vertrages verstoßen zu
haben. Die Begründung fasse die wesentliche Aussage klar zusammen. Soweit die
Klägerin in der Entscheidung eine Auseinandersetzung mit den „Einzelheiten“ des
vorliegenden Falles vermisse, sei festzustellen, daß die Kommission nicht für jedes
einzelne Dokument nachweisen müsse, daß eine Offenlegung das öffentliche
Interesse beeinträchtigen könnte.
Würdigung durch das Gericht
- 46.
- Der Beschluß 94/90 ist eine Handlung, die Bürgern ein Recht auf Zugang zu den
im Besitz der Kommission befindlichen Dokumenten verleiht (Urteil
WWF UK/Kommission, Randnr. 55).
- 47.
- Dem steht nicht entgegen, daß Artikel 162 des Vertrages als Rechtsgrundlage
dieses Beschlusses herangezogen worden ist. Auch wenn nämlich der Beschluß
94/90 aufgrund der internen Organisationsgewalt der Kommission ergangen ist,
kann eine Regelung über die interne Organisation der Arbeit eines Organs
durchaus rechtliche Wirkungen gegenüber Dritten entfalten (Urteil
Niederlande/Rat, Randnr. 38).
- 48.
- Seinem Sinn und Zweck nach soll der Beschluß 94/90 allgemein für Anträge auf
Zugang zu Dokumenten gelten. Nach diesem Beschluß kann jedermann die
Einsicht in ein unveröffentlichtes Kommissionsdokument beantragen, ohne seinen
Antrag begründen zu müssen (vgl. dazu die Mitteilungen von 1993, ABl. C 156,
S. 6, und 1994, ABl. C 67, S. 5).
- 49.
- Nach den Bestimmungen des Verhaltenskodex gelten für das Recht auf Zugang zu
den Dokumenten jedoch Ausnahmen. Diese sind eng auszulegen, damit die
Anwendung des allgemeinen Grundsatzes, der Öffentlichkeit „möglichst
umfassenden Zugang zu den Dokumenten der Kommission“ zu gewähren, nicht
vereitelt wird (Urteil WWF UK/Kommission, Randnr. 56).
- 50.
- Wie in Randnummer 57 des Urteils WWW UK/Kommission festgestellt worden ist,
gibt es nach dem Verhaltenskodex zwei Gruppen von Ausnahmen (siehe oben,
Randnr. 7).
- 51.
- Was die erste Gruppe angeht, zu der die im vorliegenden Fall geltend gemachte
Ausnahme gehört, sieht der Verhaltenskodex vor, daß „[d]ie Organe ... den Zugang
zu Dokumenten [verweigern], wenn sich durch deren Verbreitung eine
Beeinträchtigung ergeben könnte in bezug auf ... den Schutz des öffentlichenInteresses (öffentliche Sicherheit, internationale Beziehungen, Währungsstabilität,
Rechtspflege, Inspektionstätigkeiten)“.
- 52.
- Aus der Verwendung des Verbs „können“ im Konjunktiv folgt, daß die Kommission
vor einer Entscheidung über einen Antrag auf Zugang zu Dokumenten für jedes
gewünschte Dokument zu prüfen hat, ob dessen Offenlegung nach den ihr
vorliegenden Informationen tatsächlich geeignet ist, eines der durch die erste
Kategorie von Ausnahmen geschützten Interessen zu beeinträchtigen. Ist dies der
Fall, muß die Kommission den Antrag auf Zugang zu dem betreffenden Dokument
ablehnen, da der Verhaltenskodex bestimmt, daß die Organe in diesem Fall den
Zugang „verweigern“.
- 53.
- Eine solche Entscheidung des Organs ist gemäß Artikel 190 des Vertrages zu
begründen. Nach ständiger Rechtsprechung muß die nach dieser Bestimmung
vorgeschriebene Begründung die Überlegungen der Gemeinschaftsbehörde, die den
angefochtenen Rechtsakt erlassen hat, so klar und eindeutig zum Ausdruck bringen,
daß die Betroffenen zur Verteidigung ihrer Rechte die tragenden Gründe für die
getroffene Maßnahme erkennen können und der Gemeinschaftsrichter seine
Kontrollaufgabe wahrnehmen kann (Urteil des Gerichtshofes vom 15. Mai 1997 in
der Rechtssache C-278/95 P, Siemens/Kommission, Slg. 1997, I-2507, Randnr. 17,
und Urteil WWF UK/Kommission, Randnr. 66).
- 54.
- Die Begründung einer Entscheidung, mit der der Zugang zu Dokumenten
verweigert wird, muß somit zumindest für jede betroffene Gruppe von
Dokumenten die einzelnen Gründe enthalten, aus denen die Offenlegung der
gewünschten Dokumente nach Ansicht der Kommission unter eine der Ausnahmen
der ersten Gruppe fällt (Urteil WWF UK/Kommission, Randnrn. 64 und 74), damit
sich der Adressat der Entscheidung vergewissern kann, daß die in Randnummer 52
genannte Prüfung tatsächlich stattgefunden hat, und damit er die Stichhaltigkeit der
Ablehnungsgründe beurteilen kann.
- 55.
- Im vorliegenden Fall enthält die angefochtene Entscheidung jedoch nur die
Schlußfolgerung, daß die zum Schutz des öffentlichen Interesses (Rechtspflege)
vorgesehene Ausnahme eingreife (siehe oben, Randnr. 18). Sie enthält keine und
sei es auch nur auf einzelne Dokumentengruppen bezogene Erklärung, die es
ermöglichen würde, zu überprüfen, ob alle gewünschten Dokumente, von denen
einige mehrere Jahre alt sind, tatsächlich unter die geltend gemachte Ausnahme
fallen, weil sie mit der Entscheidung in Zusammenhang stehen, deren
Nichtigerklärung in der Rechtssache Primex u. a./Kommission beantragt wird.
- 56.
- Unter diesen Umständen ist festzustellen, daß die angefochtene Entscheidung
unzureichend begründet ist.
- 57.
- Die angefochtene Entscheidung ist daher für nichtig zu erklären, ohne daß es einer
Entscheidung über den Klagegrund einer Verletzung der Verteidigungsrechte
bedarf.
Zum zweiten Klageantrag, der auf die Feststellung gerichtet ist, daß die
Kommission nicht berechtigt ist, den Zugang zu den von der Klägerin in ihrem
Schreiben vom 23. Februar 1996 an den Generalsekretär der Kommission
genannten Dokumenten zu verweigern
- 58.
- Zur Stützung dieses Klageantrags macht die Klägerin geltend, nach dem
Verhaltenskodex habe der Generalsekretär, wenn er mit einem Zweitantrag befaßt
sei, die ursprüngliche Ablehnung des Antrags auf Zugang zu den gewünschten
Dokumenten zu überprüfen. Demgemäß müsse er über die Gründe, auf die er die
endgültige Ablehnung des Antrags stützen wolle, abschließend entscheiden.
- 59.
- Wenn dem im Beschluß 94/90 vorgesehenen Verfahren nicht die praktische
Wirksamkeit genommen werden solle, gehe es daher nicht an, daß die Kommission
nach Erlaß eines Nichtigkeitsurteils in einem späteren Verwaltungsverfahren andere
Gründe anführen könne, um die Ablehnung des Antrags auf Zugang zu den
Dokumenten zu rechtfertigen. In diesem Fall wäre die Klägerin nämlich
gezwungen, das Gericht erneut anzurufen, was ihr nicht zugemutet werden könne.
- 60.
- Um ein weiteres Gerichtsverfahren zu vermeiden, beantragt die Klägerin daher,
festzustellen, daß die Kommission nicht berechtigt ist, den Zugang zu den im
Schreiben vom 23. Februar 1996 im einzelnen bezeichneten Dokumenten (siehe
oben, Randnr. 13) zu verweigern; denn die Kommission habe das Recht verwirkt,
den Zugang zu den Dokumenten mit neuer Begründung zu verweigern.
- 61.
- Dieser Antrag, der darauf gerichtet ist, der Kommission Anordnungen zu erteilen,
ist unzulässig, da der Gemeinschaftsrichter im Rahmen der Aufhebungskompetenz,
die er nach Artikel 173 des Vertrages hat, nicht befugt ist, den
Gemeinschaftsorganen Anordnungen zu erteilen (siehe z. B. Urteil des
Gerichtshofes vom 26. Februar 1987 in der Rechtssache 15/85, Consorzio
Cooperative d'Abruzzo/Kommission, Slg. 1987, 1005, Randnr. 18, und Urteil des
Gerichts vom 9. November 1995 in der Rechtssache T-346/74, France-Aviation/Kommission, Slg. 1995, II-2841, Randnr. 42).
Kosten
- 62.
- Nach Artikel 87 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag
zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kommission mit ihrem Vorbringen
im wesentlichen unterlegen ist und die Klägerin einen entsprechenden Antrag
gestellt hat, sind der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
Aus diesen Gründen
hat
DAS GERICHT (Dritte erweiterte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Entscheidung der Kommission vom 29. Mai 1996, mit der der Klägerin
der Zugang zu bestimmten Dokumenten, die sich im Besitz der
Kommission befinden, verweigert wurde, wird für nichtig erklärt.
2. Die Klage wird als unzulässig abgewiesen, soweit mit ihr beantragt wird,
der Kommission Anordnungen zu erteilen.
3. Die Kommission trägt die Kosten des Verfahrens.
VesterdorfBriët
Lindh
Potocki Cooke
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Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 6. Februar 1998.
Der Kanzler
Der Präsident
H. Jung
B. Vesterdorf