Language of document : ECLI:EU:C:2024:529

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)

20. Juni 2024(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Schutz der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer – Arbeitszeitgestaltung – Richtlinie 2003/88/EG – Art. 9 Abs. 1 Buchst. a – Verpflichtung zur Untersuchung des Gesundheitszustands von Nachtarbeitern – Verstoß des Arbeitgebers gegen diese Verpflichtung – Schadensersatzanspruch – Notwendigkeit, einen spezifischen Schaden nachzuweisen“

In der Rechtssache C‑367/23

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour de cassation (Kassationsgerichtshof, Frankreich) mit Entscheidung vom 7. Juni 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 9. Juni 2023, in dem Verfahren

EA

gegen

Artemis security SAS

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin A. Prechal (Berichterstatterin), der Richter F. Biltgen, N. Wahl und J. Passer sowie der Richterin M. L. Arastey Sahún,

Generalanwältin: T. Ćapeta,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von EA, vertreten durch L. Boré und G. Mégret, Avocats,

–        der Artemis security SAS, vertreten durch J.‑J. Gatineau, Avocat,

–        der französischen Regierung, vertreten durch M. de Lisi, B. Fodda und M. Raux als Bevollmächtigte,

–        der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von M. F. Severi, Avvocato dello Stato,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch F. Clotuche-Duvieusart und D. Recchia als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (ABl. 2003, L 299, S. 9).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen EA und der Artemis security SAS (im Folgenden: Artemis) wegen einer Klage von EA auf Entschädigung für Verstöße von Artemis gegen Verpflichtungen des Arbeitgebers in Bezug auf die Untersuchung des Gesundheitszustands von Nachtarbeitern.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        In den Erwägungsgründen 5 und 7 bis 10 der Richtlinie 2003/88 heißt es:

„(5)      Alle Arbeitnehmer sollten angemessene Ruhezeiten erhalten. … Arbeitnehmern in der Gemeinschaft müssen Mindestruhezeiten – je Tag, Woche und Jahr – sowie angemessene Ruhepausen zugestanden werden. In diesem Zusammenhang muss auch eine wöchentliche Höchstarbeitszeit festgelegt werden.

(7)      Untersuchungen zeigen, dass der menschliche Organismus während der Nacht besonders empfindlich auf Umweltstörungen und auf bestimmte belastende Formen der Arbeitsorganisation reagiert und dass lange Nachtarbeitszeiträume für die Gesundheit der Arbeitnehmer nachteilig sind und ihre Sicherheit bei der Arbeit beeinträchtigen können.

(8)      Infolgedessen ist die Dauer der Nachtarbeit, auch in Bezug auf die Mehrarbeit, einzuschränken und vorzusehen, dass der Arbeitgeber im Fall regelmäßiger Inanspruchnahme von Nachtarbeitern die zuständigen Behörden auf Ersuchen davon in Kenntnis setzt.

(9)      Nachtarbeiter haben vor Aufnahme der Arbeit – und danach regelmäßig – Anspruch auf eine unentgeltliche Untersuchung ihres Gesundheitszustands und müssen, wenn sie gesundheitliche Schwierigkeiten haben, soweit jeweils möglich auf eine für sie geeignete Arbeitsstelle mit Tagarbeit versetzt werden.

(10)      In Anbetracht der besonderen Lage von Nacht- und Schichtarbeitern müssen deren Sicherheit und Gesundheit in einem Maß geschützt werden, das der Art ihrer Arbeit entspricht, und die Schutz- und Vorsorgeleistungen oder ‑mittel müssen effizient organisiert und eingesetzt werden.“

4        In Art. 6 („Wöchentliche Höchstarbeitszeit“) der Richtlinie heißt es:

„Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit nach Maßgabe der Erfordernisse der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer:

b)      die durchschnittliche Arbeitszeit pro Siebentageszeitraum 48 Stunden einschließlich der Überstunden nicht überschreitet.“

5        Art. 8 („Dauer der Nachtarbeit“) der Richtlinie lautet:

„Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit:

a)      die normale Arbeitszeit für Nachtarbeiter im Durchschnitt acht Stunden pro 24-Stunden-Zeitraum nicht überschreitet;

b)      Nachtarbeiter, deren Arbeit mit besonderen Gefahren oder einer erheblichen körperlichen oder geistigen Anspannung verbunden ist, in einem 24-Stunden-Zeitraum, während dessen sie Nachtarbeit verrichten, nicht mehr als acht Stunden arbeiten.

Zum Zweck von Buchstabe b) wird im Rahmen von einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten oder von Tarifverträgen oder Vereinbarungen zwischen den Sozialpartnern festgelegt, welche Arbeit unter Berücksichtigung der Auswirkungen der Nachtarbeit und der ihr eigenen Risiken mit besonderen Gefahren oder einer erheblichen körperlichen und geistigen Anspannung verbunden ist.“

6        Art. 9 („Untersuchung des Gesundheitszustands von Nachtarbeitern und Versetzung auf Arbeitsstellen mit Tagarbeit“) Abs. 1 der Richtlinie bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit:

a)      der Gesundheitszustand der Nachtarbeiter vor Aufnahme der Arbeit und danach regelmäßig unentgeltlich untersucht wird;

b)      Nachtarbeiter mit gesundheitlichen Schwierigkeiten, die nachweislich damit verbunden sind, dass sie Nachtarbeit leisten, soweit jeweils möglich auf eine Arbeitsstelle mit Tagarbeit versetzt werden, für die sie geeignet sind.“

 Französisches Recht

7        Art. L. 3122‑11 des Code du travail (Arbeitsgesetzbuch) lautet:

„Jeder Nachtarbeiter hat Anspruch auf eine regelmäßige individuelle Überwachung seines Gesundheitszustands unter den in Art. L. 4624‑1 festgelegten Bedingungen.“

8        In Art. L. 4624‑1 des Arbeitsgesetzbuchs heißt es:

„Jeder Arbeitnehmer hat im Rahmen der Überwachung des Gesundheitszustands der Arbeitnehmer … Anspruch auf eine individuelle Überwachung seines Gesundheitszustands, die vom Betriebsarzt und unter dessen Aufsicht vom ärztlichen Mitarbeiter …, vom betriebsärztlichen Assistenzarzt und vom Krankenpfleger gewährleistet wird.

Jeder Nachtarbeiter hat Anspruch auf eine regelmäßige individuelle Überwachung seines Gesundheitszustands. Die Periodizität dieser Überwachung wird vom Betriebsarzt nach Maßgabe der Besonderheiten der besetzten Stelle und der Eigenschaften des Arbeitnehmers gemäß den durch Dekret nach Anhörung des Conseil d’État [(Staatsrat)] bestimmten Modalitäten festgelegt.“

9        Art. R. 3122‑11 des Arbeitsgesetzbuchs sieht vor:

„Die Überwachung des Gesundheitszustands von Nachtarbeitern soll es dem Betriebsarzt insbesondere ermöglichen, die etwaigen Folgen der Nachtarbeit für ihre Gesundheit und Sicherheit, insbesondere aufgrund von Änderungen des chronobiologischen Rhythmus, zu beurteilen und mögliche Auswirkungen auf ihr soziales Leben zu erfassen.“

10      Art. R. 4624‑11 des Arbeitsgesetzbuchs bestimmt:

„Der Informations- und Präventionsbesuch, auf den der Arbeitnehmer Anspruch hat, ist individuell. Er hat insbesondere Folgendes zum Gegenstand:

1°      den Arbeitnehmer zu seinem Gesundheitszustand zu befragen;

2°      ihn über mögliche Gefahren zu informieren, denen er an seinem Arbeitsplatz ausgesetzt ist;

3°      ihn für die durchzuführenden Präventionsmaßnahmen zu sensibilisieren;

4°      festzustellen, ob sein Gesundheitszustand oder die Gefahren, denen er ausgesetzt ist, es erfordern, ihn an den Betriebsarzt zu verweisen;

5°      ihn über die Art und Weise der Überwachung seines Gesundheitszustands durch den Dienst und über die ihm jederzeit zur Verfügung stehende Möglichkeit zu informieren, auf seinen Wunsch eine Untersuchung durch den Betriebsarzt zu erhalten.“

11      In Art. R. 4624‑18 des Arbeitsgesetzbuchs heißt es:

„Jeder Nachtarbeiter … hat vor Aufnahme seiner Arbeit Anspruch auf einen Informations- und Präventionsbesuch, der von einem der in Art. L. 4624‑1 Abs. 1 genannten Angehörigen der Gesundheitsberufe durchgeführt wird.“

12      Art. R. 3124‑15 des Arbeitsgesetzbuchs sieht vor:

„Zuwiderhandlungen gegen die in den Art. L. 3122‑1 bis L. 3122‑24 vorgesehenen Bestimmungen über die Nachtarbeit … sowie gegen die zu ihrer Durchführung erlassenen Dekrete werden mit der für Übertretungen der fünften Kategorie vorgesehenen Geldstrafe geahndet, multipliziert mit der Anzahl der von der Zuwiderhandlung betroffenen Arbeitnehmer.

Wiederholte Zuwiderhandlungen werden gemäß den Art. 132‑11 und 132‑15 des Code pénal [(Strafgesetzbuch)] geahndet.“

13      Art. R. 4745-3 des Arbeitsgesetzbuchs lautet:

„Zuwiderhandlungen gegen die in Art. L. 4624‑1 vorgesehenen Bestimmungen über die Tätigkeit des Betriebsarztes sowie gegen die zu ihrer Durchführung erlassenen Dekrete werden mit der für Übertretungen der fünften Kategorie vorgesehenen Geldstrafe geahndet.“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

14      Am 1. April 2017 wurde EA von Artemis als Bediensteter im Brandschutz- und Personenhilfedienst eingestellt.

15      Mit Klageschrift vom 25. April 2019 erhob EA beim Conseil de prud’hommes de Compiègne (Arbeitsgericht Compiègne, Frankreich) eine Klage auf gerichtliche Auflösung seines Arbeitsvertrags und auf Verurteilung von Artemis zur Zahlung von Schadensersatz. Zur Stützung dieser Anträge machte EA geltend, dass zum einen Artemis seinen Arbeitsvertrag einseitig geändert habe, indem sie ihn von einer Arbeitsstelle mit Tagarbeit auf eine Arbeitsstelle mit Nachtarbeit versetzt habe, und dass zum anderen die bei Nachtarbeit geltende verstärkte medizinische Überwachung bei ihm nicht durchgeführt worden sei.

16      Am 1. Juli 2019 wurde EA entlassen.

17      Mit Urteil vom 4. Dezember 2019 wies der Conseil de prud’hommes de Compiègne (Arbeitsgericht Compiègne) u. a. seinen Antrag auf Schadensersatz ab. Auf die gegen dieses Urteil eingelegte Berufung hin bestätigte die Cour d’appel d’Amiens (Berufungsgericht Amiens, Frankreich) mit Urteil vom 2. September 2021 das genannte Urteil in diesem Punkt des Tenors mit der Begründung, dass EA nicht nachgewiesen habe, dass und worin der Schaden bestehe, der ihm aufgrund der nicht erfolgten verstärkten medizinischen Überwachung, die bei Nachtarbeit erforderlich sei, entstanden sein solle.

18      EA trägt zur Stützung des Rechtsmittels, das er gegen dieses Urteil bei der Cour de cassation (Kassationsgerichtshof, Frankreich) eingelegt hat, vor, dass die bloße Feststellung der Nichteinhaltung der Schutzbestimmungen über die verstärkte medizinische Überwachung bei Nachtarbeit einen Entschädigungsanspruch des betreffenden Arbeitnehmers begründe und dass die Cour d’appel d’Amiens (Berufungsgericht Amiens) durch die Abweisung seines Antrags auf Schadensersatz insbesondere gegen Art. L. 3122‑11 des Arbeitsgesetzbuchs in Verbindung mit Art. 9 der Richtlinie 2003/88 verstoßen habe.

19      Die Cour de cassation (Kassationsgerichtshof), das vorlegende Gericht, weist darauf hin, dass nach ständiger Rechtsprechung das Vorliegen eines Schadens und dessen Bemessung grundsätzlich in die alleinige Beurteilungsbefugnis der Tatrichter fielen. Gleichwohl habe sie vor Kurzem unter Berücksichtigung der Erkenntnisse, die sich aus dem Urteil vom 14. Oktober 2010, Fuß (C‑243/09, EU:C:2010:609), ergäben, entschieden, dass die bloße Feststellung der Überschreitung der in Art. 6 Buchst. b der Richtlinie 2003/88 festgelegten durchschnittlichen wöchentlichen Höchstarbeitszeit einen Entschädigungsanspruch des Arbeitnehmers begründe, und zwar in Anbetracht zum einen der unmittelbaren Wirkung dieser Bestimmung des Unionsrechts und zum anderen des Umstands, dass eine solche Überschreitung ipso facto die Gesundheit des Arbeitnehmers beeinträchtige.

20      Das vorlegende Gericht möchte wissen, ob bei einem Verstoß gegen Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2003/88 ein entsprechender Ansatz zugrunde zu legen ist. Dazu führt es insbesondere aus, dass der Wortlaut dieser Bestimmung im Licht der Erwägungsgründe 9 und 10 der Richtlinie weniger genau erscheine als der von Art. 6 Buchst. b der Richtlinie.

21      Unter diesen Umständen hält es die Cour de cassation (Kassationsgerichtshof) als Erstes für erforderlich, den Gerichtshof dazu zu befragen, ob Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2003/88 unmittelbare Wirkung zuzuerkennen ist. Sollte der Gerichtshof dies bejahen, könne sie sich nämlich mangels der unmittelbaren horizontalen Wirkung von Richtlinien damit konfrontiert sehen, dass es ihr unmöglich sei, die Art. L. 3122‑11, L. 4624‑1 und R. 4624‑18 des Arbeitsgesetzbuchs im Einklang mit der Richtlinie 2003/88 auszulegen, da eine solche Auslegung möglicherweise contra legem erfolgen würde.

22      Als Zweites hält es das vorlegende Gericht für erforderlich, dass der Gerichtshof die Frage klärt, ob die bloße Tatsache, dass der Arbeitgeber die nationalen Maßnahmen nicht einhält, mit denen die in Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2003/88 vorgesehene ärztliche Untersuchung von Nachtarbeitern sichergestellt werden soll, einen Entschädigungsanspruch begründet, ohne dass ein aufgrund dieser Nichteinhaltung entstandener spezifischer Schaden des betreffenden Arbeitnehmers nachgewiesen werden müsste.

23      Unter diesen Umständen hat die Cour de cassation (Kassationsgerichtshof) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Erfüllt Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2003/88 die Voraussetzungen, um unmittelbare Wirkung zu entfalten und von einem Arbeitnehmer in einem ihn betreffenden Rechtsstreit geltend gemacht zu werden?

2.      Ist Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2003/88 dahin auszulegen, dass er nationalen Rechtsvorschriften oder Gepflogenheiten entgegensteht, nach denen im Fall eines Verstoßes gegen die Vorschriften, die zur Durchführung der für die unentgeltliche Untersuchung des Gesundheitszustands des Arbeitnehmers erforderlichen Maßnahmen erlassen wurden, der Schadensersatzanspruch des Arbeitnehmers vom Nachweis des Schadens abhängig gemacht wird, der sich aus diesem Verstoß ergeben haben soll?

 Zu den Vorlagefragen

 Zur zweiten Frage

24      Mit seiner zweiten Frage, die zuerst zu prüfen ist, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2003/88 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, wonach bei einem Verstoß des Arbeitgebers gegen die nationalen Bestimmungen, mit denen diese unionsrechtliche Vorschrift umgesetzt wird und nach denen der Gesundheitszustand von Nachtarbeitern vor Aufnahme der Arbeit und dann regelmäßig unentgeltlich untersucht wird, der Anspruch des betreffenden Nachtarbeiters auf eine Entschädigung wegen dieses Verstoßes voraussetzt, dass er den ihm daraus entstandenen Schaden nachweist.

25      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass es nach ständiger Rechtsprechung mangels einschlägiger Unionsregeln auf diesem Gebiet nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung jedes Mitgliedstaats ist, die verfahrensrechtlichen Modalitäten der Rechtsbehelfe, die zum Schutz der Rechte der Bürger bestimmt sind, festzulegen, vorausgesetzt allerdings, dass diese Modalitäten bei unter das Unionsrecht fallenden Sachverhalten nicht ungünstiger sind als diejenigen, die gleichartige Sachverhalte regeln, die dem innerstaatlichen Recht unterliegen (Äquivalenzgrundsatz), und dass sie die Ausübung der durch das Unionsrecht verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsgrundsatz) (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Mai 2023, Österreichische Post [Immaterieller Schaden im Zusammenhang mit der Verarbeitung personenbezogener Daten], C‑300/21, EU:C:2023:370, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung).

26      Wie der Gerichtshof bereits festgestellt hat, enthält die Richtlinie 2003/88 weder eine Bestimmung zu den Sanktionen, die bei einem Verstoß gegen die in dieser Richtlinie aufgestellten Mindestvorschriften Anwendung finden, noch eine spezielle Regelung zum Ersatz des Schadens, der den Arbeitnehmern durch diesen Verstoß möglicherweise entstanden ist (Urteil vom 25. November 2010, Fuß, C‑429/09, EU:C:2010:717, Rn. 44).

27      In Ermangelung unionsrechtlicher Vorschriften zur Festlegung von Regelungen für eine etwaige Entschädigung, die ein Nachtarbeiter in dem Fall geltend machen kann, dass sein Arbeitgeber gegen die – der Umsetzung von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2003/88 dienenden – nationalen Regelungen über die bei Nachtarbeit vorgesehene ärztliche Untersuchung verstößt, ist es folglich Aufgabe des Rechts des einzelnen Mitgliedstaats, die Verfahren auszugestalten, die den Schutz der dem Einzelnen nach dieser Bestimmung zustehenden Rechte gewährleisten sollen, und insbesondere die Voraussetzungen festzulegen, unter denen ein solcher Arbeitnehmer gegen den Arbeitgeber einen Anspruch auf eine Entschädigung wegen des betreffenden Verstoßes hat, wobei der Äquivalenz- und der Effektivitätsgrundsatz zu beachten sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Mai 2023, Österreichische Post [Immaterieller Schaden im Zusammenhang mit der Verarbeitung personenbezogener Daten], C‑300/21, EU:C:2023:370, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung).

28      Was den Äquivalenzgrundsatz betrifft, verfügt der Gerichtshof im vorliegenden Verfahren über keinen Anhaltspunkt, der Zweifel daran aufkommen lassen könnte, dass die im Ausgangsverfahren fragliche Regelung mit diesem Grundsatz vereinbar ist, soweit sie für den Anspruch des Nachtarbeiters auf eine etwaige Entschädigung voraussetzt, dass er nachweist, dass ihm aufgrund eines Verstoßes gegen die nationalen Bestimmungen, mit denen Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2003/88 umgesetzt wurde, tatsächlich ein Schaden entstanden ist.

29      Was den Effektivitätsgrundsatz betrifft, wird es letztlich Sache des vorlegenden Gerichts sein, das für die Beurteilung des Sachverhalts der Rechtssache allein zuständig ist, festzustellen, ob die im innerstaatlichen Recht vorgesehenen Modalitäten für die etwaige Anerkennung eines solchen Entschädigungsanspruchs und insbesondere die in der vorstehenden Randnummer angeführte nationale Regelung über den Nachweis des entstandenen Schadens die Ausübung der durch Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2003/88 verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Mai 2023, Österreichische Post [Immaterieller Schaden im Zusammenhang mit der Verarbeitung personenbezogener Daten], C‑300/21, EU:C:2023:370, Rn. 56).

30      Art. 267 AEUV gibt dem Gerichtshof nämlich nicht die Befugnis, die Normen des Unionsrechts auf einen Einzelfall anzuwenden, sondern nur die, sich zur Auslegung der Verträge und der Rechtsakte der Organe der Europäischen Union zu äußern. Nach ständiger Rechtsprechung kann der Gerichtshof das Unionsrecht im Rahmen der durch diesen Art. 267 AEUV begründeten Zusammenarbeit zwischen den Gerichten aber unter Berücksichtigung der Akte auslegen, soweit dies dem innerstaatlichen Gericht bei der Beurteilung der Wirkungen einer unionsrechtlichen Bestimmung dienlich sein könnte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Mai 2023, Inspecţia Judiciară, C‑817/21, EU:C:2023:391, Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung).

31      Vorliegend ist zunächst darauf hinzuweisen, dass der Arbeitnehmer in dem Fall, dass der betreffende Arbeitgeber gegen die in Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2003/88 vorgesehenen Verpflichtungen zur Untersuchung des Gesundheitszustands von Nachtarbeitern verstößt, die, wie aus den in den Rn. 7 bis 10 des vorliegenden Urteils wiedergegebenen Bestimmungen des Arbeitsgesetzbuchs hervorgeht, in nationales Recht umgesetzt wurden, von diesem Arbeitgeber die Erfüllung dieser Verpflichtungen verlangen können muss, indem er sich gegebenenfalls an die nationale Behörde wendet, die für die Überwachung der Erfüllung dieser Verpflichtungen zuständig ist, oder, falls erforderlich, ihre ordnungsgemäße Erfüllung vor den zuständigen Gerichten gemäß den Anforderungen aus Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union einfordert. Die Ausübung des Rechts auf wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz, das die letztgenannte Bestimmung jeder Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte verletzt worden sind, garantiert, ist somit geeignet, zur Gewährleistung der Wirksamkeit des Anspruchs eines Nachtarbeiters auf Untersuchung seines Gesundheitszustands gemäß Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2003/88 beizutragen.

32      Zur Gewährleistung dieser Wirksamkeit trägt sodann auch bei, dass ein Nachtarbeiter bei Verstößen des Arbeitgebers gegen die Pflichten gemäß Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2003/88 eine angemessene Entschädigung in dem Sinne erhalten kann, dass sie es ermöglichen muss, den durch diese Verstöße tatsächlich entstandenen Schaden in vollem Umfang auszugleichen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 13. Juli 2006, Manfredi u. a., C‑295/04 bis C‑298/04, EU:C:2006:461, Rn. 95, sowie vom 14. September 2023, TGSS [Verweigerung der Mutterschaftszulage], C‑113/22, EU:C:2023:665, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).

33      Der Anspruch des Arbeitnehmers auf Schadensersatz erhöht nämlich insbesondere die Durchsetzungskraft der in diesem Art. 9 Abs. 1 Buchst. a vorgesehenen Schutzvorschriften und ist geeignet, von der Wiederholung rechtswidriger Verhaltensweisen abzuschrecken (vgl. entsprechend Urteil vom 4. Mai 2023, Österreichische Post [Immaterieller Schaden im Zusammenhang mit der Verarbeitung personenbezogener Daten], C‑300/21, EU:C:2023:370, Rn. 40). Dadurch, dass nach den von den Mitgliedstaaten festgelegten Bedingungen an die geschädigte Person Schadensersatz gezahlt wird, der den entstandenen Schaden vollständig deckt, kann gewährleistet werden, dass ein solcher Schaden auf eine abschreckende und angemessene Art und Weise tatsächlich und wirksam ausgeglichen oder ersetzt wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. September 2023, TGSS [Verweigerung der Mutterschaftszulage], C‑113/22, EU:C:2023:665, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung).

34      Dagegen hindert das Unionsrecht die innerstaatlichen Gerichte nicht daran, dafür Sorge zu tragen, dass der Schutz der unionsrechtlich gewährleisteten Rechte nicht zu einer ungerechtfertigten Bereicherung der Anspruchsberechtigten führt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Juli 2006, Manfredi u. a., C‑295/04 bis C‑298/04, EU:C:2006:461, Rn. 94 und die dort angeführte Rechtsprechung).

35      In Anbetracht der Ausgleichsfunktion des Schadensersatzanspruchs, der vorliegend im anwendbaren nationalen Recht vorgesehen ist, ist daher festzustellen, dass ein vollständiger Ersatz des tatsächlich entstandenen Schadens den in Rn. 33 des vorliegenden Urteils beschriebenen Zwecken genügt, ohne dass es erforderlich wäre, den Arbeitgeber zur Zahlung von Strafschadensersatz zu verpflichten (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 17. Dezember 2015, Arjona Camacho, C‑407/14, EU:C:2015:831, Rn. 37, und vom 4. Mai 2023, Österreichische Post [Immaterieller Schaden im Zusammenhang mit der Verarbeitung personenbezogener Daten], C‑300/21, EU:C:2023:370, Rn. 58).

36      In dieser letzten Hinsicht ist schließlich festzustellen, dass, wie sich aus den Rn. 12 und 13 des vorliegenden Urteils ergibt und wie die französische sowie die italienische Regierung und die Europäische Kommission vorgebracht haben, das anwendbare nationale Recht besondere Regelungen enthält, die die Verhängung von Geldstrafen ermöglichen, wenn der Arbeitgeber gegen die nationalen Bestimmungen zur Umsetzung von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2003/88 verstößt. Diese besonderen Regelungen tragen ihrerseits dazu bei, die Wirksamkeit des nach dieser Bestimmung bestehenden Anspruchs eines Nachtarbeiters auf Untersuchung seines Gesundheitszustands sicherzustellen. Solche Regelungen, die im Wesentlichen einen Strafzweck haben, hängen ihrerseits nicht vom Vorliegen eines Schadens ab. Obwohl solche Strafregelungen und die Regelungen über die vertragliche Haftung oder die deliktische Haftung für Fahrlässigkeit, wie sie im Ausgangsverfahren fraglich sind, einander ergänzen, da sie beide zur Einhaltung der genannten unionsrechtlichen Bestimmung anhalten, haben sie doch ganz unterschiedliche Funktionen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Mai 2023, Österreichische Post [Immaterieller Schaden im Zusammenhang mit der Verarbeitung personenbezogener Daten], C‑300/21, EU:C:2023:370, Rn. 40).

37      Nach alledem und vorbehaltlich einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht ist nicht ersichtlich, dass eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren fragliche geeignet wäre, die Wirksamkeit der Rechte aus Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2003/88 zu beeinträchtigen.

38      Zwar hat der Gerichtshof, worauf das vorlegende Gericht hinweist, in Rn. 54 seines Urteils vom 14. Oktober 2010, Fuß (C‑243/09, EU:C:2010:609), festgestellt, dass der Unionsgesetzgeber – angesichts des mit der Richtlinie 2003/88 verfolgten Ziels, die Sicherheit und die Gesundheit der Arbeitnehmer dadurch zu gewährleisten, dass diese hinreichende Ruhezeiten einhalten – der Ansicht war, dass die Überschreitung der in Art. 6 Buchst. b der Richtlinie festgelegten durchschnittlichen wöchentlichen Höchstarbeitszeit dem Arbeitnehmer allein dadurch, dass ihm eine solche Ruhezeit vorenthalten wird, einen Nachteil zufügt, weil dadurch seine Sicherheit und Gesundheit beeinträchtigt werden. In Rn. 59 des Urteils vom 25. November 2010, Fuß (C‑429/09, EU:C:2010:717), hat sich der Gerichtshof insoweit auch auf den Schaden bezogen, der dem Arbeitnehmer durch den Verlust der Ruhezeit entstanden ist, die ihm zugestanden hätte, wenn die in dieser Bestimmung vorgesehene wöchentliche Höchstarbeitszeit eingehalten worden wäre.

39      Diese Erwägungen sind jedoch nicht auf die Verpflichtungen zur ärztlichen Überwachung gemäß Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2003/88 übertragbar.

40      Während es nämlich im fünften Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/88 heißt, dass alle Arbeitnehmer „angemessene Ruhezeiten erhalten [sollten]“, und in den Erwägungsgründen 7 und 8 der Richtlinie u. a. ausgeführt wird, dass „Untersuchungen zeigen, dass … lange Nachtarbeitszeiträume für die Gesundheit der Arbeitnehmer nachteilig sind“, und „die Dauer der Nachtarbeit … einzuschränken [ist]“, wird im neunten Erwägungsgrund festgestellt, dass Nachtarbeiter vor Aufnahme der Arbeit – und danach regelmäßig – Anspruch auf eine „unentgeltliche Untersuchung ihres Gesundheitszustands“ haben und, „wenn sie gesundheitliche Schwierigkeiten haben, soweit jeweils möglich“ auf eine für sie geeignete Arbeitsstelle mit Tagarbeit versetzt werden müssen.

41      Wie die Kommission zu Recht geltend gemacht hat, besteht der Zweck der Maßnahmen zur Untersuchung des Gesundheitszustands gemäß Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2003/88 somit darin, in Anbetracht des anspruchsvolleren Charakters der Nachtarbeit und der mit ihr verbundenen spezifischen Gesundheitsrisiken sicherzustellen, dass ein Arbeitnehmer in der Lage ist und bleibt, eine solche Arbeit zu verrichten, und dass eine etwaige Krankheit rechtzeitig diagnostiziert sowie ihre Behandlung sichergestellt und ihr Fortschreiten verhindert wird, insbesondere indem der Arbeitnehmer auf eine Arbeitsstelle mit Tagarbeit versetzt wird.

42      Anders als bei den sich aus Art. 6 Buchst. b und Art. 8 der Richtlinie 2003/88 ergebenden Anforderungen in Bezug auf die Arbeitszeit, deren Missachtung für sich genommen zu einem Schaden des betroffenen Arbeitnehmers führt, da seine Gesundheit aufgrund des Verlusts der ihm zustehenden Ruhezeit oder durch den Zwang zu übermäßigen Nachtarbeitsstunden beeinträchtigt wird, führt somit das Fehlen der vor der Aufnahme einer Nachtarbeit durchzuführenden ärztlichen Untersuchung und der nach der Aufnahme dieser Arbeit regelmäßig erfolgenden Untersuchung, die in Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie vorgesehen sind, nicht unweigerlich zu einer Beeinträchtigung der Gesundheit des betroffenen Arbeitnehmers und daher auch nicht zu einem erstattungsfähigen Schaden des Arbeitnehmers. Ob ein solcher Schaden eintritt, hängt nämlich insbesondere von dem Gesundheitszustand des einzelnen Arbeitnehmers und dessen konkreter Entwicklung ab. Insoweit ist auch darauf hinzuweisen, dass die nachts wahrgenommenen Aufgaben, wie der Gerichtshof bereits festgestellt hat, in Bezug auf Schwierigkeit und Stress unterschiedlich gelagert sein können (Urteil vom 24. Februar 2022, Glavna direktsia „Pozharna bezopasnost i zashtita na naselenieto“, C‑262/20, EU:C:2022:117, Rn. 52).

43      Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2003/88 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, wonach bei einem Verstoß des Arbeitgebers gegen die nationalen Bestimmungen, mit denen diese unionsrechtliche Vorschrift umgesetzt wird und nach denen der Gesundheitszustand von Nachtarbeitern vor Aufnahme der Arbeit und dann regelmäßig unentgeltlich untersucht wird, der Anspruch des betreffenden Nachtarbeiters auf eine Entschädigung wegen dieses Verstoßes voraussetzt, dass er den ihm daraus entstandenen Schaden nachweist.

 Zur ersten Frage

44      In Anbetracht der Antwort auf die zweite Frage und mangels eines offensichtlichen Widerspruchs zwischen Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2003/88 und der im Rahmen des Ausgangsrechtsstreits anwendbaren nationalen Regelung ist die erste Frage nicht zu prüfen.

 Kosten

45      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:

Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung

ist dahin auszulegen, dass

er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, wonach bei einem Verstoß des Arbeitgebers gegen die nationalen Bestimmungen, mit denen diese unionsrechtliche Vorschrift umgesetzt wird und nach denen der Gesundheitszustand von Nachtarbeitern vor Aufnahme der Arbeit und dann regelmäßig unentgeltlich untersucht wird, der Anspruch des Nachtarbeiters auf eine Entschädigung wegen dieses Verstoßes voraussetzt, dass er den ihm daraus entstandenen Schaden nachweist.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Französisch.