Language of document : ECLI:EU:C:2024:143

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

22. Februar 2024(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Unionsbürgerschaft – Art. 21 Abs. 1 AEUV – Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten – Art. 45 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Richtlinie 2004/38/EG – Art. 4 – Ausstellung eines Personalausweises – Voraussetzung des Wohnsitzes in dem Mitgliedstaat, der das Dokument ausstellt – Weigerung der Behörden dieses Mitgliedstaats, einem seiner Staatsangehörigen, der seinen Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat hat, einen Personalausweis auszustellen – Gleichbehandlung – Beschränkungen – Rechtfertigung“

In der Rechtssache C‑491/21

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Înalta Curte de Casaţie şi Justiţie (Oberster Kassations- und Gerichtshof, Rumänien) mit Entscheidung vom 11. Mai 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 10. August 2021, in dem Verfahren

WA

gegen

Direcţia pentru Evidenţa Persoanelor şi Administrarea Bazelor de Date din Ministerul Afacerilor Interne

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Ersten Kammer sowie der Richter T. von Danwitz, P. G. Xuereb und A. Kumin (Berichterstatter),

Generalanwalt: M. Szpunar,

Kanzler: R. Șereș, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 8. Februar 2023,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von WA, vertreten durch C. L. Popescu, Avocat,

–        der rumänischen Regierung, vertreten durch L.‑E. Baţagoi, E. Gane und A. Rotăreanu als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Biolan und E. Montaguti als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 27. April 2023

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 26 Abs. 2 AEUV, von Art. 20, Art. 21 Abs. 1 und Art. 45 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) sowie der Art. 4 bis 6 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. 2004, L 158, S. 77).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen WA, einem rumänischen Staatsangehörigen, der seine Berufstätigkeit sowohl in Frankreich als auch in Rumänien ausübt, und der Direcția pentru Evidența Persoanelor și Administrarea Bazelor de Date din Ministerul Afacerilor Interne (Direktion für das Personenregister und die Datenbankverwaltung des Innenministeriums, Rumänien) (im Folgenden: Registerdirektion) wegen der Weigerung dieser Direktion, WA einen Personalausweis auszustellen, weil er seinen Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat als Rumänien hat.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        In den Erwägungsgründen 1 bis 4 der Richtlinie 2004/38 heißt es:

„(1)      Die [Bürgerschaft der Europäischen Union] verleiht jedem Bürger der Union das elementare und persönliche Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der im Vertrag und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten.

(2)      Die Freizügigkeit von Personen stellt eine der Grundfreiheiten des Binnenmarkts dar, der einen Raum ohne Binnengrenzen umfasst, in dem diese Freiheit gemäß den Bestimmungen des Vertrags gewährleistet ist.

(3)      Die Unionsbürgerschaft sollte der grundsätzliche Status der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten sein, wenn sie ihr Recht auf Freizügigkeit und Aufenthalt wahrnehmen. Daher müssen die bestehenden Gemeinschaftsinstrumente, die Arbeitnehmer und Selbstständige sowie Studierende und andere beschäftigungslose Personen getrennt behandeln, kodifiziert und überarbeitet werden, um das Freizügigkeits- und Aufenthaltsrecht aller Unionsbürger zu vereinfachen und zu verstärken.

(4)      Um diese bereichsspezifischen und fragmentarischen Ansätze des Freizügigkeits- und Aufenthaltsrechts zu überwinden und die Ausübung dieses Rechts zu erleichtern, ist ein einziger Rechtsakt erforderlich …“

4        Art. 4 („Recht auf Ausreise“) der Richtlinie 2004/38 lautet:

„(1)      Unbeschadet der für die Kontrollen von Reisedokumenten an den nationalen Grenzen geltenden Vorschriften haben alle Unionsbürger, die einen gültigen Personalausweis oder Reisepass mit sich führen, und ihre Familienangehörigen, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und die einen gültigen Reisepass mit sich führen, das Recht, das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zu verlassen und sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben.

(2)      Für die Ausreise von Personen gemäß Absatz 1 darf weder ein Visum noch eine gleichartige Formalität verlangt werden.

(3)      Die Mitgliedstaaten stellen ihren Staatsangehörigen gemäß ihren Rechtsvorschriften einen Personalausweis oder einen Reisepass aus, der ihre Staatsangehörigkeit angibt, und verlängern diese Dokumente.

(4)      Der Reisepass muss zumindest für alle Mitgliedstaaten und die unmittelbar zwischen ihnen liegenden Durchreiseländer gelten. Sehen die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats keinen Personalausweis vor, so ist der Reisepass mit einer Gültigkeit von mindestens fünf Jahren auszustellen oder zu verlängern.“

 Rumänisches Recht

5        Art. 12 der Ordonanța de urgență a Guvernului nr. 97/2005 privind evidența, domiciliul, reședința și actele de identitate ale cetățenilor români (Dringlichkeitsverordnung Nr. 97/2005 der Regierung über das Personenregister, den [Haupt‑]Wohnsitz, den Nebenwohnsitz und die Identitätsnachweise rumänischer Staatsangehöriger) (neu veröffentlicht im Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 719 vom 12. Oktober 2011, im Folgenden: OUG Nr. 97/2005) in der auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung bestimmt:

„(1)      Ab dem Alter von 14 Jahren werden rumänischen Staatsangehörigen Identitätsnachweise ausgestellt.

(3)      Für die Zwecke der vorliegenden Dringlichkeitsverordnung ist unter einem Identitätsnachweis zu verstehen der Personalausweis, der einfache Personalausweis, der elektronische Personalausweis, der vorläufige Personalausweis und das Identitätsbuch während ihrer jeweiligen Gültigkeitsdauer.“

6        Art. 13 der OUG Nr. 97/2005 sieht vor:

„(1)      Der Identitätsnachweis bescheinigt die Identität, die rumänische Staatsangehörigkeit, die Anschrift des Wohnsitzes und gegebenenfalls die Anschrift eines Nebenwohnsitzes.

(2)      Nach der [Legea nr. 248/2005 privind regimul liberei circulații a cetățenilor români în străinătate (Gesetz Nr. 248/2005 über die Freizügigkeit rumänischer Staatsangehöriger im Ausland) (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 682 vom 29. Juli 2005)] in der später geänderten und ergänzten Fassung [(im Folgenden: Freizügigkeitsgesetz)] stellen der Personalausweis und der elektronische Personalausweis in den Mitgliedstaaten der Union Reisedokumente dar.

(3)      Mit dem elektronischen Personalausweis kann sich sein Inhaber unter den gesetzlich vorgesehenen Bedingungen in den IT‑Systemen des Innenministeriums und in den IT‑Systemen anderer öffentlicher oder privater Einrichtungen authentifizieren und die elektronische Signatur verwenden.“

7        In Art. 15 Abs. 3 der OUG Nr. 97/2005 heißt es:

„Dem Antrag auf Ausstellung eines neuen Identitätsnachweises sind nur Dokumente beizufügen, die nach dem Gesetz die Anschrift des Wohnsitzes und gegebenenfalls die Anschrift eines Nebenwohnsitzes bescheinigen, es sei denn,

a)      es wurden Änderungen der Angaben zu Vor- und Nachnamen, Geburtsdatum, Familienstand und zur rumänischen Staatsangehörigkeit vorgenommen; in diesem Fall sind auch die Dokumente vorzulegen, die diese Änderungen belegen;

b)      der Antragsteller ist Inhaber eines vorläufigen Personalausweises oder eines Identitätsbuchs; in diesem Fall sind alle in Abs. 2 genannten Dokumente vorzulegen.“

8        Art. 20 Abs. 1 Buchst. c der OUG Nr. 97/2005 bestimmt:

„Der provisorische Personalausweis wird in folgenden Fällen ausgestellt:

c)      … rumänischen Staatsbürgern mit Wohnsitz im Ausland, die vorübergehend in Rumänien wohnen.“

9        Art. 28 Abs. 1 der OUG Nr. 97/2005 sieht vor:

„(1)      Der Nachweis der Anschrift des Wohnsitzes kann erbracht werden durch

a)      im Einklang mit den Gültigkeitsvoraussetzungen des geltenden rumänischen Rechts geschlossene Rechtsakte über das Recht auf Nutzung einer Wohnung;

b)      die schriftliche Erklärung des Unterkunftgebers, einer natürlichen oder juristischen Person, über die Beherbergung zusammen mit einem der unter Buchst. a oder gegebenenfalls Buchst. d genannten Dokumente;

c)      die ehrenwörtliche Erklärung des Antragstellers mit dem Kontrollvermerk eines Polizeibeamten, mit der bestätigt wird, dass ein Wohngebäude existiert und der Antragsteller tatsächlich unter der angegebenen Anschrift wohnt, wenn es sich um eine natürliche Person handelt, die nicht in der Lage ist, die in den Buchst. a und b genannten Dokumente vorzulegen;

d)      ein von einer Behörde der örtlichen Verwaltung ausgestelltes Dokument, aus dem hervorgeht, dass der Antragsteller oder gegebenenfalls die Person, die ihn beherbergt, im [Registrul agricol (Landwirtschaftsregister)] mit einem Wohngebäude eingetragen ist;

e)      den Identitätsnachweis eines Elternteils oder seines gesetzlichen Vertreters oder die Urkunde über die Ausübung der elterlichen Verantwortung, zusammen mit, je nach Fall, einem der in den Buchst. a bis d genannten Dokumente, wenn Minderjährige die Ausstellung eines Identitätsnachweises beantragen.“

10      Art. 6 des Freizügigkeitsgesetzes bestimmt:

„(1)      Rumänische Staatsangehörige können mit folgenden Arten von Reisedokumenten ins Ausland reisen:

a)      Diplomatenpass;

b)      Dienstpass;

c)      elektronischer Diplomatenpass;

d)      elektronischer Dienstpass;

e)      einfacher Reisepass;

f)      einfacher elektronischer Reisepass;

g)      vorläufiger einfacher Reisepass;

h)      Reisetitel.

…“

11      Art. 61 Abs. 1 dieses Gesetzes sieht vor:

„Für die Zwecke dieses Gesetzes stellen gültige Personalausweise, einfache Personalausweise und elektronische Personalausweise Reisedokumente dar, mit denen rumänische Staatsangehörige in die Mitgliedstaaten der Union sowie in Drittstaaten, die sie als Reisedokumente anerkennen, reisen können.

…“

12      In Art. 171 Abs. 1 Buchst. d und Abs. 2 Buchst. b des Freizügigkeitsgesetzes heißt es:

„(1)      Der vorläufige einfache Reisepass wird rumänischen Staatsangehörigen, die die in diesem Gesetz vorgesehenen Voraussetzungen erfüllen und bei denen keiner der Fälle vorliegt, in denen das Recht, ins Ausland zu reisen, ausgesetzt ist, in den folgenden Fällen ausgestellt:

d)      wenn der Inhaber einen einfachen Reisepass oder einen einfachen elektronischen Reisepass hinterlegt hat, um ein Visum zu erhalten, und erklärt, dringend ins Ausland reisen zu müssen:

(2)      Der vorläufige einfache Reisepass wird ausgestellt:

b)      in den in Abs. 1 Buchst. b bis g angeführten Fällen innerhalb einer Frist von höchstens drei Arbeitstagen ab dem Tag der Antragstellung.“

13      Art. 34 Abs. 1, 2 und 6 des Freizügigkeitsgesetzes bestimmt:

„(1)      Ein rumänischer Staatsbürger, der seinen Wohnsitz im Ausland genommen hat, kann die Ausstellung eines einfachen elektronischen Reisepasses oder eines einfachen vorläufigen Reisepasses mit Angabe seines Wohnsitzlandes beantragen, wenn er sich in einer der folgenden Situationen befindet:

a)      Er hat ein Aufenthaltsrecht im Hoheitsgebiet des betreffenden Staates von mindestens einem Jahr erworben oder, je nach Fall, sein Aufenthaltsrecht in diesem Staat ist im Laufe eines Jahres wiederholt verlängert worden;

b)      er hat ein Aufenthaltsrecht im Hoheitsgebiet des betreffenden Staates zum Zweck der Familienzusammenführung mit einer Person, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet dieses Staates hat, erworben;

c)      er hat ein Recht auf langfristigen Aufenthalt oder, je nach Fall, ein Recht auf Daueraufenthalt im Hoheitsgebiet des betreffenden Staates erworben;

d)      er hat die Staatsangehörigkeit des betreffenden Staates erworben;

e)      er hat eine Arbeitsberechtigung erworben oder ist bei einer privaten oder öffentlichen Einrichtung mit dem Hauptzweck der Absolvierung einer Ausbildung einschließlich einer Berufsausbildung eingeschrieben.

(2)      Ein rumänischer Staatsangehöriger, der Inhaber einer Anmeldebescheinigung oder eines Dokuments ist, das seinen Aufenthalt in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union oder des Europäischen Wirtschaftsraums oder der Schweizerischen Eidgenossenschaft bescheinigt und von den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats der Europäischen Union oder des Europäischen Wirtschaftsraums oder der Schweizerischen Eidgenossenschaft ausgestellt wurde, kann die Ausstellung eines einfachen elektronischen Reisepasses oder eines einfachen vorläufigen Reisepasses beantragen, in dem dieser Staat als Land des Wohnsitzes angegeben ist.

(6)      Ein rumänischer Staatsangehöriger, der seinen Wohnsitz im Ausland genommen hat, ist, wenn ihm ein einfacher elektronischer Reisepass oder ein einfacher vorläufiger Reisepass ausgehändigt wird, in dem das Land des Wohnsitzes angegeben ist, verpflichtet, den von den rumänischen Behörden ausgestellten Identitätsnachweis, der das Vorliegen eines Wohnsitzes in Rumänien bescheinigt, zurückzugeben.“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

14      Der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens ist ein Rechtsanwalt mit rumänischer Staatsangehörigkeit, der seine Berufstätigkeit sowohl in Frankreich als auch in Rumänien ausübt und seit 2014 in Frankreich wohnhaft ist.

15      Die rumänischen Behörden haben ihm einen einfachen elektronischen Reisepass ausgestellt, in dem vermerkt ist, dass er seinen Wohnsitz in Frankreich hat. Da sich sein Privat- und sein Berufsleben sowohl in Frankreich als auch in Rumänien abspielt, begründet er auch jährlich einen Nebenwohnsitz in Rumänien und erhält deshalb einen vorläufigen Personalausweis. Diese Ausweiskategorie stellt jedoch kein Dokument dar, mit dem er ins Ausland reisen kann.

16      Am 17. September 2017 beantragte der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens bei der Registerdirektion die Ausstellung eines Personalausweises oder eines elektronischen Personalausweises. Dieser Antrag wurde mit der Begründung abgelehnt, dass er seinen Hauptwohnsitz nicht in Rumänien habe.

17      Am 18. Dezember 2017 erhob der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens Verwaltungsklage bei der Curtea de Apel București (Berufungsgericht Bukarest, Rumänien), mit der er begehrte, die Registerdirektion zur Ausstellung des von ihm gewünschten Dokuments zu verpflichten.

18      Mit Urteil vom 28. März 2018 wies dieses Gericht die Klage als unbegründet ab und führte zur Begründung aus, dass die ablehnende Entscheidung der Registerdirektion nach rumänischem Recht begründet sei, das vorsehe, dass Personalausweise nur rumänischen Staatsangehörigen mit Hauptwohnsitz in Rumänien ausgestellt würden. Das rumänische Recht verstoße nicht gegen das Unionsrecht, da die Richtlinie 2004/38 die Mitgliedstaaten nicht verpflichte, ihren eigenen Staatsangehörigen Personalausweise auszustellen. Außerdem sei der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens nicht diskriminiert worden, da ihm die rumänischen Behörden einen einfachen elektronischen Reisepass, ein Reisedokument, ausgestellt hätten, mit dem er ins Ausland reisen könne.

19      Da der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens der Ansicht war, dass das Urteil der Curtea de Apel București (Berufungsgericht Bukarest) gegen mehrere Bestimmungen des AEU-Vertrags, der Charta und der Richtlinie 2004/38 verstoße, legte er bei der Înalta Curte de Casație și Justiție (Oberster Kassations- und Gerichtshof, Rumänien), dem vorlegenden Gericht, ein Rechtsmittel ein.

20      Dieses Gericht hegt Zweifel, ob die Weigerung, dem Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens unter den Umständen des bei ihm anhängigen Verfahrens einen Personalausweis auszustellen, mit dem Unionsrecht vereinbar ist.

21      Dazu weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass die Richtlinie 2004/38 bezwecke, die von den Mitgliedstaaten für die Einreise in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats geforderten Voraussetzungen zu vereinheitlichen. Die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung führe aber zu einer restriktiven Anwendung von Art. 4 Abs. 3 dieser Richtlinie, der vorsehe, dass die Mitgliedstaaten ihren Bürgern nach Maßgabe ihrer Rechtsvorschriften Personalausweise oder Reisepässe ausstellten. Zudem könnte das Kriterium des Wohnsitzes als Voraussetzung für die Ausstellung eines Personalausweises eine diskriminierende Behandlung ermöglichen, die, um nach dem Unionsrecht gerechtfertigt zu sein, auf objektiven Gründen beruhen müsste, die von der Staatsangehörigkeit der Betroffenen unabhängig seien und in einem angemessenen Verhältnis zu dem mit dem nationalen Recht rechtmäßig verfolgten Ziel stünden. Schließlich habe die Registerdirektion im vorliegenden Fall nicht angegeben, welche objektive Erwägung des Allgemeininteresses die unterschiedliche Behandlung, die sich darin äußere, dass rumänischen Staatsangehörigen mit Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat der Union das Recht verweigert werde, über einen nationalen Personalausweis zu verfügen, rechtfertigen könne. Das vorlegende Gericht führt aus, es habe keine solche Rechtfertigung erkennen können.

22      Unter diesen Umständen hat die Înalta Curte de Casație și Justiție (Oberster Kassations- und Gerichtshof) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Sind Art. 26 Abs. 2 AEUV, Art. 20, Art. 21 Abs. 1 und Art. 45 Abs. 1 der Charta sowie die Art. 4 bis 6 der Richtlinie 2004/38 dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die es nicht gestattet, einem Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats einen als Reisedokument innerhalb der Europäischen Union geltenden Personalausweis auszustellen, wenn dieser Staatsangehörige seinen Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat genommen hat?

 Zur Vorlagefrage

23      Nach ständiger Rechtsprechung ist es im Rahmen des durch Art. 267 AEUV eingeführten Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof Aufgabe des Gerichtshofs, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei diesem anhängigen Rechtsstreits sachdienliche Antwort zu geben. So gesehen kann der Gerichtshof veranlasst sein, unionsrechtliche Vorschriften zu berücksichtigen, die das nationale Gericht in seiner Frage nicht angeführt hat. Der Umstand, dass ein nationales Gericht eine Vorlagefrage ihrer Form nach unter Bezugnahme auf bestimmte Vorschriften des Unionsrechts formuliert hat, hindert den Gerichtshof nämlich nicht daran, diesem Gericht alle Auslegungshinweise zu geben, die ihm bei der Entscheidung über die bei ihm anhängige Rechtssache von Nutzen sein können, und zwar unabhängig davon, ob es bei der Formulierung seiner Fragen darauf Bezug genommen hat oder nicht. Der Gerichtshof hat insoweit aus allem, was das einzelstaatliche Gericht vorgelegt hat, insbesondere aus der Begründung der Vorlageentscheidung, diejenigen Elemente des Unionsrechts herauszuarbeiten, die unter Berücksichtigung des Gegenstands des Rechtsstreits einer Auslegung bedürfen (Urteil vom 5. Dezember 2023, Nordic Info, C‑128/22, EU:C:2023:951, Rn. 99 und die dort angeführte Rechtsprechung).

24      Im vorliegenden Fall steht fest, dass die Lage des Rechtsmittelführers des Ausgangsverfahrens in den Anwendungsbereich des Unionsrechts und insbesondere der Regeln fällt, die die Ausübung des Freizügigkeits- und Aufenthaltsrechts betreffen.

25      In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass Art. 20 AEUV jeder Person, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt, den Status eines Unionsbürgers verleiht, der nach ständiger Rechtsprechung dazu bestimmt ist, der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein (Urteil vom 9. Juni 2022, Préfet du Gers und Institut national de la statistique et des études économiques, C‑673/20, EU:C:2022:449, Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung).

26      Zudem kann sich ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats, der in seiner Eigenschaft als Unionsbürger von seinem Recht, sich in einem anderen Mitgliedstaat als seinem Herkunftsmitgliedstaat frei zu bewegen und aufzuhalten, Gebrauch gemacht hat, auf die mit dieser Eigenschaft verbundenen Rechte, insbesondere die in Art. 21 Abs. 1 AEUV vorgesehenen, berufen, und zwar gegebenenfalls auch gegenüber seinem Herkunftsmitgliedstaat (Urteil vom 14. Dezember 2021, Stolichna obshtina, rayon „Pancharevo“, C‑490/20, EU:C:2021:1008, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).

27      Der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens kann sich daher auf die durch diese Bestimmungen verliehenen Rechte, gemäß Art. 21 Abs. 1 AEUV vorbehaltlich der in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen, berufen. Solche Beschränkungen und Bedingungen sind in der Richtlinie 2004/38 vorgesehen, die u. a. die Bedingungen für die Ausübung dieser Rechte und deren Beschränkungen festlegen soll.

28      Unter diesen Umständen ist, ohne dass über die Auslegung von Art. 26 AEUV, Art. 20 und Art. 21 Abs. 1 der Charta sowie der Art. 5 und 6 der Richtlinie 2004/38 entschieden zu werden braucht, davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen möchte, ob Art. 21 AEUV und Art. 45 Abs. 1 der Charta in Verbindung mit Art. 4 der Richtlinie 2004/38 dahin auszulegen sind, dass sie Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats entgegenstehen, wonach einem Unionsbürger, der Staatsangehöriger dieses Mitgliedstaats ist und von seinem Recht, sich in einem anderen Mitgliedstaat frei zu bewegen und aufzuhalten, Gebrauch gemacht hat, die Ausstellung eines innerhalb der Union als Reisedokument geltenden Personalausweises allein deshalb verweigert wird, weil er seinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet dieses anderen Mitgliedstaats begründet hat.

29      Vorab ist darauf hinzuweisen, dass aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervorgeht, dass der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens seinen Wohnsitz seit 2014 in Frankreich hat und seine beruflichen Tätigkeiten als Rechtsanwalt sowohl in Frankreich als auch in Rumänien ausübt. Die rumänischen Behörden stellten ihm einen einfachen elektronischen Reisepass, in dem vermerkt ist, dass er seinen Wohnsitz in Frankreich hat, sowie einen vorläufigen Personalausweis aus.

30      Bei Letzterem handelt es sich nicht um ein Reisedokument. Er wird rumänischen Staatsangehörigen mit Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat erteilt, die vorübergehend in Rumänien wohnen, und ist jährlich zu erneuern. Der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens beantragte bei der Registerdirektion die Ausstellung eines einfachen oder elektronischen Personalausweises, der ein Reisedokument darstellt, das es ihm ermöglicht hätte, nach Frankreich zu reisen. Dieser Antrag wurde im Wesentlichen mit der Begründung abgelehnt, dass die Rechtsvorschriften die Ausstellung dieses Personalausweises bei einem Wohnsitz im Ausland nicht vorsähen, was im Übrigen nicht gegen Unionsrecht verstoße.

31      Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten geht hervor, dass alle rumänischen Staatsangehörigen unabhängig von ihrem Wohnsitz nach Art. 6 Abs. 1 Buchst. f und g sowie Art. 34 Abs. 1 und 2 des Freizügigkeitsgesetzes Anspruch auf Ausstellung eines Reisepasses haben. Außerdem haben rumänische Staatsangehörige mit Wohnsitz in Rumänien ab dem Alter von 14 Jahren gemäß Art. 12 Abs. 1 und 3 der OUG Nr. 97/2005 in Verbindung mit Art. 61 Abs. 1 des Freizügigkeitsgesetzes das Recht auf Ausstellung eines als Reisedokument geltenden einfachen oder elektronischen Personalausweises.

32      Hingegen haben rumänische Staatsangehörige mit Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat keinen Anspruch auf Ausstellung dieser Personalausweise. Hierzu führt das vorlegende Gericht aus, dass solche Staatsangehörige nach Art. 34 Abs. 6 des Freizügigkeitsgesetzes verpflichtet seien, das Identitätsdokument, das als Reisedokument gelte und einen Wohnsitz in Rumänien belege, zurückzugeben, wenn sie sich einen Reisepass ausstellen ließen, in dem der Mitgliedstaat ihres Wohnsitzes angegeben sei. Wenn sie sich jedoch vorübergehend in Rumänien aufhielten, werde ihnen ein vorläufiger Personalausweis ausgestellt, der nach Art. 12 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 13 Abs. 2 der OUG Nr. 97/2005 nicht als Reisedokument gelte.

33      Daraus folgt, dass die rumänischen Rechtsvorschriften über die Ausstellung von Reisedokumenten eine Ungleichbehandlung zwischen rumänischen Staatsangehörigen, die einen Wohnsitz im Ausland – auch in einem anderen Mitgliedstaat – haben, und solchen mit Wohnsitz in Rumänien vornehmen, da Letzteren ein oder zwei Reisedokumente ausgestellt werden können, die es ihnen ermöglichen, sich innerhalb der Union zu bewegen, nämlich ein Personalausweis und ein Reisepass, während Ersteren nur ein Reisepass als Reisedokument ausgestellt werden kann.

34      Daher ist zu ermitteln, ob eine solche Ungleichbehandlung gegen Art. 21 AEUV, Art. 45 Abs. 1 der Charta und Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 verstößt.

35      Um ihren Staatsangehörigen die Ausübung des Rechts, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zu ermöglichen, verpflichtet Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 die Mitgliedstaaten, ihren Staatsangehörigen gemäß ihren Rechtsvorschriften einen Personalausweis oder einen Reisepass auszustellen oder zu verlängern, der ihre Staatsangehörigkeit angibt.

36      Wie der Generalanwalt in Nr. 35 seiner Schlussanträge ausführt, geht aus dem Wortlaut dieser Bestimmung und insbesondere aus der Entscheidung des Unionsgesetzgebers, die nebenordnende disjunktive Konjunktion „oder“ zu verwenden, klar hervor, dass diese Bestimmung den Mitgliedstaaten die Wahl der Art des Reisedokuments, das sie ihren eigenen Staatsangehörigen ausstellen müssen, d. h. einen Personalausweis oder einen Reisepass, überlässt.

37      Wie aus den Erwägungsgründen 1 bis 4 der Richtlinie 2004/38 hervorgeht, soll diese Richtlinie aber die Ausübung des den Unionsbürgern unmittelbar aus Art. 21 Abs. 1 AEUV erwachsenden elementaren und persönlichen Rechts, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, erleichtern und bezweckt insbesondere, dieses Recht zu stärken (Urteil vom 11. April 2019, Tarola, C‑483/17, EU:C:2019:309, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).

38      Außerdem sind die Mitgliedstaaten beim gegenwärtigen Stand des Unionsrechts zwar für die Ausstellung von Personalausweisen zuständig, doch ist darauf hinzuweisen, dass sie diese Befugnis unter Beachtung des Unionsrechts und insbesondere der Vertragsbestimmungen über das durch Art. 21 Abs. 1 AEUV jedem Unionsbürger zuerkannte Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, ausüben müssen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2021, A [Grenzüberschreitung mit einem Vergnügungsboot], C‑35/20, EU:C:2021:813, Rn. 53 und 57).

39      Infolgedessen kann Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38, auch wenn es zutrifft, dass, wie der Generalanwalt in Nr. 40 seiner Schlussanträge ausführt, diese Bestimmung die Mitgliedstaaten nicht verpflichtet, ihren Staatsangehörigen zwei Identitätsdokumente, die als Reisedokumente gelten, auszustellen, sondern den Mitgliedstaaten vielmehr die Wahl lässt, ihnen entweder einen Personalausweis oder einen Reisepass auszustellen, im Licht von Art. 21 AEUV den Mitgliedstaaten jedoch nicht erlauben, diese Wahl dadurch zu treffen, dass sie diejenigen ihrer Staatsangehörigen, die ihr Recht auf Freizügigkeit und Aufenthalt innerhalb der Union ausgeübt haben, weniger günstig behandelt und dieses Recht beschränkt, ohne dass dies durch objektive Erwägungen des Allgemeininteresses gerechtfertigt wäre.

40      Im vorliegenden Fall müssen rumänische Staatsangehörige, die in anderen Mitgliedstaaten wohnen und sowohl einen Reisepass als auch einen (einfachen oder elektronischen) Personalausweis erhalten möchten, ihren Wohnsitz in Rumänien begründet haben. Insoweit geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass der Nachweis der Anschrift des Wohnsitzes u. a. durch eine Eigentumsurkunde, einen Mietvertrag oder eine Unterbringungsbescheinigung erbracht wird, was bedeutet, dass diese Staatsangehörigen Eigentümer, Mieter oder beherbergte Bewohner einer Unterkunft in Rumänien sein müssen. Ein solches Erfordernis führt aber zu einer weniger günstigen Behandlung dieser Staatsangehörigen aufgrund der Ausübung ihres Rechts auf Freizügigkeit, da sie somit einen Wohnsitz in Rumänien behalten müssen, um zwei Reisedokumente erhalten zu können, was eine Bedingung darstellt, die rumänische Staatsangehörige, die von dem Freizügigkeitsrecht keinen Gebrauch gemacht haben, leichter erfüllen.

41      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs stellt eine nationale Regelung, durch die bestimmte Angehörige eines Mitgliedstaats allein deswegen benachteiligt werden, weil sie von ihrer Freiheit, sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben und sich dort aufzuhalten, Gebrauch gemacht haben, eine Beschränkung der Freiheiten dar, die Art. 21 Abs. 1 AEUV jedem Unionsbürger zuerkennt (Urteil vom 19. November 2020, ZW, C‑454/19, EU:C:2020:947, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).

42      Außerdem hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass die vom Vertrag auf dem Gebiet der Freizügigkeit der Unionsbürger gewährten Erleichterungen nicht ihre volle Wirkung entfalten könnten, wenn ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats wegen einer Regelung seines Herkunftsstaats, die ihn allein deshalb weniger günstig stellt, weil er von diesen Erleichterungen Gebrauch gemacht hat, von ihrer Wahrnehmung durch Hindernisse, die auf seinen Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat zurückzuführen sind, abgehalten werden könnte (Urteil vom 25. Juli 2018, A [Hilfe für eine schwerbehinderte Person], C‑679/16, EU:C:2018:601, Rn. 61 und die dort angeführte Rechtsprechung).

43      Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rechtsvorschriften, indem sie dem Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens die Ausstellung eines als Reisedokument geltenden Personalausweises allein deshalb verweigern, weil er seinen Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat, nämlich Frankreich, begründet hat, geeignet sind, rumänische Staatsangehörige, die sich in einer Situation wie derjenigen des Rechtsmittelführers befinden, davon abzuhalten, von ihrem Recht, sich innerhalb der Union frei zu bewegen und aufzuhalten, Gebrauch zu machen.

44      Wie der Generalanwalt in Nr. 55 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausführt, kann entgegen dem Vorbringen der rumänischen Regierung die Ausübung des Rechts rumänischer Staatsangehöriger auf Freizügigkeit durch die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rechtsvorschriften behindert werden, auch wenn diese Staatsangehörigen mit Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat Inhaber eines Reisepasses sind.

45      Dazu geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten und den Antworten auf die in der mündlichen Verhandlung gestellten Fragen hervor, dass der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens während eines Zeitraums von zwölf Tagen nicht nach Frankreich reisen konnte, da er keinen als Reisedokument geltenden Personalausweis besaß, während sich sein Reisepass zwecks Erlangung eines Visums in der Botschaft eines Drittstaats in Bukarest (Rumänien) befand. Ein rumänischer Staatsangehöriger mit (Haupt‑)Wohnsitz in Rumänien hätte aber in einem solchen Fall mit seinem Personalausweis in einen anderen Mitgliedstaat reisen können. Die rumänische Regierung macht insoweit geltend, dass in einer Situation wie der vom Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens angesprochenen innerhalb von drei Werktagen nach der Stellung eines entsprechenden Antrags ein vorläufiger Reisepass ausgestellt werde. Ein solches Dokument solle gewährleisten, dass rumänische Staatsangehörige unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens unabhängig von ihrem Wohnsitz ihr Recht auf Freizügigkeit schnell und ungehindert ausüben könnten. Der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens hat jedoch in der mündlichen Verhandlung geltend gemacht, dass es in Zeiten großen Andrangs einen Monat dauere, um einen Termin zu erhalten und einen Antrag auf einen vorläufigen Reisepass stellen zu können.

46      Jedenfalls müssen die rumänischen Staatsangehörigen, die sich in einer Situation wie der des Rechtsmittelführers des Ausgangsverfahrens befinden, in Bezug auf das Verfahren zur Ausstellung von Personalausweisen und/oder Reisepässen einen höheren Verwaltungsaufwand hinnehmen als rumänische Staatsbürger mit Wohnsitz in Rumänien, was Hindernisse für ihr Recht, sich innerhalb der Union frei zu bewegen und aufzuhalten, schafft.

47      Es ist auch darauf hinzuweisen, dass, wie die Europäische Kommission geltend macht, Unionsbürger, die dieses Recht ausüben, im Allgemeinen Interessen in verschiedenen Mitgliedstaaten haben und daher ein gewisses Maß an Mobilität zwischen diesen erkennen lassen. Es ist daher wahrscheinlich, dass diese Personen jederzeit ein gültiges Reisedokument benötigen, da sich der Besitz eines zweiten Reisedokuments dieser Art für sie als erforderlich oder sogar unerlässlich erweisen kann.

48      Nach alledem stellen die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rechtsvorschriften eine Beschränkung des in Art. 21 Abs. 1 AEUV vorgesehenen Rechts, sich innerhalb der Union frei zu bewegen und aufzuhalten, dar.

49      Was Art. 45 der Charta betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass er in seinem Abs. 1 den Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern das Recht garantiert, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, ein Recht, das nach den Erläuterungen zur Charta der Grundrechte (ABl. 2007, C 303, S. 17) dem in Art. 20 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. a AEUV garantierten Recht entspricht und gemäß Art. 20 Abs. 2 Unterabs. 2 AEUV und Art. 52 Abs. 2 der Charta unter den Bedingungen und innerhalb der Grenzen ausgeübt wird, die in den Verträgen und durch die in Anwendung der Verträge erlassenen Maßnahmen festgelegt sind.

50      Dazu ist festzustellen, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs eine nationale Maßnahme, die geeignet ist, die Ausübung der Freizügigkeit zu behindern, nur dann gerechtfertigt sein kann, wenn sie mit den durch die Charta verbürgten Grundrechten vereinbar ist, deren Beachtung der Gerichtshof sichert (Urteil vom 21. Juni 2022, Ligue des droits humains, C‑817/19, EU:C:2022:491, Rn. 281 und die dort angeführte Rechtsprechung). Demnach würde jede Beschränkung der in Art. 21 Abs. 1 AEUV vorgesehenen Rechte zwangsläufig gegen Art. 45 Abs. 1 der Charta verstoßen, da das in der Charta verankerte Recht jedes Unionsbürgers, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, das durch Art. 21 Abs. 1 AEUV gewährte Recht widerspiegelt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Juni 2022, Ligue des droits humains, C‑817/19, EU:C:2022:491, Rn. 275).

51      Da bereits in Rn. 48 des vorliegenden Urteils eine Beschränkung des in Art. 21 Abs. 1 AEUV vorgesehenen Rechts festgestellt worden ist, ist eine solche Beschränkung auch in Bezug auf das in Art. 45 Abs. 1 der Charta garantierte Recht festzustellen.

52      Eine Beschränkung, wie sie in Rn. 48 des vorliegenden Urteils festgestellt wurde, lässt sich unionsrechtlich nur rechtfertigen, wenn sie auf objektiven, von der Staatsangehörigkeit der Betroffenen unabhängigen Erwägungen des Allgemeininteresses beruht und in angemessenem Verhältnis zu dem mit dem nationalen Recht legitimerweise verfolgten Ziel steht. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist eine Maßnahme verhältnismäßig, wenn sie zur Erreichung des verfolgten Ziels geeignet ist und nicht über das hinausgeht, was dazu notwendig ist (Urteil vom 25. Juli 2018, A [Hilfe für eine schwerbehinderte Person], C‑679/16, EU:C:2018:601, Rn. 67 und die dort angeführte Rechtsprechung).

53      Das vorlegende Gericht hat aber keine objektiven Erwägungen des Allgemeininteresses angeführt, die die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rechtsvorschriften begründen könnten.

54      Dagegen hat die rumänische Regierung sowohl in ihren schriftlichen Erklärungen als auch in der mündlichen Verhandlung geltend gemacht, dass die Weigerung, rumänischen Staatsangehörigen mit Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat einen als Reisedokument geltenden nationalen Personalausweis auszustellen, u. a. dadurch gerechtfertigt sei, dass es nicht möglich sei, die Anschrift des Wohnsitzes dieser Staatsangehörigen außerhalb Rumäniens in den Personalausweis einzutragen.

55      Dazu führt sie zunächst aus, dass nach Art. 91 Abs. 1 des Codul civil (Zivilgesetzbuch) der Nachweis des Wohnsitzes und eines Nebenwohnsitzes durch die Angaben im Personalausweis erbracht werde, der daher in erster Linie dazu diene, dieses wesentliche Element der Identität rumänischer Staatsangehöriger nachzuweisen, damit sie ihre Rechte ausüben und ihren Pflichten, insbesondere in Zivil- und Verwaltungsangelegenheiten, nachkommen könnten. Sodann sei die Angabe der Anschrift des Wohnsitzes auf dem Personalausweis geeignet, die Identifizierung dieser Staatsangehörigen effizienter zu machen und eine übermäßige Verarbeitung ihrer personenbezogenen Daten zu verhindern. Schließlich könnten die rumänischen Behörden selbst dann, wenn die Anschrift des Wohnsitzes eines rumänischen Staatsangehörigen in einem anderen Mitgliedstaat auf seinem Personalausweis angegeben sei, nicht die Verantwortung übernehmen, sie zu bestätigen, da sie – abgesehen davon, dass sie dafür nicht zuständig seien – nicht über die Mittel verfügten, diese Anschrift zu überprüfen, ohne dass eine solche Überprüfung zu einem unverhältnismäßigen Verwaltungsaufwand führe oder gar unmöglich werde.

56      Nach dem Vorbringen der rumänischen Regierung ist nicht davon auszugehen, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung auf objektiven Erwägungen des Allgemeininteresses im Sinne der in Rn. 52 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung des Gerichtshofs beruht.

57      Was den Beweiswert der auf dem Personalausweis angegebenen Information über die Anschrift des Wohnsitzes betrifft, hat die rumänische Regierung den Zusammenhang zwischen der Angabe einer solchen Anschrift auf diesem Dokument, die für die Verwaltung zweifellos von Nutzen ist, und der Verpflichtung, rumänischen Staatsangehörigen, die ihren Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat haben, die Ausstellung eines Personalausweises zu verweigern, nicht dargetan.

58      Außerdem genügt die Feststellung, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs Erwägungen administrativer Art es nicht rechtfertigen können, dass ein Mitgliedstaat von den Vorschriften des Unionsrechts abweicht. Dies gilt erst recht, wenn diese Abweichung darauf hinausläuft, die Ausübung einer der durch den Vertrag garantierten Grundfreiheiten einzuschränken oder sogar auszuschließen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. November 1999, Arblade u. a., C‑369/96 und C‑376/96, EU:C:1999:575, Rn. 37). Daher stellt auch die Wirksamkeit der Feststellung und Kontrolle der Anschrift des Wohnsitzes rumänischer Staatsangehöriger, die ihren Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat haben, keine objektive Erwägung des Allgemeininteresses dar, die Rechtsvorschriften wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden rechtfertigen könnte.

59      Diese Erwägung wird nicht durch die von der rumänischen Regierung angeführte Rechtsprechung entkräftet, wonach den Mitgliedstaaten nicht die Möglichkeit abgesprochen werden kann, legitime Ziele durch die Einführung von Vorschriften zu verfolgen, die von den zuständigen Behörden einfach gehandhabt und kontrolliert werden können (Urteil vom 24. Februar 2015, Sopora, C‑512/13, EU:C:2015:108, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung). Eine solche Erwägung setzt nämlich das Vorliegen eines legitimen Ziels voraus, was die rumänische Regierung im vorliegenden Fall nicht nachweisen konnte.

60      Aus diesen Erwägungen ergibt sich, dass Rechtsvorschriften wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden eine Beschränkung der Freiheit, sich innerhalb der Union frei zu bewegen und aufzuhalten, im Sinne von Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 in Verbindung mit Art. 21 Abs. 1 AEUV und Art. 45 Abs. 1 der Charta in Bezug auf rumänische Staatsangehörige mit Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat darstellen, die weder durch die Notwendigkeit, der im Personalausweis angegebenen Anschrift des Wohnsitzes Beweiskraft zu verleihen, noch durch die Wirksamkeit der Feststellung und Kontrolle dieser Anschrift durch die zuständige nationale Behörde gerechtfertigt werden kann.

61      Nach alledem sind Art. 21 AEUV und Art. 45 Abs. 1 der Charta in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 dahin auszulegen, dass sie Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats entgegenstehen, wonach einem Unionsbürger, der Staatsangehöriger dieses Mitgliedstaats ist und von seinem Recht, sich in einem anderen Mitgliedstaat frei zu bewegen und aufzuhalten, Gebrauch gemacht hat, die Ausstellung eines innerhalb der Union als Reisedokument geltenden Personalausweises allein deshalb verweigert wird, weil er seinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet dieses anderen Mitgliedstaats begründet hat.

 Kosten

62      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreits; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

Art. 21 AEUV und Art. 45 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG

sind dahin auszulegen, dass

sie Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats entgegenstehen, wonach einem Unionsbürger, der Staatsangehöriger dieses Mitgliedstaats ist und von seinem Recht, sich in einem anderen Mitgliedstaat frei zu bewegen und aufzuhalten, Gebrauch gemacht hat, die Ausstellung eines innerhalb der Union als Reisedokument geltenden Personalausweises allein deshalb verweigert wird, weil er seinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet dieses anderen Mitgliedstaats begründet hat.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Rumänisch.