Language of document : ECLI:EU:T:2020:294

URTEIL DES GERICHTS (Vierte Kammer)

25. Juni 2020(*)

„Zugang zu Dokumenten – Beschluss der EZB, die Banca Carige SpA unter vorläufige Verwaltung zu stellen – Verweigerung des Zugangs – Versäumnisverfahren“

In der Rechtssache T‑552/19,

Malacalza Investimenti Srl mit Sitz in Genua (Italien), Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte P. Ghiglione, E. De Giorgi und L. Amicarelli,

Klägerin,

gegen

Europäische Zentralbank (EZB), vertreten durch F. von Lindeiner und M. Van Hoecke als Bevollmächtigte im Beistand von D. Sarmiento Ramírez-Escudero, Rechtsanwalt,

Beklagte,

betreffend eine Klage nach Art. 263 AEUV auf Nichtigerklärung des Beschlusses LS/LdG/19/185 der EZB vom 12. Juni 2019, mit dem der Zugang zu mehreren Dokumenten zu dem Beschluss ECB‑SSM‑2019‑ITCAR‑11 des EZB-Rates vom 1. Januar 2019, die Banca Carige SpA unter vorläufige Verwaltung zu stellen, verweigert wurde,

erlässt

DAS GERICHT (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten S. Gervasoni sowie der Richter P. Nihoul (Berichterstatter) und J. Martín y Pérez de Nanclares,

Kanzler: E. Coulon,

folgendes

Urteil

 Sachverhalt

1        Die Klägerin, Malacalza Investimenti Srl, ist eine Gesellschaft italienischen Rechts. Sie ist Hauptaktionärin der Banca Carige SpA, an der sie unmittelbar 27,555 % des Kapitals hält.

2        Am 20. September 2018 wurde der Verwaltungsrat der Banca Carige von der Hauptversammlung der Aktionäre neu besetzt. Aufgrund ihrer Beteiligung an der genannten Gesellschaft ernannte die Klägerin die Mehrheit der Verwaltungsratsmitglieder.

3        Nach einer neuen Hauptversammlung der Banca Carige, auf der eine Erhöhung des Gesellschaftskapitals in Höhe von 400 Millionen Euro abgelehnt wurde, traten am 22. Dezember 2018 mehrere Verwaltungsratsmitglieder zurück.

4        Mit Beschluss vom 1. Januar 2019 (im Folgenden: Beschluss vom 1. Januar 2019) stellte die Europäische Zentralbank (EZB) die Banca Carige unter Anwendung der italienischen Regelung zur Umsetzung von Art. 29 der Richtlinie 2014/59/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014 zur Festlegung eines Rahmens für die Sanierung und Abwicklung von Kreditinstituten und Wertpapierfirmen und zur Änderung der Richtlinie 82/891/EWG des Rates, der Richtlinien 2001/24/EG, 2002/47/EG, 2004/25/EG, 2005/56/EG, 2007/36/EG, 2011/35/EU, 2012/30/EU und 2013/36/EU sowie der Verordnungen (EU) Nr. 1093/2010 und (EU) Nr. 648/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates (ABl. 2014, L 173, S. 190) unter vorläufige Verwaltung. Sie ordnete daher die Auflösung der Verwaltungs- und Aufsichtsorgane der genannten Gesellschaft an und ernannte drei vorläufige Verwalter sowie einen aus drei Mitgliedern bestehenden Aufsichtsrat.

5        Der Beschluss vom 1. Januar 2019 wurde nicht veröffentlicht, und die Gründe, auf denen er beruht, sind der Klägerin nicht bekannt. Die einzige Form der Bekanntmachung, die die EZB wählte, ist eine Pressemitteilung vom 2. Januar 2019, in der die Namen der vorläufigen Verwalter der Banca Carige und der Mitglieder des Aufsichtsrats der genannten Gesellschaft mitgeteilt und allgemein der Begriff des vorläufigen Verwalters sowie die Aufgaben der vorläufigen Verwalter beschrieben wurden.

6        Am 15. Januar 2019 stellte die Klägerin bei der EZB einen Antrag auf Zugang gemäß Art. 6 des Beschlusses 2004/258/EG der EZB vom 4. März 2004 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten der Europäischen Zentralbank (ABl. 2004, L 80, S. 42). Dieser Antrag erstreckte sich auf

–        den Beschluss vom 1. Januar 2019 und seine Anhänge;

–        die Dokumente, die sich auf den Zeitraum vom 30. November 2018 bis zum 2. Januar 2019 beziehen und die die übrigen Beschlüsse der EZB gegenüber der Banca Carige enthalten, einschließlich des Entwurfs eines Beschlusses über den Plan für die Umwandlung von Eigenkapital mit seinen Tabellen und Anhängen, die Mitteilungen zwischen der EZB und dem Verwaltungsrat der genannten Gesellschaft oder einem oder mehreren seiner Mitglieder sowie die Protokolle der Treffen der EZB mit dem Verwaltungsrat der genannten Gesellschaft oder einem oder mehreren seiner Mitglieder.

7        Am 14. Februar 2019 teilte die EZB der Klägerin mit, dass die Frist für die Beantwortung des Antrags auf Zugang zu Dokumenten gemäß Art. 7 Abs. 3 des Beschlusses 2004/258 wegen einer erhöhten Arbeitsbelastung um 20 Arbeitstage verlängert werde.

8        Am 17. Februar 2019 antwortete die Klägerin der EZB und machte geltend, die Verlängerung der Frist für die Bearbeitung ihres Antrags sei nicht mit Art. 7 Abs. 3 des Beschlusses 2004/258 vereinbar.

9        Am 19. Februar 2019 antwortete die EZB der Klägerin, dass Art. 7 Abs. 3 des Beschlusses 2004/258 herangezogen worden sei, um die Frist für die Bearbeitung des Antrags der Klägerin auf Zugang zu Dokumenten zu verlängern, da zahlreiche Anträge in Bezug auf die Banca Carige eingegangen seien und Konsultationen mit der Banca d’Italia (italienische Zentralbank) zu derselben Frage stattgefunden hätten.

10      Mit Beschluss vom 13. März 2019 lehnte die EZB den Antrag auf Zugang in vollem Umfang ab.

11      Am 8. April 2019 richtete die Klägerin nach Art. 7 Abs. 2 des Beschlusses 2004/258 einen Zweitantrag an das Direktorium der EZB, mit dem sie eine Überprüfung des Beschlusses der EZB vom 13. März 2019 begehrte. In diesem Zweitantrag schloss sie jedoch von ihrem Zugangsantrag den Plan für die Umwandlung von Eigenkapital mit seinen Tabellen und Anhängen aus, den sie zwischenzeitlich von den vorläufigen Verwaltern der Banca Carige erhalten hatte.

12      Die Klägerin wies darauf hin, dass auf der Website einer italienischen Tageszeitung in Form von Fotografien Auszüge aus einem Dokument veröffentlicht worden seien, das als Beschluss vom 1. Januar 2019 präsentiert worden sei. Sie machte geltend, dass, falls diese Fotografien tatsächlich den genannten Beschluss wiedergäben, die in ihnen abgebildeten Auszüge nicht mehr als vertraulich angesehen werden könnten, da sie, nachdem sie veröffentlicht worden seien, nunmehr dem Bereich der freien Verfügbarkeit angehörten. Die Auszüge enthielten jedenfalls keine vertraulichen Informationen, da alle darin enthaltenen Angaben in den Informationsdokumenten aufgeführt seien, die die Banca Carige gemäß den Rechtsvorschriften veröffentliche, die für die auf den geregelten Märkten notierten Kreditinstitute gälten.

13      Die Klägerin wiederholte auch ihren Antrag auf Zugang zur vollständigen Fassung der angeforderten Dokumente, hilfsweise, zu einer nicht vertraulichen Fassung, die die bereits im Internet veröffentlichten Auszüge des Beschlusses vom 1. Januar 2019 sowie die seit diesem Antrag verstrichene Zeit berücksichtige, aufgrund deren die Vertraulichkeit bestimmter Informationen nicht mehr erforderlich sei. Bezüglich der schriftlichen Mitteilungen zwischen der EZB und dem Verwaltungsrat der Banca Carige sowie bezüglich der Protokolle der Treffen dieser Beteiligten verlangte sie eine Liste der Mitteilungen und der Treffen, die Namen der Teilnehmer und eine allgemeine Beschreibung des Inhalts dieser Mitteilungen und Treffen.

14      Am 3. Mai 2019 teilte die EZB der Klägerin mit, dass sie nach Art. 8 Abs. 2 des Beschlusses 2004/258 beschlossen habe, die Frist zur Beantwortung des Zweitantrags wegen einer außergewöhnlichen Arbeitsbelastung um 20 Arbeitstage zu verlängern.

15      Mit Schreiben vom 29. Mai 2019 teilte die EZB mit, dass der neue, auf den 4. Juni 2019 festgesetzte Termin nicht eingehalten werde.

16      Am 12. Juni 2019 beschloss die EZB, den Zweitantrag in vollem Umfang abzulehnen (im Folgenden: angefochtener Beschluss). Dieser Beschluss übernimmt im Wesentlichen die Gründe, die im Beschluss der EZB vom 13. März 2019 geltend gemacht worden waren.

 Angefochtener Beschluss

17      Im angefochtenen Beschluss unterschied die EZB hinsichtlich des Zugangsantrags der Klägerin acht Dokumente, die sie in vier Kategorien untergliederte:

–        den Beschluss vom 1. Januar 2019;

–        den Plan für die Umwandlung von Eigenkapital und alle sonstigen schriftlichen Beschlüsse, die bezüglich der Banca Carige in der Zeit vom 30. November 2018 bis zum 2. Januar 2019 erlassen wurden;

–        die schriftlichen Mitteilungen, die zwischen der EZB und dem Verwaltungsrat der Banca Carige oder einem oder mehreren seiner Mitglieder im selben Zeitraum erfolgten;

–        die Protokolle der Treffen der EZB mit dem Verwaltungsrat der Banca Carige oder einem oder mehreren seiner Mitglieder, die im selben Zeitraum stattgefunden hatten.

18      Die Verweigerung des Zugangs zu dem unter die erste Kategorie fallenden Dokument, d. h. dem Beschluss vom 1. Januar 2019, wird auf die in Art. 4 Abs. 1 Buchst. c des Beschlusses vorgesehene Ausnahmeregelung gestützt, die bestimmt, dass „[d]ie EZB … den Zugang zu einem Dokument [verweigert], durch dessen Verbreitung Folgendes beeinträchtigt würde: … der Schutz der Vertraulichkeit von Informationen, die als vertrauliche Informationen durch das Unionsrecht geschützt werden“.

19      Die EZB war der Auffassung, dass Art. 4 Abs. 1 Buchst. c des Beschlusses 2004/258 eine allgemeine Vermutung der Vertraulichkeit beinhalte, die alle Unterlagen erfasse, die unter die ihr übertragene Aufsichtsaufgabe fielen.

20      Die EZB leitete das Bestehen dieser allgemeinen Vermutung für eine Vertraulichkeit daraus ab, dass der Gesetzgeber der Europäischen Union Vorschriften erlassen habe, die zum einen alle Personen, die für die Aufsichtsbehörden arbeiteten oder gearbeitet hätten, dem Berufsgeheimnis unterwürfen, und die zum anderen verlangten, dass die vertraulichen Informationen, die diese Personen in Wahrnehmung ihrer Aufgaben erhielten, nur in zusammengefasster oder allgemeiner Form verbreitet werden dürften, so dass keine Rückschlüsse auf die Kreditinstitute möglich seien. In diesem Zusammenhang verwies sie auf Art. 27 der Verordnung (EU) Nr. 1024/2013 des Rates vom 15. Oktober 2013 zur Übertragung besonderer Aufgaben im Zusammenhang mit der Aufsicht über Kreditinstitute auf die Europäische Zentralbank (ABl. 2013, L 287, S. 63), auf die Art. 53 ff. der Richtlinie 2013/36/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 über den Zugang zur Tätigkeit von Kreditinstituten und die Beaufsichtigung von Kreditinstituten und Wertpapierfirmen, zur Änderung der Richtlinie 2002/87/EG und zur Aufhebung der Richtlinien 2006/48/EG und 2006/49/EG (ABl. 2013, L 176, S. 338) sowie auf Art. 84 der Richtlinie 2014/59.

21      Unter Hinweis auf das Urteil vom 19. Juni 2018, Baumeister (C‑15/16, EU:C:2018:464, Rn. 35 bis 43), machte die EZB geltend, im Bereich der Aufsicht dürfe die Pflicht, vertrauliche Informationen zu schützen, nicht als eine Ausnahme vom allgemeinen Grundsatz der Transparenz verstanden werden, sondern als eine allgemeine, für sich bestehende Regel. Diese Regeln und die die sich aus ihnen ergebende allgemeine Vermutung der Vertraulichkeit seien die Gewähr dafür, dass die Überwachungstätigkeit effizient ausgeführt werde, da sowohl die überwachten Einrichtungen als auch die zuständigen Behörden sich darauf verlassen könnten, dass die zur Verfügung gestellten vertraulichen Informationen grundsätzlich nicht preisgegeben würden. Dieses Vertrauen sei für einen effizienten Informationsaustausch wesentlich, der wiederum entscheidend für den reibungslosen Ablauf der Überwachungstätigkeit sei.

22      Schließlich wies die EZB darauf hin, dass die oben in Rn. 20 angeführten Vorschriften die Verbreitung vertraulicher Informationen nur in bestimmten ausdrücklich vorgesehenen Fällen zuließen, die hier nicht vorlägen.

23      Für die drei anderen Kategorien von angeforderten Dokumenten beruht die Verweigerung des Zugangs auf der Ausnahme in Art. 4 Abs. 1 Buchst. c des Beschlusses 2004/258 in Verbindung mit der Ausnahme in Art. 4 Abs. 2 erster Gedankenstrich dieses Beschlusses, wonach „[d]ie EZB … den Zugang zu einem Dokument [verweigert], durch dessen Verbreitung Folgendes beeinträchtigt würde: … der Schutz der geschäftlichen Interessen einer natürlichen oder juristischen Person, einschließlich des geistigen Eigentums“.

24      In Bezug auf Art. 4 Abs. 2 erster Gedankenstrich des Beschlusses 2004/258 wies die EZB darauf hin, dass die Übermittlung der im Rahmen der fortlaufenden Überwachung der Banca Carige erlangten oder vorbereiteten Dokumente an die Klägerin die geschäftlichen Interessen dieser Gesellschaft beeinträchtigen könne, da die darin enthaltenen Informationen der Öffentlichkeit nicht bekannt seien und ein wesentliches Element der derzeitigen Marktposition der genannten Gesellschaft zum Ausdruck brächten.

25      Da die EZB ein überwiegendes öffentliches Interesse, das die Verbreitung der genannten Dokumente rechtfertigen würde, nicht festgestellt hatte, gelangte sie auch hier zum Ergebnis, dass der Antrag auf Zugang zu den genannten Dokumenten zurückzuweisen sei, ohne jedes einzelne Dokument einer konkreten und individuellen Prüfung zu unterziehen.

 Verfahren

26      Mit Klageschrift, die am 7. August 2019 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat die Klägerin die vorliegende Klage erhoben.

27      Mit gesondertem Schriftsatz, der am selben Tag bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat die Klägerin gemäß Art. 152 der Verfahrensordnung des Gerichts beantragt, über die vorliegende Klage im beschleunigten Verfahren zu entscheiden. Die Klageschrift und der Antrag auf Entscheidung im beschleunigten Verfahren sind der EZB am 20. August 2019 zugestellt worden. Die EZB hat ihre Stellungnahme zu diesem Antrag am 3. September 2019 eingereicht.

28      Mit Beschluss vom 18. September 2019 hat das Gericht (Erste Kammer) den Antrag auf Durchführung des beschleunigten Verfahrens zurückgewiesen. Der EZB ist mitgeteilt worden, dass die Frist für die Einreichung der Klagebeantwortung zuzüglich einer zehntägigen Entfernungsfrist gemäß Art. 154 Abs. 2 der Verfahrensordnung um einen Monat verlängert worden ist.

29      Im Zuge einer Änderung der Besetzung der Kammern des Gerichts ist der Berichterstatter der Vierten Kammer zugeteilt worden, der deshalb die vorliegende Rechtssache zugewiesen worden ist.

30      Die EZB hat die Klagebeantwortung am 6. November 2019 eingereicht.

31      Mit Schreiben vom 8. November 2019 hat der Kanzler des Gerichts angesichts der verspäteten Einreichung der Klagebeantwortung die Klägerin aufgefordert, sich zum Fortgang des Verfahrens zu äußern.

32      Am 20. November 2019 hat die Klägerin zum Fortgang des Verfahrens Stellung genommen und gemäß Art. 123 Abs. 1 der Verfahrensordnung Versäumnisurteil beantragt.

 Anträge der Klägerin

33      Die Klägerin beantragt,

–        den angefochtenen Beschluss für nichtig zu erklären;

–        der EZB die Kosten aufzuerlegen.

34      Die Klägerin beantragt ferner, das Gericht möge gemäß Art. 88 der Verfahrensordnung über die Vorlage der Dokumente Beweis erheben, zu denen im angefochtenen Beschluss der Zugang verweigert wurde.

 Rechtliche Würdigung

35      Stellt das Gericht fest, dass der Beklagte, gegen den ordnungsgemäß Klage erhoben ist, seine Klagebeantwortung nicht gemäß der vorgeschriebenen Frist eingereicht hat, so kann der Kläger beim Gericht gemäß Art. 123 Abs. 1 der Verfahrensordnung Versäumnisurteil beantragen.

36      Im vorliegenden Fall hat die EZB die Klagebeantwortung am 6. November 2019 eingereicht, also sieben Tage nach Ablauf der in Art. 154 Abs. 2 der Verfahrensordnung vorgesehenen Frist.

37      Die Frist für die Einreichung der Klagebeantwortung, die, wenn das Gericht dem Antrag auf Durchführung des beschleunigten Verfahrens stattgegeben hätte, am 30. September 2019 abgelaufen wäre, endete am 30. Oktober 2019, da bei der Berechnung der Frist für die Einreichung der Klagebeantwortung im Fall der Zurückweisung des Antrags auf Durchführung des beschleunigten Verfahrens die Entfernungsfrist nur einmal zur Anwendung kommt (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 7. Juni 2017, De Masi/Kommission, T‑11/16, nicht veröffentlicht, EU:T:2017:385, Rn. 17 bis 20 und 22).

38      Somit hat die EZB nicht innerhalb der vorgeschriebenen Frist auf die Klage geantwortet.

39      Da die Klägerin, wie oben in Rn. 32 festgestellt, Versäumnisurteil beantragt hat, ist Art. 123 Abs. 3 der Verfahrensordnung anzuwenden.

40      Gemäß Art. 123 Abs. 3 der Verfahrensordnung gibt das Gericht den Anträgen des Klägers mit einem Versäumnisurteil statt, es sei denn, es ist für die Entscheidung über die Klage offensichtlich unzuständig oder die Klage ist offensichtlich unzulässig oder ihr fehlt offensichtlich jede rechtliche Grundlage.

41      Erstens ist festzustellen, dass, wie aus der Klageschrift hervorgeht, die Klägerin die Nichtigerklärung eines an sie gerichteten Beschlusses des Direktoriums der EZB beantragt, mit dem die Verweigerung des Zugangs zu den von der Klägerin angeforderten Dokumenten bestätigt wird.

42      Nach Art. 263 Abs. 1 AEUV überwacht der Gerichtshof der Europäischen Union die Rechtmäßigkeit der Handlungen der Europäischen Zentralbank mit Rechtswirkung gegenüber Dritten. Nach Abs. 4 dieses Artikels kann jede juristische Person gegen die an sie gerichteten Handlungen beim Gerichtshof Klage erheben.

43      Im Übrigen bestätigt Art. 8 Abs. 1 des Beschlusses 2004/258, dass dem Antragsteller im Fall einer vollständigen oder teilweisen Zugangsverweigerung der Rechtsweg nach Art. 263 AEUV zur Verfügung steht.

44      Zudem ist das Gericht nach Art. 256 Abs. 1 Unterabs. 1 AEUV u. a. für Entscheidungen im ersten Rechtszug über die in Art. 263 AEUV genannten Klagen zuständig, mit Ausnahme derjenigen Klagen, die gemäß der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union dem Gerichtshof vorbehalten sind. Art. 51 der genannten Satzung führt die Kategorien von Klagen an, die abweichend von der in Art. 256 Abs. 1 AEUV vorgesehenen Regelung dem Gerichtshof vorbehalten sind. Es ist jedoch festzustellen, dass die vorliegende Klage keiner dieser Kategorien angehört.

45      Unter diesen Umständen ist das Gericht für die Entscheidung über die vorliegende Klage nicht offensichtlich unzuständig.

46      Zweitens ist festzustellen, dass der angefochtene Beschluss, mit dem ein von der Klägerin nach Art. 7 Abs. 2 des Beschlusses 2004/258 gestellter Zweitantrag abgelehnt wird, gegen die Klägerin gerichtet ist.

47      Nach Art. 263 Abs. 4 AEUV kann jede Person gegen die an sie gerichteten Handlungen Klage erheben. Die Klägerin ist daher klagebefugt und kann zudem ein Rechtsschutzinteresse für eine Klage gegen den angefochtenen Beschluss geltend machen (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 30. April 2001, British American Tobacco International [Holdings]/Kommission, T‑41/00, EU:T:2001:125, Rn. 20).

48      Unter diesen Umständen kann die Klage, die auch innerhalb der in Art. 263 Abs. 6 AEUV vorgesehenen Frist erhoben worden ist, nicht als offensichtlich unzulässig angesehen werden.

49      Drittens ist festzustellen, dass die Klägerin zur Stützung ihrer Klage zwei Klagegründe geltend macht, die beide jeweils aus mehreren Teilen bestehen, deren Prüfung dem Gericht nicht die Annahme erlaubt, dass die Klage offensichtlich unbegründet ist.

50      Die Klägerin stellt nämlich insbesondere im Rahmen des ersten Teils des ersten Klagegrundes in Abrede, dass es eine allgemeine, sich aus Art. 4 Abs. 1 Buchst. c des Beschlusses 2004/258 herleitende Vermutung gibt, aufgrund der die EZB die Beschlüsse, mit denen sie ein Kreditinstitut unter vorläufige Verwaltung stellt, geheim halten könnte.

51      Die Klägerin macht insoweit zu Recht geltend, dass eine solche allgemeine Vermutung der Vertraulichkeit nach Art. 4 Abs. 1 Buchst. c des Beschlusses 2004/258 von der Rechtsprechung bislang weder anerkannt noch festgestellt worden sei.

52      Die Klägerin stellt im Rahmen des zweiten Teils des zweiten Klagegrundes außerdem die Schlussfolgerungen in Frage, die die EZB im angefochtenen Beschluss aus den oben in Rn. 20 genannten Vorschriften über das Berufsgeheimnis und die Vertraulichkeit gezogen hat.

53      Unter Hinweis auf das Urteil vom 19. Juni 2018, Baumeister (C‑15/16, EU:C:2018:464, Rn. 46), führt die Klägerin aus, die oben in Rn. 20 genannten Vorschriften könnten nicht dahin ausgelegt werden, dass sie der EZB eine absolute Pflicht zur Vertraulichkeit auferlegten. Vielmehr könne nach den genannten Vorschriften in bestimmten Fällen die Übermittlung von Informationen gerechtfertigt sein.

54      Schließlich trägt die Klägerin im Rahmen des zweiten Teils des ersten Klagegrundes vor, der Beschluss vom 1. Januar 2019, der ihr nach Auffassung der EZB wegen seines sensiblen Charakters nicht mitgeteilt werden dürfe, sei Gegenstand einer – zweifellos nicht autorisierten – Veröffentlichung in Form von Auszügen gewesen, die auf der Internetseite einer italienischen Tageszeitung wiedergegeben worden seien.

55      Die Klägerin macht geltend, die Prüfung der veröffentlichten Auszüge aus dem Beschluss vom 1. Januar 2019 lasse die Feststellung zu, dass der Inhalt dieses Beschlusses nicht vertraulich sei, da er Informationen betreffe, die die Banca Carige als ein auf den geregelten Märkten notiertes Unternehmen habe veröffentlichen müssen.

56      Dieser Umstand habe nach der Rechtsprechung Auswirkungen auf die Bewertung der von einer Verbreitung ausgehenden Gefahren (Urteil vom 3. Juli 2014, Rat/in ’t Veld, C‑350/12 P, EU:C:2014:2039, Rn. 60).

57      In Anbetracht dieser Umstände können mehrere von der Klägerin geltend gemachte Rügen nicht als Rügen angesehen werden, denen offensichtlich jede rechtliche Grundlage fehlt.

58      Das Gericht stellt daher in Ansehung des Akteninhalts und im Licht der vorstehenden Erwägungen zum einen fest, dass es für die Entscheidung über die Klage nicht offensichtlich unzuständig ist, und zum anderen, dass die Klage weder offensichtlich unzulässig ist noch ihr offensichtlich jede rechtliche Grundlage fehlt.

59      Folglich ist ein Versäumnisurteil zu erlassen, ohne dass es erforderlich wäre, zuvor die beantragte Beweiserhebung anzuordnen.

 Kosten

60      Nach Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die EZB unterlegen ist, sind ihr gemäß dem Antrag der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.

Aus diesen Gründen hat

DAS GERICHT (Vierte Kammer)

für Recht erkannt und entschieden:

1.      Der Beschluss LS/LdG/19/185 der Europäischen Zentralbank (EZB) vom 12. Juni 2019, mit dem der Zugang zu mehreren Dokumenten zu dem Beschluss ECBSSM2019ITCAR11 des EZB-Rates vom 1. Januar 2019, die Banca Carige SpA unter vorläufige Verwaltung zu stellen, verweigert wurde, wird für nichtig erklärt.

2.      Die EZB trägt die Kosten.

Gervasoni

Nihoul

Martín y Pérez de Nanclares

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 25. Juni 2020.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Italienisch.