Language of document : ECLI:EU:T:2018:784

Rechtssache T219/10 RENV

World Duty Free Group, SA, vormals Autogrill España, SA

gegen

Europäische Kommission

„Staatliche Beihilfen – Bestimmungen zur Körperschaftsteuer, nach denen in Spanien steuerlich ansässige Unternehmen den Geschäfts- oder Firmenwert, der sich aus dem Erwerb von Beteiligungen an im Ausland steuerpflichtigen Unternehmen ergibt, abschreiben können – Entscheidung, mit der die Beihilfe für mit dem Binnenmarkt unvereinbar erklärt und ihre Rückforderung angeordnet wird – Begriff der staatlichen Beihilfe – Selektiver Charakter – Bezugssystem – Ausnahme – Ungleichbehandlung – Rechtfertigung der Ungleichbehandlung – Von der Maßnahme begünstigte Unternehmen –Berechtigtes Vertrauen“

Leitsätze – Urteil des Gerichts (Neunte erweiterte Kammer) vom 15. November 2018

1.      Gerichtliches Verfahren – Prüfung der Begründetheit vor Prüfung der Zulässigkeit – Zulässigkeit

2.      Staatliche Beihilfen – Begriff – Selektiver Charakter der Maßnahme – Maßnahme, die einen Steuervorteil verschafft – Referenzsystem zur Bestimmung des Vorliegens eines Vorteils – Sachliche Abgrenzung – Kriterien – Vorliegen eines Zusammenhangs zwischen dem Gegenstand der in Rede stehenden Maßnahme und dem des Referenzsystems – Vergleichbarkeit der Situationen, die unter die fragliche Maßnahme fallen, und derjenigen, die unter das Referenzsystem fallen

(Art. 107 Abs. 1 AEUV)

3.      Staatliche Beihilfen – Begriff – Selektiver Charakter der Maßnahme – Maßnahme, die einen Steuervorteil verschafft – Allgemeine Maßnahme, die unterschiedslos für alle Wirtschaftsteilnehmer gilt – Maßnahme, die auf Vorgänge keine Anwendung findet, die mit denen vergleichbar sind, die Voraussetzung für die Gewährung der Maßnahme sind – Maßnahme, die als selektiv eingestuft werden kann

(Art. 107 Abs. 1 AEUV)

4.      Staatliche Beihilfen – Begriff – Selektiver Charakter der Maßnahme – Maßnahme, die einen Steuervorteil verschafft – Referenzsystem zur Bestimmung des Vorliegens eines Vorteils – Sachliche Abgrenzung – Maßnahme, die ihr eigenes Referenzsystem bildet – Voraussetzungen – Klar abgegrenzte Steuerregelung, die spezifische Ziele verfolgt – Fehlen – Systematischer und allgemeiner Charakter der Maßnahme

(Art. 107 Abs. 1 AEUV)

5.      Staatliche Beihilfen – Begriff – Selektiver Charakter der Maßnahme – Abweichung vom allgemeinen Steuersystem – Differenzierung zwischen Unternehmen in vergleichbarer tatsächlicher und rechtlicher Lage – Beurteilungskriterien – Vergleich im Hinblick auf das mit der allgemeinen Steuerregelung in ihrer Gesamtheit verfolgte Ziel

(Art. 107 Abs. 1 AEUV)

6.      Staatliche Beihilfen – Begriff – Selektiver Charakter der Maßnahme – Abweichung vom allgemeinen Steuersystem – Rechtfertigung mit dem Wesen und der Struktur des Systems – Beurteilungskriterien – Maßnahme, die der Verwirklichung eines Ziels dient, das unter die dem allgemeinen Steuersystem inhärenten Mechanismen fällt – Angemessenheit – Umfang der Beweislast

(Art. 107 Abs. 1 AEUV; Verordnung Nr. 659/1999 des Rates)

7.      Nichtigkeitsklage – Gegenstand – Teilnichtigerklärung – Voraussetzung – Abtrennbarkeit der angefochtenen Vorschriften – Objektives Kriterium – Nichterfüllte Voraussetzung – Unzulässigkeit

(Art. 263 AEUV)

8.      Staatliche Beihilfen – Begriff – Beurteilung anhand von Art. 107 Abs. 1 AEUV – Berücksichtigung einer früheren Praxis – Ausschluss

(Art. 107 Abs. 1 AEUV)

9.      Staatliche Beihilfen – Prüfung durch die Kommission – Bestimmung des Beihilfeempfängers – Tatsächliche Inanspruchnahme der Beihilfe – Beurteilung

(Art. 107 Abs. 1 AEUV)

10.    Staatliche Beihilfen – Begriff – Beurteilung im Hinblick auf die objektive Situation, unabhängig vom Verhalten der Organe – Berücksichtigung dieses Verhaltens bei der Prüfung der Pflicht zur Rückforderung der unvereinbaren Beihilfe – Schutz des berechtigten Vertrauens

(Art. 107 AEUV; Verordnung des Rates Nr. 659/1999, Art. 14)

11.    Staatliche Beihilfen – Rückforderung einer rechtswidrigen Beihilfe – Unter Verstoß gegen die Verfahrensvorschriften des Art. 108 AEUV gewährte Beihilfe – Mögliches berechtigtes Vertrauen der Empfänger – Fehlen, sofern keine außergewöhnlichen Umstände vorliegen –       Berechtigtes Vertrauen infolge klarer, unbedingter und übereinstimmender Zusicherungen durch die Kommission – Den Vertrauensschutz beendende Veröffentlichung des Beschlusses über die Eröffnung des förmlichen Prüfverfahrens

(Art. 107 Abs. 1 AEUV und 108 Abs. 3 AEUV)

1.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 29, 30)

2.      Für die Einstufung einer nationalen steuerlichen Maßnahme als „selektiv“ muss die Kommission im Rahmen der Anwendung von Art. 107 Abs. 1 AEUV in einem ersten Schritt die in dem betreffenden Mitgliedstaat geltende allgemeine oder „normale“ Steuerregelung ermitteln und in einem zweiten Schritt dartun, dass die in Rede stehende steuerliche Maßnahme vom allgemeinen System insoweit abweicht, als sie Unterscheidungen zwischen Wirtschaftsteilnehmern einführt, die sich im Hinblick auf das mit dieser allgemeinen Regelung verfolgte Ziel in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befinden. Der Begriff „staatliche Beihilfe“ erfasst jedoch nicht die Maßnahmen, die eine Unterscheidung zwischen Unternehmen einführen, die sich im Hinblick auf das von der in Rede stehenden rechtlichen Regelung verfolgte Ziel in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befinden, und damit a priori selektiv sind, wenn der betreffende Mitgliedstaat nachweisen kann, dass diese Unterscheidung gerechtfertigt ist, weil sie sich aus der Natur oder dem Aufbau des Systems, in das sie sich einfügen, ergeben.

Was die Ermittlung der allgemeinen nationalen Steuerregelung, d. h. den erste Schritt der oben genannten Methode, betrifft, erfolgt die materielle Abgrenzung dieses Bezugsrahmens grundsätzlich im Zusammenhang mit der als eine Beihilfe angesehenen Maßnahme. Neben dem Bestehen eines Zusammenhangs zwischen dem Gegenstand der in Rede stehenden Maßnahme und dem der normalen Regelung gestattet die Prüfung der Vergleichbarkeit der Situationen, die unter diese Maßnahme fallen, und der Situationen, die unter diese Regelung fallen, auch, die Tragweite der Regelung materiell zu begrenzen. Diese Vergleichbarkeit ist im Hinblick auf das mit der normalen Regelung verfolgte Ziel zu beurteilen. Außerdem erlaubt es die Vergleichbarkeit dieser Situationen auch, auf das Vorliegen einer Ausnahme zu schließen, wenn die unter die streitige Maßnahme fallenden Situationen anders behandelt werden als diejenigen, die unter die normale Regelung fallen, obwohl sie mit ihnen vergleichbar sind. Daher kann eine Gesamtargumentation zu den ersten beiden Schritten der oben genannten Methode in gewissen Fällen dazu führen, gleichzeitig die normale Regelung und das Vorliegen einer Ausnahme festzustellen.

(vgl. Rn. 63, 64, 95, 98, 102-104, 106)

3.      Im Bereich staatlicher Beihilfen ergibt sich die Feststellung der Selektivität nicht zwangsläufig daraus, dass es für gewisse Unternehmen wegen rechtlicher, wirtschaftlicher oder praktischer Zwänge, die sie an der Durchführung der Transaktion hindern, von der die Gewährung des von der in Rede stehenden Maßnahme vorgesehenen Vorteils abhängig ist, unmöglich ist, in den Genuss dieses Vorteils zu kommen, sondern sie kann allein aus der Feststellung folgen, dass es eine Transaktion gibt, die, obwohl sie vergleichbar ist mit derjenigen, von der die Gewährung des in Rede stehenden Vorteils abhängt, keinen Anspruch auf ihn begründet. Daraus folgt, dass eine steuerliche Maßnahme selektiv sein kann, obwohl alle Unternehmen frei entscheiden können, die Transaktion, von der die Gewährung des von dieser Maßnahme vorgesehenen Vorteils abhängig ist, durchzuführen.

(vgl. Rn. 82)

4.      Im Bereich staatlicher Beihilfen kann für die Beurteilung der Voraussetzung der Selektivität eine Maßnahme, die einen Steuervorteil verschafft, ihren eigenen Bezugsrahmen darstellen, wenn sie eine klar begrenzte Steuerregelung einführt, die spezifische Ziele verfolgt und sich somit von jeder anderen im betreffenden Mitgliedstaat angewandten Steuerregelung unterscheidet. In einem solchen Fall ist daher zu bestimmen, ob bestimmte Wirtschaftsteilnehmer vom Anwendungsbereich der Maßnahme ausgeschlossen sind, obwohl sich diese Wirtschaftsteilnehmer im Hinblick auf das mit ihr verfolgte Ziel in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befinden, auf die die Maßnahme anwendbar ist.

Zu einer Maßnahme, die keine klar begrenzte Steuerregelung einführt, sondern zu einem weiteren Rechtskreis gehört, ist sich hingegen auf den systematischen und allgemeinen Charakter einer Maßnahme zu stützen, um gegebenenfalls eine eigenständige Regelung zu bestimmen, die einen Bezugsrahmen darstellen kann. In diesem Kontext ist es hilfreich, beispielhaft die Mitteilungen der Europäischen Kommission in diesem Bereich heranzuziehen.

(vgl. Rn. 127, 128, 130, 131)

5.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 143-149)

6.      Der Begriff „staatliche Beihilfe“ im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV erfasst nicht die Maßnahmen, die eine Unterscheidung zwischen Unternehmen einführen, die sich im Hinblick auf das von der in Rede stehenden rechtlichen Regelung verfolgte Ziel in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befinden, und damit a priori selektiv sind, wenn der betreffende Mitgliedstaat nachweisen kann, dass diese Unterscheidung gerechtfertigt ist, weil sie sich aus der Natur oder dem Aufbau des Systems, in das sie sich einfügen, ergeben.

Insoweit ist zu unterscheiden zwischen den mit einer bestimmten steuerlichen Maßnahme oder Steuerregelung verfolgten Zielen, die außerhalb dieser Maßnahme oder Regelung liegen, und den dem Steuersystem selbst inhärenten Mechanismen, die zur Erreichung dieser Ziele erforderlich sind. Demzufolge können Steuerbefreiungen, denen ein Ziel zugrunde liegt, das dem Besteuerungssystem, in das sie sich einfügen, fremd ist, den Anforderungen des Art. 107 Abs. 1 AEUV nicht entgehen.

Auf der Grundlage einer solchen Unterscheidung kann sich ein Mitgliedstaat mit Erfolg auf den Grundsatz der steuerlichen Neutralität stützen, um die Differenzierung zu rechtfertigen, die mit einer Maßnahme, die einen Steuervorteil verschafft, eingeführt wird. Der betreffende Mitgliedstaat hat jedoch nachzuweisen, dass diese Ausnahme vom allgemeinen Steuersystem gerechtfertigt ist. Insoweit kann eine steuerliche Ausnahme im Hinblick auf den Grundsatz der steuerlichen Neutralität nicht als gerechtfertigt angesehen werden, wenn der Mitgliedstaat nicht nachweist, dass diese Ausnahme ermöglicht, die steuerliche Neutralität wiederherzustellen, oder wenn die in Rede stehende Maßnahme selbst eine Diskriminierung einführt.

In diesem Zusammenhang ist die Europäische Kommission nicht verpflichtet, im Rahmen ihrer Entscheidung, mit der eine Maßnahme, die einen Steuervorteil verschafft, für mit dem Binnenmarkt unvereinbar erklärt wird, Voraussetzungen für die Anwendung der streitigen Maßnahme festzulegen, die ihr in gewissen Fällen gestattet hätten, die Qualifizierung als Beihilfe nicht vorzunehmen. Wenn die Kommission zur Prüfung der verschiedenen wirtschaftlichen Transaktionen verpflichtet würde, auf die der in Rede stehende Vorteil anwendbar sein könnte, ohne dass das Vorliegen einer Beihilfe festgestellt werden könnte, würde das nämlich dazu führen, den Inhalt oder die Voraussetzungen der Anwendung der geprüften Maßnahme zu ändern und nicht nur ihren geografischen oder sektoralen Umfang abzugrenzen. Eine solche Verpflichtung führte jedoch dazu, dass die Kommission über die Zuständigkeiten, die ihr von den Bestimmungen des AEU-Vertrags und der Verordnung Nr. 659/1999 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel [108 AEUV] erteilt werden, hinausgeht.

(vgl. Rn. 166, 167, 171, 172, 179-188, 190-199, 206, 211)

7.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 221)

8.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 224, 249)

9.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 238-247)

10.    Wenn eine nationale Maßnahme zu Recht als staatliche Beihilfe im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV eingestuft werden kann, können frühere Zusicherungen über den Umstand, dass diese Maßnahme keine Beihilfe darstelle, nicht mit Art. 107 Abs. 1 AEUV in Einklang stehen, da der Begriff der staatlichen Beihilfe einer objektiven Situation entspricht. Ein Verstoß gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes kann daher nicht gegenüber einer Entscheidung der Kommission geltend gemacht werden, soweit diese die Maßnahme als staatliche Beihilfe einstuft.

Allerdings kann der Klagegrund eines Verstoßes gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes mit Erfolg gegenüber einer Entscheidung geltend gemacht werden, mit der die Kommission entschieden hat, dass der betreffende Mitgliedstaat die nationale Maßnahme binnen einer von ihr bestimmten Frist aufzuheben oder umzugestalten hat, oder entschieden hat, ihre Rückforderung anzuordnen. So kann der Empfänger der Beihilfe für die Geltendmachung der Rechtswidrigkeit einer Entscheidung der Kommission, soweit diese die Rückforderung einer gewährten Beihilfe vorsieht, vor dem Gericht den Klagegrund eines Verstoßes gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes vorbringen und sich insoweit auf die Zusicherungen berufen, die ihm von der Kommission hinsichtlich einer fehlenden Einstufung der streitigen Maßnahme als Beihilfe gemacht werden konnten, was zwangsläufig implizierte, dass der Vorteil, den ihm diese Maßnahme verschaffte, nicht Gegenstand einer Rückforderung sein würde bzw. nur einer Rückforderung, die diese Zusicherungen wahrt.

Auch wenn Art. 14 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung Nr. 659/1999 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel [108 AEUV] bestimmt, dass in Negativentscheidungen hinsichtlich rechtswidriger Beihilfen die Kommission „[entscheidet], dass der betreffende Mitgliedstaat alle notwendigen Maßnahmen ergreift, um die Beihilfe vom Empfänger zurückzufordern“, ist nämlich eine Ausnahme von der Verpflichtung, die Rückforderung einer rechtswidrigen und mit dem Binnenmarkt unvereinbaren Beihilfe anzuordnen, in Art. 14 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung Nr. 659/1999 vorgesehen, der bestimmt, dass die Kommission nicht die Rückforderung der Beihilfe verlangt, wenn dies gegen einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts verstoßen würde. Der Grundsatz des Vertrauensschutzes ist als ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts anerkannt. Da Art. 14 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung Nr. 659/1999 gerade den Vertrauensschutz sicherstellen soll, kann Art. 14 Abs. 1 Satz 1 dieser Verordnung nicht dahin ausgelegt werden, dass er die Anwendung des Grundsatzes des Vertrauensschutzes ausschließt.

(vgl. Rn. 258, 259, 266, 268-272)

11.    Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 274-297)