Language of document : ECLI:EU:C:2006:184

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

L. A. GEELHOED

vom 16. März 20061(1)

Rechtssache C‑13/05

Sonia Chacón Navas

gegen

Eurest Colectividades SA

(Vorabentscheidungsersuchen des Juzgado de lo Social Nr. 33 Madrid [Spanien] vom 7. Januar 2005)

„Richtlinie 2000/78/EG – Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf – Geltungsbereich – Kündigung wegen Krankheit – Krankheit und Behinderung“






I –    Einleitung

1.        Es ist das zweite Mal(2), dass Fragen nach der Auslegung eines bestimmten Begriffes der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf(3) (im Folgenden: Richtlinie oder Richtlinie 2000/78) gestellt werden(4).

2.        Diese Richtlinie verbietet die unmittelbare und mittelbare Diskriminierung aus einer Reihe von Gründen, u. a. wegen einer Behinderung. In der vorliegenden Rechtssache geht es um die Auslegung des Begriffes „Behinderung“. Dieser Begriff wird in der Richtlinie nicht definiert. Die Fragen werden im Falle eines erkrankten Arbeitnehmers gestellt, der während seiner Krankheit entlassen wurde. Konkret wird gefragt, ob eine Krankheit als eine Behinderung im Rahmen dieser Richtlinie angesehen werden kann, und falls nicht, ob eine Diskriminierung wegen Krankheit gleichwohl von der Richtlinie erfasst wird.

II – Rechtlicher Rahmen

A –    Gemeinschaftsrecht

3.        Artikel 13 Absatz 1 EG lautet:

„Unbeschadet der sonstigen Bestimmungen dieses Vertrags kann der Rat im Rahmen der durch den Vertrag auf die Gemeinschaft übertragenen Zuständigkeiten auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Europäischen Parlaments einstimmig geeignete Vorkehrungen treffen, um Diskriminierungen aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung zu bekämpfen.“

4.        Die Richtlinie 2000/78 wurde auf der Grundlage von Artikel 13 EG erlassen. Nach Artikel 1 dieser Richtlinie ist es ihr Zweck, einen allgemeinen Rahmen zur Bekämpfung der Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung in Beschäftigung und Beruf im Hinblick auf die Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung in den Mitgliedstaaten zu schaffen.

5.        Die siebzehnte Begründungserwägung hat folgenden Wortlaut:

„Mit dieser Richtlinie wird unbeschadet der Verpflichtung, für Menschen mit Behinderung angemessene Vorkehrungen zu treffen, nicht die Einstellung, der berufliche Aufstieg, die Weiterbeschäftigung oder die Teilnahme an Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen einer Person vorgeschrieben, wenn diese Person für die Erfüllung der wesentlichen Funktionen des Arbeitsplatzes oder zur Absolvierung einer bestimmten Ausbildung nicht kompetent, fähig oder verfügbar ist.“

6.        Artikel 3 der Richtlinie bestimmt:

„(1) Im Rahmen der auf die Gemeinschaft übertragenen Zuständigkeiten gilt diese Richtlinie für alle Personen in öffentlichen und privaten Bereichen, einschließlich öffentlicher Stellen, in Bezug auf

c)      die Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen, einschließlich der Entlassungsbedingungen und des Arbeitsentgelts;

…“

7.        Artikel 5 der Richtlinie lautet:

„Um die Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes auf Menschen mit Behinderung zu gewährleisten, sind angemessene Vorkehrungen zu treffen. Das bedeutet, dass der Arbeitgeber die geeigneten und im konkreten Fall erforderlichen Maßnahmen ergreift, um den Menschen mit Behinderung den Zugang zur Beschäftigung, die Ausübung eines Berufes, den beruflichen Aufstieg und die Teilnahme an Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen zu ermöglichen, es sei denn, diese Maßnahmen würden den Arbeitgeber unverhältnismäßig belasten. Diese Belastung ist nicht unverhältnismäßig, wenn sie durch geltende Maßnahmen im Rahmen der Behindertenpolitik des Mitgliedstaates ausreichend kompensiert wird.“

8.        In der vierten Begründungserwägung der Empfehlung 86/379/EWG des Rates vom 24. Juli 1986 zur Beschäftigung von Behinderten in der Gemeinschaft(5) heißt es:

„In dieser Empfehlung umfasst der Begriff ‚Behinderte‘ alle Personen mit wesentlichen körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderungen.“

9.        Nummer 26 der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer vom 9. Dezember 1989 lautet:

„Alle Behinderten müssen unabhängig von der Ursache und Art ihrer Behinderung konkrete ergänzende Maßnahmen, die ihre berufliche und soziale Eingliederung fördern, in Anspruch nehmen können.

Diese Maßnahmen zur Verbesserung der Lebensbedingungen müssen sich je nach den Fähigkeiten der Betreffenden auf berufliche Bildung, Ergonomie, Zugänglichkeit, Mobilität, Verkehrsmittel und Wohnungen erstrecken.“

B –    Nationales Recht

10.      Nach Artikel 14 der spanischen Verfassung sind alle Spanier vor dem Gesetz gleich; niemand darf wegen seiner Abstammung, seiner Rasse, seines Geschlechts, seiner Religion, seiner Anschauungen oder sonstiger persönlicher oder sozialer Umstände oder Verhältnisse benachteiligt oder bevorzugt werden.

11.      Die Grundregelung der Arbeitsbeziehungen ist im Estatuto de los Trabajadores (im Folgenden: Arbeitnehmerstatut) zu finden. Sein Artikel 55 Absatz 3 legt die verschiedenen Arten der Kündigung fest: wirksame, unwirksame und nichtige Kündigung.

12.      Nach Artikel 55 Absatz 4 ist die Kündigung unwirksam, wenn die dem Arbeitnehmer vorgeworfenen Vertragsverletzungen nicht bewiesen werden oder wenn die Form der Kündigung nicht den gesetzlichen Anforderungen genügt.

13.      Nach Artikel 55 Absatz 5 ist die Kündigung nichtig, wenn ihr Motiv einer der in der Verfassung oder im Gesetz verbotenen Diskriminierungsgründe ist oder wenn sie unter Verstoß gegen die Grundrechte und Grundfreiheiten des Arbeitnehmers erfolgt.

14.      Aus Artikel 55 Absatz 6 des Arbeitnehmerstatuts geht hervor, dass eine nichtige Kündigung die sofortige Wiederherstellung des Beschäftigungsverhältnisses mit dem Arbeitnehmer und die Zahlung des nicht erhaltenen Arbeitsentgelts bewirkt.

15.      Die Folgen einer unwirksamen Kündigung ergeben sich aus Artikel 56 des Arbeitnehmerstatuts. Nach dieser Bestimmung hat die Unwirksamkeit der Kündigung für den Arbeitnehmer den Verlust des Arbeitsplatzes gegen Entschädigung zur Folge, es sei denn, der Arbeitgeber entscheidet sich für die Wiedereinstellung.

16.      Artikel 17 Absatz 1 des Arbeitnehmerstatuts wurde durch das Gesetz Nr. 62/03 zur Umsetzung der Richtlinie 2000/78 in nationales Recht geändert, das am 1. Januar 2004 in Kraft trat. Die gegenwärtige Fassung von Artikel 17 Absatz 1 des Arbeitnehmerstatuts lautet:

„Als null und nichtig gelten Verordnungsvorschriften, Klauseln von Tarifverträgen, Einzelarbeitsverträge und einseitige Entscheidungen des Arbeitgebers, die aufgrund des Alters oder einer Behinderung unmittelbar oder mittelbar diskriminieren oder in Bezug auf die Beschäftigung, insbesondere das Arbeitsentgelt, die Arbeitszeit und andere Arbeitsbedingungen, aufgrund des Geschlechts, der Herkunft einschließlich der Rasse und der ethnischen Herkunft, des Familienstands, der sozialen Zugehörigkeit, der Religion oder der Weltanschauung, aufgrund politischer Ideen, der sexuellen Orientierung, der Zugehörigkeit zu Gewerkschaften oder des Beitritts zu von diesen geschlossenen Vereinbarungen, Verwandtschaft mit anderen Arbeitnehmern im Betrieb und der Sprache im spanischen Staat begünstigen oder benachteiligen.

…“

17.      Diese letztgenannte Bestimmung definiert und präzisiert den in der spanischen Rechtsordnung aufgestellten und in Artikel 14 der spanischen Verfassung verankerten Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz und das Diskriminierungsverbot für Beschäftigungsverhältnisse.

III – Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

A –    Sachverhalt

18.      Die Klägerin Chacón Navas arbeitet(e) für die Eurest Colectividades SA (im Folgenden: Beklagte), einem auf Verpflegungsdienste (Catering) spezialisierten Betrieb. Seit dem 14. Oktober 2003 befindet sie sich im Krankheitsurlaub und erhält eine Leistung für zeitweilige Arbeitsunfähigkeit.

19.      Am 28. Mai 2004 teilte ihr die Beklagte ohne Angabe von Gründen schriftlich ihre Kündigung zum 31. Mai 2004 mit. In dem Kündigungsschreiben erkannte die Beklagte die Unwirksamkeit der Kündigung nach Artikel 56 des Arbeitnehmerstatuts an und bot daher eine Kündigungsentschädigung an.

20.      Die Klägerin, die mit der Kündigung nicht einverstanden war, focht diese vor Gericht an. In ihrer Klageschrift vom 29. Juni 2004 trägt sie vor, dass die Kündigung wegen einer Ungleichbehandlung und Diskriminierung nichtig sei, da sie seit acht Monaten krankgeschrieben und zeitweilig arbeitsunfähig sei. Sie begehrt die Wiederherstellung ihres Beschäftigungsverhältnisses.

21.      In der mündlichen Verhandlung vom 16. September 2004 machte die Beklagte geltend, dass die Klägerin keinen einzigen Nachweis beigebracht habe, dem eine Diskriminierung oder Grundrechtsverletzung entnommen werden könnte. Die Klägerin wiederholte ihr Vorbringen aus der Klageschrift: Seit dem 14. Oktober 2003 befinde sie sich im Krankheitsurlaub (den Akten des Ausgangsverfahrens ist zu entnehmen, dass sie auf eine Operation wartet) und meine, dass es hinreichende Anzeichen dafür gebe, die Kündigung als diskriminierend einzustufen.

22.      Am 21. September 2004 ersuchte das nationale Gericht den medizinischen Dienst um Informationen über den Zustand der zeitweiligen Arbeitsunfähigkeit, in dem sich die Klägerin befinde, insbesondere darüber, von welchem Tag die Krankschreibung der Klägerin datiere und ob dieser Zustand noch fortbestehe. In Beantwortung dieses Ersuchens führte der medizinische Dienst am 11. November 2004 aus, dass die Klägerin seit dem 14. Oktober 2003 krankgeschrieben sei und dass mit einer Wiederaufnahme der Arbeit kurzfristig nicht zu rechnen sei.

23.      Da die Klägerin vorträgt, dass ihr während ihres Krankheitsurlaubs gekündigt worden sei und von ihrem Arbeitgeber keine Tatsachen vorgebracht oder gar nachgewiesen worden seien, die einen zulässigen Kündigungsgrund darstellten, was zu einer Umkehr der Beweislast geführt hätte, gelangt das vorlegende Gericht zu der Schlussfolgerung, dass der Klägerin ausschließlich wegen des Umstands gekündigt wurde, dass sie krankgeschrieben war.

24.      Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass diese Art der Kündigung nach spanischer Rechtsprechung als unwirksam, nicht aber als nichtig qualifiziert werde. Dies gehe aus dem Urteil des Tribunal Supremo vom 29. Januar 2001 hervor, das später von allen Obergerichten übernommen worden sei. Der Grund dafür sei, dass es im spanischen Recht keine ausdrückliche Bestimmung gebe, unter die der persönliche Zustand „Krankheit“ mit dem Ziel subsumiert werden könnte, Diskriminierungen seinetwegen zu verhindern und das Diskriminierungsverbot in den Beziehungen zwischen Privatpersonen durchzusetzen.

25.      Das vorlegende Gericht hält es für möglich, dass dem primären und sekundären Gemeinschaftsrecht, insbesondere der Richtlinie 2000/78, ein schützender Rechtsgrund entnommen werden kann.

26.      Es wirft die Frage auf, ob zwischen „Behinderung“ und „Krankheit“ ein Zusammenhang besteht. Seiner Ansicht nach kann man die International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) [Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit] der Weltgesundheitsorganisation heranziehen. Die Behinderung werde dort als ein allgemeiner Begriff definiert, der Schädigungen, Beeinträchtigungen der Aktivität und Beeinträchtigungen der Partizipation umfasse, um die negativen Aspekte der Interaktion zwischen einer Person mit einem bestimmten Gesundheitszustand und ihren Kontext-, Umwelt- und persönlichen Faktoren aufzuzeigen.

27.      Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass Krankheit ein Gesundheitszustand sei, der Schädigungen verursachen könne, die den Einzelnen physisch behinderten. Ein Arbeitnehmer müsse auf der Grundlage des Verbotes der Diskriminierung aufgrund einer Behinderung auch geschützt werden können, sobald die Krankheit festgestellt sei. Da eine Krankheit zu einer Behinderung führen könne, könnte eine gegenteilige Auffassung den vom Gesetzgeber angestrebten Schutz weitgehend zunichte machen und unkontrollierte diskriminierende Maßnahmen fördern.

28.      Für den Fall, dass Krankheit und Behinderung als unterschiedliche Begriffe anzusehen und die Richtlinie 2000/78 deshalb auf den erstgenannten Begriff nicht anwendbar seien, fragt das vorlegende Gericht, ob der Schutzbereich der Richtlinie sich neben dem in der Richtlinie genannten Identitätsmerkmal Behinderung auch auf das Identitätsmerkmal Krankheit erstrecken könne.

B –    Die Vorlagefragen

29.      Aufgrund von Zweifeln an der zutreffenden Auslegung hat das Juzgado de lo Social Nr. 33 Madrid (Spanien) beschlossen, dem Gerichtshof folgende Fragen vorzulegen:

1.      Bezieht die Richtlinie 2000/78 insofern, als sie in ihrem Artikel 1 einen allgemeinen Rahmen zur Bekämpfung der Diskriminierung wegen einer Behinderung schafft, eine Arbeitnehmerin in ihren Schutzbereich ein, der von ihrem Betrieb ausschließlich wegen Krankheit gekündigt worden ist?

2.       Hilfsweise und für den Fall, dass Krankheitszustände nicht in den Bereich des Schutzes fallen, den die Richtlinie 2000/78 gegen die Diskriminierung aus Gründen der Behinderung gewährt, und die erste Frage verneint wird: Kann die Krankheit als ein weiteres Identitätsmerkmal neben denen angesehen werden, die als Grund einer Diskriminierung anzunehmen die Richtlinie 2000/78 verbietet?

C –    Das Verfahren vor dem Gerichtshof

30.      Die Beklagte, die deutsche, die niederländische, die österreichische, die spanische und die tschechische Regierung sowie die Regierung des Vereinigten Königreichs und die Kommission haben in diesem Verfahren schriftliche Erklärungen eingereicht.

IV – Erörterung

A –    Zulässigkeit

31.      Die Beklagte und die Kommission haben in ihren schriftlichen Stellungnahmen ausgeführt, dass es Gründe gebe, die Fragen des vorlegenden Gerichts für unzulässig zu erklären.

32.      Die Beklagte hält die Fragen deshalb für unzulässig, weil das Tribunal Supremo bereits früher festgestellt habe, dass die Kündigung eines krankgeschriebenen Arbeitnehmers als solche keine verbotene Diskriminierung darstelle.

Die Kommission hegt Zweifel an der Zulässigkeit der Fragen, weil die Wiedergabe des Sachverhalts im Vorlagebeschluss so lückenhaft sei, dass eine für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits erforderliche präzise Beantwortung der Fragen nicht möglich sei. Insbesondere fehle es an allen Angaben zu Art und – erwartetem – Verlauf der Krankheit, was es von vornherein unmöglich mache, festzustellen, ob im vorliegenden Fall von einer Behinderung gesprochen werden könne.

33.      Der Einwand der Beklagten gegen die Zulässigkeit der Fragen kann meines Erachtens nicht durchgreifen. Dass das Tribunal Supremo festgestellt habe, dass eine Kündigung wegen Krankheit nicht als eine Maßnahme angesehen werden könne, die unter das Verbot der Diskriminierung aufgrund einer Behinderung falle, kann nicht zur Unzulässigkeit der Fragen führen. Bei diesen geht es konkret um die Tragweite dieses Diskriminierungsverbots, wie es in der Richtlinie 2000/78 ausgeformt ist. Sollte es auch eine – langwierige – Krankheit erfassen, könnte dies Konsequenzen für die Auslegung und Anwendung des einschlägigen spanischen Rechts auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens haben.

34.      Auf den ersten Blick scheint das Vorbringen der Kommission schwerer zu wiegen. Tatsächlich ist die Wiedergabe des Sachverhalts, insbesondere der Art, der Schwere und der Dauer der Erkrankung der Klägerin im Vorlagebeschluss sehr knapp. Eine Prüfung der Verfahrensakte des Ausgangsverfahrens, wie sie die Kommission vorgenommen hat, liefert nicht viel mehr tatsächliche Anhaltspunkte.

35.      Gleichwohl wird meines Erachtens aus den Gründen des Vorlagebeschlusses hinreichend deutlich, weshalb das vorlegende Gericht für die Anwendung des Verbotes der Diskriminierung aufgrund einer Behinderung gemäß der Richtlinie 2000/78 auf den ihm zur Entscheidung vorliegenden Sachverhalt näherer Hinweise bedarf.

Da im spanischen Arbeitsrecht die rechtswidrige Kündigung wegen Krankheit und eine rechtswidrige Kündigung wegen einer Behinderung sehr unterschiedliche Konsequenzen haben – im ersten Fall die Unwirksamkeit, verbunden mit einer Entschädigung für den betroffenen Arbeitnehmer; im zweiten Fall die Nichtigkeit mit der Folge, dass das Beschäftigungsverhältnis sofort wiederherzustellen und das geschuldete Arbeitsentgelt zu zahlen sind –, ist die erbetene Auslegung der sachlichen Tragweite des gemeinschaftsrechtlichen Verbotes der Diskriminierung aufgrund einer Behinderung für die Entscheidung des Ausgangsverfahrens gewiss relevant.

36.      Aus dem Umstand, dass sechs Mitgliedstaaten schriftliche Stellungnahmen mit für den besonderen Kontext dieser Rechtssache relevantem Inhalt eingereicht haben, lässt sich im Übrigen ableiten, dass der Vorlagebeschluss ihnen hinreichende Anhaltspunkte geboten hat. Offensichtlich bildete der Wortlaut des Vorlagebeschlusses auch für die Kommission kein Hindernis für eine inhaltliche Beantwortung der Fragen.

37.      Ich stelle daher fest, dass es keine durchschlagenden Argumente für die Unzulässigkeit der in Rede stehenden Vorlagefragen gibt.

B –    Vorbemerkungen

1.      Artikel 13 EG als Rechtsgrundlage der Richtlinie 2000/78

38.      Im Vorlagebeschluss wird außer auf Artikel 13 EG als Rechtsgrundlage für die Richtlinie 2000/78 auch auf die Artikel 136 EG und 137 EG verwiesen. Das vorlegende Gericht möchte damit wohl nahe legen, dass auch diese Bestimmungen für die Beantwortung der gestellten Fragen von Bedeutung seien.

39.      Das trifft nicht zu. Nach dem Wortlaut der Begründungserwägungen ist die Richtlinie 2000/78 ausschließlich auf Artikel 13 EG gestützt.

40.      Artikel 13 EG wurde durch den Vertrag von Amsterdam in den EG-Vertrag eingefügt. Diese Bestimmung begründet eine Zuständigkeit der Gemeinschaft, geeignete Vorkehrungen zu treffen, um Diskriminierungen aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung zu bekämpfen.

41.      Die Formulierung „[u]nbeschadet der sonstigen Bestimmungen dieses Vertrags“ zeigt, dass Artikel 13 EG subsidiären Charakter hat. Daraus ergibt sich weiter, dass für die aufgrund von Artikel 13 EG zu treffenden Vorkehrungen keine anderen Vertragsbestimmungen als Rechtsgrundlage in Betracht kommen können.

42.      Geht es des Näheren um den Schutz von Behinderten auf dem Arbeitsmarkt, ließe sich dafür auch eine Rechtsgrundlage in Artikel 137 EG finden, der die Gemeinschaft ermächtigt, Maßnahmen zur Unterstützung und Ergänzung der Politik der Mitgliedstaaten u. a. bei der Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung zu treffen (Artikel 137 Absatz 1 Buchstabe j EG).

43.      Diese Rechtsgrundlage hat jedoch einen anderen Charakter als Artikel 13 EG. Sie schafft die rechtliche Basis für eine ergänzende Harmonisierung von Teilbereichen der Sozialpolitik der Mitgliedstaaten. Dadurch ist sowohl ihr persönlicher als auch ihr sachlicher Anwendungsbereich weiter als der des Artikels 13 EG, da sie auch für andere Kategorien von „Ausgeschlossenen“ als die in Artikel 13 EG genannten gilt und auf andere Ziele als ein reines Diskriminierungsverbot gerichtet sein kann.

44.      Die unterschiedlichen Ziele kommen auch in den Arten von Maßnahmen zum Ausdruck, die aufgrund von Artikel 137 Absatz 1 Buchstabe j EG getroffen werden können. Sie können beispielsweise besondere Anreiz- und Schutzmaßnahmen zur Beendigung bestimmter Formen der Ausgrenzung vorsehen, die die Mitgliedstaaten in ihr nationales Recht übernehmen müssen. Das in Artikel 13 EG verankerte Verbot der Diskriminierung aufgrund einer Behinderung, wie es in der Richtlinie 2000/78 ausgeformt ist, enthält eine allgemeine qualitative Grundbedingung, die die Mitgliedstaaten bei ihrer beschäftigungs- und berufsbezogenen Rechtsetzung und Entscheidungsfindung im Hinblick auf Behinderte zu beachten haben und die auch in den horizontalen Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern aus dem Arbeitsmarkt gilt.

45.      Daher ist die Entscheidung für Artikel 13 EG als alleinige Rechtsgrundlage für ein allgemeines Verbot der Diskriminierung aufgrund einer Behinderung richtig. Die gestellten Fragen sind somit im Licht des Wortlauts und des Zieles dieses Artikels zu beantworten.

2.      Die Auslegung von Artikel 13 EG und der Richtlinie 2000/78

46.      Entstehungsgeschichte und Wortlaut des Artikels 13 EG zeigen, dass die Verfasser des Vertrages sich bei der Ausarbeitung dieser ergänzenden Antidiskriminierungsbestimmung zurückgehalten haben. Die ursprünglichen Vorstellungen für eine solche Bestimmung wurden in der Vorbereitungsphase nach dem Abschluss des Vertrages von Amsterdam immer weiter eingeschränkt(6).

47.      Diese Zurückhaltung hat im Wortlaut des Artikels 13 EG Ausdruck gefunden.

Er enthält, erstens, lediglich eine Rechtsgrundlage dafür, „geeignete Vorkehrungen“ zu treffen.

Zweitens ist die Darstellung der Gründe, aus denen eine Diskriminierung verboten ist, abschließend. Dies steht im Gegensatz zu klassischen internationalen Menschenrechtsübereinkommen und z. B. auch zu Artikel II‑81 des Verfassungsvertrags, in dem der Katalog der Gründe, aus denen eine Diskriminierung verboten ist, nicht abschließend formuliert ist.

Von der Beschränkung, die, drittens, durch den subsidiären Charakter bedingt ist, war oben bereits die Rede.

Viertens ist für die Anwendung von Artikel 13 EG erforderlich, dass sich die beabsichtigte Vorkehrung „im Rahmen der durch den Vertrag auf die Gemeinschaft übertragenen Zuständigkeiten“ hält.

48.      Meines Erachtens sprechen zwingende Gründe dafür, bei der Auslegung von Artikel 13 EG sowie der auf dieser Grundlage getroffenen „geeigneten Vorkehrungen“, wie im vorliegenden Fall der Richtlinie 2000/78, die in diesem Artikel festgelegten Definitionen und Abgrenzungen zu berücksichtigen. Vor recht kurzer Zeit erlassen, geben sie den ausdrücklichen Willen der Vertragsverfasser und des Gemeinschaftsgesetzgebers wieder.

49.      Abgesehen von diesen vertragshistorischen und grammatischen Gründen gibt es aber auch noch inhaltliche Gründe, die gegen eine weite Auslegung sprechen.

50.      Der Gegenstand einiger der in Artikel 13 EG aufgeführten Diskriminierungsverbote, etwa wegen Alters oder einer Behinderung, hat zur Folge, dass die Feststellung einer verbotenen formellen Ungleichbehandlung als Kehrseite immer den materiellen Anspruch auf Gleichheit beim Zugang zu einem Beruf oder Gewerbe oder bei dessen Ausübung, auf gleiche Arbeitsbedingungen, auf die Verfügbarkeit einer besonderen Ausbildung oder auf Vorkehrungen hat, die die Einschränkungen aufgrund des Alters oder einer Behinderung ausgleichen oder mildern. Im Hinblick auf die potenziell weitreichenden wirtschaftlichen und finanziellen Konsequenzen, die derartige Diskriminierungsverbote in den horizontalen Beziehungen der Bürger untereinander und in den vertikalen Beziehungen zwischen Behörden und betroffenen Bürgern haben können, pflegt der Gesetzgeber solche Diskriminierungsverbote im nationalen Bereich einschließlich der zulässigen Ausnahmen und Beschränkungen sowie der angemessenen Vorkehrungen für Ausgleichsmaßnahmen genau zu umschreiben.

51.      Die nähere inhaltliche Bestimmung, die die Richtlinie 2000/78 hinsichtlich der Verbote einer Diskriminierung wegen Alters oder wegen einer Behinderung insbesondere in den Artikeln 5 und 6 vornimmt, zeigt, dass sich auch der Gemeinschaftsgesetzgeber der potenziell weitreichenden wirtschaftlichen und finanziellen Konsequenzen bewusst war.

52.      Die Definitionen und Abgrenzungen der Richtlinie 2000/78 sollten ernst genommen werden, da die wirtschaftlichen und finanziellen Effekte des Verbotes der Diskriminierung wegen einer Behinderung vor allem in Bereichen auftreten, die zwar vom EG-Vertrag berührt werden, in denen die Gemeinschaft jedoch höchstens über Teilzuständigkeiten, meist aber nur über ergänzende Zuständigkeiten verfügt. Dies gilt für die Beschäftigungspolitik, bei der die Gemeinschaft über eine gewisse koordinierende Zuständigkeit verfügt, die in den Artikeln 125 EG bis 130 EG ausgeformt ist, und für die Sozialpolitik, bei der laut Artikel 137 Absatz 1 Satz 1 EG die Tätigkeit der Mitgliedstaaten auf einer Reihe von Teilgebieten „unterstützt und ergänzt“ wird. In den auch in diesem Zusammenhang relevanten Bereichen der allgemeinen und beruflichen Bildung, Artikel 149 EG und 150 EG, und des Gesundheitswesens, Artikel 152 EG, haben die Zuständigkeiten der Gemeinschaft einen vergleichbar ergänzenden Charakter.

53.      Ich schließe daraus, dass der Gerichtshof die vom Gemeinschaftsgesetzgeber in den Durchführungsvorschriften zu Artikel 13 EG getroffenen Entscheidungen hinsichtlich der Umschreibung und der Abgrenzungen des Diskriminierungsverbots in sachlicher und persönlicher Hinsicht zu beachten hat und sie nicht unter Berufung auf die allgemeine Beschränkung dieses Artikels „im Rahmen der durch den Vertrag auf die Gemeinschaft übertragenen Zuständigkeiten“ ausweiten darf. Noch weniger geht es meines Erachtens an, unter Berufung auf den allgemeinen Gleichheitssatz den sachlichen Anwendungsbereich des Artikels 13 EG auszudehnen.

54.      Eine so weite Auslegung des Artikels 13 EG und der Regelungen, die der Gemeinschaftsgesetzgeber zur Durchführung dieses Artikels erlassen hat, hätte zur Folge, dass sozusagen ein archimedischer Punkt geschaffen würde, von dem aus das in Artikel 13 EG umschriebene Diskriminierungsverbot gehandhabt werden könnte, um ohne Einschaltung des Vertragsgebers oder des Gemeinschaftsgesetzgebers die Abwägungen zu korrigieren, die die Mitgliedstaaten in Ausübung der ihnen – noch – verbliebenen Zuständigkeiten vorgenommen haben. Im Hinblick darauf, dass nach dem EG-Vertrag der Schwerpunkt dieser Zuständigkeiten, auch wenn die einschlägigen Zuständigkeiten der Gemeinschaft genutzt werden sollten, bei den Mitgliedstaaten verbleibt, ist das ein sowohl unter dem Gesichtspunkt des systematischen Aufbaus des EG-Vertrags als auch unter dem des institutionellen Gleichgewichts kein erwünschtes Ergebnis.

55.      Überdies sei noch auf Folgendes hingewiesen. Die Anwendung der hier relevanten Diskriminierungsverbote in der Praxis verlangt immer, dass der Gesetzgeber bei der Abwägung der in Rede stehenden Belange wie der Rechte der Behinderten oder älterer Arbeitnehmer gegen das reibungslose Funktionieren des Arbeitsmarktes oder die Verstärkung des Partizipationsgrades älterer Altersklassen schmerzhafte, wenn nicht gar tragische Entscheidungen treffen muss. Nicht selten ist bei der Anwendung dieser Diskriminierungsverbote ein finanzieller Ausgleich erforderlich, dessen Angemessenheit auch von den verfügbaren öffentlichen Mitteln oder vom allgemeinen Lebensstandard in den jeweiligen Mitgliedstaaten abhängt. Diese Abwägungen finden im nationalen Bereich nicht in einem rechtsstaatlichen Vakuum statt. In der Regel werden sie auch an den nationalen Grundrechten und an den einschlägigen Bestimmungen der völkerrechtlichen Menschenrechtsübereinkommen gemessen. So betrachtet, müsste der Gerichtshof als Gemeinschaftsrichter also über eine unangreifbare und höherrangige Kompetenzgrundlage verfügen, wenn er im Rahmen nationaler verfassungs‑ und völkerrechtlicher Gegebenheiten zustande gekommene Entscheidungen eines nationalen Gesetzgebers, der im Übrigen im Rahmen der ihm verbliebenen Zuständigkeit handelt, korrigieren wollte.

56.      Aufgrund all dessen befürworte ich daher eine zurückhaltendere Auslegung und Anwendung der Richtlinie 2000/78, als sie der Gerichtshof in der Rechtssache Mangold vorgenommen hat(7). Damit nehme ich die Antwort auf die zweite Frage des vorlegenden Gerichts vorweg.

3.      Der Begriff „Behinderung“ als gemeinschaftsrechtlicher Begriff

57.      Der Begriff „Behinderung“ ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, der bei seiner praktischen Anwendung auf vielerlei Weise ausgelegt werden kann. Dass der Begriff in Artikel 13 EG vorkommt, der das Verbot der Diskriminierung aufgrund einer Behinderung zum Ziel hat – ein Verbot, das anschließend durch die Richtlinie 2000/78 aktiviert und ausgeformt wurde – macht es erforderlich, diesem Begriff einen gemeinschaftsrechtlichen Inhalt zu geben.

58.      Hierzu besteht umso mehr Anlass, als der Begriff „Behinderung“ als medizinisch-wissenschaftlicher Terminus, aber auch in seiner sozialen Bedeutung einer recht raschen Entwicklung unterliegt. Dabei ist nicht auszuschließen, dass bestimmte physische oder psychische Einschränkungen in einem bestimmten gesellschaftlichen Kontext den Charakter einer „Behinderung“ haben, in einem anderen Kontext aber nicht.

59.      Auf der einen Seite kann die je nach Kontext unterschiedliche Bedeutung des Begriffes „Behinderung“ zu erheblichen Unterschieden bei der Auslegung und Anwendung des Diskriminierungsverbots führen. Dies spricht für eine einheitliche Auslegung. Auf der anderen Seite zwingt die Kombination von Dynamik und Variation, die sich bei der wissenschaftlichen Perzeption des Phänomens Behinderung und dem gesellschaftlichen Umgang mit ihm zeigt, zur Vorsicht beim Streben nach Einheitlichkeit. Ich komme hierauf noch zurück.

60.      Im Lauf der Sozialgeschichte der letzten beiden Jahrhunderte hat sich der Kreis der Personen, die als behindert angesehen werden, unverkennbar vergrößert. Dies hängt mit der drastischen Verbesserung der Gesundheit der Bevölkerung in den Gesellschaften mit größerem Wohlstand zusammen. Sie hatte zur Folge, dass diejenigen, die keinen Nutzen daraus ziehen konnten, weil sie durch mehr oder minder ständige körperliche oder psychische Leiden behindert waren, sichtbarer wurden.

61.      Die Entwicklungen in den biomedizinischen Wissenschaften haben zu besseren Erkenntnissen der körperlichen und psychischen Leiden geführt, die Behinderungen zugrunde liegen. Sie haben damit auch zu einer Erweiterung des Begriffes „Behinderung“ beigetragen. Eine größere Prädisposition für schwere Leiden als Folge eines genetischen Defekts kann für den Betroffenen erhebliche Einschränkungen zur Folge haben.

62.      Das letztgenannte Beispiel zeigt, dass für die Beurteilung der Frage, ob Personen als behindert angesehen werden, auch dem besonderen gesellschaftlichen Kontext Bedeutung zukommen kann, in dem sie sich bewegen. Solange der genetische Defekt nicht festgestellt worden ist, wird die fragliche Person keiner Diskriminierung ausgesetzt sein. Nach seinem Bekanntwerden kann sich dies sofort ändern, weil Arbeitgeber oder Versicherer das höhere Risiko der Einstellung oder Versicherung des Betroffenen nicht tragen wollen.

63.      Als ein Merkmal, anhand dessen in der Literatur Behinderungen von Krankheiten unterschieden werden, wird oft die Dauerhaftigkeit des physischen oder psychischen Defekts genannt. In der Tat bietet es in den meisten Fällen einen Anhaltspunkt. Es gibt aber auch progressiv verlaufende Krankheiten, die über längere Zeit zu gravierenden Funktionsverlusten der Kranken und zu einer so schweren Funktionsbeeinträchtigung führen, dass diese sich im gesellschaftlichen Verkehr nicht wesentlich von „dauerhaft“ Behinderten unterscheiden.

64.      Aufgrund der vorstehenden Erwägungen komme ich zu dem Ergebnis, dass es sich bei dem Begriff der Behinderung in der Richtlinie 2000/78 um einen gemeinschaftsrechtlichen Begriff handelt, der innerhalb der Gemeinschaftsrechtsordnung eine autonome und einheitliche Auslegung finden muss, die unter Berücksichtigung des Regelungszusammenhangs und des mit der betreffenden Regelung verfolgten Zweckes zu ermitteln ist(8).

65.      Dass der Begriff „Behinderung“ in dieser Richtlinie einer einheitlichen gemeinschaftsrechtlichen Auslegung bedarf, liegt auch aus inhaltlichen Gründen auf der Hand, und sei es nur, um ein Minimum der erforderlichen Einheitlichkeit beim persönlichen und sachlichen Geltungsbereich des Diskriminierungsverbots sicherzustellen. Der Kreis der geschützten Personen und die Abgrenzung der zu berücksichtigenden Funktionsbeeinträchtigungen dürfen nicht auseinander fallen. Anderenfalls wäre der durch dieses Diskriminierungsverbot verliehene Schutz innerhalb der Gemeinschaft unterschiedlich.

66.      Gleichwohl müssen bei der Entwicklung einer einheitlichen Auslegung des Begriffes der Behinderung die oben angedeutete Dynamik der gesellschaftlichen Perzeption des Phänomens „Behinderung“ als Funktionsbeeinträchtigung infolge eines psychischen oder physischen Defekts, die Entwicklung der medizinischen und biomedizinischen Erkenntnisse sowie die erheblichen kontextbedingten Differenzen bei der Beurteilung einer Vielzahl unterschiedlicher Behinderungen Berücksichtigung finden.

67.      Dies spricht dafür, keine mehr oder weniger abschließende und feststehende Definition des Begriffes „Behinderung“ anzustreben. Die Auslegung des Begriffes durch den Gerichtshof sollte dem nationalen Gericht gemeinschaftsrechtliche Kriterien und Anhaltspunkte liefern, mit deren Hilfe es für die ihm vorliegende Rechtsfrage eine Lösung finden kann(9).

68.      So lässt sich eine konvergierende Auslegung und Anwendung des Begriffes „Behinderung“ innerhalb der Gemeinschaft sicherstellen, ohne dem offenen Charakter dieses Begriffes Abbruch zu tun. In dieser Hinsicht teile ich die von der niederländischen Regierung vorgetragenen Ansichten(10).

4.      Behinderung, Diskriminierung und Ausgleich

69.      Im Laufe der Zeit hat sich der Gesetzgeber in den europäischen sozialen Rechtsstaaten des Schutzes von Personen mit einer Behinderung auf dreierlei Weise angenommen.

70.      Bereits mit der Einführung der Gesetzgebung auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit wurden besondere Vorkehrungen für Personen getroffen, die nicht mehr am Arbeitsprozess teilnehmen konnten, da sie durch Arbeitsunfälle dauerhaft arbeitsunfähig geworden waren. Später wurde für Personen, die aufgrund ihrer Behinderung nicht für ihren Lebensunterhalt sorgen konnten, durch soziale Maßnahmen eine Existenzsicherung geschaffen.

71.      Dass Behinderungen keinen Grund für ungerechtfertigte Diskriminierungen auf dem Arbeitsmarkt und anderweitig im gesellschaftlichen Verkehr bilden dürfen, ist eine Vorstellung, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg nach und nach durchgesetzt hat. Sie führte zu einer auf Diskriminierungen aufgrund einer Behinderung zugeschnittenen speziellen Ausformung des allgemeinen Gleichheitssatzes. Im Gemeinschaftsrecht hat diese spezielle Ausformung in Artikel 13 EG und in der Richtlinie 2000/78 Ausdruck gefunden.

72.      Die Entwicklung der medizinischen Erkenntnisse in Verbindung mit den zunehmenden technischen Möglichkeiten führte dazu, dass in einer wachsenden Zahl von Fällen, in denen früher die Sonderbehandlung von Behinderten auf dem Arbeitsmarkt und anderweitig im gesellschaftlichen Verkehr gerechtfertigt war, weil diese den durch einen Beruf oder eine andere Tätigkeit gestellten Anforderungen nicht – mehr – genügten, ein Ausgleich für das Leiden und/oder eine Milderung der sich daraus ergebenden Behinderungen gefunden werden konnten, so dass sie – wieder – vollständig oder teilweise ihre Beschäftigung oder Tätigkeiten fortsetzen konnten.

73.      Die wachsende Verfügbarkeit angemessener Möglichkeiten zum Ausgleich von Behinderungen oder zur Milderung ihrer Folgen führt dazu, dass eine Rechtfertigung der unterschiedlichen Behandlung aufgrund einer Behinderung schwieriger wird. Diese positive Kehrseite des im Grundsatz negativen Diskriminierungsverbots im Sinne von Verpflichtungen des Arbeitgebers ist in Artikel 5 der Richtlinie 2000/78 zu finden(11).

74.      Im Licht dieser vier Vorbemerkungen werde ich im Folgenden versuchen, eine Antwort auf die gestellten Vorlagefragen zu finden.

C –    Erste Vorlagefrage

75.      Aus der dritten und der vierten Vorbemerkung oben lässt sich die Antwort auf die erste Vorlagefrage unmittelbar ableiten.

76.      Behinderte sind Personen mit ernsthaften Funktionsbeeinträchtigungen (Behinderungen) als Folge körperlicher, geistiger oder psychischer Probleme.

77.      Hieraus ergibt sich Zweierlei:

–        Es muss sich um Beeinträchtigungen handeln, die auf ein Gesundheitsproblem oder eine physiologische Abweichung beim Betroffenen zurückgehen und die entweder langwierig oder dauerhaft sind;

–        das Gesundheitsproblem als Ursache der Funktionsbeeinträchtigung ist grundsätzlich von der Beeinträchtigung selbst zu unterscheiden.

78.      Demnach kann eine Krankheit als Ursache einer möglichen künftigen Behinderung grundsätzlich nicht einer Behinderung gleichgestellt werden. Sie ist daher kein Anknüpfungspunkt für das Verbot einer Diskriminierung im Sinne des Artikels 13 EG in Verbindung mit der Richtlinie 2000/78.

79.      Eine Ausnahme hiervon gilt nur dann, wenn im Verlauf der Krankheit langwierige oder dauerhafte Funktionsbeeinträchtigungen auftreten, die auch unabhängig von der noch fortschreitenden Krankheit als Behinderungen anzusehen sind.

80.      Eine Kündigung wegen Krankheit kann daher nur dann eine durch die Richtlinie 2000/78 verbotene Diskriminierung aufgrund einer Behinderung darstellen, wenn der Betroffene glaubhaft machen kann, dass nicht die Krankheit selbst, sondern die sich daraus ergebenden langwierigen oder dauerhaften Beeinträchtigungen der eigentliche Grund der Kündigung sind.

81.      Der Vollständigkeit halber füge ich noch hinzu, dass die Kündigung in diesem Fall dennoch gerechtfertigt sein kann, wenn die betreffenden Funktionsbeeinträchtigungen – die Behinderung – die Ausübung des betreffenden Berufes oder Gewerbes unmöglich machen oder ernsthaft beeinträchtigen(12).

82.      Gleichwohl ist eine Rechtfertigung nur dann möglich, wenn dem Arbeitgeber keine angemessenen Mittel zur Verfügung stehen, die die betreffende Behinderung so mildern oder ausgleichen, dass der Behinderte seinen Beruf oder sein Gewerbe weiterhin ausüben kann(13).

83.      Die Angemessenheit wird inhaltlich auch durch die für die in Betracht kommenden Mittel aufzuwendenden Kosten, die Zumutbarkeit dieser Kosten, soweit sie nicht von öffentlicher Seite erstattet werden, und die Milderung oder den Ausgleich der Behinderung, die sie ermöglichen, sowie durch die Möglichkeit des Zugangs des betroffenen Behinderten zu anderen Berufen oder Gewerben bestimmt, für die seine Behinderung keine oder eine merklich geringere Beeinträchtigung darstellt.

D –    Zweite Vorlagefrage

84.      Aus der zweiten Vorbemerkung oben lässt sich die Antwort auf die zweite Vorlagefrage ableiten:

–        Weder die Entstehungsgeschichte noch der Wortlaut des Artikels 13 EG und der Richtlinie 2000/78 lassen es zu, Krankheit als selbständigen Gegenstand unter ein Diskriminierungsverbot zu subsumieren;

–        ebenso wenig lässt sich ein derartiges Diskriminierungsverbot als spezielle Ausformung des allgemeinen Gleichheitsgrundsatzes konstruieren.

V –    Ergebnis

85.      Aufgrund der vorstehenden Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, die ihm vom Juzgado de lo Social Nr. 33 Madrid (Spanien) zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen wie folgt zu beantworten:

1.      Eine Krankheit als Ursache einer möglichen künftigen Behinderung kann grundsätzlich nicht einer Behinderung gleichgestellt werden. Sie ist daher als solche kein Anknüpfungspunkt für das Verbot einer Diskriminierung im Sinne des Artikels 13 EG in Verbindung mit der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf. Eine Ausnahme hiervon gilt nur dann, wenn im Verlauf der Krankheit langwierige oder dauerhafte Funktionsbeeinträchtigungen auftreten, die als Behinderungen anzusehen sind. Dabei muss der Betroffene, der sich auf das Verbot der Diskriminierung aufgrund einer Behinderung beruft, glaubhaft machen, dass nicht die Krankheit selbst, sondern die sich daraus ergebenden langwierigen oder dauerhaften Beeinträchtigungen der eigentliche Grund der Kündigung sind.

2.      Weder die Entstehungsgeschichte noch der Wortlaut des Artikels 13 EG und der Richtlinie 2000/78 lassen es zu, Krankheit als selbständigen Grund für ein Diskriminierungsverbot unter die Gründe im Sinne dieser Vorschriften zu subsumieren, deretwegen eine Diskriminierung verboten ist. Ebenso wenig darf in diesem Licht ein derartiges Diskriminierungsverbot als spezielle Ausformung des allgemeinen Gleichheitsgrundsatzes konstruiert werden.


1 – Originalsprache: Niederländisch.


2 – Der Gerichtshof hat sich im Urteil vom 22. November 2005 in der Rechtssache C‑144/04 (Mangold, Slg. 2005, I‑0000) zu dieser Richtlinie geäußert.


3 – ABl. L 303, S. 16.


4 – Diese Richtlinie ist auch Gegenstand von Vertragsverletzungsverfahren, die die Kommission wegen nicht fristgerechter Umsetzung gegen eine Reihe von Mitgliedstaaten eingeleitet hat. Das erste in diesen Vertragsverletzungsverfahren ergangene Urteil ist das Urteil vom 20. Oktober 2005 in der Rechtssache C‑70/05 (Kommission/Luxemburg, Slg. 2005, I‑0000). Im Urteil Mangold (zitiert in Fußnote 2) ging es um die Frage der Rechtfertigung einer Diskriminierung wegen Alters im Sinne von Artikel 6 Absatz 1 der Richtlinie 2000/78.


5 – ABl. L 225, S. 43.


6 – Vgl. u. a. M. Bell und L. Waddington, „The 1996 Intergovernmental Conference and the Prospects of a Non-Discrimination Treaty Article“, 25 Industrial Law Journal (1996), S. 320-326; R. Barents, Het Verdrag van Amsterdam, Deventer 1997, S. 40-43, und Olivier de Schutter, „Les droits fondamentaux dans le Traité d’Amsterdam“, in Yves Lejeune (Hrsg.), Le Traité d’Amsterdam, Brüssel 1999, S. 154-188, insbesondere S. 184-187.


7 – Zitiert in Fußnote 2.


8 – Vgl. u. a. Urteile vom 18. Januar 1984 in der Rechtssache 327/82 (EKRO, Slg. 1984, 107, Randnr. 11), vom 19. September 2000 in der Rechtssache C‑287/98 (Linster, Slg. 2000, I‑6917, Randnr. 43), vom 9. November 2000 in der Rechtssache C‑357/98 (Yiadom, Slg. 2000, I‑9265, Randnr. 26), vom 6. Februar 2003 in der Rechtssache C‑245/00 (SENA, Slg. 2003, I‑1251, Randnr. 23), vom 27. Februar 2003 in der Rechtssache C‑373/00 (Adolf Truley, Slg. 2003, I‑1931, Randnr. 35) und vom 27. November 2003 in der Rechtssache C‑497/01 (Zita Modes, Slg. 2003, I‑14393, Randnr. 34).


9 – Dies steht im Übrigen im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofes zur Art der Zusammenarbeit zwischen Gemeinschaftsrichter und nationalen Gerichten. Vgl. hierzu bereits Urteil vom 4. Februar 1964 in der Rechtssache 20/64 (Albatros, Slg. 1964, 46).


10 – Die niederländische Regierung hat insbesondere darauf hingewiesen, dass der offene Charakter des Begriffes eine abschließende Definition weder erforderlich noch wünschenswert mache. Die Bedeutung dessen, was eine Behinderung sei, werde letztlich durch die Besonderheiten des konkreten Einzelfalls bestimmt (Nr. 23 der schriftlichen Erklärungen).


11 – Diese Bestimmung konkretisiert den Inhalt von Nr. 26 der in Nr. 9 dieser Schlussanträge zitierten Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte.


12 – Vgl. Richtlinie 2000/78, Artikel 4 Absatz 1.


13 – Vgl. Richtlinie 2000/78, Artikel 5.