Language of document : ECLI:EU:C:2015:723

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

ELEANOR SHARPSTON

vom 22. Oktober 2015(1)

Rechtssache C‑94/14

Flight Refund Ltd

gegen

Deutsche Lufthansa AG

(Vorabentscheidungsersuchen der Kúria [Oberster Gerichtshof, Ungarn])

„Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Ausgleichsanspruch wegen Flugverspätung – Erlass eines Europäischen Zahlungsbefehls in einem Mitgliedstaat, mit dem die Forderung keine Verbindung aufweist – Bestimmung des für das streitige Verfahren zuständigen Gerichts“





1.        Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen der Kúria (Oberster Gerichtshof, Ungarn) wirft ungewohnte Fragen auf, die das Übereinkommen von Montreal(2), die Brüssel-I-Verordnung(3), die Fluggastverordnung(4) und die Verordnung über das Europäische Mahnverfahren(5) (im Folgenden: EuMahnVO) betreffen.

2.        Der komplexe – und ziemlich verwirrende – Sachverhalt des Ausgangsverfahrens lässt sich wie folgt zusammenfassen. Ein ungarischer Fluggast eines verspäteten Fluges von Newark (New Jersey, Vereinigte Staaten von Amerika) nach London (Vereinigtes Königreich) machte auf der Grundlage der Fluggastverordnung einen Anspruch auf Ausgleichsleistung gegen ein Luftfahrtunternehmen mit Sitz in Deutschland geltend. Er trat diesen Anspruch an ein Unternehmen mit Sitz im Vereinigten Königreich ab; dieses erwirkte von einer Notarin in Ungarn einen Europäischen Zahlungsbefehl nach dem Verfahren der EuMahnVO. Die Zuständigkeit der Notarin wurde unter Zugrundelegung einer (irreführenden) ungarischen Übersetzung der Vorschrift über die gerichtliche Zuständigkeit im Übereinkommen von Montreal bejaht. Das Luftfahrtunternehmen legte gegen den Europäischen Zahlungsbefehl Einspruch ein und bestritt, den betreffenden Flug durchgeführt zu haben. In einem solchen Fall muss das Verfahren gemäß der EuMahnVO „vor den zuständigen Gerichten des Ursprungsmitgliedstaats“ (also Ungarn, wo der Zahlungsbefehl ausgestellt wurde) weitergeführt werden. In der Brüssel-I-Verordnung ist aber keine Grundlage dafür ersichtlich, dass irgendein Gericht in diesem Mitgliedstaat zur Entscheidung über den Ausgleichsanspruch zuständig wäre. Der Kúria fällt die Aufgabe zu, das zuständige Gericht zu bestimmen; aber ohne Vorgaben für die Auslegung der einschlägigen unionsrechtlichen Rechtsvorschriften sieht sich die Kúria dazu nicht in der Lage.

 Rechtlicher Hintergrund

 Das Übereinkommen von Montreal

3.        Nach Art. 19 des Übereinkommens von Montreal hat ein Luftfrachtführer den Schaden zu ersetzen, der durch Verspätung bei der Luftbeförderung von Reisenden, Reisegepäck und Gütern entsteht.

4.        Art. 33 des Übereinkommens von Montreal hat die Überschrift „Gerichtsstand“. Art. 33 Abs. 1 bestimmt: „Die Klage auf Schadensersatz muss im Hoheitsgebiet eines der Vertragsstaaten erhoben werden, und zwar nach Wahl des Klägers entweder bei dem Gericht des Ortes, an dem sich der Wohnsitz des Luftfrachtführers, seine Hauptniederlassung oder seine Geschäftsstelle befindet, durch die der Vertrag geschlossen worden ist, oder bei dem Gericht des Bestimmungsorts.“

5.        Diese Vorschrift stellt also zwei grundlegende Möglichkeiten zur Wahl: die Gerichte des Wohnorts bzw. einer Unternehmensniederlassung oder die Gerichte des Bestimmungsorts. In beiden Fällen müssen sich die Gerichte im Hoheitsgebiet eines der Vertragsstaaten befinden.

6.        Art. 33 des Übereinkommens von Montreal ist jedoch so ins Ungarische übersetzt worden, dass die Wendung „im Hoheitsgebiet eines der Vertragsstaaten“ eher als eine dem Kläger zustehende eigenständige (dritte) Wahlmöglichkeit erscheinen kann als eine Voraussetzung für die beiden nachfolgenden Wahlmöglichkeiten(6). Der ungarische Text kann daher – im Gegensatz zu zumindest den verbindlichen Fassungen in Englisch, Französisch und Spanisch(7) – auf den ersten Blick den Eindruck erwecken, eine Schadensersatzklage könne nach Wahl des Klägers erhoben werden: a) im Hoheitsgebiet eines der Vertragsstaaten, b) beim Gericht des Ortes, an dem sich der Wohnsitz des Luftfrachtführers, seine Hauptniederlassung oder seine Geschäftsstelle befindet, durch die der Vertrag geschlossen worden ist, oder c) beim Gericht des Bestimmungsorts (bei nochmaligem Lesen dürfte sich diese Auslegung aber rasch ausscheiden lassen, weil die Wahlmöglichkeiten b und c dann nur in Betracht kämen, wenn die Klage außerhalb des Hoheitsgebiets irgendeines Vertragsstaats, also in einem Staat, der dem Übereinkommen von Montreal nicht angehört, erhoben wird).

 Die Brüssel-I-Verordnung

7.        Nach Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 und Art. 5 Abs. 1 und 5 der Brüssel-I-Verordnung gilt, wenn sie im Zusammenhang gelesen werden, der allgemeine Grundsatz, dass eine Person mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat auf Schadensersatz aus einem Vertragsverhältnis nur vor den Gerichten dieses Staates oder vor denjenigen des jeweiligen Erfüllungsorts verklagt werden kann. Im Fall einer Dienstleistung ist das der Ort, an dem diese nach dem Vertrag erbracht wurde oder hätte erbracht werden müssen. Wenn es sich um eine Streitigkeit aus dem Betrieb einer Zweigniederlassung, einer Agentur oder einer sonstigen Niederlassung handelt, kann die betreffende Person darüber hinaus vor dem Gericht des Ortes verklagt werden, an dem sich die Zweigniederlassung, die Agentur oder die Niederlassung befindet.

8.        Es gibt zwar eine Reihe möglicher Ausnahmen zu diesem allgemeinen Grundsatz, aber nur drei könnten zumindest theoretisch für das vorliegende Verfahren in Betracht kommen.

9.        Erstens: Nach Art. 16 Abs. 1 kann ein Verbraucher gegen den anderen Vertragspartner entweder vor den Gerichten des Mitgliedstaats, in dem dieser Vertragspartner seinen Wohnsitz hat, oder vor dem Gericht des Ortes, an dem der Verbraucher seinen Wohnsitz hat, Klage erheben. Allerdings gilt diese Ausnahme nach Art. 15 Abs. 3 nicht für Beförderungsverträge, mit Ausnahme von Reiseverträgen, die für einen Pauschalpreis kombinierte Beförderungs- und Unterbringungsleistungen vorsehen. Im vorliegenden Fall gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass der betreffende Flug Teil einer solchen Pauschalreise gewesen sein könnte.

10.      Zweitens: Art. 23 (bei Verbraucherverträgen in Verbindung mit Art. 17 zu lesen) regelt die Voraussetzungen, unter denen Parteien eines Rechtsverhältnisses vereinbaren können, dass ein Gericht oder die Gerichte eines Mitgliedstaats über Streitigkeiten aus diesem Rechtsverhältnis entscheiden sollen. Im vorliegenden Fall gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass eine solche Vereinbarung geschlossen wurde.

11.      Drittens: Unabhängig von einer sich aus anderen Vorschriften der Verordnung ergebenden Zuständigkeit wird ein Gericht eines Mitgliedstaats nach Art. 24 dadurch zuständig, dass sich der Beklagte auf das Verfahren einlässt, es sei denn, die Einlassung erfolgte, um den Mangel der Zuständigkeit geltend zu machen. Lässt sich der Beklagte, der seinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat und der vor den Gerichten eines anderen Mitgliedstaats verklagt wird, hingegen auf das Verfahren nicht ein, so hat sich das Gericht nach Art. 26 Abs. 1 von Amts wegen für unzuständig zu erklären, wenn seine Zuständigkeit nicht nach dieser Verordnung begründet ist.

12.      Eine weitere Vorschrift, die für das Ausgangsverfahren von Bedeutung sein könnte, ist Art. 27 Abs. 1, der Folgendes bestimmt: „Werden bei Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten Klagen wegen desselben Anspruchs zwischen denselben Parteien anhängig gemacht, so setzt das später angerufene Gericht das Verfahren von Amts wegen aus, bis die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts feststeht.“

 Die Fluggastverordnung

13.      Die Fluggastverordnung regelt Mindestrechte für Fluggäste bei Nichtbeförderung oder bei Annullierung oder Verspätung ihres Flugs (Art. 1 Abs. 1). Sie gilt für Fluggäste, die auf Flughäfen im Gebiet eines Mitgliedstaats, das den Bestimmungen des Vertrags unterliegt, eine Reise antreten (Art. 3 Abs. 1 Buchst. a), oder, sofern das ausführende Luftfahrtunternehmen ein Luftfahrtunternehmen der Gemeinschaft ist, für Fluggäste, die von einem Flughafen in einem Drittstaat aus kommend auf einem solchen Flughafen ankommen (Art. 3 Abs. 1 Buchst. b). Ein Luftfahrtunternehmen der Gemeinschaft in diesem Sinne ist ein Luftfahrtunternehmen mit einer gültigen Betriebsgenehmigung, die von einem Mitgliedstaat erteilt wurde (Art. 2 Buchst. c).

14.      Art. 5 Abs. 1 Buchst. c gibt den Fluggästen bei Annullierung des Flugs einen Anspruch auf Ausgleichsleistungen gemäß Art. 7. Nach Art. 7 Abs. 1 Buchst. c betragen die Ausgleichszahlungen bei Flügen von mehr als 3 500 Kilometern, die keine innergemeinschaftlichen Flüge sind (die Kategorie, in die der Flug des Ausgangsverfahrens fällt), 600 Euro. Jedoch kann dieser Betrag bei dieser Flugkategorie nach Art. 7 Abs. 2 Buchst. c um 50 % gekürzt werden, wenn dem Fluggast eine anderweitige Beförderung mit einem Alternativflug angeboten wird, dessen Ankunftszeit nicht später als vier Stunden nach der planmäßigen Ankunftszeit des ursprünglich gebuchten Flugs liegt. Bei anderen Flugkategorien beträgt die betreffende Verspätung bei der Ankunft zwei bzw. drei Stunden.

15.      Art. 6 betrifft nach seinem Wortlaut die Verpflichtungen des Luftfahrtunternehmens bei einer nach vernünftigem Ermessen absehbaren Verzögerung gegenüber der planmäßigen Abflugzeit. Diese Verpflichtungen gelten bei einem Flug von mehr als 3 500 Kilometern, der kein innergemeinschaftlicher Flug ist, wenn die Verzögerung vier Stunden überschreitet. In Abhängigkeit von den genauen Umständen müssen die Luftfahrtunternehmen Betreuungsleistungen (in Form von Erfrischungen, Unterbringung, Beförderung usw.) und/oder Erstattung oder anderweitige Beförderung anbieten.

16.      Dieser Artikel gewährt den Fluggästen keinen Anspruch auf Ausgleichszahlungen bei Verspätungen und bezieht sich nicht auf Verzögerungen gegenüber der planmäßigen Ankunftszeit. Der Gerichtshof hat jedoch die Art. 5, 6 und 7 gemeinsam im Licht der Zielsetzung der Verordnung, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste unabhängig davon zu gewährleisten, ob sie von einer Nichtbeförderung oder einer Annullierung oder Verspätung ihres Flugs betroffen sind, dahin ausgelegt, dass die Fluggäste verspäteter Flüge im Hinblick auf die Anwendung des Ausgleichsanspruchs den Fluggästen annullierter Flüge gleichgestellt werden und somit den in Art. 7 dieser Verordnung vorgesehenen Ausgleichsanspruch geltend machen können, wenn sie wegen eines verspäteten Flugs einen Zeitverlust von drei Stunden oder mehr erleiden(8).

17.      Die Fluggastverordnung enthält keine besonderen Bestimmungen über die gerichtliche Zuständigkeit bei Streitigkeiten hinsichtlich ihrer Anwendung.

 Die EuMahnVO

18.      Die EuMahnVO hat die Vereinfachung und Beschleunigung der grenzüberschreitenden Verfahren im Zusammenhang mit unbestrittenen Geldforderungen und die Verringerung der Verfahrenskosten zum Ziel (Art. 1 Abs. 1 Buchst. a). Gemäß Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 findet sie in Zivil- und Handelssachen Anwendung, wenn mindestens eine der Parteien ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat als dem des befassten Gerichts hat. Nach Art. 4 gilt das Europäische Mahnverfahren „für die Beitreibung bezifferter Geldforderungen, die zum Zeitpunkt der Einreichung des Antrags auf Erlass eines Europäischen Zahlungsbefehls fällig sind“. Es steht einem Antragsteller jedoch frei, eine solche Forderung im Wege eines anderen Verfahrens nach dem Recht eines Mitgliedstaats oder nach Unionsrecht durchzusetzen (Art. 1 Abs. 2). Gemäß Art. 5 Nr. 1 ist der Mitgliedstaat, in dem ein Europäischer Zahlungsbefehl erlassen wird, der „Ursprungsmitgliedstaat“, und nach Art. 5 Nr. 3 gelten als „Gericht“ „alle Behörden der Mitgliedstaaten, die für einen Europäischen Zahlungsbefehl oder jede andere damit zusammenhängende Angelegenheit zuständig sind“.

19.      Art. 6 Abs. 1 bestimmt: „Für die Zwecke der Anwendung dieser Verordnung wird die Zuständigkeit nach den hierfür geltenden Vorschriften des Gemeinschaftsrechts bestimmt, insbesondere der Verordnung (EG) Nr. 44/2001.“

20.      Nach Art. 7 Abs. 1 ist der Antrag auf Erlass eines Europäischen Zahlungsbefehls unter Verwendung des Formblatts gemäß Anhang I zu stellen. Zusätzlich zu den Einzelheiten der geltend gemachten Forderung müssen in dem Antrag die Gründe für die Zuständigkeit angegeben werden. Abschnitt 3 des Formblatts führt 13 mögliche Gründe auf, die keiner weiteren Erläuterung bedürfen, während als Grund 14 aufgeführt wird: „Sonstiger Zuständigkeitsgrund (bitte näher erläutern)“. Die „Anleitung zum Ausfüllen des Antragsformblatts“, ebenfalls im Anhang I, bestimmt u. a.: „Betrifft der Antrag eine Forderung gegen einen Verbraucher, die sich auf einen Verbrauchervertrag bezieht, so ist er bei dem zuständigen Gericht des Mitgliedstaats einzureichen, in dem der Verbraucher seinen Wohnsitz hat. Andernfalls ist er bei dem gemäß [der Brüssel-I-Verordnung] in Zivil- und Handelssachen zuständigen Gerichts einzureichen. …“

21.      Nach Art. 8 prüft das mit einem Antrag auf Erlass eines Europäischen Zahlungsbefehls befasste Gericht anhand des Antragsformulars, ob die u. a. in Art. 6 (betreffend die Zuständigkeit) genannten Voraussetzungen vorliegen; diese Prüfung kann im Rahmen eines „automatisierten Verfahrens“ erfolgen (es wird allerdings nicht angegeben, worin ein solches Verfahren bestehen kann). Nach Art. 11 wird der Antrag zurückgewiesen, wenn die Voraussetzungen nicht erfüllt sind; die Zurückweisung kann weder angefochten werden noch steht sie einem weiteren Gerichtsverfahren entgegen. Sind dagegen alle aufgelisteten Voraussetzungen erfüllt, so wird der Europäische Zahlungsbefehl erlassen und dem Antragsgegner nach Art. 12 zugestellt.

22.      Art. 16 trägt die Überschrift „Einspruch gegen den Europäischen Zahlungsbefehl“. Nach Art. 16 Abs. 1 bis 3 kann der Antragsgegner bei dem Ursprungsgericht innerhalb von 30 Tagen ab dem Tag der Zustellung unter Verwendung eines Formblatts mit der bloßen Mitteilung, dass er die Forderung bestreitet, ohne dass er dafür eine Begründung liefern muss, Einspruch einlegen.

23.      Art. 17 Abs. 1 Unterabs. 1 bestimmt: „Wird innerhalb der in Artikel 16 Absatz 2 genannten Frist Einspruch eingelegt, so wird das Verfahren vor den zuständigen Gerichten des Ursprungsmitgliedstaats gemäß den Regeln eines ordentlichen Zivilprozesses weitergeführt, es sei denn, der Antragsteller hat ausdrücklich beantragt, das Verfahren in einem solchen Fall zu beenden“ (hierzu kann er das Formblatt in Anhang II ausfüllen). Nach Art. 17 Abs. 2 erfolgt die Überleitung in ein ordentliches Zivilverfahren nach dem Recht des Ursprungsmitgliedstaats.

24.      Wird innerhalb der Frist kein Einspruch eingelegt, so erklärt das Ursprungsgericht den Europäischen Zahlungsbefehl gemäß Art. 18 Abs. 1 unverzüglich für vollstreckbar.

25.      Art. 20 regelt die „Überprüfung in Ausnahmefällen“. Insbesondere bestimmt Art. 20 Abs. 2: „[D]er Antragsgegner [ist] nach Ablauf der in Artikel 16 Absatz 2 genannten Frist berechtigt, bei dem zuständigen Gericht des Ursprungsmitgliedstaats eine Überprüfung des Europäischen Zahlungsbefehls zu beantragen, falls der Europäische Zahlungsbefehl gemessen an den in dieser Verordnung festgelegten Voraussetzungen oder aufgrund von anderen außergewöhnlichen Umständen offensichtlich zu Unrecht erlassen worden ist.“ Gemäß Art. 20 Abs. 3 wird der Europäische Zahlungsbefehl für nichtig erklärt, wenn das Gericht entscheidet, dass die Überprüfung gerechtfertigt ist, andernfalls bleibt er in Kraft.

26.      Art. 26 bestimmt: „Sämtliche verfahrensrechtlichen Fragen, die in dieser Verordnung nicht ausdrücklich geregelt sind, richten sich nach den nationalen Rechtsvorschriften.“

 Ungarisches Recht

27.      Nach § 59 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 50 von 2009 über das Zahlungsbefehlsverfahren (2009. évi L. törvény a fizetési meghagyásos eljárásról) sind innerhalb Ungarns die Notare für den Erlass Europäischer Zahlungsbefehle zuständig.

28.      Nach § 38 Abs. 1 und 3 dieses Gesetzes übersendet der Notar im Fall eines Einspruchs gegen den Zahlungsbefehl die Verfahrensakte an das vom Antragsteller angegebene Gericht oder, wenn kein Gericht angegeben wurde, an das nach den Vorschriften des Gesetzes Nr. 3 von 1952 über die Zivilprozessordnung (1952. Évi III. törvény a polgári perrendtartásról) örtlich zuständige Gericht.

29.      Bei einer Klage gegen eine juristische Person, die in Ungarn keinen Sitz hat, bestimmt sich die örtliche Zuständigkeit gemäß § 30 Abs. 2 der ungarischen Zivilprozessordnung nach dem eingetragenen Sitz des Klägers, wenn es sich um eine gebietsansässige juristische Person handelt, bzw. nach dem Wohnsitz oder dem gewöhnlichen Aufenthaltsort des Klägers, wenn es sich um eine gebietsansässige natürliche Person handelt.

30.      Nach § 36 Abs. 2 kann eine Klage wegen einer Forderung aus einem von einem Wirtschaftsunternehmen im Rahmen seiner Tätigkeit abgeschlossenen Geschäft auch vor dem Gericht des Ortes des Geschäftsabschlusses oder des Erfüllungsorts erhoben werden. Nach § 37 kann eine Schadensersatzklage auch vor dem Gericht des Ortes der Schadensverursachung oder des Schadenseintritts erhoben werden.

31.      Das angerufene Gericht hat gemäß § 43 Abs. 1 das Fehlen seiner örtlichen Zuständigkeit von Amts wegen zu berücksichtigen; es prüft die Richtigkeit des Sachvortrags hinsichtlich der örtlichen Zuständigkeit aber nur dann, wenn er den allgemein oder dem Gericht offiziell bekannten Tatsachen widerspricht oder wenn er unwahrscheinlich ist oder von der Gegenseite bestritten wird.

32.      Im Fall eines Zuständigkeitskonflikts wird das zuständige Gericht gemäß § 45 Abs. 1 und 2 Buchst. c von der Kúria bestimmt.

33.      Nach § 130 Abs. 1 weist das angerufene Gericht die Klage ohne Anberaumung eines Termins insbesondere dann ab, i) wenn die Zuständigkeit der ungarischen Gerichte für die Entscheidung des Rechtsstreits durch eine gesetzliche Bestimmung oder ein internationales Übereinkommen ausgeschlossen ist, ii) wenn für die vom Kläger geltend gemachte Forderung ein anderes Gericht oder eine andere Behörde sachlich zuständig ist oder iii) wenn für die Entscheidung des Rechtsstreits ein anderes Gericht örtlich zuständig ist.

34.      Nach § 157 wird das Verfahren eingestellt, wenn die Rechtssache aus diesen Gründen ohne Anberaumung eines Termins hätte abgewiesen werden müssen. In dem Fall, dass die Klage nicht aus einem dieser Gründe ohne Anberaumung eines Termins abgewiesen werden kann, sich aber unter keinem Gesichtspunkt eine Zuständigkeit der ungarischen Gerichte feststellen lässt, stellt das Gericht gemäß § 157/A Abs. 1 das Verfahren u. a. dann ein, wenn der Beklagte im ersten Verhandlungstermin nicht erschienen ist und keine Verteidigungsschrift vorgelegt hat.

 Sachverhalt, Verfahren und Vorlagefragen

35.      Das Vorabentscheidungsersuchen enthält folgende Darstellung des rechtlichen und verfahrensmäßigen Hintergrunds des Ausgangsverfahrens.

36.      Ein Fluggast trat seinen Ausgleichsanspruch wegen eines verspäteten Flugs an die Flight Refund Ltd (im Folgenden: Flight Refund) ab, eine Gesellschaft mit Sitz im Vereinigten Königreich, die auf die Geltendmachung solcher Forderungen spezialisiert ist. Flight Refund beantragte daraufhin bei einer ungarischen Notarin einen Europäischen Zahlungsbefehl gegen die Deutsche Lufthansa AG (im Folgenden: Lufthansa), eine Gesellschaft mit Sitz in Deutschland. Sie begründete ihren Anspruch auf 600 Euro damit, dass ihr infolge der Abtretung wegen der mehr als dreistündigen Verspätung des Flugs LH 7626 eine Ausgleichsleistung durch Lufthansa zustehe(9).

37.      Die Notarin erließ den Europäischen Zahlungsbefehl, ohne den Ort des Vertragsschlusses, den Erfüllungsort, den Ort des behaupteten Schadensereignisses, den Ort der Geschäftsstelle des Luftfrachtführers, durch die der Vertrag abgeschlossen worden war, oder den Bestimmungsort des Flugs zu prüfen. Sie erklärte sich mit der Begründung für zuständig, dass Ungarn ein Vertragsstaat des Übereinkommens von Montreal sei. Lufthansa legte Einspruch ein, wobei sie angab, dass der genannte Flug nicht von ihr, sondern von United Airlines durchgeführt worden sei(10).

38.      Die Rechtsanwältin von Flight Refund erklärte, dass sie das für die Entscheidung im streitigen Verfahren zuständige Gericht nicht benennen könne. Daraufhin stellte die Notarin bei der Kúria den Antrag, das zuständige Gericht zu bestimmen, wobei sie die Ansicht vertrat, dass sich die Zuständigkeit ungarischer Gerichte aus Art. 33 Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal ergebe. Es sei aber nicht möglich, festzustellen, welches Gericht für das Verfahren tatsächlich zuständig sei, da keine Partei in Ungarn ansässig sei und weder der Ort des Vertragsschlusses noch der Erfüllungsort aus dem geltend gemachten Anspruch erkennbar sei. Da es sich bei dem Flug LH 7626 um einen Flug zwischen Newark und London handele, könne der Schaden in den Vereinigten Staaten oder im Vereinigten Königreich eingetreten sein. Außerdem mache Lufthansa geltend, dass United Airlines der Betreiber dieser Flugstrecke sei.

39.      Auf der Grundlage ihres Verständnisses von dieser Sachlage hat die Kúria dem Gerichtshof fünf Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt. Die ersten drei Fragen bezogen sich auf einen Schadensersatzanspruch auf der Grundlage von Art. 19 des Übereinkommens von Montreal sowie auf die Wechselbeziehungen zwischen den Zuständigkeitsvorschriften dieses Übereinkommens und denen der EuMahnVO und der Brüssel-I-Verordnung. Die vierte Frage betraf die Möglichkeit, von Amts wegen einen unter Verstoß gegen die einschlägigen Vorschriften erlassenen Europäischen Zahlungsbefehl zu überprüfen oder das Verfahren einzustellen. Die fünfte Frage schließlich betraf die etwaige Verpflichtung, ein ungarisches Gericht für das streitige Verfahren über einen solchen Zahlungsbefehl zu bestimmen, selbst wenn keinerlei Anknüpfungspunkte für die Zuständigkeit ungarischer Gerichte vorhanden sind.

40.      Schriftliche Erklärungen sind ursprünglich von der deutschen und der ungarischen Regierung sowie von der Kommission abgegeben und u. a. den Parteien des Ausgangsverfahrens übermittelt worden.

41.      Die Rechtsanwältin von Flight Refund hat sodann dem Gerichtshof geschrieben, sie habe die Kúria darüber informiert, dass der Ausgleichsanspruch nicht auf Art. 19 des Übereinkommens von Montreal, sondern auf die Fluggastverordnung gestützt werde, auch wenn als Grundlage für die Zuständigkeit der ungarischen Gerichte Art. 33 des Übereinkommens von Montreal in Anspruch genommen worden sei. Sie erläuterte, dass sie die Rechtsgrundlage des Anspruchs im Antragsformular nicht angegeben habe, weil es dort keinen Abschnitt gebe, in dem dies verlangt werde; sie habe aber in Abschnitt 3 des Formblatts zu Code 14 Art. 33 des Übereinkommens von Montreal als die Grundlage für die gerichtliche Zuständigkeit angegeben, weil dies eine Vorschrift sei, die eine Bestimmung über die gerichtliche Zuständigkeit bei Klagen auf Schadensersatz wegen Verspätungen bei der Luftbeförderung zum Inhalt habe, während die Fluggastverordnung keine derartige Bestimmung enthalte.

42.      Im Hinblick auf diese Mitteilung hat der Gerichtshof die Kúria gemäß Art. 101 Abs. 1 seiner Verfahrensordnung um Klarstellung hinsichtlich der Rechtsgrundlage für die im Ausgangsverfahren streitgegenständliche Forderung und um Angabe der Identität des ausführenden Luftfahrtunternehmens im Sinne der Fluggastverordnung ersucht.

43.      In ihrer Antwort hat die Kúria erläutert, der Anspruch von Flight Refund sei tatsächlich auf die Art. 6 und 7 der Fluggastverordnung gestützt, die Zuständigkeit der ungarischen Gerichte werde aber aus Art. 33 des Übereinkommens von Montreal hergeleitet. In Anbetracht dessen hat die Kúria die ersten drei Fragen zurückgezogen und die fünfte abgeändert. Da ihr nach nationalen Verfahrensvorschriften eine Beweiserhebung in der Sache nicht möglich sei, könne sie jedoch keine weiteren Informationen zur Identität des ausführenden Luftfahrtunternehmens geben.

44.      Die beiden Fragen, zu denen der Gerichtshof um Vorabentscheidung ersucht wird, lauten nunmehr wie folgt:

1.      Ist es möglich, einen Europäischen Zahlungsbefehl, der dem Gegenstand der EuMahnVO nicht entspricht oder ohne Zuständigkeit erlassen wurde, von Amts wegen einer Überprüfung zu unterziehen, oder ist das infolge eines Einspruchs eingeleitete streitige Verfahren mangels Zuständigkeit von Amts wegen oder auf Antrag einzustellen?

2.      Ist für den Fall, dass irgendein ungarisches Gericht für die Entscheidung in dem Rechtsstreit zuständig ist, die einschlägige Zuständigkeitsvorschrift dahin auszulegen, dass die Kúria, wenn sie zur Bestimmung eines Gerichts angerufen wird, zumindest ein Gericht bestimmen muss, das auch dann, wenn ihm nach den Verfahrensvorschriften des Mitgliedstaats die sachliche und örtliche Zuständigkeit fehlt, verpflichtet ist, in der Sache über das infolge eines Einspruchs eingeleitete streitige Verfahren zu entscheiden?

45.      Darüber hinaus hat die Kúria in ihrer Antwort dargelegt, dass für den Fall, dass die Fluggastverordnung die notwendigen Bestimmungen nicht enthalte, weiterhin zu klären sei, ob die gerichtliche Zuständigkeit für die Durchsetzung eines auf diese Verordnung gestützten Anspruchs im Wege des Europäischen Mahnverfahrens sich nach dem Übereinkommen von Montreal, nach der Brüssel-I-Verordnung oder anderen Rechtsvorschriften bestimme. Auch müsse es wissen, ob Art. 17 Abs. 1 der EuMahnVO eine Zuständigkeitsregelung enthalte, die unabhängig von der Brüssel-I-Verordnung eine Zuständigkeit der Gerichte des Ursprungsmitgliedstaats begründe.

46.      Nach der Übermittlung der Antwort der Kúria und der umformulierten Fragen hat nur Ungarn schriftliche Erklärungen abgegeben. Eine mündliche Verhandlung ist nicht beantragt worden und hat auch nicht stattgefunden.

 Würdigung

 Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens

47.      Die deutsche Regierung hat in ihren Erklärungen die Ansicht vertreten, dass das Vorabentscheidungsersuchen unzulässig sein könnte, und zwar entweder insgesamt, weil sich aus dem Internetauftritt von Flight Refund ergebe, dass die Gesellschaft ihre Tätigkeit eingestellt habe, oder hinsichtlich der ersten drei Fragen, weil die entsprechende Auslegung des Übereinkommens von Montreal für die Entscheidung des Ausgangsverfahrens nicht erheblich sei.

48.      Da die Kúria bestätigt hat, dass das Verfahren bei ihr noch anhängig ist, und sie ihre drei ersten Fragen zurückgezogen hat, besteht kein Anlass, diese Gesichtspunkte weiter zu verfolgen.

 Gegenstand des Vorabentscheidungsersuchens

49.      Die grundsätzliche Frage in diesem Rechtsstreit lautet: Was hat zu geschehen, wenn ein Europäischer Zahlungsbefehl von einer Behörde in einem Mitgliedstaat erlassen wurde, dessen Gerichte für den in dem Zahlungsbefehl geltend gemachten Anspruch unzuständig sind, und dann nach einem Einspruch das streitige Verfahren vor den „zuständigen Gerichten des Ursprungsmitgliedstaats“ weitergeführt werden muss? Wie die deutsche Regierung dargelegt hat, enthält die EuMahnVO keine Regelung für einen derartigen Fall.

50.      Mit ihren Fragen nimmt die Kúria zwei mögliche Lösungen in Aussicht. Erstens könnte sie selbst, ohne dass sie ein Gericht zu bestimmen hätte, das sich in der Sache mit dem zugrunde liegenden Anspruch befasst, berechtigt sein, eine Überprüfung des Europäischen Zahlungsbefehls durchzuführen, die – sofern der Zahlungsbefehl angesichts der in der EuMahnVO geregelten Voraussetzungen eindeutig zu Unrecht erlassen wurde – zu seiner Nichtigerklärung oder zur Einstellung des Verfahrens führen könnte. Zweitens könnte die Kúria selbst dann, wenn es keinen erkennbaren Anknüpfungspunkt für die gerichtliche Zuständigkeit gibt, gehalten sein, ein ungarisches Gericht zu bestimmen, das sich mit dem Anspruch befasst.

51.      Vor der Prüfung, ob einer dieser Lösungen gefolgt werden kann (keine von ihnen kann offensichtlich als nach den Rechtsvorschriften geboten angesehen werden, und es scheint vorzugswürdig, beide zusammen zu behandeln), ist es meiner Ansicht nach hilfreich, sich zu vergegenwärtigen, was im vorliegenden Fall bisher geschehen oder nicht geschehen ist – und dem gegenüberzustellen, was hätte geschehen sollen. Ich denke, man kann mit Fug und Recht sagen, dass die Komplexität, aus der sich die Kúria nunmehr befreien muss, im Wesentlichen durch die elementaren Fehler zunächst von Flight Refund und ihrer Rechtsanwältin und dann der Notarin, die den Europäischen Zahlungsbefehl erlassen hat, verursacht wurde. Diese Fehler konterkarieren effektiv das Ziel der EuMahnVO, grenzüberschreitende Verfahren im Zusammenhang mit unbestrittenen Geldforderungen zu vereinfachen und zu beschleunigen(11).

52.      Zuallererst ist darauf hinzuweisen, dass sich Flight Refund für die Zuständigkeit für den Erlass des Europäischen Zahlungsbefehls gegen Lufthansa in Ungarn nicht auf das Übereinkommen von Montreal hätte stützen dürfen(12). Nach Art. 6 der EuMahnVO wird die Zuständigkeit nach den hierfür geltenden „Vorschriften des Gemeinschaftsrechts bestimmt, insbesondere der Verordnung (EG) Nr. 44/2001“. Die „Vorschriften des Gemeinschaftsrechts“ könnten zwar grundsätzlich auch das Übereinkommen von Montreal einschließen, der Gerichtshof hat jedoch, worauf in den schriftlichen Erklärungen aufmerksam gemacht wurde, bereits entschieden, dass sich die Zuständigkeit für einen Anspruch aufgrund der Fluggastverordnung ausschließlich anhand der Brüssel-I-Verordnung bestimmt(13). Darüber hinaus ergibt sich aus der „Anleitung zum Ausfüllen des Antragsformblatts“ für einen Europäischen Zahlungsbefehl klar, dass die Vorschriften der Brüssel-I-Verordnung maßgebend sind (siehe oben, Nr. 20). Jedenfalls betrifft jedwede Zuständigkeitsvorschrift im Übereinkommen von Montreal unzweifelhaft Verfahren, die sich auf Ansprüche aus diesem Übereinkommen beziehen, und nicht auf Ansprüche aus anderen Rechtstexten. Im Gegensatz zur Brüssel-I-Verordnung soll das Übereinkommen von Montreal keine allgemein anwendbaren Zuständigkeitsregeln aufstellen.

53.      Zweitens hätte die Rechtsanwältin von Flight Refund, wenn sie sich schon auf das Übereinkommen von Montreal stützte, erkennen müssen, dass es zwei unterschiedliche ungarische Fassungen des Übereinkommens gibt(14), von denen keine verbindlich war und von denen jedenfalls eine dahin ausgelegt werden konnte, dass die Wendung „im Hoheitsgebiet eines der Vertragsstaaten“ keine eigenständige und hinreichende Grundlage für die gerichtliche Zuständigkeit darstellt, so dass es notwendig gewesen wäre, eine verbindliche Fassung des Übereinkommens heranzuziehen.

54.      Drittens hätte die Notarin, bei der der Antrag auf Erlass des Europäischen Zahlungsbefehls gestellt wurde, die Ansicht von Flight Refund, die gerichtliche Zuständigkeit ergebe sich aus Art. 33 des Übereinkommens von Montreal, prüfen müssen. Es ist zwar richtig, dass die Prüfung nach Art. 8 der EuMahnVO im Rahmen eines „automatisierten Verfahrens“ erfolgen kann, was natürlich eine mögliche Fehlerquelle darstellt. Andererseits ist ein ungarischer Notar für die Zwecke der EuMahnVO eine Justizbehörde, und man muss davon ausgehen, dass er (bzw. sie) in dieser Eigenschaft das Recht kennt, das er anwendet, und die Verantwortung für die Art und Weise seiner Anwendung übernimmt.

55.      Die Rechtsanwältin von Flight Refund und die Notarin hätten somit die möglichen Grundlagen für die gerichtliche Zuständigkeit ausschließlich nach der Brüssel-I-Verordnung prüfen müssen. Diese möglichen Grundlagen dürften sich wie folgt darstellen.

56.      Die erste Zuständigkeit nach der Brüssel-I-Verordnung ist diejenige der Gerichte des Mitgliedstaats, in dem der Antragsgegner seinen Wohnsitz hat (Art. 2 Abs. 1) – im vorliegenden Fall Deutschland. Die zweite Zuständigkeit – bei Ansprüchen aus einem Vertrag – ist diejenige des Gerichts des Ortes der Erfüllung der betreffenden Verpflichtung (Art. 5 Nr. 1 Buchst. a). Da ein Anspruch auf Ausgleichszahlung wegen einer behaupteten Ankunftsverspätung geltend gemacht wird, muss der Erfüllungsort meiner Ansicht nach der Ankunftsort sein – also London. Demnach kamen für den Antrag auf Erlass eines Europäischen Zahlungsbefehls in erster Linie die Gerichte in Deutschland oder England in Betracht, bei denen sich die Zuständigkeit am sichersten bejahen ließ.

57.      Als dritte Möglichkeit kommen die Gerichte des Ortes in Betracht, in dem Lufthansa eine Zweigniederlassung, eine Agentur oder eine sonstige Niederlassung hatte (Art. 5 Nr. 5), wenn der Flugschein bei einer solchen Zweigniederlassung, Agentur oder sonstigen Niederlassung erworben wurde. Das ist vorstellbar und könnte, da der Fluggast offenbar in Ungarn ansässig ist, die Zuständigkeit der ungarischen Gerichte begründen. Allerdings müsste die Kúria hierzu weitere Nachforschungen anstellen, da es gegenwärtig keinen Hinweis darauf gibt, wo der Flugschein gekauft wurde.

58.      Auch wenn es nicht unmittelbar erheblich ist, sei darauf hingewiesen, dass die drei oben genannten Grundlagen für eine gerichtliche Zuständigkeit denjenigen in Art. 33 Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal entsprechen, wenn man die unzutreffende Grundlage „im Hoheitsgebiet eines der Vertragsstaaten“ weglässt.

59.      Eine weitere mögliche Grundlage für die Zuständigkeit der ungarischen Gerichte wäre der Wohnsitz des Fluggasts. Es trifft zu, dass die ungarische Rechtsvorschrift, wonach in Ungarn eine natürliche Person mit Wohnsitz oder mit gewöhnlichem Aufenthaltsort in Ungarn eine Klage gegen eine dort nicht ansässige juristische Person erheben kann(15), mit der Brüssel-I-Verordnung offensichtlich nicht voll vereinbar ist, soweit es sich dabei um eine allgemein anwendbare Regelung handelt. Eine solche Vorschrift enthielte das genaue Gegenteil zu der allgemeinen Regelung in der Brüssel-I-Verordnung, wonach in erster Linie die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem der Antragsgegner seinen Wohnsitz hat, zuständig sind(16). Es gibt jedoch Umstände, unter denen diese Verordnung diese Möglichkeit erlaubt, nämlich dann, wenn die natürliche Person ein Verbraucher ist und sie gegen die andere Partei eines Verbrauchervertrags, der – soweit es sich um einen Beförderungsvertrag handelt – Bestandteil einer Pauschalreise ist, Klage erhebt(17).

60.      Jedenfalls müssten auch hier die Umstände des in Rede stehenden Vertrags von der Kúria noch ermittelt werden. Außerdem habe ich Zweifel, ob diese Grundlage für die gerichtliche Zuständigkeit herangezogen werden kann, wenn der fragliche Verbraucher seinen Anspruch an ein Inkassounternehmen wie Flight Refund abgetreten hat. Zwar wird die Frage einer Abtretung in der Brüssel-I-Verordnung nicht behandelt(18), und ich kenne keine Rechtsprechung zu dieser Frage, es ist aber klar, dass die Ausnahmeregelung, wonach den Gerichten des Wohnsitzes des Verbrauchers genauso viel Gewicht gegeben werden kann wie denen des Wohnsitzes des Antragsgegners, darauf abzielt, die schwächere Vertragspartei von der Notwendigkeit zu befreien, einen Anspruch vor ausländischen Gerichten geltend zu machen(19). Diese Erwägung gilt nicht mehr, wenn der Kläger nicht die schwächere Vertragspartei, also der Verbraucher, ist, sondern ein gewerbliches Inkassounternehmen(20).

61.      Schließlich ist es möglich, dass die Bedingungen beim Verkauf des Flugscheins eine Gerichtsstandsvereinbarung enthalten haben. Sollte dies der Fall sein, müsste deren Gültigkeit nach Maßgabe von Art. 23 und, sofern anwendbar, Art. 17 der Brüssel-I-Verordnung beurteilt werden(21).

62.      Vor diesem Hintergrund scheint mir, dass nach den zur Verfügung stehenden Informationen eine internationale Zuständigkeit der ungarischen Gerichte für einen Ausgleichsanspruch nach der Fluggastverordnung aufgrund der Brüssel-I-Verordnung nicht völlig ausgeschlossen werden kann, obwohl weder der Gerichtshof noch die Kúria irgendwelche Informationen besitzen, um eine solche Zuständigkeit mit Gewissheit annehmen zu können. Was gesagt werden kann, ist, dass diese Zuständigkeit nicht auf das Übereinkommen von Montreal gestützt werden kann und dass weitere Informationen erforderlich sind, um eine gerichtliche Zuständigkeit aufgrund der Brüssel-I-Verordnung zu ermitteln.

63.      Die Kúria hat dem Gerichtshof mitgeteilt, dass sie nicht befugt sei, Beweise in der Sache zu erheben. Es ist nicht Aufgabe des Gerichtshofs, das ungarische Recht auszulegen, es scheint mir aber durchaus plausibel zu sein, dass die von der Kúria angeführten und oben in den Nrn. 29 ff. wiedergegebenen Rechtsvorschriften einer Beweiserhebung zur Frage der Zulässigkeit nicht entgegenstehen. Jedenfalls muss meiner Meinung nach die ungarische Zivilprozessordnung in Übereinstimmung mit der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs so ausgelegt werden, dass sie den unionsrechtlichen Vorschriften, einschließlich derjenigen zur gerichtlichen Zuständigkeit, volle Wirksamkeit verleiht(22).

64.      Sollte eine eingehende Prüfung aller für die Frage der gerichtlichen Zuständigkeit nach der Brüssel-I-Verordnung relevanten tatsächlichen Umstände ergeben, dass die ungarischen Gerichte für den Anspruch von Flight Refund gegen Lufthansa auf der Grundlage der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Fluggastverordnung zuständig sind, würden die von der Kúria geltend gemachten Schwierigkeiten entfallen.

65.      Im Folgenden gehe ich daher davon aus, dass eine solche Prüfung stattgefunden und zu dem Ergebnis geführt hat, dass diese Gerichte für die Entscheidung über diesen Anspruch nicht zuständig sind. Unter diesen Umständen ist die Kúria schlicht nicht in der Lage, ein zuständiges Gericht des Ursprungsmitgliedstaats zu bestimmen, vor dem das Verfahren, wie in Art. 17 Abs. 1 der EuMahnVO vorgesehen, in Übereinstimmung mit den normalen zivilverfahrensrechtlichen Vorschriften weitergeführt werden könnte.

66.      Mit dem unüberlegten Erlass des Europäischen Zahlungsbefehls durch die Notarin ist die Geschichte allerdings noch nicht zu Ende.

67.      Dieser Zahlungsbefehl ist Lufthansa zugestellt worden, die dagegen Einspruch eingelegt hat. Obwohl sie nicht dazu verpflichtet ist, hat Lufthansa den Grund genannt, aus dem sie eine Haftung ablehnt, nämlich den, dass sie für den betreffenden Flug nicht das ausführende Luftfahrtunternehmen gewesen sei. Wäre dies im Sinne von Art. 24 der Brüssel-I-Verordnung als Einlassung zu werten gewesen, wäre dadurch die Zuständigkeit der ungarischen Gerichte begründet worden(23). Der Gerichtshof hat jedoch entschieden, dass die Einlegung eines Einspruchs gegen einen Europäischen Zahlungsbefehl, auch wenn er gleichzeitig Vorbringen zur Sache enthält, nicht als Einlassung auf das Verfahren im Sinne von Art. 24 der Brüssel-I-Verordnung angesehen werden kann(24).

68.      Der Einspruch bewirkt erstens, dass der Europäische Zahlungsbefehl nicht gemäß Art. 18 der EuMahnVO für vollstreckbar erklärt werden kann, und zweitens, dass das Verfahren gemäß Art. 17 Abs. 1 dieser Verordnung vor den „zuständigen Gerichten des Ursprungsmitgliedstaats“ weiterzuführen ist.

69.      Bis das Verfahren so weitergeführt werden kann, befindet sich der Anspruch von Flight Refund in der Schwebe. Ein Europäischer Zahlungsbefehl wurde erlassen, er kann aber nicht für vollstreckbar erklärt werden. Die EuMahnVO schreibt eindeutig vor, dass das Verfahren im Ursprungsmitgliedstaat, nämlich Ungarn, weitergeführt werden muss.

70.      Dies ist sicherlich die richtige Vorgehensweise, wenn man davon ausgeht, dass die Gerichte dieses Mitgliedstaats für den Anspruch international zuständig sind, was grundsätzlich der Fall sein wird, wenn die Behörde, die den Europäischen Zahlungsbefehl erlassen hat, ihre eigene Zuständigkeit in Übereinstimmung mit den Art. 6 und 8 der EuMahnVO ordnungsgemäß geprüft hat. Die Möglichkeit, dass die Gerichte des Ursprungsmitgliedstaats für den geltend gemachten Anspruch international nicht zuständig sind, scheint der Gesetzgeber jedoch nicht in vollem Umfang in Betracht gezogen zu haben.

71.      Darüber hinaus bestimmt Art. 1 Abs. 2 der EuMahnVO zwar, dass die Verordnung es dem Antragsteller freistellt, seine Forderung im Wege eines anderen Verfahrens durchzusetzen, doch kann dies meiner Ansicht nach nicht bedeuten, dass gleichzeitig in einem anderen Verfahren die Forderung geltend gemacht oder der Zahlungsbefehl durchgesetzt werden kann, was zu einer doppelten Vollstreckung führen könnte. Vielmehr dürfte Art. 27 der Brüssel-I-Verordnung verhindern, dass sich ein anderes Gericht mit der Forderung befasst, solange das Europäische Mahnverfahren noch nicht beendet ist.

72.      Wie ich dargelegt habe(25) und in den Erklärungen gegenüber dem Gerichtshof aufgezeigt worden ist, enthalten die Rechtsvorschriften keine Lösung speziell für eine Situation wie die des Ausgangsverfahrens. Es muss daher eine Lösung gefunden werden, die mit den Rechtsvorschriften nicht unvereinbar ist und die es erlaubt, dass das Europäische Mahnverfahren beendet wird, dass Flight Refund (wenn sie dies noch wünscht) ihre Forderung weiterverfolgen kann und dass Lufthansa sich vor einem Gericht, das im Sinne der Brüssel-I-Verordnung zuständig ist, verteidigen kann.

73.      Lufthansa hat in ihrem Einspruch die Frage der örtlichen Unzuständigkeit der Notarin nicht aufgeworfen. Aber selbst wenn sie dies getan hätte, sehe ich nicht, wie dies die verfahrensmäßige Situation hätte ändern können. Die Wirkung des Einspruchs, der nicht begründet werden muss, wäre meiner Auffassung nach dieselbe wie unter den tatsächlichen Gegebenheiten des Ausgangsverfahrens: Das Verfahren über die Forderung wäre auch dann vor dem zuständigen Gericht des Ursprungsmitgliedstaats weiterzuführen, und es bliebe unverändert unmöglich, ein solches Gericht zu finden.

74.      Lufthansa hätte vielleicht nach Art. 20 Abs. 2 der EuMahnVO die örtliche Unzuständigkeit der Notarin nach Ablauf der Einspruchsfrist (also, was damit einhergeht, erst nachdem der Europäische Zahlungsbefehl für vollstreckbar erklärt wurde) mit der Begründung vortragen können, dass der Zahlungsbefehl „gemessen an den in dieser Verordnung festgelegten Voraussetzungen … offensichtlich zu Unrecht erlassen worden ist“ – eine Wendung, die meiner Auffassung nach dahin zu verstehen ist, dass sie auch den Fall umfasst, dass er von einer Behörde erlassen wurde, der dafür offenkundig die internationale Zuständigkeit nach der Brüssel-I-Verordnung fehlte. Dies hätte einen Antrag auf Überprüfung des Zahlungsbefehls bei dem „zuständigen Gericht des Ursprungsmitgliedstaats“ bedeutet, das, wenn es die Überprüfung für gerechtfertigt hält, den Europäischen Zahlungsbefehl für nichtig zu erklären hätte. Damit wäre das Verfahren beendet worden (unbeschadet der Möglichkeit, den Anspruch in einem gleichen oder einem anderen Verfahren vor einem zuständigen Gericht erneut geltend zu machen).

75.      Ich will nicht behaupten, dass Lufthansa in dieser Weise hätte vorgehen müssen – es ist, wirtschaftlich gesehen, unwahrscheinlich, dass dies in ihrem Interesse gewesen wäre. Dennoch lohnt es sich, denke ich, sich die Zeit zu nehmen, um diese Situation zu betrachten und mit der des Ausgangsverfahrens zu vergleichen.

76.      Wenn der Antragsgegner gemäß Art. 20 Abs. 2 der EuMahnVO eine Überprüfung beantragt, muss es selbstverständlich zunächst einmal ein „zuständiges Gericht des Ursprungsmitgliedstaats“ geben, das diese Überprüfung durchführt, und zwar selbst dann, wenn es – was durchaus der Fall sein kann – in dem betreffenden Staat kein Gericht gibt, das für den zugrunde liegenden Anspruch zuständig ist. Wenn dem nicht so wäre, wäre es unmöglich, eine Situation zu berichtigen, in der ein Europäischer Zahlungsbefehl von einer Behörde ohne internationale Zuständigkeit erlassen worden ist, und es muss möglich sein, dies zu tun.

77.      Da die EuMahnVO keine Vorschriften über die Bestimmung des zuständigen Gerichts enthält, ist es ebenso selbstverständlich, dass gemäß Art. 26 dieser Verordnung die nationalen Vorschriften anzuwenden sind. In Ungarn muss das nationale Recht(26) daher dahin gehend ausgelegt werden, dass, sofern sich die Bestimmung des zuständigen Gerichts nicht automatisch – beispielsweise – aus dem Ort der Niederlassung des Notars, der den Europäischen Zahlungsbefehl erlassen hat, ergibt, die Kúria in der Lage und verpflichtet sein muss, das zuständige Gericht zu bestimmen. Wenn der Zahlungsbefehl zu Unrecht erlassen wurde, hat dieses Gericht das Verfahren mit der Nichtigerklärung des Zahlungsbefehls zu beenden. Allerdings ist das in dieser Beziehung zuständige Gericht nicht dafür zuständig, über den zugrunde liegenden Anspruch zu erkennen. Es ist das Gericht, das für die Überprüfung der Rechtmäßigkeit des Europäischen Zahlungsbefehls zuständig ist.

78.      Aber das ist im Wesentlichen auch die Lage im vorliegenden Ausgangsverfahren. Grundsätzlich ist die Kúria aufgrund ihrer Verpflichtungen nach der ungarischen Zivilprozessordnung in Verbindung mit Art. 17 Abs. 1 der EuMahnVO und ihrer Verpflichtung, die uneingeschränkte Wirksamkeit der unionsrechtlichen Zuständigkeitsvorschriften zu gewährleisten, verpflichtet, ein Gericht zu bestimmen, dass zuständig ist, um über den zugrunde liegenden Anspruch zu erkennen. Zu diesem Zweck muss sie alle Tatsachen prüfen, die für die Bestimmung der gerichtlichen Zuständigkeit von Bedeutung sind. Zu einer solchen Bestimmung ist sie nur dann nicht in der Lage, wenn sie festgestellt hat, dass den ungarischen Gerichten die internationale Zuständigkeit fehlt.

79.      In einer solchen Situation wäre es daher logisch, ein Gericht zu bestimmen, das für die Überprüfung der Rechtmäßigkeit des Europäischen Zahlungsbefehls zuständig gewesen wäre, wenn die Antragsgegnerin eine Überprüfung nach Art. 20 Abs. 2 der EuMahnVO beantragt hätte, und das auch sachlich zuständig ist, um über Ansprüche dieser Art zu erkennen. Dieses Gericht müsste sich dann gemäß Art. 26 Abs. 1 der Brüssel-I-Verordnung für die Entscheidung über den Anspruch für unzuständig erklären, es sei denn, die Antragsgegnerin hätte sich nicht nur zum Bestreiten der Zuständigkeit auf das Verfahren eingelassen. Anschließend stünde es der Antragstellerin frei, den Anspruch vor einem anderen, zuständigen Gericht geltend zu machen. Sollte sich die Antragsgegnerin auf irgendeine andere Weise auf das Verfahren einlassen, würde das Gericht gemäß Art. 24 der Brüssel-I-Verordnung zuständig und das Verfahren könnte in Übereinstimmung mit Art. 17 der EuMahnVO weitergeführt werden.

80.      Diese Lösung, die weitgehend der in der zweiten Frage der Kúria in Aussicht genommenen entspricht, steht meines Erachtens in keinem Widerspruch zu den einschlägigen Rechtsvorschriften. Sie könnte allerdings Schwierigkeiten bereiten, wenn es kein Gericht geben sollte, das sowohl für die Überprüfung des Europäischen Zahlungsbefehls als auch in materieller Hinsicht für die Entscheidung über Ansprüche der betreffenden Art zuständig ist.

81.      Die andere Lösung, die die Kúria in ihrer ersten Frage in Aussicht nimmt, würde bedeuten, dass die Kúria selbst den Europäischen Zahlungsbefehl von Amts wegen überprüft. Damit würde zwar das offensichtlich gewünschte Ergebnis in einer Weise erzielt, die nicht besonders von der anderen Lösung abweicht; ich habe jedoch den Eindruck, dass sie etwas weniger mit den Vorschriften der EuMahnVO vereinbar ist, da in Art. 20 dieser Verordnung keine Überprüfung von Amts wegen, sondern nur eine Überprüfung auf Antrag des Antragsgegners vorgesehen ist.

 Schlussbemerkungen

82.      Der Betrag, um den es im Ausgangsverfahren geht, ist gering(27); ich gebe jedoch zu, dass der Streitwert in anderen Verfahren über einen Europäischen Zahlungsbefehl erheblich höher sein kann. In allen vergleichbaren Situationen ist die für das erörterte Problem letztlich zu findende Lösung indessen offensichtlich: Im Interesse aller Beteiligten muss das Verfahren über den Europäischen Zahlungsbefehl beendet werden, damit der Anspruch, wenn gewünscht, bei einem zuständigen Gericht geltend gemacht werden kann. Wäre das Problem vor einem untergeordneten Gericht aufgeworfen worden, dann wäre wahrscheinlich eine pragmatische Lösung gefunden worden, ohne dass um eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs ersucht worden wäre.

83.      Die Angelegenheit ist jedoch von einem Gericht zu entscheiden, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können und das daher nach Art. 267 Abs. 3 AEUV nicht anders handeln konnte, als um eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs zu ersuchen. Die Kúria ist dieser Verpflichtung loyal nachgekommen. Das hat dazu geführt, dass der Gerichtshof den Fall ausführlich zu behandeln hatte, obwohl jede der Lösungen, die die Kúria selbst vorgeschlagen hat, meiner Ansicht nach zu einem befriedigenden Ergebnis geführt hätte.

84.      Dies ist meiner Ansicht nach das Musterbeispiel eines Falles, bei dem eine etwas weniger intensive Form der Behandlung angebracht wäre – sei es durch ein Verfahren, mit dem „grünes Licht“ gegeben wird, wie es mein Vorgänger Sir Francis Jacobs oft befürwortet hat(28), oder durch ein anderes Verfahren. Angesichts der zunehmenden Arbeitsbelastung des Gerichtshofs und des auf ihm lastenden Drucks, als Antwort an die nationalen Gerichte umgehend Entscheidungen zu fällen, könnte es sich lohnen, die Diskussion über diese Frage wieder aufzunehmen.

 Ergebnis

85.      Nach alledem bin ich der Meinung, dass der Gerichtshof die Fragen der Kúria wie folgt beantworten sollte:

Die Verordnung (EG) Nr. 1896/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 zur Einführung eines Europäischen Mahnverfahrens ist dahin auszulegen, dass dann, wenn

a)      ein Europäischer Zahlungsbefehl von einem Gericht oder einer Behörde eines Mitgliedstaats erlassen worden ist, ohne dass es eine Grundlage für die örtliche Zuständigkeit der Gerichte dieses Mitgliedstaats für den geltend gemachten Anspruch gibt,

b)      der Antragsgegner Einspruch eingelegt hat mit der Folge, dass gemäß Art. 17 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1896/2006 das Verfahren vor den zuständigen Gerichten dieses Mitgliedstaats gemäß den Regeln eines ordentlichen Zivilprozesses weitergeführt werden muss und

c)      ein übergeordnetes Gericht gemäß diesen Regeln das zuständige Gericht zu bestimmen hat,

das übergeordnete Gericht ein Gericht zu bestimmen hat, das zur Überprüfung der Rechtswirksamkeit des Europäischen Zahlungsbefehls zuständig gewesen wäre, wenn der Antragsteller die Überprüfung des Europäischen Zahlungsbefehls gemäß Art. 20 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1896/2006 beantragt hätte, und das auch sachlich zuständig ist, um über Ansprüche der betreffenden Art zu entscheiden.


1 –       Originalsprache: Englisch.


2 –       Übereinkommen zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr, geschlossen am 28. Mai 1999 in Montreal, von der Europäischen Gemeinschaft am 9. Dezember 1999 auf der Grundlage von Art. 300 Abs. 2 EG unterzeichnet und in ihrem Namen mit dem Beschluss 2001/539/EG des Rates vom 5. April 2001 genehmigt (ABl. L 194, S. 38).


3 – Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2001, L 12, S. 1).


4 – Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 (ABl. L 46, S. 1).


5 – Verordnung (EG) Nr. 1896/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 zur Einführung eines Europäischen Mahnverfahrens (ABl. L 399, S. 1).


6 – Offenbar gibt es in der ungarischen Sprache zwei „offizielle“ Fassungen des Übereinkommens von Montreal, eine im Amtsblatt der Europäischen Union, ungarische Sonderausgabe, Kapitel 7, Band 5, S. 492, die andere im ungarischen Gesetz Nr. 7 von 2005 (2005. évi VII. törvény), mit dem das Übereinkommen in ungarisches Recht umgesetzt wurde. Jedoch handelt es sich bei keiner um eine verbindliche Fassung des Übereinkommens von Montreal. Die beiden Fassungen von Art. 33 Abs. 1 unterscheiden sich im Wortlaut erheblich, aber in beiden werden die Worte „either … or …“ der englischen Fassung zu „vagy … vagy …“. In der Fassung des Amtsblatts steht kein Komma vor dem ersten „vagy“, so dass es leichter als „or“ statt als „either“ aufgefasst werden könnte. Die Fassung im Gesetz Nr. 7 von 2005 enthält hingegen ein Komma, obwohl die Kúria sie im Vorlagebeschluss ohne Komma zitiert. In beiden Fassungen steht ein Komma vor dem zweiten „vagy“.


7 – Die anderen verbindlichen Fassungen sind Arabisch, Chinesisch und Russisch. In der französischen Fassung entspricht dem „either … or …“ „soit … soit …“, und in der spanischen ist es „sea … sea …“. In beiden Sprachfassungen steht ein Komma vor dem ersten Teil des Wortpaars, so dass es eindeutig ist, dass „im Hoheitsgebiet eines der Vertragsstaaten“ eine Voraussetzung ist, die sich auf die beiden folgenden Möglichkeiten bezieht.


8 – Urteile Sturgeon u. a. (C‑402/07 und C‑432/07, EU:C:2009:716, Rn. 40 bis 69) sowie Nelson u. a. (C‑581/10 und C‑629/10, EU:C:2012:657, Rn. 28 bis 40). Vgl. auch Urteil Folkerts (C‑11/11, EU:C:2013:106). Im Urteil Sturgeon u. a. (Rn. 57 und 58) ist der Gerichtshof zu einem undifferenzierten Kriterium eines Zeitverlusts von drei Stunden oder mehr für alle Flüge (im Gegensatz zu den differenzierten Verzögerungen je nach Flugkategorie von zwei, drei oder vier Stunden gemäß den Art. 6 und 7 der Fluggastrichtlinie) aufgrund einer Rechenoperation nach Art. 5 Abs. 1 Buchst. c Ziff. iii gelangt, der die anderweitige Beförderung – nach einer angekündigten Annullierung – betrifft, mit der es den Fluggästen ermöglicht wird, nicht mehr als eine Stunde vor der planmäßigen Abflugszeit abzufliegen und ihr Endziel höchstens zwei Stunden nach der planmäßigen Ankunftszeit zu erreichen. Durch eine Addition der beiden Zeiträume von einer Stunde und zwei Stunden ist der Gerichtshof zu dem Begriff des „Zeitverlusts“ von drei Stunden – unabhängig von der Kategorie des Flugs – gelangt, für den im Fall einer Verzögerung bei der Ankunft der in Art. 7 festgelegte Ausgleich zu zahlen ist.


9 – Aus dem Abtretungsvertrag und dem Antrag auf Erlass eines Europäischen Zahlungsbefehls, die sich in den dem Gerichtshof von der Kúria übersandten Akten befinden, ergibt sich, dass es sich bei dem Fluggast um eine Frau mit einer Adresse in Budapest handelte, dass Flight Refund ihre ungarische Rechtsanwältin mit der Wahrnehmung ihrer Interessen beauftragte und dass diese Rechtsanwältin den Antrag bei der Notarin stellte.


10 – Die Einspruchsschrift, die sich ebenfalls in den Verfahrensakten befindet, lässt erkennen, dass dies in einem freien Feld am unteren Ende des Formblatts erklärt wurde, das für die Angabe einer Einspruchsbegründung nicht vorgesehen ist. Die Frage der gerichtlichen Zuständigkeit wurde von Lufthansa in ihrem Einspruch nicht geltend gemacht.


11 –       „Oh, what a tangled web we weave, when first we practise to deceive!“ (Oh, welch verwirrendes Netz wir weben, wenn wir anfangen zu täuschen!) schrieb Sir Walter Scott in Marmion (Gesang VI, XVII). Ich beschuldige keinen Beteiligten einer Täuschung, aber das gewebte Netz ist tatsächlich so verwirrend und des raffiniertesten Rechtsprofessors würdig, der seine Studenten in einer Examensfrage durcheinanderbringen möchte.


12 – Es wird nicht angegeben, ob Flight Refund sich vor dem Antrag auf Erlass eines Europäischen Zahlungsbefehls mit Lufthansa in Verbindung gesetzt hat. Nach ihrem Internetauftritt (http://flight-refund.eu/) ist dies offenbar ihre übliche Vorgehensweise. Es ist möglich, dass sie dies tat und Lufthansa schlicht nicht antwortete. Wenn dem so ist, hätte Lufthansa eine gewisse Verantwortung für das folgende Durcheinander zu tragen, denn die einfache Mitteilung, dass United Airlines das ausführende Luftfahrtunternehmen gewesen sei, hätte (vermutlich) das gegen sie gerichtete Verfahren auf Erlass eines Europäischen Zahlungsbefehls beendet.


13 –       Urteil Rehder (C‑204/08, C:2009:439, Rn. 26 bis 28 und die dort angeführte Rechtsprechung).


14 –       Siehe oben, Fn. 6.


15 – § 30 Abs. 2 der Zivilprozessordnung: siehe oben, Nr. 29.


16 – Siehe oben, Nr. 7.


17 –      Siehe oben, Nr. 9.


18 –       Im Gegensatz dazu bestimmt Art. 14 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 593/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Juni 2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom I) (ABl. L 177, S. 6): „Das Verhältnis zwischen Zedent und Zessionar aus der Übertragung einer Forderung gegen eine andere Person (‚Schuldner‘) unterliegt dem Recht, das nach dieser Verordnung auf den Vertrag zwischen Zedent und Zessionar anzuwenden ist.“ Bedauerlicherweise hilft diese Rechtswahlbestimmung bei der davon unabhängigen Frage der gerichtlichen Zuständigkeit für den Anspruch gegen Lufthansa nicht weiter. Wäre dies der Fall, wäre die Angelegenheit einfach gewesen, da der Abtretungsvertrag zwischen Flight Refund und dem Fluggast vorsieht, dass in dem Vertrag nicht geregelte Fragen sich nach ungarischem Recht bestimmen und dass für Streitigkeiten zwischen den Vertragsparteien das Budai Központi Kerületi Bíróság (Zentrales Stadtbezirksgericht Buda) ausschließlich zuständig ist. Auch wenn nach Art. 14 Abs. 2 der Verordnung Nr. 593/2008 daher das ungarische Recht „die Voraussetzungen [bestimmt], unter denen die Übertragung dem Schuldner entgegengehalten werden kann“, kann dies meines Erachtens nicht dazu führen, Lufthansa, die nicht Vertragspartei ist, der Zuständigkeit eines Gerichts zu unterwerfen, dessen Befugnis sich nicht aus der Brüssel-I-Verordnung herleitet.


19 – Ähnliche Bestimmungen gelten für Klagen von Versicherungsnehmern, Versicherten oder Anspruchsberechtigten gegenüber Versicherern und von Arbeitnehmern gegen ihre Arbeitgeber. Der 13. Erwägungsgrund der Brüssel-I-Verordnung macht deutlich, dass alle diese Bestimmungen dazu dienen, die schwächere Partei durch günstigere Zuständigkeitsvorschriften zu schützen.


20 – In ihrem Internetauftritt bezeichnet sich Flight Refund als „Your Legal Attendant“ (Ihr juristischer Begleiter) und als einen Spezialisten für die Durchsetzung von Ansprüchen. Aus dem Internetauftritt ergibt sich auch, dass Flight Refund nunmehr als „Flight Refund Kft.“, eine in Ungarn registrierte Gesellschaft mit beschränkter Haftung mit Sitz in Budapest, Geschäfte betreibt und ein gebundener Vermittler der PannonHitel Zrt. ist, einer ebenfalls in Ungarn registrierten privaten Gesellschaft. Die Änderung des Sitzes ist aber meines Erachtens ohne Bedeutung, da i) das Verfahren von der Flight Refund Ltd im Vereinigten Königreich in Gang gesetzt wurde und ii) der Ort ihrer Niederlassung keine gerichtliche Zuständigkeit begründen kann, weil sie kein Verbraucher ist.


21 – Siehe oben, Nr. 10.


22 –       Vgl. bezüglich des Brüsseler Übereinkommens, das der Brüssel-I-Verordnung vorausging, Urteil Hagen (C‑365/88, EU:C:1990:203, Rn. 20 und die dort angeführte Rechtsprechung). Als ein Beispiel betreffend die Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 (ABl. L 338, S. 1) vgl. auch Urteil Purrucker (C‑256/09, EU:C:2010:437, Rn. 99 und die dort angeführte Rechtsprechung).


23 – Siehe oben, Nr. 11.


24 – Urteil Goldbet Sportwetten (C‑144/12, EU:C:2013:393, Rn. 38 bis 41).


25 –       Siehe oben, Nr. 49.


26 –       Auf der Website European judicial enforcement (Gerichtliche Durchsetzung in Europa) (http://www.europe-eje.eu/sites/default/files/pj/dossiers/ipe_hongrie_english.pdf) wird hinsichtlich des Verfahrens über den Europäischen Zahlungsbefehl in Ungarn lediglich ausgeführt: „Die Überprüfung nach Art. 20 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 1896/2006 bestimmt sich nach den ungarischen Vorschriften über die Zulässigkeit der Wiederaufnahme des Verfahrens (Zivilprozessordnung)“.


27 – Die Hauptforderung beträgt 600 Euro. Nach dem Abtretungsvertrag zwischen Flight Refund und dem Fluggast erhält Flight Refund im Erfolgsfall 25 % dieses Betrags (150 Euro), bei Nichterfolg nichts. Unter diesen Umständen ist es nicht verwunderlich, dass Flight Refund keine besonderen Anstrengungen oder Ausgaben getätigt hat, um der Kúria oder dem Gerichtshof bei der Lösung des Problems, das teils wegen eines Versehens des Gesetzgebers und teils wegen eines Mangels an professioneller Sorgfalt seitens Flight Refund selbst, ihrer Rechtsanwältin und der Notarin, die den Europäischen Zahlungsbefehl erlassen hat, entstanden ist, behilflich zu sein. Angesichts des in Rede stehenden Betrags und ihrer festen Überzeugung, jedenfalls von jeglicher Haftung frei zu sein, ist es auch nicht verwunderlich, dass Lufthansa in dieser Hinsicht ebenso wenig engagiert war.


28 –       Vgl. etwa seine Rede The European Courts and the UK – What Future? A New Role for English Courts (Die europäischen Gerichte und das Vereinigte Königreich – Welche Zukunft? Eine neue Rolle für die englischen Gerichte), gehalten bei der 13th Annual Law Reform Committee Lecture am 18. November 2014 (http://www.barcouncil.org.uk/media-centre/speeches,-letters-and-reports/speeches-of-interest/).