Language of document : ECLI:EU:T:2018:471

Rechtssache T-768/16

BNP Paribas

gegen

Europäische Zentralbank

„Wirtschafts- und Währungspolitik – Aufsicht über Kreditinstitute – Art. 4 Abs. 1 Buchst. d und Abs. 3 der Verordnung (EU) Nr. 1024/2013 – Berechnung der Verschuldungsquote – Weigerung der EZB, der Klägerin zu erlauben, Risikopositionen, die bestimmte Anforderungen erfüllen, bei der Berechnung der Verschuldungsquote unberücksichtigt zu lassen – Art. 429 Abs. 14 der Verordnung (EU) Nr. 575/2013 – Ermessen der EZB – Rechtsfehler – Offensichtlicher Beurteilungsfehler“

Leitsätze – Urteil des Gerichts (Zweite erweiterte Kammer) vom 13. Juli 2018

1.      Wirtschafts- und Währungspolitik – Wirtschaftspolitik – Aufsicht über den Finanzsektor der Union – Einheitlicher Aufsichtsmechanismus – Befugnisse der Europäischen Zentralbank – Dezentralisierte Umsetzung durch die nationalen Behörden – Bewertung der Bedeutung eines Unternehmens – Ausschließliche Zuständigkeit der Bank

(Verordnung Nr. 1024/2013 des Rates, Art. 4 Abs. 1 Buchst. d und Art. 6 Abs. 4)

2.      Wirtschafts- und Währungspolitik – Wirtschaftspolitik – Aufsicht über den Finanzsektor der Union – Aufsichtsanforderungen an Kreditinstitute und Wertpapierfirmen – Liquiditätsanforderungen – Verschuldungsquote – Berechnung – Möglichkeit, bestimmte Risikopositionen gegenüber öffentlichen Stellen unberücksichtigt zu lassen – Beschluss der Europäischen Zentralbank, mit dem die Gewährung des Vorteils einer Ausnahme abgelehnt wird – Gerichtliche Überprüfung – Grenzen

(Verordnung Nr. 575/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates in der durch die Verordnung 2015/62 geänderten Fassung, Art. 429 Abs. 14)

3.      Wirtschafts- und Währungspolitik – Wirtschaftspolitik – Aufsicht über den Finanzsektor der Union – Aufsichtsanforderungen an Kreditinstitute und Wertpapierfirmen – Liquiditätsanforderungen – Verschuldungsquote – Berechnung – Möglichkeit, bestimmte Risikopositionen gegenüber öffentlichen Stellen unberücksichtigt zu lassen – Beschluss der Europäischen Zentralbank, mit dem die Gewährung des Vorteils einer Ausnahme abgelehnt wird – Ablehnung, die auf Erwägungen gestützt wird, die den von der Ausnahme betroffenen Risikopositionen inhärent sind, sowie auf die Möglichkeit eines Zahlungsausfalls des betreffenden Staates ohne Prüfung der Wahrscheinlichkeit des Risikos, dass ein solcher eintritt – Unzulässigkeit

(Verordnung Nr. 575/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates in der durch die Verordnung 2015/62 geänderten Fassung, Art. 429 Abs. 14)

4.      Wirtschafts- und Währungspolitik – Wirtschaftspolitik – Aufsicht über den Finanzsektor der Union – Aufsichtsanforderungen an Kreditinstitute und Wertpapierfirmen – Liquiditätsanforderungen – Verschuldungsquote – Berechnung – Möglichkeit, bestimmte Risikopositionen gegenüber öffentlichen Stellen unberücksichtigt zu lassen – Entscheidungsspielraum der zuständigen Behörden

(Verordnung Nr. 575/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates in der durch die Verordnung 2015/62 geänderten Fassung, Art. 429 Abs. 14)

5.      Wirtschafts- und Währungspolitik – Wirtschaftspolitik – Aufsicht über den Finanzsektor der Union – Aufsichtsanforderungen an Kreditinstitute und Wertpapierfirmen – Liquiditätsanforderungen – Verschuldungsquote – Bedeutung des Zeitraums der Anpassung der Risikopositionen des Kreditinstituts an die eines öffentlichen Finanzinstituts – Grenzen

(Verordnung Nr. 575/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates in der durch die Verordnung 2015/62 geänderten Fassung, 90. Erwägungsgrund, Art. 4 Abs. 1 Nr. 94 und Art. 412 Abs. 1; Verordnung Nr. 1024/2013 des Rates, Art. 4 Abs. 1 Buchst. d; Verordnung 2015/61 der Kommission, Art. 26)

6.      Wirtschafts- und Währungspolitik – Wirtschaftspolitik – Aufsicht über den Finanzsektor der Union – Aufsichtsanforderungen an Kreditinstitute und Wertpapierfirmen – Liquiditätsanforderungen – Verschuldungsquote – Berechnung – Möglichkeit, bestimmte Risikopositionen gegenüber öffentlichen Stellen unberücksichtigt zu lassen – Beschluss der Europäischen Zentralbank, mit dem die Gewährung des Vorteils einer Ausnahme abgelehnt wird – Ablehnung, die auf das Risiko gestützt wird, die der Zeitraum der Anpassung der Risikopositionen des Kreditinstituts an die eines öffentlichen Finanzinstituts darstellt – Fehlende Prüfung der Merkmale der reglementierten Sparformen – Unzulässigkeit

(Verordnung Nr. 575/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates in der durch die Verordnung 2015/62 geänderten Fassung, Art. 4 Abs. 1 Nr. 94, Art. 412 Abs. 1 und Art. 429 Abs. 14)

1.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 19)

2.      Da die Europäische Zentralbank über ein Ermessen und damit über einen weiten Spielraum bei der Entscheidung verfügt, ob sie die Vergünstigung des Art. 429 Abs. 14 der Verordnung Nr. 575/2013 über Aufsichtsanforderungen an Kreditinstitute und Wertpapierfirmen in der durch die Verordnung 2015/62 geänderten Fassung gewährt oder nicht, darf die richterliche Kontrolle, die der Unionsrichter über die Stichhaltigkeit der Gründe eines Beschlusses, mit dem die Gewährung der Vergünstigung dieser Bestimmung abgelehnt wird, ausüben muss, nicht dazu führen, dass er seine Beurteilung an die Stelle der Beurteilung durch die Bank setzt; vielmehr soll mit der Kontrolle überprüft werden, ob der angefochtene Beschluss nicht auf unzutreffenden Tatsachenfeststellungen beruht und ob er nicht mit einem Rechtsfehler, einem offensichtlichen Beurteilungsfehler oder einem Ermessensmissbrauch behaftet ist.

(vgl. Rn. 30)

3.      Der Europäischen Zentralbank steht es im Rahmen der Ausübung des ihr nach Art. 429 Abs. 14 der Verordnung Nr. 575/2013 über Aufsichtsanforderungen an Kreditinstitute und Wertpapierfirmen in der durch die Verordnung 2015/62 geänderten Fassung zuerkannten Ermessens zwar frei, ob sie die in dieser Bestimmung vorgesehene Ausnahme gewähren will oder nicht, jedoch steht diese Freiheit unter dem Vorbehalt, dass die mit der Ausnahmeregelung verfolgten Ziele nicht missachtet werden und die Regelung nicht ihrer praktischen Wirksamkeit beraubt wird. Daraus folgt zwangsläufig, dass sich die Bank nicht auf Gründe stützen kann, die die in Art. 429 Abs. 14 der Verordnung Nr. 575/2013 eröffnete Möglichkeit praktisch unanwendbar machen, ohne dieser Bestimmung die praktische Wirksamkeit zu nehmen und die Ziele zu missachten, die bei ihrer Einführung im Vordergrund gestanden haben.

Folglich kann die Europäische Zentralbank die Risikopositionen eines Kreditinstituts gegenüber einem öffentlichen Finanzinstitut nicht aufgrund von Erwägungen, die den von Art. 429 Abs. 14 der Verordnung Nr. 575/2013 betroffenen Risikopositionen inhärent sind, vom Anwendungsbereich dieser Bestimmung ausschließen. Dies gilt für die Erwägung, wonach die Risikopositionen dieses Kreditinstituts gegenüber dem öffentlichen Finanzinstitut auf der Aktivseite ihrer Buchführungsbilanz ausgewiesen werden. Da Risikopositionen, die gemäß der genannten Bestimmung im Rahmen der Berechnung der Verschuldungsquote eines Kreditinstituts unberücksichtigt bleiben können, ihrer Art nach dazu bestimmt sind, auf der Aktivseite der Bilanz dieses Instituts ausgewiesen zu werden, kann die Erwägung, wonach die Risikopositionen gegenüber einem öffentlichen Finanzinstitut auf der Aktivseite der Bilanz eines Kreditinstituts ausgewiesen werden, die Ablehnung der Gewährung der beantragten Ausnahme nämlich nicht wirksam rechtfertigen. Das Gleiche gilt aus ähnlichen Gründen für die Erwägung, wonach die genannten Risikopositionen einen Teil der Einlagen darstellen, die bei diesem Kreditinstitut im Rahmen der reglementierten und weiterhin auf der Passivseite ihrer Bilanz ausgewiesenen Sparformen eingezahlt worden sind.

Ebenso würde, da Art. 429 Abs. 14 der Verordnung Nr. 575/2013 nur Risikopositionen gegenüber öffentlichen Stellen betrifft, die über die Garantie eines Staates verfügen, eine Ablehnung, die mit der grundsätzlichen Erwägung begründet wird, dass ein Staat zahlungsunfähig sein könnte, ohne die Wahrscheinlichkeit des Eintritts eines solchen Falls in Bezug auf den betreffenden Staat zu prüfen, darauf hinauslaufen, die in der genannten Bestimmung vorgesehene Möglichkeit praktisch unanwendbar zu machen. Da die Europäische Zentralbank die Wahrscheinlichkeit eines Zahlungsausfalls nicht prüft, kann außerdem und infolgedessen auch die Tatsache als solche, dass in dem Beschluss, mit dem die Gewährung der Vergünstigung des Art. 429 Abs. 14 der Verordnung Nr. 575/2013 abgelehnt wird, auf den Umfang der Risikopositionen eines Kreditinstituts gegenüber einem öffentlichen Finanzinstitut abgehoben worden ist, die Berücksichtigung dieser Risikopositionen bei der Berechnung der Verschuldungsquote nicht rechtfertigen. Dieser Umfang könnte nämlich nur dann relevant sein, wenn dieses Kreditinstitut die im Rahmen der reglementierten Sparformen übertragenen Gelder aufgrund eines Zahlungsausfalls des betreffenden Staates von dem öffentlichen Finanzinstitut nicht erhalten könnte und auf Zwangsverkäufe von Vermögenswerten zurückgreifen müsste.

(vgl. Rn. 39, 52-54, 56, 57, 61, 63)

4.      Durch die Ausnahme nach Art. 429 Abs. 14 der Verordnung Nr. 575/2013 über Aufsichtsanforderungen an Kreditinstitute und Wertpapierfirmen in der durch die Verordnung 2015/62 geänderten Fassung hat die Kommission mit Zustimmung des Gesetzgebers die Möglichkeit in Erwägung gezogen, dass Risikopositionen eines Kreditinstituts gegenüber öffentlichen Stellen, die aufgrund einer vom Staat gestellten Garantie den gleichen niedrigen Risikograd aufweisen wie Positionen gegenüber diesem Staat und keiner Investitionsentscheidung seitens des Kreditinstituts entsprechen – da das Institut einer Verpflichtung zur Übertragung der betreffenden Gelder unterliegt –, für die Berechnung der Verschuldungsquote irrelevant sind und bei dieser Berechnung daher unberücksichtigt bleiben können. Art. 429 Abs. 14 der Verordnung Nr. 575/2013 betrifft lediglich Risikopositionen, die bei der Umsetzung des Standardansatzes für die Berechnung der Mindesteigenkapitalanforderungen ein Risikogewicht von 0 % erhalten würden.

Die Durchführung von Art. 429 Abs. 14 der genannten Verordnung setzt demnach die Vereinbarkeit zweier Ziele voraus: Einerseits die Einhaltung der Logik der Verschuldungsquote, wonach deren Berechnung die Gesamtrisikopositionsmessgröße eines Kreditinstituts ohne Risikogewichtung enthalten muss, und andererseits die Berücksichtigung des – vom Gesetzgeber gebilligten – Ziels der Kommission, wonach bestimmte Risikopositionen mit einem besonders niedrigen Risikoprofil, die sich nicht aus einer Investitionsentscheidung des Kreditinstituts ergeben, für die Berechnung der Verschuldungsquote gegebenenfalls irrelevant sind und bei dieser Berechnung außer Betracht bleiben können. Wird den zuständigen Behörden ein Ermessen bei der Durchführung von Art. 429 Abs. 14 der Verordnung Nr. 575/2013 zuerkannt, dürfen sie insoweit auch eine Abwägung zwischen diesen beiden Zielen unter Berücksichtigung der Besonderheiten jedes Einzelfalls vornehmen.

(vgl. Rn. 48-51)

5.      Aus der Definition des Risikos einer übermäßigen Verschuldung in Art. 4 Abs. 1 Nr. 94 der Verordnung Nr. 575/2013 über Aufsichtsanforderungen an Kreditinstitute und Wertpapierfirmen in der durch die Verordnung 2015/62 geänderten Fassung folgt, dass sich die im Rahmen einer übermäßigen Verschuldung in Betracht kommenden Risiken im Fall eines Liquiditätsmangels verwirklichen. Um Liquidität zu erhalten, kann sich ein Kreditinstitut nämlich veranlasst sehen, unvorgesehene geschäftsplanerische Maßnahmen, einschließlich der Veräußerung von Aktiva in einer Notlage mit den in der genannten Bestimmung angeführten Konsequenzen, zu ergreifen, worauf im 90. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 575/2013 hingewiesen wird.

Da sich die negativen Folgen einer übermäßigen Verschuldung im Fall eines Liquiditätsmangels zeigen, führt der Umstand, dass der Zeitraum für die Anpassung der Risikopositionen des Kreditinstituts an die eines öffentlichen Finanzinstituts das Liquiditätsrisiko betrifft, nicht dazu, dass dieser Zeitraum für die Beurteilung des mit ihrer Verschuldungsquote verbundenen Risikos ohne Bedeutung wäre. Dieser Anpassungszeitraum stellt jedoch im Rahmen der Prüfung der in Art. 412 der Verordnung Nr. 575/2013 und in der Verordnung 2015/61 zur Ergänzung der Verordnung Nr. 575/2013 in Bezug auf die Liquiditätsdeckungsanforderung an Kreditinstitute enthaltenen Liquiditätsdeckungsanforderungen kein Liquiditätsrisiko dar. Die Gewährung des Vorteils des Art. 26 der Verordnung 2015/61 – der die zuständigen Behörden und damit die Europäische Zentralbank in die Lage versetzt, Liquiditätszuflüsse und damit einhergehende Abflüsse auszugleichen, wenn sie aufgrund des Bestehens einer Garantie der Zentralregierung eines Mitgliedstaats und der Kürze des zwischen ihnen liegenden Zeitraums der Ansicht sind, dass dieser Zeitraum kein Liquiditätsrisiko darstellt – für Liquiditätszuflüsse und ‑abflüsse im Zusammenhang mit den Risikopositionen gegenüber einem öffentlichen Finanzinstitut durch die Europäische Zentralbank kommt nämlich einer Anerkennung durch die Bank gleich, dass der möglicherweise zwischen ihnen liegende Zeitraum kein Liquiditätsrisiko darstellt.

(vgl. Rn. 70-73, 76, 77)

6.      Der Zeitraum für die Anpassung der Positionen des Kreditinstituts und denen des öffentlichen Finanzinstituts könnte nämlich nur dann für das Verschuldungsrisiko im Sinne von Art. 4 Abs. 1 Nr. 94 Verordnung Nr. 575/2013 über Aufsichtsanforderungen an Kreditinstitute und Wertpapierfirmen in der durch die Verordnung 2015/62 geänderten Fassung relevant sein, obwohl er es für das Liquiditätsrisiko nicht ist, wenn die Abzüge reglementierter Spareinlagen einen solchen Umfang annähmen, dass die Schwelle der im Rahmen der Berechnung der Liquiditätsquote nach Art. 412 Abs. 1 der Verordnung Nr. 575/2013 genannten „erheblichen Stressbedingungen“ überschritten wird.

Insoweit kann die Berücksichtigung einer solchen Möglichkeit bei der Ablehnung eines Antrags eines Kreditinstituts auf Inanspruchnahme des Vorteils des Art. 429 Abs. 14 der genannten Verordnung nicht ohne eine eingehende Prüfung der Merkmale der reglementierten Sparformen durch die Europäische Zentralbank erfolgen. Diese Prüfung müsste die Bank u. a. dazu bewegen, zu untersuchen, ob es angesichts der Merkmale der reglementierten Sparformen – insbesondere der mit diesen Sparformen verbundenen Garantie des Staates – denkbar ist, dass reglementierte Spareinlagen in einem solchen Umfang und so plötzlich abgezogen werden, dass sich das betreffende Kreditinstitut veranlasst sieht, auf die in Art. 4 Abs. 1 Nr. 94 der Verordnung Nr. 575/2013 genannten Maßnahmen zurückzugreifen, ohne die Mittelübertragungen des öffentlichen Finanzinstituts im Rahmen der Anpassung der Risikopositionen abwarten zu können. Die Europäische Zentralbank hat bei der Durchführung von Art. 429 Abs. 14 der genannten Verordnung nämlich eine Abwägung zwischen den Zielen der Verschuldungsquote und der Möglichkeit vorzunehmen, dass bestimmte Risikopositionen, die die in dieser Bestimmung aufgeführten Anforderungen erfüllen, bei der Berechnung der genannten Quote unberücksichtigt bleiben, und dabei die Besonderheiten jedes Einzelfalls zu berücksichtigen.

Unter diesen Umständen kommt die Europäische Zentralbank, wenn sie keine detaillierte Prüfung der Merkmale der reglementierten Sparformen durchführt, sondern lediglich abstrakt auf die Risiken abhebt, die mit dem Zeitraum für die Anpassung der Positionen des Kreditinstituts und denen des öffentlichen Finanzinstituts verbunden sind, ihrer Verpflichtung, sorgfältig und unparteiisch alle relevanten Gesichtspunkte des Einzelfalls zu untersuchen, nicht nach.

(vgl. Rn. 80-84)