Language of document : ECLI:EU:T:2013:23

URTEIL DES GERICHTS (Erste Kammer)

17. Januar 2013(*)

„Vorrechte und Befreiungen – Mitglied des Europäischen Parlaments – Beschluss, die Immunität aufzuheben – Tätigkeit ohne Zusammenhang mit dem Amt eines Abgeordneten – Verfahren zur Aufhebung der Immunität – Beschluss, die Vorrechte und Befreiungen nicht zu schützen – Wegfall des Rechtsschutzinteresses – Erledigung“

In den verbundenen Rechtssachen T‑346/11 und T‑347/11

Bruno Gollnisch, wohnhaft in Limonest (Frankreich), Prozessbevollmächtigter: Rechtsanwalt G. Dubois,

Kläger,

gegen

Europäisches Parlament, vertreten durch R. Passos, D. Moore und K. Zejdová als Bevollmächtigte,

Beklagter,

zum einen wegen Nichtigerklärung des vom Europäischen Parlament am 10. Mai 2011 erlassenen Beschlusses, die Immunität des Klägers aufzuheben, sowie Ersatz des ihm dadurch entstandenen Schadens, und zum anderen wegen Nichtigerklärung des vom Parlament am 10. Mai 2011 erlassenen Beschlusses, die Immunität des Klägers nicht zu schützen, sowie Ersatz des ihm dadurch entstandenen Schadens

erlässt

DAS GERICHT (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten J. Azizi, des Richters S. Frimodt Nielsen (Berichterstatter) und der Richterin M. Kancheva,

Kanzler: C. Kristensen, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 10. Juli 2012

folgendes

Urteil

 Rechtlicher Rahmen

 Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen

1        Art. 8 des Protokolls Nr. 7 über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union (ABl. 2010, C 83, S. 266, im Folgenden: Protokoll) sieht vor:

„Wegen einer in Ausübung ihres Amtes erfolgten Äußerung oder Abstimmung dürfen Mitglieder des Europäischen Parlaments weder in ein Ermittlungsverfahren verwickelt noch festgenommen oder verfolgt werden.“

2        Art. 9 des Protokolls bestimmt:

„Während der Dauer der Sitzungsperiode des Europäischen Parlaments

a)      steht seinen Mitgliedern im Hoheitsgebiet ihres eigenen Staates die den Parlamentsmitgliedern zuerkannte Unverletzlichkeit zu,

b)      können seine Mitglieder im Hoheitsgebiet jedes anderen Mitgliedstaats weder festgehalten noch gerichtlich verfolgt werden.

Die Unverletzlichkeit besteht auch während der Reise zum und vom Tagungsort des Europäischen Parlaments.

Bei Ergreifung auf frischer Tat kann die Unverletzlichkeit nicht geltend gemacht werden; sie steht auch nicht der Befugnis des Europäischen Parlaments entgegen, die Unverletzlichkeit eines seiner Mitglieder aufzuheben.“

 Geschäftsordnung des Parlaments

3        Art. 3 Abs. 6 Unterabs. 2 der Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments (im Folgenden: Geschäftsordnung), der wiederholt geändert wurde, bestimmt in seiner zeitlich anwendbaren Fassung vom März 2011 (ABl. L 116, S. 1):

„Falls die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten gegen ein Mitglied ein Verfahren eröffnen, das den Verlust des Mandats zur Folge haben könnte, so ersucht der Präsident sie darum, ihn regelmäßig über den Stand des Verfahrens zu unterrichten und befasst damit den zuständigen Ausschuss, auf dessen Vorschlag das Parlament Stellung nehmen kann.“

4        Art. 5 Abs. 1 der Geschäftsordnung lautet:

„Die Mitglieder genießen Vorrechte und Befreiungen gemäß dem [Protokoll].“

5        Art. 6 der Geschäftsordnung bestimmt:

„1.      Bei der Wahrnehmung seiner Befugnisse hinsichtlich der Vorrechte und Immunitäten ist es vorrangiges Ziel des Parlaments, seine Integrität als demokratische gesetzgebende Versammlung zu wahren und die Unabhängigkeit seiner Mitglieder bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben sicherzustellen.

2.      Jeder an den Präsidenten gerichtete Antrag einer zuständigen Behörde eines Mitgliedstaates, die Immunität eines Mitglieds aufzuheben, wird dem Plenum mitgeteilt und an den zuständigen Ausschuss überwiesen.

3.      Jeder an den Präsidenten gerichtete Antrag eines Mitglieds oder eines ehemaligen Mitglieds auf Schutz der Immunität und der Vorrechte wird dem Plenum mitgeteilt und an den zuständigen Ausschuss überwiesen.

4.      In dringenden Fällen kann der Präsident, falls Mitglieder unter mutmaßlichem Verstoß gegen ihre Vorrechte und Immunitäten festgenommen oder in ihrer Bewegungsfreiheit beschränkt wurden, nach Rücksprache mit dem Vorsitz und dem Berichterstatter des zuständigen Ausschusses von sich aus tätig werden, um die Vorrechte und Immunitäten des betreffenden Mitglieds zu bestätigen. Der Präsident teilt dem Ausschuss seine Maßnahme mit und unterrichtet das Plenum.“

6        Art. 7 der Geschäftsordnung bestimmt:

„1.      Der zuständige Ausschuss prüft die Anträge auf Aufhebung der Immunität oder auf Schutz der Immunität und der Vorrechte unverzüglich und in der Reihenfolge ihres Eingangs.

2.      Der Ausschuss unterbreitet einen Vorschlag für einen mit Gründen versehenen Beschluss, in dem die Annahme oder Ablehnung des Antrags auf Aufhebung der Immunität oder auf Schutz der Immunität und der Vorrechte empfohlen wird.

3.      Der Ausschuss kann die betreffende Behörde um jede Information oder Auskunft ersuchen, die er für erforderlich hält, um sich eine Meinung darüber bilden zu können, ob die Immunität aufzuheben oder zu schützen ist. Das betreffende Mitglied erhält die Möglichkeit, gehört zu werden, und kann alle Schriftstücke vorlegen, die ihm in diesem Zusammenhang zweckmäßig erscheinen. Es kann sich durch ein anderes Mitglied vertreten lassen.

6.      In Fällen des Schutzes eines Vorrechts oder der Immunität prüft der Ausschuss, inwieweit die Umstände eine verwaltungstechnische oder sonstige Beschränkung der Bewegungsfreiheit der Mitglieder bei der An- oder Abreise zum bzw. vom Tagungsort des Parlaments oder bei der Abgabe einer Meinung oder einer Abstimmung im Rahmen der Ausübung des Mandats darstellen oder unter die Aspekte von Artikel [9] des [Protokolls] … fallen, die nicht einzelstaatlichem Recht unterliegen, und unterbreitet einen Vorschlag, um die betreffende Behörde zu ersuchen, die erforderlichen Schlussfolgerungen zu ziehen.

7.      Der Ausschuss kann eine mit Gründen versehene Stellungnahme zur Zuständigkeit der betreffenden Behörde und zur Zulässigkeit des Antrags abgeben, doch äußert er sich in keinem Fall zur Schuld oder Nichtschuld des Mitglieds bzw. zur Zweckmäßigkeit einer Strafverfolgung der dem Mitglied zugeschriebenen Äußerungen oder Tätigkeiten, selbst wenn er durch die Prüfung des Antrags umfassende Kenntnis von dem zugrunde liegenden Sachverhalt erlangt.

8.      Der Bericht des Ausschusses wird als erster Punkt auf die Tagesordnung der unmittelbar auf seine Vorlage folgenden Sitzung gesetzt. Änderungsanträge zu dem Vorschlag bzw. den Vorschlägen für einen Beschluss sind nicht zulässig.

Die Aussprache erstreckt sich nur auf die Gründe, die für und gegen die einzelnen Vorschläge für die Aufhebung oder Aufrechterhaltung der Immunität oder den Schutz eines Vorrechts oder der Immunität sprechen.

Unbeschadet der Bestimmungen des Artikels 151 darf ein Mitglied, dessen Vorrechte oder Immunitäten Gegenstand des Falls sind, in der Aussprache nicht das Wort ergreifen.

Über den in dem Bericht enthaltenen Vorschlag bzw. die Vorschläge für einen Beschluss wird in der ersten Abstimmungsstunde nach der Aussprache abgestimmt.

Nach Prüfung durch das Parlament findet eine gesonderte Abstimmung über jeden einzelnen in dem Bericht enthaltenen Vorschlag statt. Im Falle der Ablehnung eines Vorschlags gilt der gegenteilige Beschluss als angenommen.

9.      Der Präsident teilt den Beschluss des Parlaments unverzüglich dem betroffenen Mitglied und der zuständigen Behörde des betreffenden Mitgliedstaates mit und ersucht darum, dass er über alle in dem betreffenden Verfahren eintretenden Entwicklungen und die sich daraus ergebenden Gerichtsentscheidungen unterrichtet wird. Sobald der Präsident diese Information erhält, unterrichtet er das Parlament, gegebenenfalls nach Rücksprache mit dem zuständigen Ausschuss, auf dem Wege, der ihm am angemessensten erscheint.

11.      Der Ausschuss behandelt den Vorgang und die eingegangenen Unterlagen mit größter Vertraulichkeit.

…“

7        Art. 24 der Geschäftsordnung lautet:

„1.      Die Konferenz der Präsidenten besteht aus dem Präsidenten und den Vorsitzen der Fraktionen. Die Vorsitze der Fraktionen können sich durch Mitglieder ihrer Fraktion vertreten lassen.

2.      Der Präsident des Parlaments ersucht eines der fraktionslosen Mitglieder, an den Sitzungen der Konferenz der Präsidenten ohne Stimmrecht teilzunehmen.

…“

8        Art. 103 Abs. 4 der Geschäftsordnung bestimmt:

„Die Prüfung von Anträgen im Zusammenhang mit Immunitätsverfahren gemäß Artikel 7 durch den zuständigen Ausschuss findet stets unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt.“

9        Außerdem bestimmt Art. 138 der Geschäftsordnung:

„1.      Vorschläge für … nichtlegislative Entschließungsanträge, die im Ausschuss gegen die Stimmen von weniger als einem Zehntel der Mitglieder des Ausschusses angenommen wurden, werden zur Abstimmung ohne Änderungsanträge auf den Entwurf der Tagesordnung des Parlaments gesetzt.

Der Punkt ist dann Gegenstand einer einzigen Abstimmung, sofern nicht vor der Aufstellung des endgültigen Entwurfs der Tagesordnung Fraktionen oder einzelne Mitglieder, die zusammen einem Zehntel der Mitglieder des Parlaments entsprechen, schriftlich beantragt haben, Änderungsanträge dazu zuzulassen; in diesem Fall setzt der Präsident eine Frist für die Einreichung von Änderungsanträgen fest.

2.      Werden Punkte zur Abstimmung ohne Änderungsanträge auf den endgültigen Entwurf der Tagesordnung gesetzt, so findet auch keine Aussprache darüber statt, es sei denn, das Parlament fasst zu Beginn der Tagung bei der Annahme seiner Tagesordnung auf Vorschlag der Konferenz der Präsidenten oder auf Antrag einer Fraktion oder von mindestens 40 Mitgliedern einen anderslautenden Beschluss.

3.      Bei der Aufstellung des endgültigen Entwurfs der Tagesordnung einer Tagung kann die Konferenz der Präsidenten vorschlagen, dass andere Punkte ohne Änderungsanträge oder ohne Aussprache behandelt werden. Bei der Annahme seiner Tagesordnung darf das Parlament keinem derartigen Vorschlag stattgeben, wenn sich eine Fraktion oder mindestens 40 Mitglieder spätestens eine Stunde vor Eröffnung der Tagung schriftlich dagegen ausgesprochen haben.

…“

10      Art. 151 Abs. 1 der Geschäftsordnung lautet:

„Den Mitgliedern, die zu einer persönlichen Bemerkung um das Wort bitten, wird es am Ende der Aussprache über den Tagesordnungspunkt, der gerade behandelt wird, oder zum Zeitpunkt der Genehmigung des Protokolls der Sitzung, auf die sich die Wortmeldung bezieht, erteilt.

Die Redner dürfen nicht zum Gegenstand der Aussprache sprechen, sondern müssen sich darauf beschränken, Äußerungen, die sich in der Aussprache auf die eigene Person bezogen haben, oder ihnen unterstellte Ansichten zurückzuweisen oder eigene Ausführungen richtigzustellen.“

 Vorgeschichte des Rechtsstreits

11      Der Kläger, Herr Bruno Gollnisch, ist Abgeordneter des Europäischen Parlaments und Mitglied im Regionalrat der Region Rhône-Alpes (Frankreich). Er ist auch Vorsitzender der Fraktion des Front national im Regionalrat der Region Rhône-Alpes.

12      Am 3. Oktober 2008 verfasste die Fraktion des Front national der Region Rhône-Alpes eine Pressemitteilung unter der Überschrift: „Akten-Affäre der Region: Die Heuchler erheben sich“.

13      Diese Mitteilung lautete wie folgt:

„Das Ersuchen des Verfassungsschutzes um Angaben dazu, ob von Beamten, die nicht dem Christentum angehören, eventuell Anträge auf Änderung ihrer Arbeitszeit aus religiösen Gründen gestellt wurden, hat in der Region Rhône-Alpes zu heftigen Reaktionen geführt. Nach Ansicht des Generaldirektors der Dienststellen verstößt dieses Ersuchen gegen alle republikanischen Grundsätze, die die Organisation und die Funktionsweise des öffentlichen Dienstes in unserem Land bestimmen. (Q., [der Präsident des Regionalrats der Region Rhône-Alpes]) hält diese Untersuchung für im Grundsatz schockierend. Das ist sehr bequem und sehr großzügig, aber es ignoriert die heutige Realität und zeugt von einem etwas kurzen Gedächtnis. Es ignoriert die heutige Realität, weil es wohl nicht die Christen sind, die das Ende der Fastenzeit (tagsüber, eine Entbehrung, die sie nachts ausgleichen) ‚feiern‘, indem sie randalieren, Brände legen und Steine werfen. Die heutige Realität wird vergessen, weil Romans nicht von Christen in Brand gesetzt wurde. Ein kurzes Gedächtnis, weil die Erfassung des öffentlichen Dienstes im Jahr 1902 mit einem ‚republikanischen‘ Ziel beschlossen wurde. Ein kurzes Gedächtnis, weil der Block der Linken an der Macht war mit dem, Landesvater Combesʼ und Waldeck-Rousseau. Ein kurzes Gedächtnis, weil die Freimaurerlogen, die die niederen Arbeiten erledigten, fröhlich mit gutem Gewissen in den Akten vermerkten ‚lebt mit einer arabischen Frau in einer eheähnlichen Lebensgemeinschaft‘. Es ist nicht zu leugnen, dass die Linke seinerzeit gegen Religionen eingestellt war und dass ihr derzeitiges Ziel darin besteht, die Invasion unserer Heimat und die Zerstörung unserer Kultur und unserer Werte durch einen Islam zu unterstützen, von dessen Toleranz, Achtung der Menschenrechte und der Freiheit man sich leicht dort ein Bild machen kann, wo er an der Macht ist: Saudi-Arabien, Iran, Sudan, Afghanistan … unsere Vorstädte und vielleicht bald das ganze Land, mit dem Segen der Freimaurerlogen und der Linken?“

14      Bei einer Pressekonferenz in Lyon (Frankreich) am 10. Oktober 2008 bestätigte der Kläger, dass diese Mitteilung von Personen geschrieben worden sei, die befugt gewesen seien, sich im Namen der gewählten Vertreter der Fraktion, deren Vorsitzender er sei, im Regionalrat zu äußern.

15      Nach einer Anzeige der Internationalen Liga gegen Rassismus und Antisemitismus (LICRA) leiteten die französischen Behörden am 22. Januar 2009 ein Ermittlungsverfahren gegen unbekannt wegen Verdachts der Anstiftung zum Rassenhass ein.

16      Mit Schreiben vom 9. Juni 2010 an den Präsidenten des Parlaments bat der Kläger diesen darum, „bei den französischen Behörden aufs Schärfste zu protestieren“. Er wies in diesem Schreiben darauf hin, dass ein Untersuchungsrichter in Lyon versucht habe, ihn am 4. Juni 2010 durch die Polizei verhaften zu lassen, um sein Erscheinen vor ihm zu veranlassen. Er stellte klar, dass „[di]ese Zwangsmaßnahme … nach der französischen Verfassung (Art. 26) und nach dem Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen von 1965 (jetzt Art. 9 des Protokolls Nr. 7 im Anhang des Vertrags) verboten [sei], da dieser Richter nicht die Aufhebung [seiner] parlamentarischen Immunität beantragt [habe]“.

17      Am 14. Juni 2010 gab der Präsident des Parlaments im Plenum bekannt, dass er von Seiten des Klägers einen Antrag auf Schutz seiner Immunität erhalten habe und dass er diesen Antrag gemäß Art. 6 Abs. 2 der Geschäftsordnung an den Rechtsausschuss überwiesen habe.

18      Mit Schreiben vom 25. Oktober 2010, das am 3. November 2010 beim Parlament einging, übermittelte der Ministre d’État, Garde des Sceaux, Ministre de la Justice et des Libertés der Französischen Republik dem Präsidenten des Parlaments einen Antrag auf Aufhebung der parlamentarischen Immunität des Klägers; diesem Antrag lag ein Ersuchen der Staatsanwaltschaft bei der Cour d’appel de Lyon vom 14. September 2010 zur Fortsetzung der Ermittlungen wegen der gegen den Kläger ergangenen Anzeige und seiner etwaigen Verfolgung vor den zuständigen Gerichten zugrunde.

19      Am 24. November 2010 gab der Präsident des Parlaments im Plenum bekannt, er habe einen Antrag auf Aufhebung der Immunität des Klägers erhalten, und er überwies gemäß Art. 6 Abs. 2 der Geschäftsordnung diesen Antrag an den Rechtsausschuss.

20      Herr B. Rapkay wurde zum Berichterstatter ernannt für die beiden den Kläger betreffenden Vorgänge, nämlich die Aufhebung der Immunität des Letzteren und der Schutz seiner Immunität.

21      Der Kläger wurde am 26. Januar 2011 vom Rechtsausschuss des Parlaments sowohl zum Antrag auf Schutz seiner Immunität als auch zum Antrag auf Aufhebung seiner Immunität angehört.

22      Am 11. April 2011 nahm der Rechtsausschuss einen Vorschlag für einen Beschluss des Parlaments an, in dem die Aufhebung der Immunität des Klägers empfohlen wurde, sowie einen Vorschlag für einen Beschluss, in dem empfohlen wurde, seine Immunität nicht zu schützen.

23      Das Parlament beschloss am 10. Mai 2011 im Plenum, die Immunität des Klägers aufzuheben, und gleichzeitig, seine Immunität nicht zu schützen.

24      Der Beschluss, die Immunität des Klägers aufzuheben, wurde wie folgt begründet:

„A. in der Erwägung, dass ein französischer Staatsanwalt die Aufhebung der parlamentarischen Immunität von Bruno Gollnisch, Mitglied des … Parlaments, beantragt hat, um eine Anzeige wegen angeblicher Anstiftung zu Rassenhass untersuchen zu können und Bruno Gollnisch gegebenenfalls vor einem französischen Gericht erster Instanz, einem Berufungsgericht oder einem Kassationsgericht anklagen zu können,

B. in der Erwägung, dass die Aufhebung der Immunität von Bruno Gollnisch sich auf ein angebliches Vergehen der Anstiftung zum Rassenhass wegen einer Pressemitteilung vom 3. Oktober 2008 der Fraktion des Regionalrats der Region Rhône-Alpes de[s] Front National, de[ss]en Vorsitzender Bruno Gollnisch war, bezieht,

C. in der Erwägung, dass gemäß Artikel 9 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union während der Dauer der Sitzungsperiode des Europäischen Parlaments seinen Mitgliedern im Hoheitsgebiet ihres eigenen Staates die den Parlamentsmitgliedern zuerkannte Unverletzlichkeit zusteht; in der Erwägung, dass dies nicht der Befugnis des Europäischen Parlaments entgegensteht, die Immunität eines seiner Mitglieder aufzuheben,

D. in der Erwägung, dass gemäß Artikel 26 der Verfassung der Französischen Republik kein Mitglied des Parlaments ohne Genehmigung der Kammer, der es angehört, wegen eines Verbrechens oder Vergehens verhaftet oder anderweitig seiner Freiheit beraubt oder in seiner Freiheit eingeschränkt werden darf, wobei diese Genehmigung bei Begehung eines Verbrechens oder Vergehens auf frischer Tat oder bei endgültiger Verurteilung nicht erforderlich ist,

E. in der Erwägung, dass in dem vorliegenden Fall das Parlament keine Anzeichen von fumus persecutionis gefunden hat, d. h. einen hinreichend ernsten und genauen Verdacht, dass dem Verfahren die Absicht zugrunde liegt, der politischen Tätigkeit des Mitglieds zu schaden,

F. in der Erwägung, dass der Antrag der französischen Behörden nicht in den Bereich der politischen Aktivitäten von Bruno Gollnisch als Mitglied des … Parlaments fällt, sondern Tätigkeiten rein regionaler und lokaler Art, die Bruno Gollnisch als Regionalrat der Region Rhône-Alpes wahrnimmt, betrifft, wobei es sich dabei um ein Mandat handelt, für das er in direkten allgemeinen Wahlen gewählt wurde und das sich von seinem Mandat als Mitglied des … Parlaments unterscheidet,

G. in der Erwägung, dass Bruno Gollnisch eine Erklärung zu den Gründen der Veröffentlichung der gerügten Pressemitteilung seiner Fraktion im Regionalrat der Region Rhône-Alpes, wegen der der Antrag auf Aufhebung der Immunität gestellt wurde, abgegeben hat, wonach diese von dem Team de[s] ,Front National‘ in der Region geschrieben worden sei, einschließlich von dem für Kommunikation zuständigen Mitarbeiter, der ,befugt gewesen [sei], sich im Namen der gewählten Vertreter de[s] ´Front National´ zu äußern‘; in der Erwägung, dass die Anwendung der parlamentarischen Immunität auf eine solche Situation eine ungebührliche Erweiterung derjenigen Regelungen sein würde, die eine Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit und der Unabhängigkeit des Parlaments verhindern sollen;

H. in der Erwägung, dass es unter Beachtung aller demokratischen Garantien nicht Aufgabe des Parlaments, sondern die der zuständigen Justizbehörden ist, darüber zu entscheiden, inwieweit nach französischem Recht eine Anstiftung zum Rassenhass vorliegt und welche rechtlichen Folgen dies haben könnte;

I. in der Erwägung, dass es deshalb angemessen ist, in diesem Fall die Aufhebung der Immunität zu empfehlen,

1. beschließt, die Immunität von Bruno Gollnisch aufzuheben …“

25      Außerdem enthält der Beschluss, die Immunität des Klägers nicht zu schützen, die gleiche Begründung wie der Beschluss, seine Immunität aufzuheben, mit Ausnahme u. a. des Erwägungsgrundes I und des verfügenden Teils dieses Beschlusses; diese lauten wie folgt:

„I. … die französischen Behörden [haben] jedoch nunmehr förmlich die Aufhebung seiner Immunität beantragt …, um solche freiheitsbeschränkenden Maßnahmen in der Zukunft ergreifen zu können, und es [ist] somit nicht länger notwendig …, in diesem Zusammenhang die Immunität von Bruno Gollnisch zu schützen

1. beschließt, angesichts der vorstehenden Erwägungen die Immunität und die Vorrechte von Bruno Gollnisch nicht zu schützen …“

 Verfahren und Anträge der Parteien

26      Mit Klageschriften, die in der Kanzlei des Gerichts am 7. Juli 2011 eingegangen sind, hat der Kläger die vorliegenden Klagen auf Nichtigerklärung der Beschlüsse des Parlaments, seine Immunität aufzuheben (Rechtssache T‑346/11) und seine Immunität nicht zu schützen (Rechtssache T‑347/11), sowie auf Ersatz des immateriellen Schadens, den er erlitten habe, erhoben.

27      Das Gericht (Erste Kammer) hat auf Bericht des Berichterstatters die mündliche Verhandlung eröffnet und im Rahmen prozessleitender Maßnahmen gemäß Art. 64 der Verfahrensordnung des Gerichts die Parteien aufgefordert, bestimmte Unterlagen vorzulegen, und es hat ihnen schriftliche Fragen gestellt. Die Parteien sind dieser Aufforderung nachgekommen.

28      Mit Beschluss des Präsidenten der Ersten Kammer des Gerichts vom 3. Juli 2012 sind die Rechtssachen T‑346/11 und T‑347/11 gemäß Art. 50 der Verfahrensordnung zu gemeinsamem schriftlichem und mündlichem Verfahren und zu gemeinsamer Entscheidung verbunden worden.

29      Die Beteiligten haben in der Sitzung vom 10. Juli 2012 mündlich verhandelt und mündliche Fragen des Gerichts beantwortet.

30      Der Kläger beantragt in der Rechtssache T‑346/11,

–        den mit der Annahme des Berichts Nr. A7-0155/2011 von Herrn Rapkay am 10. Mai 2011 ergangenen Beschluss des Parlaments über die Aufhebung seiner parlamentarischen Immunität für nichtig zu erklären;

–        ihm immateriellen Schadensersatz in Höhe von 8 000 Euro zuzuerkennen;

–         ihm 4 000 Euro als Ersatz der Kosten für seine Rechtsvertretung und die Vorbereitung seiner Klage zuzuerkennen.

31      Das Parlament beantragt,

–        die Klage als unbegründet abzuweisen;

–        dem Kläger die Kosten aufzuerlegen.

32      In der Rechtssache T‑347/11 beantragt der Kläger,

–        den mit der Annahme des Berichts A7‑0154/2011 von Herrn Rapkay am 10. Mai 2011 ergangenen Beschluss, seine parlamentarische Immunität nicht zu schützen, für nichtig zu erklären;

–        ihm immateriellen Schadensersatz in Höhe von 8 000 Euro zuzuerkennen;

–        ihm 4 000 Euro als Ersatz der Kosten für seine Rechtsvertretung und die Vorbereitung seiner Klage zuzuerkennen.

33      Das Parlament beantragt,

–        die Klage als unzulässig abzuweisen;

–        hilfsweise, die Klage als unbegründet abzuweisen;

–        dem Kläger die Kosten aufzuerlegen.

 Rechtliche Würdigung

 Vorbemerkungen

 Zur Regelung der parlamentarischen Immunität im Protokoll

34      Die in den Art. 8 und 9 des Protokolls vorgesehene parlamentarische Immunität der Abgeordneten des Parlaments umfasst die beiden Arten von Schutz, die den Mitgliedern der nationalen Parlamente der Mitgliedstaaten in der Regel zuerkannt werden, nämlich Immunität in Bezug auf die in Ausübung des Abgeordnetenamts erfolgten Äußerungen und Abstimmungen sowie parlamentarische Unverletzlichkeit, die grundsätzlich Schutz vor gerichtlicher Verfolgung bieten (Urteile des Gerichtshofs vom 21. Oktober 2008, Marra, C‑200/07 und C‑201/07, Slg. 2008, I‑7929, Randnr. 24, und vom 6. September 2011, Patriciello, C‑163/10, Slg. 2011, I‑7565, Randnr. 18).

35      Art. 8 des Protokolls, der eine Sondervorschrift ist, die auf jedes Gerichtsverfahren anzuwenden ist, für das der Abgeordnete die Immunität in Bezug auf in Ausübung des Abgeordnetenamts erfolgte Äußerungen und Abstimmungen genießt, soll die Meinungsfreiheit und die Unabhängigkeit der Abgeordneten schützen und steht daher jedem Gerichtsverfahren wegen in Ausübung des Abgeordnetenamts erfolgter Äußerungen und Abstimmungen entgegen (Urteil Patriciello, oben in Randnr. 34 angeführt, Randnr. 26).

36      Der Gerichtshof hat darauf hingewiesen, dass Art. 8 des Protokolls in Anbetracht seines Zwecks, die Meinungsfreiheit und die Unabhängigkeit der Parlamentsabgeordneten zu schützen, und seines Wortlauts, der ausdrücklich neben Äußerungen dieser Abgeordneten deren Abstimmungen nennt, im Wesentlichen auf die Erklärungen der Parlamentsabgeordneten Anwendung finden soll, die sie im Europäischen Parlament selbst abgeben (Urteil Patriciello, oben in Randnr. 34 angeführt, Randnr. 29).

37      Der Gerichtshof hat jedoch festgestellt, dass es nicht ausgeschlossen ist, dass eine Erklärung, die diese Abgeordneten außerhalb des Parlaments abgeben, eine in Ausübung ihres Amtes erfolgte Äußerung im Sinne von Art. 8 des Protokolls darstellt, denn das Vorliegen einer derartigen Äußerung hängt nicht vom Ort, an dem sie erfolgt, sondern von ihrer Art und ihrem Inhalt ab (Urteil Patriciello, oben in Randnr. 34 angeführt, Randnr. 30).

38      Mit seiner Bezugnahme auf von Parlamentsabgeordneten getätigte Äußerungen ist Art. 8 des Protokolls eng mit der Meinungsfreiheit verknüpft. Diese stellt als wesentliche Grundlage einer demokratischen und pluralistischen Gesellschaft, in der sich die Werte widerspiegeln, auf denen die Union gemäß Art. 2 EUV beruht, ein durch Art. 11 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (ABl. 2010, C 83, S. 389) – die den Verträgen gemäß Art. 6 Abs. 1 EUV rechtlich gleichrangig ist – garantiertes Grundrecht dar. Diese Freiheit ist auch in Art. 10 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten niedergelegt (Urteil Patriciello, oben in Randnr. 34 angeführt, Randnr. 31).

39      Deshalb ist davon auszugehen, dass der Begriff „Äußerung“ im Sinne von Art. 8 des Protokolls in einem weiten Sinne dahin aufzufassen ist, dass er Worte und Erklärungen umfasst, die ihrem Inhalt nach Aussagen entsprechen, welche subjektive Beurteilungen bilden (Urteil Patriciello, oben in Randnr. 34 angeführt, Randnr. 32).

40      Außerdem ergibt sich aus dem Wortlaut von Art. 8 des Protokolls, dass die Äußerung eines Europaabgeordneten nur dann unter die Immunität fallen kann, wenn sie „in Ausübung [seines] Amtes erfolgt“ ist, womit das Erfordernis eines Zusammenhangs zwischen der erfolgten Äußerung und der parlamentarischen Tätigkeit impliziert wird (Urteil Patriciello, oben in Randnr. 34 angeführt, Randnr. 33).

41      Im Hinblick auf Erklärungen eines Parlamentsabgeordneten, die in seinem Herkunftsmitgliedstaat Gegenstand strafrechtlicher Verfolgung sind, ist die in Art. 8 des Protokolls vorgesehene Immunität geeignet, die nationalen Justizbehörden und Gerichte in endgültiger Weise daran zu hindern, zur Wahrung der öffentlichen Ordnung in ihrem Hoheitsgebiet ihre jeweiligen Befugnisse zur Strafverfolgung und zur Ahndung von Straftaten auszuüben, und dementsprechend den durch diese Äußerungen geschädigten Personen den Zugang zu den Gerichten, einschließlich gegebenenfalls der Zivilgerichte für die Erwirkung von Schadensersatz, vollständig zu verwehren (vgl. in diesem Sinne Urteil Patriciello, oben in Randnr. 34 angeführt, Randnr. 34).

42      Angesichts dieser Konsequenzen ist davon auszugehen, dass der Zusammenhang zwischen der erfolgten Äußerung und dem parlamentarischen Amt unmittelbar und in offenkundiger Weise ersichtlich sein muss (Urteil Patriciello, oben in Randnr. 34 angeführt, Randnr. 35).

43      Im Übrigen sieht Art. 9 des Protokolls vor, dass dem Parlamentsabgeordneten im Hoheitsgebiet des eigenen Staates die den nationalen Mitgliedern des Parlaments zuerkannte Unverletzlichkeit zusteht.

44      Der genaue Inhalt der Unverletzlichkeit in Art. 9 des Protokolls wird durch Bezugnahme auf die einschlägigen nationalen Vorschriften bestimmt (Urteile Marra, oben in Randnr. 34 angeführt, Randnr. 25, und Patriciello, oben in Randnr. 34 angeführt, Randnr. 25) und kann sich daher entsprechend dem Herkunftsmitgliedstaat des Parlamentsabgeordneten ändern.

45      Ferner kann die Unverletzlichkeit des Abgeordneten gemäß Art. 9 Abs. 3 des Protokolls vom Parlament aufgehoben werden, während dies bei der Immunität nach Art. 8 nicht der Fall ist (Urteil Patriciello, oben in Randnr. 34 angeführt, Randnr. 27).

46      Wenn somit ein Antrag auf Aufhebung der Immunität von einer nationalen Behörde übermittelt wird, muss das Parlament zuerst prüfen, ob der dem Aufhebungsantrag zugrunde liegende Sachverhalt unter Art. 8 des Protokolls fallen kann; in diesem Fall ist die Aufhebung der Immunität nicht möglich.

47      Kommt das Parlament zu dem Ergebnis, dass Art. 8 des Protokolls nicht anwendbar ist, hat es weiter zu prüfen, ob der Abgeordnete für den ihm vorgeworfenen Sachverhalt Immunität nach Art. 9 des Protokolls genießt, und wenn dies der Fall ist, muss es entscheiden, ob diese Immunität aufzuheben ist.

 Zur gebotenen Unterscheidung zwischen der Aufhebung der Immunität und dem Schutz der Immunität im Sinne des Protokolls

48      Zunächst ist festzustellen, dass zwar die Aufhebung der Immunität eines Parlamentsabgeordneten in Art. 9 des Protokolls ausdrücklich vorgesehen ist, jedoch ist dies nicht ebenso der Fall beim Schutz seiner Immunität, der sich nur aus Art. 6 Abs. 3 der Geschäftsordnung des Parlaments ergibt, die diesen Begriff nicht definiert.

49      Der Gerichtshof hat hinsichtlich des Art. 8 des Protokolls entschieden, dass die Geschäftsordnung eine Maßnahme der internen Organisation ist, die nicht zugunsten des Parlaments Zuständigkeiten einführen kann, die nicht ausdrücklich durch einen Rechtsakt, im vorliegenden Fall das Protokoll, verliehen werden. Selbst wenn also das Parlament auf den Antrag des betreffenden Parlamentsabgeordneten hin auf der Grundlage der Geschäftsordnung eine Entscheidung erlassen würde, mit der der Schutz der Immunität verfügt wird, wäre dies eine Stellungnahme, die keine Bindungswirkung für die nationalen Gerichte entfaltet (Urteil Marra, oben in Randnr. 34 angeführt, Randnr. 39).

50      Im Übrigen bedeutet der Umstand, dass das Recht eines Mitgliedstaats ein Verfahren zum Schutz der Mitglieder des nationalen Parlaments vorsieht, das diesem ein Eingreifen erlaubt, wenn das nationale Gericht die Immunität nicht anerkennt, nicht, dass das Parlament in Bezug auf die aus diesem Staat stammenden Abgeordneten des Parlaments dieselben Befugnisse hat, da Art. 8 des Protokolls nicht ausdrücklich eine solche Zuständigkeit des Parlaments vorsieht und nicht auf die Vorschriften des nationalen Rechts verweist (Urteil Marra, oben in Randnr. 34 angeführt, Randnr. 40).

51      Aus dieser Rechtsprechung ergibt sich, dass beim Begriff des Schutzes der Immunität danach zu unterscheiden ist, ob er auf Art. 8 des Protokolls beruht, der eine absolute Immunität bewirkt, deren Inhalt sich nur nach dem europäischen Recht richtet und die vom Parlament nicht aufgehoben werden kann, oder auf Art. 9 des Protokolls, der dagegen hinsichtlich des Inhalts und des Umfangs der Unverletzlichkeit, die zugunsten des Parlamentsabgeordneten geschaffen wurde, auf das nationale Recht seines Herkunftsmitgliedstaats verweist, und die außerdem, falls erforderlich, vom Parlament aufgehoben werden kann.

52      Da die Unverletzlichkeit nach Art. 9 des Protokolls von Rechts wegen besteht und sie dem Abgeordneten nur entzogen werden kann, wenn das Parlament sie aufgehoben hat, kommt der Schutz der Immunität im Rahmen der Bestimmungen von Art. 9 des Protokolls nur dann in Betracht, wenn bei Fehlen eines Antrags auf Aufhebung der Immunität eines Abgeordneten die Unverletzlichkeit, wie sie sich aus dem nationalen Recht des Herkunftsmitgliedstaats des Parlamentsabgeordneten ergibt, gefährdet ist, insbesondere durch ein Verhalten der Polizei- oder Gerichtsbehörden des Herkunftsmitgliedstaats dieses Abgeordneten.

53      Unter solchen Umständen kann der Parlamentsabgeordnete beim Parlament beantragen, seine Immunität zu schützen, wie in Art. 6 Abs. 3 der Geschäftsordnung des Parlaments vorgesehen ist.

54      Somit kommt eine Entscheidung des Parlaments über einen Antrag auf Schutz der Immunität eines Parlamentsabgeordneten nur in Betracht, sofern dem Parlament kein Antrag auf Aufhebung dieser Immunität von den zuständigen nationalen Behörden übermittelt wurde.

55      Mit dem Schutz der Immunität kann das Parlament somit auf Antrag eines Parlamentsabgeordneten eingreifen, wenn die nationalen Behörden die Immunität eines seiner Mitglieder verletzen oder im Begriff sind, sie zu verletzen.

56      Wenn dagegen ein Antrag auf Aufhebung der Immunität von den nationalen Behörden gestellt wird, muss das Parlament entscheiden, ob es die Immunität aufhebt oder nicht. In diesem Fall hat der Schutz der Immunität keine Daseinsberechtigung mehr, denn entweder hebt das Parlament die Immunität auf und ihr Schutz kommt nicht mehr in Betracht oder es lehnt die Aufhebung der Immunität ab, dann ist ihr Schutz nutzlos, da die nationalen Behörden unterrichtet sind, dass ihr Aufhebungsantrag vom Parlament abgelehnt wurde und dass die Immunität somit den Maßnahmen, die sie ergreifen könnten oder wollten, entgegensteht.

57      Der Schutz der Immunität ist somit gegenstandslos, wenn die nationalen Behörden einen Antrag auf Aufhebung der Immunität stellen. Das Parlament muss nicht mehr aus eigener Initiative wegen des Fehlens eines förmlichen Antrags der zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats tätig werden, sondern es muss vielmehr eine Entscheidung treffen und somit über einen solchen Antrag entscheiden.

 Zur Ausübung eines Klagerechts und zum Umfang der Kontrolle, die das Gericht in einem solchen Rahmen durchführt

58      Auch wenn die der Union durch das Protokoll eingeräumten Vorrechte und Befreiungen insofern funktionalen Charakter haben, als durch sie eine Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit und der Unabhängigkeit der Union verhindert werden soll, sind sie jedoch ausdrücklich den Mitgliedern des Parlaments sowie den Beamten und sonstigen Bediensteten der Organe der Union zuerkannt worden. Dass die Vorrechte und Befreiungen den öffentlichen Interessen der Union dienen sollen, rechtfertigt die den Organen verliehene Befugnis, die Immunität gegebenenfalls aufzuheben, bedeutet aber nicht, dass diese Vorrechte und Befreiungen ausschließlich der Gemeinschaft und nicht auch ihren Beamten, ihren sonstigen Bediensteten und den Mitgliedern des Parlaments gewährt worden wären. Das Protokoll verleiht mithin den darin bezeichneten Personen ein subjektives Recht, dessen Schutz durch das vom Vertrag geschaffene Rechtsschutzsystem gewährleistet wird (vgl. Urteil des Gerichts vom 19. März 2010, Gollnisch/Parlament, T‑42/06, Slg. 2010, II‑1135, Randnr. 94 und die dort angeführte Rechtsprechung).

59      Zwar ist dem Parlament bei der Frage, woran es seine Entscheidung über einen Antrag auf Aufhebung der Immunität oder auf Schutz der Immunität orientieren möchte, wegen des politischen Charakters einer solchen Entscheidung ein weites Ermessen einzuräumen (vgl. in diesem Sinne Urteil Gollnisch/Parlament, oben in Randnr. 58 angeführt, Randnr. 101).

60      Die Ausübung dieses Ermessens ist jedoch nicht der gerichtlichen Kontrolle entzogen. Nach ständiger Rechtsprechung muss der Unionsrichter nämlich im Rahmen dieser Kontrolle feststellen, ob die Verfahrensvorschriften eingehalten worden sind, ob der Sachverhalt von dem Organ zutreffend festgestellt worden ist und ob keine offensichtlich fehlerhafte Würdigung dieses Sachverhalts und kein Ermessensmissbrauch vorliegen (vgl. entsprechend Urteile des Gerichtshofs vom 25. Januar 1979, Racke, 98/78, Slg. 1979, 69, Randnr. 5, und vom 22. Oktober 1991, Nölle, C‑16/90, Slg. 1991, I‑5163, Randnr. 12).

61      Für diese Prüfung ist die Beanstandung der Begründung des vom Rechtsausschuss verfassten Berichts daher als gegen die Begründung der Entscheidung über die Aufhebung der Immunität gerichtet anzusehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Oktober 2008, Mote/Parlament, T‑345/05, Slg. 2008, II‑2849, Randnr. 59, und Gollnisch/Parlament, oben in Randnr. 58 angeführt, Randnr. 98).

62      Im Licht der vorstehenden Erwägungen sind die vorliegenden Klagen zu prüfen.

 Zur Nichtigkeitsklage in der Rechtssache T‑346/11 betreffend die Aufhebung der Immunität des Klägers

63      Der Kläger macht sechs Klagegründe zur Stützung seiner Nichtigkeitsklage geltend.

64      Er beruft sich erstens auf einen Verstoß gegen Art. 9 des Protokolls, zweitens auf die Nichtbeachtung der „ständigen Spruchpraxis“ des Rechtsausschusses des Parlaments, drittens auf einen Verstoß gegen die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes, viertens auf einen Eingriff in die Unabhängigkeit des Abgeordneten, fünftens auf einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 4 Unterabs. 2 der Geschäftsordnung betreffend das Verfahren, das den Verlust des Abgeordnetenmandats zur Folge haben könnte, und sechstens auf einen Verstoß gegen den Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens sowie eine Verletzung der Verteidigungsrechte des Klägers.

65      Zunächst sind der erste und der vierte Klagegrund gemeinsam zu untersuchen.

 Zum ersten Klagegrund (Verstoß gegen Art. 9 des Protokolls) und zum vierten Klagegrund (Eingriff in die Unabhängigkeit des Abgeordneten)

66      Der Kläger trägt zur Stützung seines ersten Klagegrundes vor, das Parlament habe einen Rechtsfehler begangen, indem es seine Immunität mit der Begründung aufgehoben habe, dass die Ausführungen und Äußerungen in der streitigen Pressemitteilung nicht im Rahmen seiner Tätigkeit als Abgeordneter des Parlaments erfolgt seien. Die Freiheit der politischen Debatte und die Meinungsfreiheit des Abgeordneten müssten geschützt werden, unabhängig davon, ob sie strikt im Rahmen des Parlaments erfolgten oder nicht, und seine Immunität hätte geschützt werden müssen und nicht aufgehoben werden dürfen. Art. 9 des Protokolls betreffe alle Handlungen, die außerhalb der parlamentarischen Tätigkeit im engeren Sinne erfolgten, die ihrerseits von der Immunität nach Art. 8 des Protokolls gedeckt seien. Das Parlament habe somit gegen Art. 9 des Protokolls verstoßen.

67      Der Kläger trägt außerdem zur Stützung seines vierten Klagegrundes vor, dass das Parlament seine Immunität nicht habe aufheben und dabei feststellen können, er habe nicht in Ausübung seines Amtes als Parlamentsabgeordneter von seinem Recht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch gemacht. In der früheren Entscheidungspraxis des Parlaments gebe es keinen einzigen Fall, in dem eine Pflicht eines Europaabgeordneten vorgesehen werde, auf diese Funktion hinzuweisen, damit die Vorrechte und Befreiungen, die mit seinem Amt verbunden seien, auf ihn angewandt werden könnten, wenn er sich außerhalb der üblichen Arbeitsorte des Parlaments äußere.

68      Die Freiheit der politischen Debatte sei somit missachtet worden, und nach Ansicht des Klägers folgt daraus ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 der Geschäftsordnung.

69      Das Parlament tritt diesem Vorbringen entgegen.

70      Das Parlament hat den Antrag auf Aufhebung der Immunität des Klägers nur im Hinblick auf Art. 9 des Protokolls geprüft, was sowohl der Begründung des Berichts des Rechtsausschusses als auch der des Beschlusses über die Aufhebung seiner Immunität zu entnehmen ist.

71      Außerdem räumt der Kläger in seinen Schriftsätzen ein, dass das Parlament zutreffend der Ansicht war, dass der Antrag auf Aufhebung seiner Immunität nur im Hinblick auf Art. 9 des Protokolls untersucht werden musste.

72      Ferner hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung bestätigt, dass Art. 8 des Protokolls seines Erachtens auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar sei.

73      Die Parteien stimmen somit überein, dass der Antrag auf Aufhebung der Immunität im Hinblick auf Art. 9 des Protokolls geprüft werden musste.

74      In dieser Hinsicht ist klarzustellen, dass im vorliegenden Fall die Äußerungen in der streitigen Pressemitteilung, die dem Kläger zum Vorwurf gemacht werden, die Art und Weise betrafen, in der der Präsident und der Generaldirektor der Dienststellen des Regionalrats der Region Rhône-Alpes auf ein Ersuchen des Verfassungsschutzes reagierten, mit dem Informationen über bestimmte Beamte erlangt werden sollten.

75      Es ist im Übrigen unstreitig, dass diese Äußerungen vom Fraktionssprecher des Front National im Regionalrat der Region Rhône‑Alpes verfasst worden waren, einer Fraktion, deren Vorsitzender der Kläger, selbst ein gewähltes Mitglied dieses Rates, ist.

76      Es ist auch unstreitig, dass der Kläger in einer Pressekonferenz, die am 10. Oktober 2008 in Lyon stattfand, bestätigt hat, dass diese Mitteilung von Personen geschrieben worden sei, die befugt gewesen seien, sich im Namen der gewählten Vertreter der in Rede stehenden Fraktion im Regionalrat zu äußern.

77      Es ist somit festzustellen, dass dieser Sachverhalt unmittelbar die Aufgaben betrifft, die der Kläger in seiner Eigenschaft als Mitglied im Regionalrat und Vorsitzender der Fraktion Front National im Regionalrat der Region Rhône‑Alpes ausübt. Im Übrigen wird er, wie sich aus den Akten, insbesondere den Anlagen A6, A8 und A10 zur Klageschrift und der Anlage B2 zur Klagebeantwortung, ergibt, in dieser Eigenschaft von den französischen Behörden verfolgt.

78      Es besteht somit kein Zusammenhang zwischen den streitigen Ausführungen, die dem Kläger vorgeworfen werden, und seinen Aufgaben als Parlamentsabgeordneter und erst recht kein unmittelbar und in offenkundiger Weise ersichtlicher Zusammenhang zwischen den streitigen Ausführungen und dem parlamentarischen Amt als Abgeordneter, der die Anwendung von Art. 8 des Protokolls in der Auslegung durch den Gerichtshof hätte rechtfertigen können (vgl. oben, Randnr. 42).

79      Das Parlament war somit zutreffend der Ansicht, dass der Antrag auf Aufhebung der Immunität nur im Hinblick auf Art. 9 und nicht Art. 8 des Protokolls zu prüfen war.

80      Gemäß Art. 9 des Protokolls stehen dem Kläger im französischen Hoheitsgebiet die den Mitgliedern des Parlaments dieses Landes zuerkannten Immunitäten zu, die sich nach Art. 26 der französischen Verfassung bestimmen.

81      Im vorliegenden Fall wirft der Kläger dem Parlament vor, seine Immunität mit der Begründung aufgehoben zu haben, dass die streitigen Ausführungen, für die ihm die Verantwortung zugewiesen werde, außerhalb des Rahmens seiner Tätigkeit als Parlamentsabgeordneter erfolgt seien, während seines Erachtens Art. 9 des Protokolls alle Handlungen betreffe, die außerhalb der Ausübung einer parlamentarischen Tätigkeit im engeren Sinne erfolgten, und den Zweck verfolge, die Freiheit der politischen Debatte und die Freiheit der Meinungsäußerung des Abgeordneten zu schützen, unabhängig davon, ob im strikten Rahmen des Europäischen Parlaments Gebrauch von ihnen gemacht werde.

82      Art. 26 der französischen Verfassung bestimmt:

„Kein Mitglied des Parlaments darf wegen der in Ausübung seines Mandates geäußerten Meinungen oder seines Abstimmungsverhaltens belangt, zur Fahndung ausgeschrieben, verhaftet, in Haft gehalten oder verurteilt werden.

Kein Mitglied des Parlaments darf ohne die Genehmigung des Präsidiums der Kammer, der es angehört, wegen eines Verbrechens oder eines Vergehens verhaftet oder auf andere Weise seiner Freiheit beraubt oder in seiner Freiheit eingeschränkt werden. Dieser Genehmigung bedarf es bei einem bei Begehung festgestellten Verbrechen oder Vergehen oder bei einer rechtskräftigen Verurteilung nicht.

Die Inhaftierung, die freiheitsberaubenden oder ‑einschränkenden Maßnahmen oder die Strafverfolgung eines Mitglieds des Parlaments werden für die Dauer der Sitzungsperiode ausgesetzt, wenn die Kammer, der es angehört, dies verlangt.

…“

83      Der Kläger gibt zwar nicht genau an, ob er erwarte, dass die in diesem Artikel vorgesehene Immunität oder Unverletzlichkeit auf ihn angewandt werde, doch kann davon ausgegangen werden, dass er mit seinem Vorbringen tatsächlich die Gewährung der Immunität nach Art. 26 Abs. 1 der französischen Verfassung fordert, da er nämlich der Ansicht ist, dass er für Meinungsäußerungen in Ausübung seines Amtes nicht verfolgt oder verurteilt werden könne.

84      Um Art. 26 Abs. 1 der französischen Verfassung anwenden zu können, müssen, ebenso wie für Art. 8 des Protokolls, die Meinungsäußerungen des Mitglieds des Parlaments in Ausübung seines Amtes als Parlamentsabgeordneter erfolgt sein, da ihm in dieser Eigenschaft über Art. 9 des Protokolls die in der französischen Verfassung anerkannte Immunität gewährt wird.

85      Dies ist in der vorliegenden Rechtssache jedoch nicht der Fall (vgl. oben, Randnrn. 74 bis 78).

86      Somit hat das Parlament keinen Fehler begangen, als es ausgeführt hat, dass

„der Antrag der französischen Behörden nicht in den Bereich der politischen Aktivitäten [des Klägers] als Mitglied des … Parlaments fällt, sondern Tätigkeiten rein regionaler und lokaler Art, die [er] als Regionalrat der Region Rhône-Alpes wahrnimmt, betrifft, wobei es sich dabei um ein Mandat handelt, für das er in direkten allgemeinen Wahlen gewählt wurde und das sich von seinem Mandat als Mitglied des … Parlaments unterscheidet“.

87      Somit wirkt es sich auch nicht aus, ob der Parlamentsabgeordnete bei seinen streitigen Ausführungen auf diese Funktion hingewiesen hat, da dieser Aspekt bei der Feststellung, ob die genannten Ausführungen in Ausübung des Mandats des Betroffenen gemacht wurden, nicht berücksichtigt wird.

88      Soweit der Kläger schließlich argumentiert, er habe nicht in Ausübung seines Amtes als Parlamentsabgeordneter gehandelt, sondern nur im Rahmen politischer Aktivitäten, die bei jedem Mitglied des Parlaments außerhalb dieses Mandats vorkommen könnten, und deshalb finde nicht Art. 26 Abs. 1 der französischen Verfassung Anwendung, sondern Art. 26 Abs. 2 oder 3 dieser Verfassung, ist festzustellen, dass nach Art. 26 Abs. 3 der französischen Verfassung Strafverfolgungen möglich sind, sofern das Parlament dem nicht widerspricht, was bedeutet, dass es für diese nicht erforderlich ist, die Unverletzlichkeit des Parlamentariers aufzuheben.

89      Außerdem und soweit erforderlich wird darauf hingewiesen, dass Art. 9 des Protokolls ausdrücklich die Möglichkeit vorsieht, die Immunität, in deren Genuss der Parlamentsabgeordnete nach dieser Vorschrift kommen kann, aufzuheben.

90      Es kann somit dem Parlament nicht vorgeworfen werden, dass es unter Berücksichtigung der Umstände des vorliegenden Falls und auf Antrag des Ministre d’État, Garde des Sceaux, Ministre de la Justice et des Libertés der Französischen Republik es als angebracht angesehen hat, die sich aus dem Protokoll ergebende Immunität des Klägers aufzuheben, um den französischen Justizbehörden die Fortsetzung ihrer Untersuchung zu ermöglichen.

91      Soweit der Kläger schließlich geltend macht, dass das Parlament in einem solchen Fall seine Immunität hätte aufheben können, dies aber unter Berücksichtigung seiner früheren Entscheidungspraxis üblicherweise nicht machen würde, vermischen sich die Argumente im Wesentlichen mit denjenigen, die zur Stützung des zweiten und des dritten Klagegrundes vorgetragen werden, auf deren Prüfung verwiesen wird.

92      Somit sind sowohl der erste als auch der vierte Klagegrund zurückzuweisen.

 Zum zweiten und zum dritten Klagegrund: Nichtbeachtung der „ständigen Spruchpraxis“ des Rechtsausschusses des Parlaments im Bereich der freien Meinungsäußerung und des fumus persecutionis sowie Verstoß gegen die Grundsätze der Rechtssicherheit, des Vertrauensschutzes und der Gleichbehandlung

93      Der Kläger trägt zur Stützung seines zweiten Klagegrundes vor, dass das Parlament seine eigenen Grundsätze und somit eine „Spruchpraxis“, insbesondere im Bereich der parlamentarischen Immunität, schaffen könne, die für die anderen Organe verbindlich sei.

94      Die Erwägungen des Parlaments zu den Anträgen auf Aufhebung der Immunität, die ihm im Laufe der Zeit vorgelegt worden seien, hätten ihm nämlich ermöglicht, allgemeine Grundsätze zu entwickeln, die in der Entschließung niedergelegt worden seien, die vom Parlament in der Sitzung vom 10. März 1987 (ABl. C 99, S. 44) auf der Grundlage des Berichts von Herrn Donnez zum Abschluss des Verfahrens der Konsultation des Parlaments zu dem Entwurf eines Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Gemeinschaften hinsichtlich der Mitglieder des Parlaments (A2‑121/86) angenommen worden sei.

95      Das Parlament habe auf diese Weise Grundsätze zum Schutz der Rechte der Parlamentsabgeordneten aufgestellt, indem es in großem Umfang abgelehnt habe, ihre Immunität aufzuheben, namentlich wenn es darum gehe, ihre Meinungsäußerungsfreiheit zu schützen, und insbesondere wenn die Strafverfolgung von ihren politischen Gegnern oder der Exekutivgewalt veranlasst werde.

96      Die Grundsätze, die im Rahmen dieser „ständigen Spruchpraxis“ entwickelt worden seien, seien in Zusammenfassung in einem Dokument des Rechts- und Binnenmarktausschusses des Parlaments („Mitteilung an die Mitglieder Nr. 11/2003“) vom 6. Juni 2003 (im Folgenden: Mitteilung Nr. 11/2003) enthalten.

97      Der Kläger trägt vor, die ihm vorgeworfenen Ausführungen seien klar im Rahmen seiner Rolle als Vertreter der politischen Partei, der er angehöre, und als Vorsitzender der regionalen parlamentarischen Fraktion dieser Partei erfolgt, während er ebenfalls Abgeordneter dieser Partei im Parlament sei. Somit könne es ihm nicht verweigert werden, seine Ausführungen als unmittelbar mit seiner politischen Tätigkeit im Zusammenhang stehend zu definieren. Der Rechtsausschuss habe somit seines Erachtens offensichtlich bösgläubig angenommen, er habe diese Ausführungen nicht im Rahmen der Ausübung seines Amtes als Parlamentsabgeordneter gemacht.

98      Die Folge sei nicht nur ein Verstoß gegen die Grundsätze im Bereich der freien Meinungsäußerung, sondern auch des fumus persecutionis, da das Strafverfahren auf das mit einer Strafklage kombinierte Schadensersatzbegehren der LICRA zurückgehe, die sowohl auf örtlicher und regionaler Ebene als auch im Parlament von erklärten politischen Gegnern des Klägers geleitet worden sei und werde.

99      Darüber hinaus ist der Kläger der Ansicht, dass das Verhalten der französischen Behörden, insbesondere der Justizbehörden, auch das Vorliegen eines solchen fumus persecutionis zeige.

100    Die Grundsätze des Parlaments seien in einer solchen Situation darauf gerichtet, den Abgeordneten vor einer Aufhebung der Immunität zu schützen.

101    Schließlich macht der Kläger zur Stützung seines dritten Klagegrundes im Wesentlichen geltend, das Parlament habe zum einen dadurch, dass es seine Grundsätze und die „Spruchpraxis“ im Bereich der freien Meinungsäußerung und des fumus persecutionis nicht beachtet habe, gegen die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes verstoßen und zum anderen dadurch, dass es seine Immunität aufgehoben und dadurch von seiner „Spruchpraxis“ abgewichen sei, auch den Gleichbehandlungsgrundsatz verletzt, der unter Parlamentsabgeordneten zwingend anzuwenden sei.

102    Das Parlament tritt diesem Vorbringen entgegen.

103    Da der Kläger im Rahmen seines zweiten Klagegrundes im Wesentlichen die Nichtbeachtung der „ständigen Spruchpraxis“ des Parlaments im Bereich der Immunität rügt, die sich aus der Mitteilung Nr. 11/2003 ergibt, und im Rahmen seines dritten Klagegrundes geltend macht, dass durch die Nichtbeachtung dieser „ständigen Spruchpraxis“ gegen die Grundsätze der Rechtssicherheit, des Vertrauensschutzes und der Gleichbehandlung verstoßen worden sei, ist zunächst die Rechtsnatur der Mitteilung Nr. 11/2003 zu untersuchen.

–       Zur Rechtsnatur der Mitteilung Nr. 11/2003 und zur vom Gericht durchgeführten Kontrolle

104    Zunächst ist die Mitteilung Nr. 11/2003 zu betrachten, die wie folgt lautet:

„Das Sekretariat [des Rechts- und Binnenmarktausschusses] hat auf Verlangen des Ausschusses das Dokument im Anhang verfasst. Es hat die Fälle aufgeführt, in denen seit 1979 beim Parlament Anträge auf Aufhebung der Immunität in Rechtssachen betreffend die Meinungsfreiheit gestellt wurden, und versucht, unter Berücksichtigung der abschließenden Abstimmung im Plenum gemeinsame Grundsätze herauszuarbeiten.

Auch wenn Art. [9] Abs. 1 Buchst. a des Protokolls auf die Immunität der Mitglieder der fraglichen nationalen Parlamente Bezug nimmt, kann das … Parlament seine eigenen Grundsätze aufstellen und damit etwas schaffen, was man ‚Spruchpraxis‘ nennen könnte.

Die Grundsätze oder die Spruchpraxis, um die es oben geht, müssen ein kohärentes Konzept der parlamentarischen Immunität aufstellen, das grundsätzlich unabhängig sein muss von den unterschiedlichen Praktiken, die in den nationalen Parlamenten gelten. … Wurde untersucht, ob im Rahmen des nationalen Rechts Immunität besteht, wendet das … Parlament feststehende Grundsätze an, wenn über eine Aufhebung der Immunität zu entscheiden ist.

Grundsatz Nr. 2: Es ist ein fundamentaler Grundsatz, dass in den Fällen, in denen die Handlungen, die dem Abgeordneten vorgeworfen werden, im Rahmen seiner politischen Tätigkeit erfolgen oder unmittelbar damit zusammenhängen, die Immunität nicht aufgehoben wird.

Als Meinungsäußerungen, die von der politischen Tätigkeit des Abgeordneten gedeckt sind, gelten Äußerungen (auch von der für das Publikum eines nationalen Parlaments vorbehaltenen Rednertribüne aus) auf öffentlichen Versammlungen, in politischen Veröffentlichungen, in der Presse, in einem Buch, im Fernsehen, in politischen Veröffentlichungen, durch Unterzeichnung eines politischen Flugblatts und sogar vor Gericht … Das Parlament hat es sogar abgelehnt, die Immunität hinsichtlich Nebenanklagepunkten aufzuheben, wenn der Hauptanklagepunkt mit der Äußerung einer politischen Ansicht im Zusammenhang stand.

Was geäußert oder geschrieben worden sein soll, ist weitgehend unerheblich, insbesondere in dem Fall, in dem die Meinungsäußerung sich auf einen anderen Politiker oder den Gegenstand einer politischen Debatte bezieht. Dem kann jedoch in gewisser Hinsicht widersprochen werden:

3. in den Berichten wird häufig darauf hingewiesen, dass eine Meinungsäußerung nicht vorliegen könne bei Anstiftung zum Hass, einer Diffamierung oder einer Verletzung der Grundrechte der Person oder einem Angriff auf die Ehre oder das Ansehen von Gruppen oder Einzelpersonen. Das Parlament hat jedoch beständig eine sehr liberale Haltung in Bezug auf Meinungsäußerungen in der politischen Arena eingenommen mit der Bemerkung, dass es in der politischen Arena oft schwierig sei, zwischen Polemik und Diffamierung zu unterscheiden.

Das Konzept des fumus persecutionis, d. h. die Annahme, dass die gerichtliche Verfolgung eines Parlamentariers mit der Absicht erfolgt, seiner politischen Tätigkeit zu schaden, z. B. wenn eine Untersuchung auf anonyme Anzeigen zurückgeht oder der Antrag lange nach den Anschuldigungen eingereicht wird. Wenn z. B. Schadensersatzklagen wegen Diffamierung von einem politischen Gegner eingereicht werden, wird angenommen, dass sie, sofern nicht das Gegenteil bewiesen wird, dazu bestimmt sind, dem betreffenden Parlamentarier zu schaden, und nicht dazu, Schadensersatz zu erhalten. Der fumus persecutionis kann insbesondere angenommen werden, wenn die Strafverfolgung während einer Wahlkampagne in Bezug auf einen früheren Sachverhalt erfolgt, um hinsichtlich des Beschuldigten ein Exempel zu statuieren.

Grundsatz Nr. 3: Wird die Strafverfolgung von einem politischen Gegner betrieben, so wird, wenn nicht das Gegenteil bewiesen wird, die Immunität nicht aufgehoben, da die Strafverfolgung als dazu bestimmt anzusehen ist, dem betroffenen Parlamentarier zu schaden, und nicht dazu, Schadensersatz zu erhalten. Dies gilt ebenfalls, wenn die Strafverfolgung nur mit dem Ziel eingeleitet wird, dem betroffenen Abgeordneten zu schaden.

…“

105    Es ist einzuräumen, dass das Parlament zutreffend geltend macht, dass dieses vom Sekretariat des Rechts- und Binnenmarktausschusses verfasste Dokument kein Rechtsakt des Parlaments sei und nur eine Synthese der früheren Entscheidungspraxis dieses Ausschusses in dem fraglichen Bereich darstelle.

106    Außerdem kann sich nach ständiger Rechtsprechung auf Vertrauensschutz jeder berufen, bei dem die Gemeinschaftsverwaltung durch bestimmte Zusicherungen begründete Erwartungen geweckt hat (Urteil des Gerichtshofs vom 15. Juli 2004, Di Lenardo und Dilexport, C‑37/02 und C‑38/02, Slg. 2004, I‑6911, Randnr. 70; Urteil des Gerichts vom 17. Dezember 1998, Embassy Limousines & Services/Parlament, T‑203/96, Slg. 1998, II‑4239, Randnr. 74). Präzise, nicht an Bedingungen geknüpfte und übereinstimmende Auskünfte von zuständiger und zuverlässiger Seite stellen unabhängig von der Form ihrer Mitteilung solche Zusicherungen dar (vgl. in diesem Sinne Urteil des Gerichtshofs vom 25. Mai 2000, Kögler/Gerichtshof, C‑82/98 P, Slg. 2000, I‑3855, Randnr. 33; Urteil des Gerichts vom 18. Oktober 2011, Purvis/Parlament, T‑439/09, Slg. 2011, II‑7231, Randnr. 69). Dagegen kann niemand eine Verletzung dieses Grundsatzes geltend machen, dem die Verwaltung keine bestimmten Zusicherungen gegeben hat (Urteile des Gerichtshofs vom 24. November 2005, Deutschland/Kommission, C‑506/03, nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 58, und vom 22. Juni 2006, Belgien und Forum 187/Kommission, C‑182/03 und C‑217/03, Slg. 2006, I‑5479, Randnr. 147). Überdies können nur solche Zusicherungen ein rechtmäßiges Vertrauen entstehen lassen, die dem anwendbaren Recht entsprechen (Urteile des Gerichts vom 30. Juni 2005, Branco/Kommission, T‑347/03, Slg. 2005, II‑2555, Randnr. 102, und vom 23. Februar 2006, Cementbouw Handel & Industrie/Kommission, T‑282/02, Slg. 2006, II‑319, Randnr. 77).

107    Da die Mitteilung Nr. 11/2003 kein Rechtsakt des Parlaments ist, sondern nur eine Synthese der früheren Entscheidungspraxis des Rechts- und Binnenmarktausschusses, die vom Generalsekretariat des Parlaments mit dem Ziel durchgeführt wurde, die Parlamentsabgeordneten im Hinblick auf diese Entscheidungspraxis zu sensibilisieren, und da ein solches Dokument somit das Parlament nicht binden kann, folgt daraus, dass es keine präzisen, nicht an Bedingungen geknüpfte und übereinstimmende Auskünfte enthalten kann, die präzise Zusicherungen seinerseits darstellen können, auf deren Grundlage bei den Parlamentsabgeordneten begründete Erwartungen geweckt werden konnten.

108    Somit kann der Kläger jedenfalls nicht geltend machen, dass das Parlament den Grundsatz des Vertrauensschutzes dadurch missachtet habe, dass es von einem Dokument abgewichen sei, das kein Rechtsakt des Parlaments ist.

109    Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass die Organe gehalten sind, ihre Befugnisse im Einklang mit den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts, wie dem Grundsatz der Gleichbehandlung und dem Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung, auszuüben, und dass sie in Anbetracht dieser Grundsätze die zu ähnlichen Anträgen ergangenen Entscheidungen berücksichtigen und besonderes Augenmerk auf die Frage richten müssen, ob im gleichen Sinne zu entscheiden ist oder nicht. Außerdem müssen der Grundsatz der Gleichbehandlung und der Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung mit dem Gebot rechtmäßigen Handelns in Einklang gebracht werden. (vgl. entsprechend Urteil des Gerichtshofs vom 10. März 2011, Agencja Wydawnicza Technopol/HABM, C‑51/10 P, Slg. 2011, I‑1541, Randnrn. 73 bis 75 und die dort angeführte Rechtsprechung).

110    Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Gleichbehandlungsgrundsatz es u. a. verbietet, gleiche Sachverhalte unterschiedlich zu behandeln, sofern eine solche Behandlung nicht objektiv gerechtfertigt ist (vgl. Urteile des Gerichtshofs vom 16. Dezember 2008, Arcelor Atlantique und Lorraine u. a., C‑127/07, Slg. 2008, I‑9895, Randnr. 23, und vom 14. Oktober 2010, Nuova Agricast und Cofra/Kommission, C‑67/09 P, Slg. 2010, I‑9811, Randnr. 78 und die dort angeführte Rechtsprechung).

111    Darüber hinaus ergibt sich aus einer ständigen Rechtsprechung, dass zu den Garantien, die durch die Rechtsordnung der Union in Verwaltungsverfahren gewährt werden, u. a. der Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung gehört, der die Verpflichtung des zuständigen Organs umfasst, sorgfältig und unparteiisch alle relevanten Gesichtspunkte des Einzelfalls zu untersuchen (vgl. u. a. Urteile vom 21. November 1991, Technische Universität München, C‑269/90, Slg. 1991, I‑5469, Randnr. 14, und vom 29. März 2012, Kommission/Estland, C‑505/09 P, Randnr. 95).

112    Es ist somit davon auszugehen, dass der Kläger mit seinem Klagegrund der Nichtbeachtung der „ständigen Spruchpraxis“ des Parlaments im Bereich der Immunität einen Verstoß gegen die Grundsätze der ordnungsgemäßen Verwaltung und der Gleichbehandlung geltend machen möchte.

113    Nimmt man an, die Mitteilung Nr. 11/2003 enthalte hinreichend genaue Hinweise zur Haltung, die die Mitglieder des Parlaments von diesem erwarten dürfen, wenn es angerufen wird, über die Immunität eines Abgeordneten zu entscheiden, insbesondere im Hinblick auf die Meinungsfreiheit und den fumus persecutionis, so darf das Parlament nur davon abweichen, wenn insoweit eine ausreichende Begründung gegeben wird.

114    Insoweit muss die in Art. 296 AEUV vorgeschriebene Begründung der Natur des betreffenden Rechtsakts angepasst sein und die Überlegungen des Gemeinschaftsorgans, das den Rechtsakt erlassen hat, so klar und eindeutig zum Ausdruck bringen, dass die Betroffenen ihr die Gründe für die erlassene Maßnahme entnehmen können und das zuständige Gericht seine Kontrollaufgabe wahrnehmen kann. Das Begründungserfordernis ist nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach dem Inhalt des Rechtsakts, der Art der angeführten Gründe und nach dem Interesse zu beurteilen, das die Adressaten oder andere durch den Rechtsakt unmittelbar und individuell betroffene Personen an Erläuterungen haben können. In der Begründung brauchen nicht alle tatsächlich oder rechtlich einschlägigen Gesichtspunkte genannt zu werden, da die Frage, ob die Begründung eines Rechtsakts den Erfordernissen des Art. 296 AEUV genügt, nicht nur anhand ihres Wortlauts, sondern auch anhand ihres Kontexts sowie sämtlicher Rechtsvorschriften auf dem betreffenden Gebiet zu beurteilen ist (Urteile des Gerichtshofs vom 2. April 1998, Kommission/Sytraval und Brink’s France u. a., C‑367/95 P, Slg. 1998, I‑1719, Randnr. 63, vom 30. September 2003, Deutschland/Kommission, C‑301/96, Slg. 2003, I‑9919, Randnr. 87, und vom 22. Juni 2004, Portugal/Kommission, C‑42/01, Slg. 2004, I‑6079, Randnr. 66).

115    Was schließlich den Grundsatz der Rechtssicherheit betrifft, ergibt sich aus der Rechtsprechung, dass dieser Grundsatz ein grundlegendes Prinzip des Unionsrechts darstellt, das insbesondere verlangt, dass eine Regelung klar und deutlich ist, damit die Rechtssubjekte ihre Rechte und Pflichten unzweideutig erkennen und sich darauf einstellen können. Gehört indessen ein gewisser Grad an Ungewissheit in Bezug auf den Sinn und die Reichweite einer Rechtsnorm zu deren Wesen, so ist zu prüfen, ob die betreffende Rechtsnorm derart unklar ist, dass die Rechtssubjekte etwaige Zweifel in Bezug auf die Reichweite oder den Sinn dieser Norm nicht mit hinreichender Sicherheit ausräumen können (vgl. in diesem Sinne Urteil des Gerichtshofs vom 14. April 2005, Belgien/Kommission, C‑110/03, Slg. 2005, I‑2801, Randnrn. 30 und 31).

–       Zum angefochtenen Rechtsakt

116    Der Kläger trägt zur Stützung seines zweiten Klagegrundes vor, das Parlament habe seine frühere Entscheidungspraxis nicht beachtet, die die Beurteilung von Fällen betreffe, in denen die freie Meinungsäußerung der Abgeordneten betroffen sei und bei denen der Verdacht eines fumus persecutionis bestehe.

117    Was zunächst die Meinungsäußerungsfreiheit betrifft, so ergibt sich aus der Entscheidungspraxis des Parlaments, gemäß der Mitteilung Nr. 11/2003, dass die Aufhebung der Immunität insbesondere in Betracht gezogen werden kann, wenn der dem Abgeordneten vorgeworfene Sachverhalt unter die Anstiftung zum Rassenhass fällt.

118    Es ist festzustellen, dass im vorliegenden Fall diese Einstufung des Sachverhalts durch die zuständigen Behörden in den Erwägungsgründen A und B des angefochtenen Rechtsakts so dargestellt wurde:

„A. In der Erwägung, dass ein französischer Staatsanwalt die Aufhebung der parlamentarischen Immunität [des Klägers], Mitglied des … Parlaments, beantragt hat, um eine Anzeige wegen angeblicher Anstiftung zu Rassenhass untersuchen zu können und [ihn] gegebenenfalls vor einem französischen Gericht erster Instanz, einem Berufungsgericht oder einem Kassationsgericht anklagen zu können;

B. in der Erwägung, dass die Aufhebung der Immunität [des Klägers] sich auf den Verdacht eines Vergehens der Anstiftung zum Rassenhass in der Folge einer Pressemitteilung vom 3. Oktober 2008 der Fraktion des Regionalrats der Region Rhône-Alpes de[s] Front National bezieht, de[ss]en Vorsitzender [der Kläger] war“.

119    Was im Übrigen den fumus persecutionis betrifft, so ist festzustellen dass die Strafverfolgungsmaßnahmen gegen den Kläger nicht von einem politischen Gegner eingeleitet wurden, sondern von einer Vereinigung, die nach französischem Recht befugt ist, gegen rassistische oder antisemitische Äußerungen oder Schriften nach dem Gesetz vom 29. Juli 1881 über die Pressefreiheit (Bulletin des Lois, 1881, Nr. 637, S. 125) gerichtlich vorzugehen, dass die Untersuchung nicht auf anonyme Anzeigen zurückzuführen war, dass die Strafverfolgung weder frühere Sachverhalte noch Vorkommnisse betraf, die sich während eines Wahlkampfs ereigneten, und dass im Hinblick auf den Sachverhalt, der vom Parlament zugrunde gelegt wurde und der im Übrigen vom Kläger nicht bestritten wird, nichts darauf hindeutet, dass die Strafverfolgung offensichtlich darauf abzielte, an Letzterem ein Exempel zu statuieren.

120    Keines der Kriterien, die im Rahmen der früheren Entscheidungspraxis des Parlaments festgestellt wurden und die dieses veranlassen konnten, in der Vergangenheit einem Antrag auf Aufhebung der Immunität zu widersprechen, ist im vorliegenden Fall gegeben.

121    Das Parlament hat somit zu Recht in der Entscheidung über die Aufhebung der Immunität des Klägers ausgeführt,

„dass in dem vorliegenden Fall das Parlament keine Anzeichen von fumus persecutionis gefunden hat, d. h. einen hinreichend ernsten und genauen Verdacht, dass dem Verfahren die Absicht zugrunde liegt, der politischen Tätigkeit des Mitglieds zu schaden …“.

122    Somit wurde die Pflicht des Parlaments, sorgfältig und unparteiisch alle erheblichen Punkte des vorliegenden Falles zu untersuchen, in Bezug auf die Beurteilung sowohl der Meinungsäußerungsfreiheit als auch des Vorliegens eines eventuellen fumus persecutionis erfüllt, und der Kläger hat den Beweis, dass der Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung verletzt worden ist, nicht erbracht.

123    Das Gleiche gilt hinsichtlich des Gleichbehandlungsgrundsatzes, da der Kläger nicht im Hinblick auf die frühere Entscheidungspraxis des Parlaments, auf die in der Mitteilung Nr. 11/2003 hingewiesen wird, nachgewiesen hat, dass er anders behandelt wurde, als es bei Parlamentsabgeordneten in vergleichbaren Situationen üblich ist.

124    Darüber hinaus kann sich der Kläger unter Berücksichtigung der Rechtsnatur der Mitteilung Nr. 11/2003, die kein Dokument des Parlaments ist (siehe oben, Randnrn. 107 und 108), nicht wirksam darauf berufen, dieses habe gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit verstoßen, indem es für ihn unerwartet von dieser Mitteilung abgewichen sei, da diese Mitteilung, die allein vom Generalsekretariat des Parlaments verfasst worden war, somit nicht als Regelung im Sinne der oben (Randnr. 115) genannten Rechtsprechung angesehen werden kann.

125    Aus alledem ergibt sich schließlich, dass der angefochtene Rechtsakt im Hinblick auf die beiden oben angesprochenen Punkte ausreichend begründet ist.

126    Der zweite und der dritte Klagegrund sind somit insgesamt zurückzuweisen

 Zum fünften Klagegrund: Nichtbeachtung der Bestimmungen der Geschäftsordnung über das Verfahren, das zum Verlust des Abgeordnetenmandats führen kann

127    Der Kläger macht im Wesentlichen geltend, dass der Sachverhalt, für den er strafrechtlich verfolgt werde, in Frankreich zusätzlich bestraft werde, indem man nicht mehr gewählt werden könne, was den Verlust der Wahlmandate zur Folge habe.

128    Die französische Regierung habe aber das in Art. 3 Abs. 6 der Geschäftsordnung vorgesehene Verfahren nicht beachtet und habe in ihrer Korrespondenz nicht erwähnt, dass die eingeleiteten Strafverfolgungsmaßnahmen den Verlust seines Abgeordnetenmandats zur Folge haben könnten.

129    Außerdem habe kein Organ des Parlaments die französische Regierung um Rechenschaft gebeten. Der Präsident des Parlaments hätte den Rechtsausschuss über diesen wesentlichen Gesichtspunkt informieren müssen, und dieser hätte ihn berücksichtigen müssen, selbst wenn die Verurteilung des Klägers zu einer solchen zusätzlichen Strafe höchst unwahrscheinlich gewesen sei.

130    Somit mache das Unterlassen dieser wesentlichen Formalität den Bericht des zuständigen Ausschusses unbrauchbar und folglich die Entscheidung über die Aufhebung der Immunität des Klägers rechtswidrig.

131    Das Parlament tritt diesem Vorbringen entgegen.

132    Nach ständiger Rechtsprechung bezweckt die Geschäftsordnung eines Gemeinschaftsorgans, die interne Arbeitsweise der Dienststellen im Interesse einer ordnungsgemäßen Verwaltung zu organisieren. Daraus folgt, dass sich natürliche oder juristische Personen zur Stützung einer Nichtigkeitsklage nicht auf eine Verletzung dieser Vorschrift, die nicht dazu bestimmt ist, den Schutz Einzelner zu gewährleisten, berufen können (Urteil des Gerichtshofs vom 7. Mai 1991, Nakajima/Rat, C‑69/89, Slg. 1991, I‑2069, Randnrn. 49 und 50, vgl. in diesem Sinne Urteil des Gerichtshofs vom 13. September 2007, Common Market Fertilizers/Kommission, C‑443/05 P, Slg. 2007, I‑7209, Randnrn. 144 und 145).

133    Die Verletzung einer wesentlichen Formalität kann nach ständiger Rechtsprechung dann zur Nichtigerklärung der fraglichen Entscheidung führen, wenn erwiesen ist, dass die Entscheidung ohne diesen Verfahrensfehler inhaltlich hätte anders ausfallen können (vgl. in diesem Sinne Urteil des Gerichtshofs vom 29. Oktober 1980, Van Landewyck u. a./Kommission, 209/78 bis 215/78 und 218/78, Slg. 1980, 3125, Randnr. 47; Urteil des Gerichts vom 5. April 2006, Degussa/Kommission, T‑279/02, Slg. 2006, II‑897, Randnr. 416).

134    Im vorliegenden Fall ist die erste Rüge des Klägers im Wesentlichen darauf gerichtet, festzustellen, dass die französischen Behörden der ihnen nach Art. 3 Abs. 6 der Geschäftsordnung obliegenden Pflicht, das Parlament darüber zu informieren, dass ein Verfahren durchgeführt werde, das zum Verlust des Mandats des Klägers führen könne, nicht nachgekommen seien.

135    Es ist aber festzustellen, dass Art. 3 Abs. 6 der Geschäftsordnung keine Pflicht der Mitgliedstaaten in diesem Sinne vorsieht.

136    Art. 3 Abs. 6 der Geschäftsordnung sieht nämlich vor, dass, falls die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten gegen ein Mitglied ein Verfahren eröffnen, das den Verlust des Mandats eines Abgeordneten zur Folge haben könnte, der Präsident sie darum ersucht, ihn regelmäßig über den Stand des Verfahrens zu unterrichten, und den für die Überprüfung der Befugnisse zuständigen Ausschuss befasst, auf dessen Vorschlag das Parlament Stellung nehmen kann.

137    Dieser Artikel sieht somit das Verfahren vor, das der Präsident des Parlaments einzuhalten hat und nicht die Mitgliedstaaten. Im Übrigen ist es auf alle Fälle ausgeschlossen, dass auf der Grundlage der Geschäftsordnung des Parlaments irgendeine Pflicht zulasten der Mitgliedstaaten begründet wird.

138    Die erste Rüge ist somit zurückzuweisen.

139    Mit der zweiten Rüge wird beanstandet, dass kein Organ des Parlaments, beginnend mit dem Präsidenten, den französischen Behörden zum Vorwurf gemacht habe, dass sie das Parlament nicht darüber informiert hätten, dass der Kläger mit dem Verlust seines Mandats habe rechnen müssen, während der Präsident den zuständigen Ausschuss auf dieses Unterlassen hätte aufmerksam machen müssen, das von diesem Ausschuss beim Erlass des Beschlusses über die Aufhebung seiner Immunität hätte berücksichtigt werden können.

140    Es ist aber festzustellen, dass Art. 3 Abs. 6 der Geschäftsordnung, der keine Rechtsnormen enthält, die den Schutz Einzelner sicherstellen sollen, nur darauf gerichtet ist, wie das Parlament geltend macht, diesem zu ermöglichen, über Schritte informiert zu werden, die von den nationalen Behörden einem Verfahren vorbehalten sind, das dazu führen kann, dass ein Abgeordneter sein Mandat verliert und eventuell ersetzt wird.

141    Es handelt sich in diesem Sinne um eine Vorschrift, die bezweckt, eine ordnungsgemäße interne Funktionsweise des Parlaments sicherzustellen und die somit keine wesentliche Formalität des Verfahrens der Aufhebung der Immunität eines Abgeordneten darstellt.

142    Somit muss auch die zweite Rüge zurückgewiesen werden.

143    Der fünfte Klagegrund ist infolgedessen insgesamt zurückzuweisen.

 Zum sechsten Klagegrund: Verstoß gegen den Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens und Verletzung der Verteidigungsrechte

144    Der Kläger trägt vor, der Umstand, dass er nicht die Möglichkeit gehabt habe, sich bei der Abstimmung im Plenum über die Entscheidung über die Aufhebung seiner Immunität zu verteidigen, und dass ein Antrag in diesem Sinne, den er dem Präsidenten des Europäischen Parlaments vorgelegt habe, zurückgewiesen worden sei, stelle einen Verstoß gegen den Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens und eine Verletzung der Verteidigungsrechte dar.

145    Er räumt ein, dass zwar Art. 7 Abs. 8 Unterabs. 3 der Geschäftsordnung vorsehe, dass unbeschadet der Bestimmungen des Art. 151 ein Mitglied, dessen Vorrechte oder Immunitäten Gegenstand des Falls sind, in der Aussprache nicht das Wort ergreifen dürfe.

146    Er erhebt jedoch eine Einrede der Rechtswidrigkeit dieser Vorschrift, indem er sich darauf beruft, dass sie der Wahrung der Verteidigungsrechte und insbesondere dem Recht auf Anhörung widerspreche.

147    Insoweit macht er erstens geltend, dass man nicht davon ausgehen könne, dass seine Verteidigungsrechte allein deshalb gewahrt worden seien, weil er in einer Anhörung unter Ausschluss der Öffentlichkeit vor dem Rechtsauschuss gehört worden sei, während der Inhalt des Berichts, der vom Berichterstatter vorbereitet worden sei, nicht bekannt gewesen sei.

148    Zweitens bemerkt der Kläger, die Sitzungsprotokolle des Ausschusses führten nicht die Namen der Abgeordneten auf, die bei seiner Anhörung tatsächlich anwesend gewesen seien, sondern nur die Anwesenheitsliste. Ihm zufolge waren zahlreiche Abgeordnete, die diese Liste unterschrieben hätten, bei seiner Anhörung nicht mehr anwesend.

149    Drittens seien mehrere Abgeordnete, die an der Abstimmung über den Bericht teilgenommen hätten, bei seiner Anhörung nicht anwesend gewesen. Es sei aber allgemein anerkannt, dass im Rahmen eines Disziplinar-, Gerichts- oder Verwaltungsverfahrens nur diejenigen eine Entscheidung treffen könnten, die den Betroffenen gehört hätten, was voraussetze, dass dieselben Personen sowohl an der Anhörung des Betroffenen als auch an dem Erlass des ihn betreffenden Beschlusses teilnähmen.

150    Viertens widerspreche diese Weigerung, ihn anzuhören, den meisten parlamentarischen Gebräuchen, insbesondere Art. 80 Abs. 7 der Regelung über die französische Assemblée nationale, der bestimme, dass der Abgeordnete an den Aussprachen im Rahmen der Untersuchung des ihn betreffenden Antrags auf Aufhebung der Immunität teilnehme.

151    Fünftens macht der Kläger geltend, das Parlament habe im Übrigen jede Möglichkeit zu einer Aussprache ausgeschlossen, indem es für die Annahme der Texte, für die keine Änderungsanträge gestellt worden seien, ein vereinfachtes Verfahren ohne Aussprache gemäß Art. 138 Abs. 2 der Geschäftsordnung angewandt habe. Diese allgemeine Vorschrift könne nicht angewandt werden, da die besonderen Bestimmungen des Art. 7 Abs. 8 der Geschäftsordnung, die für den Bereich Immunität gälten, eine Aussprache vorsähen.

152    Sechstens schließlich würden die Vorschläge für die Annahme eines Rechtsakts mit oder ohne Aussprache von der Konferenz der Fraktionsvorsitzenden geprüft. Der Kläger ist der Ansicht, im Rahmen dieser Konferenz hätten fraktionslose Mitglieder keinen gewählten, nur einen ernannten Vertreter, der in der Beratung keine Stimme habe, so dass er nicht verlangen könne, dass eine Aussprache durchgeführt werde, was seines Erachtens ein neuer Fall von Diskriminierung der fraktionslosen Mitglieder sei, genau wie in der Rechtssache, in der das Urteil des Gerichts vom 2. Oktober 2001, Martinez u. a./Parlament (T‑222/99, T‑327/99 und T‑329/99, Slg. 2001, II‑2823), ergangen sei.

153    Es ist zu ergänzen, dass der Kläger in der mündlichen Verhandlung darauf hingewiesen hat, dass sein Klagegrund nur auf die fehlenden Garantien gerichtet sei, die die internen Verfahren des Parlaments bei der Prüfung eines Antrags auf Aufhebung der Immunität böten, nämlich die kontradiktorische Aussprache und die Wahrung der Verteidigungsrechte, dass er aber nicht die Ansicht vertrete, dass im vorliegenden Fall diese internen Verfahren verletzt worden seien.

154    Das Parlament tritt diesem Vorbringen entgegen.

155    Das Vorbringen des Klägers, wie es in der mündlichen Verhandlung präzisiert worden ist, besteht im Wesentlichen darin, dass er gewünscht hätte, im Plenum das Wort zu ergreifen, um sich zu verteidigen, und dass dieses Recht ihm verweigert worden sei, weil die Anwendung von Art. 7 Abs. 8 in Verbindung mit Art. 138 Abs. 2 der Geschäftsordnung verhindert habe, dass eine Aussprache stattfinde und dass er das Wort ergreife.

156    Der Kläger ist nämlich der Ansicht, die Anwendung von Art. 138 Abs. 2 der Geschäftsordnung habe die Durchführung einer Aussprache verhindert, die jedoch in Art. 7 Abs. 8 der Geschäftsordnung vorgesehen sei, und die Anwendung von Art. 7 Abs. 8 der Geschäftsordnung verhindere außerdem, dass sich der Abgeordnete äußere, wenn eine solche Aussprache stattfinde.

157    Zwar räumt der Kläger ein, dass das Parlament seine Geschäftsordnung beachtet habe, er bestreitet dagegen die Rechtmäßigkeit einer solchen Bestimmung, da er der Ansicht ist, dass sie sowohl der Wahrung der Verteidigungsrechte als auch dem Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens widerspreche.

158    Es ist deshalb erstens zu prüfen, ob eine Aussprache im Plenum zu erfolgen hatte, zweitens, falls dies bejaht wird, ob dem Kläger dort das Wort verweigert werden konnte und ob somit Art. 7 Abs. 8 der Geschäftsordnung in dieser Hinsicht rechtswidrig ist, und schließlich drittens, ob die anderen Rügen betreffend das Verfahren, das das Parlament durchgeführt hat, die Rechtmäßigkeit dieser Durchführung in Frage stellen.

–       Zur Aussprache im Plenum

159    Vorab ist zu bemerken, dass der Kläger Art. 7 Abs. 8 der Geschäftsordnung nicht in Frage stellt, soweit er die Durchführung einer Aussprache vorsieht, sondern ausschließlich, soweit er vorsieht, dass der betroffene Abgeordnete im Verlauf dieser Aussprache nicht das Wort ergreifen darf.

160    Erstens ist also zu prüfen, ob Art. 138 Abs. 2 der Geschäftsordnung, der ein vereinfachtes Verfahren ohne Aussprache und ohne Änderungsanträge im Plenum vorsieht, beim Erlass eines Beschlusses über die Immunität eines Abgeordneten im Plenum angewandt werden darf.

161    Art. 138 Abs. 2 der Geschäftsordnung sieht vor, dass ein Vorschlag für einen nichtlegislativen Entschließungsantrag, der im Ausschuss gegen die Stimmen von weniger als einem Zehntel der Mitglieder dieses Ausschusses angenommen wurde, zur Abstimmung ohne Änderungsantrag und ohne Aussprache auf die Tagesordnung gesetzt wird, es sei denn, es wird auf Vorschlag der Konferenz der Präsidenten oder auf Antrag einer Fraktion oder von mindestens 40 Mitgliedern ein anderslautender Beschluss gefasst.

162    Erstens ist davon auszugehen, dass, wie das Parlament geltend macht, der Ausdruck „Vorschlag für einen nichtlegislativen Entschließungsantrag“ im Gegensatz zu dem Ausdruck „Vorschlag für Rechtsakte“ im Sinne von Art. 138 Abs. 1 den Ausdruck „Vorschlag für einen … Beschluss“ im Sinne von Art. 7 Abs. 2 der Geschäftsordnung mit einschließt; diese Auslegung wird im Übrigen vom Kläger nicht bestritten.

163    Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass die Geschäftsordnung erst am Ende einer Aussprache im Ausschuss und soweit eine Minderheit von weniger als einem Zehntel seiner Mitglieder im Ausschuss gegen den Text gestimmt hat, vorsieht, dass das Verfahren, das sich von Rechts wegen anschließt, das in Art. 138 der Geschäftsordnung vorgesehene Verfahren ohne Aussprache und ohne Änderungsanträge ist, und zwar aus Gründen der Verfahrensökonomie.

164    Drittens ist zu betonen, dass die Geschäftsordnung dennoch Schutzmechanismen vorgesehen hat, die trotz des Abstimmungsergebnisses im Ausschuss auf Vorschlag der Konferenz der Präsidenten oder auf Antrag einer Fraktion oder von mindestens 40 Abgeordneten eine Aussprache im Plenum ermöglichen.

165    Die Möglichkeit einer Aussprache im Plenum ist somit keinesfalls ausgeschlossen, selbst wenn Art. 138 Abs. 2 dazu führt, dass ein Punkt zur Abstimmung ohne Aussprache und ohne Änderungsanträge auf die Tagesordnung des Plenums kommt.

166    Viertens schreibt Art. 7 Abs. 8 der Geschäftsordnung keine Aussprache im Plenum vor, sondern bestimmt nur die Bedingungen, nach denen diese Aussprache durchgeführt wird, wenn sie stattfindet, im vorliegenden Fall in Form einer Aussprache, die sich nur auf die Gründe erstreckt, die für oder gegen den Vorschlag sprechen, die Immunität eines Abgeordneten aufzuheben, und in der darüber hinaus kein Änderungsantrag möglich ist.

167    Somit schließen diese Bestimmungen keinesfalls aus, dass, wenn der Vorschlag für einen Beschluss im Ausschuss angenommen wurde und eine Minderheit von weniger als einem Zehntel der Mitglieder dieses Ausschusses gegen den Vorschlag gestimmt hat, der Punkt von Rechts wegen gemäß Art. 138 Abs. 2 der Geschäftsordnung zur Abstimmung ohne Aussprache und ohne Änderungsantrag auf die Tagesordnung des Plenums gesetzt wird.

168    Art. 7 Abs. 8 stellt somit keine lex specialis dar, von der nach Art. 138 Abs. 2 nicht abgewichen werden könnte, sondern diese beiden Bestimmungen ergänzen sich vielmehr, um die Arbeit des Parlaments im Plenum zu erleichtern, wenn sich nur eine sehr kleine Minderheit gegen den Vorschlag ausgesprochen hat, der vom zuständigen Ausschuss angenommen wurde, ja sogar wenn sich keine Minderheit gegen diesen Vorschlag ausgesprochen hat.

169    Im Übrigen ist festzustellen, dass das Parlament – vom Kläger unwidersprochen – darauf hingewiesen hat, dass das in Art. 138 Abs. 2 der Geschäftsordnung vorgesehene Verfahren ohne Aussprache dasjenige gewesen sei, das vom Parlament gewöhnlich in Bezug auf Beschlüsse angewandt worden sei, die Anträge auf Aufhebung der Immunität betroffen hätten, und dass eine Aussprache im Plenum, wie sie in Art. 7 Abs. 8 vorgesehen sei, nur in Ausnahmefällen vorgekommen sei, da allein das Ergebnis der Abstimmung im zuständigen Ausschuss bestimmt habe, ob Art. 138 Abs. 2 angewandt worden sei.

170    Außerdem wurde im vorliegenden Fall zum einen der Punkt zur Abstimmung ohne Änderungsantrag und ohne Aussprache auf die Tagesordnung des Plenums gesetzt, da der Vorschlag für einen Beschluss im Ausschuss gegen die Stimmen von weniger als einem Zehntel der Mitglieder des Ausschusses angenommen worden war. Zum anderen ist festzustellen, was vom Kläger nicht bestritten wird, dass sich weder die Konferenz der Präsidenten noch eine Fraktion oder 40 Abgeordnete dafür ausgesprochen haben, dass eine Aussprache betreffend den Beschluss, seine Immunität aufzuheben, stattfindet.

171    Das Parlament hat somit zutreffend das Verfahren ohne Änderungsantrag und ohne Aussprache nach Art. 138 der Geschäftsordnung angewandt.

172    Soweit der Kläger trotz der Klarstellungen, die in der mündlichen Verhandlung hinsichtlich der Formulierung seiner Rügen erfolgten, immer noch einen Verfahrensmissbrauch geltend macht, ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung ein Ermessensmissbrauch, und somit als nur eine seiner Formen ein Verfahrensmissbrauch, lediglich vorliegt, wenn aufgrund objektiver, schlüssiger und übereinstimmender Indizien anzunehmen ist, dass die angefochtene Handlung ausschließlich oder zumindest vorwiegend zu anderen als den angegebenen Zwecken oder mit dem Ziel vorgenommen worden ist, ein Verfahren zu umgehen, das der Vertrag speziell vorsieht, um die konkrete Sachlage zu bewältigen (Urteile des Gerichtshofs vom 10. März 2005, Spanien/Rat, C‑342/03, Slg. 2005, I‑1975, Randnr. 64, und vom 7. September 2006, Spanien/Rat, C‑310/04, Slg. 2006, I‑7285, Randnr. 69).

173    Da im vorliegenden Fall der fragliche Punkt gemäß Art. 138 Abs. 2 der Geschäftsordnung von Rechts wegen zur Abstimmung ohne Änderungsantrag und ohne Aussprache auf die Tagesordnung des Plenums gesetzt wurde, weil der Vorschlag für einen Beschluss im Ausschuss gegen die Stimmen von allenfalls einer Minderheit von weniger als einem Zehntel der Mitglieder des Ausschusses angenommen worden war, gibt es im vorliegenden Fall keinen objektiven und sachdienlichen Hinweis darauf, dass die angefochtene Handlung mit dem Ziel vorgenommen wurde, ein Verfahren zu umgehen, das der Vertrag speziell zu diesem Zweck vorsieht.

174    Zweitens ist zu prüfen, ob, wie der Kläger vorträgt, trotz der Rechtmäßigkeit des Verfahrens, das das Parlament durchgeführt hat, die allgemeinen Grundsätze der Wahrung der Verteidigungsrechte und des kontradiktorischen Verfahrens Verfahrensvorschriften über den Erlass eines Beschlusses, die Immunität eines Abgeordneten aufzuheben, wie dies in der Geschäftsordnung des Parlaments geregelt ist, entgegenstehen.

175    Insoweit ist daran zu erinnern, dass die Wahrung der Verteidigungsrechte und insbesondere des Rechts auf Anhörung nach ständiger Rechtsprechung in allen möglicherweise zu einer beschwerenden Maßnahme führenden Verfahren gegen eine Person ein fundamentaler Grundsatz des Gemeinschaftsrechts ist, der auch dann sichergestellt werden muss, wenn eine Regelung für das betreffende Verfahren fehlt (Urteile des Gerichtshofs vom 9. November 2006, Kommission/De Bry, C‑344/05 P, Slg. 2006, Randnr. 37; Urteil des Gerichts vom 14. Oktober 2009, Bank Melli Iran/Rat, T‑390/08, Slg. 2009, II‑3967, Randnr. 91). Dieser Grundsatz ist außerdem in Art. 41 Abs. 2 Buchst. a der Charta der Grundrechte verankert.

176    Nach diesem Grundsatz muss der Betroffene vor Erlass des ihn betreffenden Beschlusses die Möglichkeit haben, seinen Standpunkt zur Richtigkeit und Erheblichkeit der Tatsachen und Umstände, auf deren Grundlage dieser Beschluss erlassen worden ist, sachgerecht darzulegen (vgl. in diesem Sinne Urteile des Gerichtshofs vom 15. Juli 1970, Buchler/Kommission, 44/69, Slg. 1970, 733, Randnr. 9, und vom 3. Oktober 2000, Industrie des poudres sphériques/Rat, C‑458/98 P, Slg. 2000, I‑8147, Randnr. 99).

177    Somit kann nach diesen Grundsätzen ein Beschluss nicht auf der Grundlage von Tatsachen und Umständen erlassen werden, zu denen der Betroffene nicht vor Erlass dieses Beschlusses sachgerecht Stellung nehmen konnte.

178    Das Recht auf Anhörung erfordert jedoch nicht notwendigerweise, dass eine öffentliche Aussprache in dem gesamten Verfahren stattfindet, das gegen eine Person eingeleitet wurde und das zu einer diese beschwerenden Maßnahme führen kann.

179    Die Wahrung der Verteidigungsrechte und der Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens erfordern somit nicht, dass dem Erlass eines Beschlusses über die Aufhebung der Immunität eines Abgeordneten eine Aussprache im Plenum vorausgegangen ist.

180    Der Kläger weist im Übrigen nicht nach, dass ein solcher Grundsatz im Recht der Mitgliedstaaten bei Weitem überwiege, selbst nicht im französischen Recht.

181    Das Parlament hat nämlich in der mündlichen Verhandlung – unwidersprochen durch den Kläger – vorgetragen, dass in Frankreich seit 1995 das Präsidium des Parlaments, dem der Abgeordnete angehöre, über die Aufhebung der Immunität des Abgeordneten entscheide, und nicht das Plenum.

182    Dagegen ist Art. 7 Abs. 3 der Geschäftsordnung zu berücksichtigen, der vorsieht, dass das von einem Antrag auf Aufhebung seiner Immunität betroffene Mitglied die Möglichkeit erhält, gehört zu werden, und alle Schriftstücke vorlegen kann, die ihm zweckmäßig erscheinen. Es kann außerdem durch ein anderes Mitglied vertreten werden.

183    Dem Betroffenen werden somit im Rahmen des Verfahrens, das vom Parlament zur Behandlung der Anträge auf Aufhebung der Immunität eingeführt wurde, im Hinblick auf die Verteidigungsrechte und den Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens ausreichende Garantien gewährt.

184    Somit trifft das Vorbringen des Klägers nicht zu, die Grundsätze der Wahrung der Verteidigungsrechte und des kontradiktorischen Verfahrens stünden den Verfahrensvorschriften entgegen, die vor dem Parlament im Rahmen der Geschäftsordnung nach den Art. 7 und 138 dieser Geschäftsordnung für die Behandlung der Anträge auf Aufhebung der Immunität gelten.

185    Darüber hinaus ist im vorliegenden Fall festzustellen, dass der Kläger nicht bestreitet, vor dem Rechtsausschuss gehört worden zu sein, bevor dieser seinen Vorschlag für einen Beschluss angenommen hat.

186    Außerdem hat der Kläger nicht nachgewiesen, zu welchen tatsächlichen Punkten oder Umständen, die vom Rechtsausschuss oder vom Parlament berücksichtigt worden wären, er seinen Standpunkt vor Erlass des Beschlusses über die Aufhebung seiner Immunität nicht hätte geltend machen können.

187    Ferner ergibt sich aus den Gründen des Beschlusses über die Aufhebung der Immunität des Klägers, dass das Parlament auf die beiden Hauptargumente geantwortet hat, die dieser vor dem Gericht erneut geltend macht, nämlich er habe in Ausübung seines Amtes gehandelt und es bestehe ein fumus persecutionis, der rechtfertige, dass seine Immunität nicht aufgehoben werde.

188    Somit ist davon auszugehen, dass der Kläger nicht den Nachweis erbracht hat, dass im vorliegenden Fall seine Verteidigungsrechte verletzt worden sind oder gegen den Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens verstoßen worden ist.

–       Zum Recht des Abgeordneten, in der Aussprache, die in Art. 7 Abs. 8 der Geschäftsordnung vorgesehen ist, das Wort zu ergreifen

189    Unter Berücksichtigung der vorstehenden Erwägungen geht die Argumentation des Klägers, wonach der Umstand, dass bei der Aussprache im Plenum über den Erlass des Beschlusses über die Aufhebung der Immunität kein Recht bestehe, das Wort zu ergreifen, der Wahrung der Verteidigungsrechte und dem Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens widerspreche, ins Leere.

190    Wenn es nämlich nach Art. 138 Abs. 2 der Geschäftsordnung erlaubt ist, einen Vorschlag für einen Beschluss zur Aufhebung der Immunität eines Abgeordneten zur Abstimmung ohne Aussprache und ohne Änderungsanträge auf die Tagesordnung des Plenums zu setzen, geht die Rüge, dass es rechtswidrig sei, ihn bei einer solchen Aussprache nicht das Wort ergreifen zu lassen, ins Leere.

191    Daraus folgt auch, dass unter solchen Umständen Frau A., die die Plenumssitzung geleitet hat, nicht vorgeworfen werden kann, dem Kläger für eine Aussprache über die Aufhebung seiner Immunität nicht das Wort erteilt zu haben, da keine Debatte vorgesehen war.

–       Zu den anderen Rügen, die der Kläger hinsichtlich des Verfahrensablaufs geltend macht

192    Hinsichtlich der Rüge, dass die Aussprache im zuständigen Ausschuss unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattgefunden habe, ist zu bemerken, dass dies in Anwendung von Art. 103 Abs. 4 der Geschäftsordnung so geschehen ist und dass nach dem Wortlaut dieses Artikels dieses Verfahren bei Prüfung von Anträgen auf Aufhebung der Immunität stets stattfindet, um sowohl den betroffenen Abgeordneten als auch die Vertraulichkeit der Aussprachen zu schützen, wie sich aus Art. 7 Abs. 11 der Geschäftsordnung ergibt.

193    Der Kläger hat somit im Hinblick auf die Behandlung, die Parlamentsabgeordneten unter vergleichbaren Umständen üblicherweise zuteilwird, keine andere oder besondere Behandlung erfahren.

194    Was die Rüge betrifft, dass die Aussprache vor dem zuständigen Ausschuss stattgefunden habe, bevor dem Kläger der genaue Inhalt des Entwurfs des Berichts bekannt gewesen sei, weshalb er sich nicht angemessen habe verteidigen können, ist festzustellen, dass der Kläger nicht nachgewiesen hat, dass zum Zeitpunkt seiner Anhörung am 26. Januar 2011 bereits ein Entwurf eines Berichts vorlag und dass dieser den Mitgliedern des zuständigen Ausschusses vorab zur Kenntnis gegeben worden war, ihm aber nicht.

195    Jedenfalls ist insoweit darauf hinzuweisen, dass der Kläger nicht nachgewiesen hat, welche Tatsachenelemente oder Umstände vom Rechtsausschuss oder vom Parlament berücksichtigt worden wären, zu denen er vor Erlass der Entscheidung über die Aufhebung seiner Immunität nicht hätte Stellung nehmen können.

196    Diese Rüge ist somit zurückzuweisen.

197    Was die Rüge betrifft, dass die Abgeordneten, die an der Aussprache in dem Ausschuss teilgenommen hätten, nicht dieselben gewesen seien wie diejenigen, die an der Abstimmung im Ausschuss teilgenommen hätten, ist erstens auszuführen, dass das Parlament zutreffend – und unwidersprochen durch den Kläger – geltend macht, dass keine Vorschrift oder interne Regel bestehe, nach der erforderlich sei, dass der Ausschuss bei der Aussprache und bei der Abstimmung dieselbe Zusammensetzung aufweise, sofern das Quorum jeweils eingehalten worden sei, was dadurch gerechtfertigt sei, dass es sich nicht um Rechtsakte handele, die von den Abgeordneten individuell angenommen würden, sondern um Maßnahmen des parlamentarischen Ausschusses.

198    Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass gemäß dem vom Parlament vorgesehenen Verfahren nach der Weiterleitung des Antrags auf Aufhebung der Immunität eines Abgeordneten an den zuständigen Ausschuss der Abgeordnete von diesem Ausschuss gehört wird. Dann wird von dem Mitglied des Ausschusses, das als Berichterstatter bestimmt wurde, ein Bericht vorbereitet, dem als Anhang ein Vorschlag für einen Beschluss beigefügt wird. Dieser Bericht wird dann zusammen mit dem Vorschlag für einen Beschluss den Mitgliedern des Ausschusses zur Abstimmung vorgelegt.

199    Der Kläger hat aber nicht nachgewiesen, dass dieses Verfahren im vorliegenden Fall nicht befolgt worden wäre.

200    Außerdem ist zu betonen, dass der Vorschlag für einen Beschluss, der dem Ausschuss zur Abstimmung vorgelegt wurde, die Gründe darlegt, aus denen das Parlament der Ansicht war, dass der Kläger nicht im Rahmen seiner Aufgaben als Parlamentsabgeordneter gehandelt hat und dass ein fumus persecutionis nicht erwiesen ist.

201    Überdies ist noch einmal darauf hinzuweisen, dass der Kläger nicht nachgewiesen hat, welche Tatsachenelemente oder Umstände von den Mitgliedern des Rechtsausschusses bei der Abstimmung in diesem Ausschuss berücksichtigt worden wären, zu deren Inhalt der Kläger nicht hätte Stellung nehmen können.

202    Schließlich kann drittens hinsichtlich einer Handlung des Parlaments, die politischer Natur ist (vgl. oben, Randnr. 59), keine Parallele zu den Regeln hergestellt werden, die für Disziplinar- oder Gerichtsverfahren hinsichtlich der Zusammensetzung der beratenden Instanz gelten, die über diese Verfahren zu entscheiden hat.

203    Die Rüge ist deshalb zurückzuweisen.

204    Was die Rüge der Verfahrensunterschiede gegenüber dem französischen Recht betrifft, ist festzustellen, dass, selbst wenn man diese Verfahrensunterschiede als gegeben unterstellt (vgl. oben, Randnr. 181), diese Rüge ins Leere geht, da im vorliegenden Fall nicht das im französischen Recht vorgesehene Verfahren für den Erlass des Beschlusses anwendbar ist, sondern das in der Geschäftsordnung vorgesehene Verfahren.

205    Diese Rüge ist somit zurückzuweisen.

206    Der sechste Klagegrund ist somit insgesamt zurückzuweisen, ebenso wie die Einrede der Rechtswidrigkeit in Bezug auf Art. 7 Abs. 8 der Geschäftsordnung.

207    Im Ergebnis ist die Nichtigkeitsklage im Rahmen der Rechtssache T‑346/11 betreffend die Aufhebung der Immunität des Klägers abzuweisen.

 Zur Klage auf Schadensersatz in der Rechtssache T‑346/11 wegen Aufhebung der Immunität

208    Der Kläger beschränkt sich darauf, einen Antrag auf Schadensersatz in der Klageschrift zu stellen.

209    Das Parlament widerspricht diesem Antrag.

210    Nach ständiger Rechtsprechung hängt die Auslösung der außervertraglichen Haftung der Union im Sinne von Art. 340 Abs. 2 AEUV wegen rechtswidrigen Verhaltens ihrer Organe von einer Reihe von Voraussetzungen ab, nämlich der Rechtswidrigkeit des den Organen vorgeworfenen Verhaltens, dem tatsächlichen Vorliegen eines Schadens und dem Bestehen eines Kausalzusammenhangs zwischen dem behaupteten Verhalten und dem geltend gemachten Schaden (vgl. Urteil Gollnisch/Parlament, oben in Randnr. 58 angeführt, Randnr. 90 und die dort angeführte Rechtsprechung).

211    Diese drei Voraussetzungen für die Auslösung der Haftung der Gemeinschaft müssen kumulativ vorliegen (Urteil des Gerichtshofs vom 9. September 1999, Lucaccioni/Kommission, C‑257/98 P, Slg. 1999, I‑5251, Randnr. 14; Urteil des Gerichts vom 6. Dezember 2001, Emesa Sugar/Rat, T‑43/98, Slg. 2001, II‑3519, Randnr. 59). Daher reicht das Fehlen einer einzigen dieser Voraussetzungen aus, um eine Schadensersatzklage abzuweisen (Urteil des Gerichts vom 17. Dezember 2003, DLD Trading/Rat, T‑146/01, Slg. 2003, II‑6005, Randnr. 74).

212    Da im vorliegenden Fall die Voraussetzung der Rechtswidrigkeit des dem Parlament vorgeworfenen Verhaltens nicht erfüllt ist, weil sein Beschluss, die Immunität des Klägers aufzuheben, nicht rechtswidrig ist (siehe oben, Randnr. 207), tritt eine Haftung dieses Organs auf der Grundlage von Art. 340 Abs. 2 AEUV nicht ein, und die Schadensersatzklage ist abzuweisen.

 Zur Nichtigkeits- und Schadensersatzklage in der Rechtssache T‑347/11 in Bezug auf den Beschluss, die Immunität des Klägers nicht zu schützen

213    Der Kläger trägt zur Stützung der Nichtigkeitsklage, die er gegen den Beschluss des Parlaments erhebt, seine Immunität nicht zu schützen, sechs Klagegründe vor, die den Klagegründen gleichen, die im Rahmen der Rechtssache T‑346/11 vorgetragen wurden.

214    Er rügt erstens einen Verstoß gegen Art. 9 des Protokolls, zweitens eine Beeinträchtigung der „ständigen Spruchpraxis“ des Rechtsausschusses des Parlaments, drittens einen Verstoß gegen die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes, viertens einen Eingriff in die Unabhängigkeit des Abgeordneten, fünftens einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 4 Unterabs. 2 der Geschäftsordnung betreffend das Verfahren, das zum Verlust des Mandats eines Abgeordneten führen kann, und sechstens einen Verstoß gegen den Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens und eine Verletzung der Verteidigungsrechte.

215    Der Kläger beschränkt sich im Übrigen darauf, einen Schadensersatzantrag in der Klageschrift zu stellen.

216    Das Parlament macht im Wesentlichen sowohl die Unzulässigkeit der Klage geltend, da der Beschluss über den Schutz der Immunität nur eine Stellungnahme sei und die Rechtslage des Betroffenen nicht ändern könne, wobei es sich auf die aus dem Urteil Marra, oben in Randnr. 34 angeführt, Randnr. 44, hervorgegangene Rechtsprechung beruft, als auch das fehlende Rechtsschutzinteresse des Klägers, da der Beschluss, die Immunität des Klägers aufzuheben, gleichzeitig mit der Ablehnung, seine Immunität im Rahmen dieser Klage zu schützen, ergangen sei.

217    Im Übrigen bestreitet das Parlament das Vorbringen des Klägers und beantragt die Zurückweisung der Klagegründe, die dieser zur Stützung seiner Nichtigkeitsklage vorgetragen hat, sowie die Zurückweisung seines Schadensersatzantrags aus den gleichen Gründen, die es im Rahmen der Rechtssache T‑346/11 geltend gemacht hat.

218    Nach gefestigter Rechtsprechung darf der Streitgegenstand, wie er mit der Klageerhebung bestimmt worden ist, ebenso wie das Rechtsschutzinteresse bis zum Erlass der gerichtlichen Entscheidung nicht entfallen, da der Rechtsstreit sonst in der Hauptsache erledigt ist; dies setzt voraus, dass die Klage der Partei, die sie erhoben hat, im Ergebnis einen Vorteil verschaffen kann (Urteil des Gerichtshofs vom 7. Juni 2007, Wunenburger/Kommission, C‑362/05 P, Slg. 2007, I‑4333, Randnr. 42; Urteil des Gerichts vom 24. September 2008, Reliance Industries/Rat und Kommission, T‑45/06, Slg. 2008, II‑2399, Randnr. 35).

219    Soweit die Klage gegen den Beschluss, die Immunität aufzuheben, abgewiesen wird (vgl. oben, Randnr. 207), hätte der Kläger keinen Vorteil von einem Urteil, das über die Rechtmäßigkeit des Beschlusses des Parlaments, seine Immunität nicht zu schützen, entscheidet.

220    Selbst wenn nämlich der Beschluss, die Immunität des Klägers nicht zu schützen – gegen jede Vernunft, da die geltend gemachten Klagegründe die gleichen sind wie diejenigen, die zuvor in Bezug auf die Entscheidung, die Immunität aufzuheben, zurückgewiesen worden sind –, für nichtig erklärt würde, hätte das Nichtigkeitsurteil keine Auswirkung auf die Rechtslage des Klägers, da seine Immunität auf alle Fälle weiterhin aufgehoben wäre und folglich nicht gleichzeitig vom Parlament geschützt werden könnte.

221    Somit ist die Nichtigkeitsklage in der Rechtssache T‑347/11 betreffend die Entscheidung des Parlaments, die Immunität des Klägers nicht zu schützen, erledigt.

222    Hinsichtlich der Schadensersatzklage ist im Rahmen der Voraussetzungen für die Auslösung der außervertraglichen Haftung der Union, die oben in Randnr. 210 genannt sind, darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung die Voraussetzung des Bestehens eines Kausalzusammenhangs erfüllt ist, wenn ein unmittelbarer ursächlicher Zusammenhang zwischen dem dem Organ zur Last gelegten Handeln und dem geltend gemachten Schaden besteht; für ihn trägt der Kläger die Beweislast. Die Union kann nur für Schäden in Haftung genommen werden, die sich hinreichend unmittelbar aus dem rechtswidrigen Verhalten des betroffenen Organs ergeben, d. h., dieses Verhalten muss der ausschlaggebende Grund für den Schaden sein. Hingegen besteht keine Verpflichtung der Union zum Schadensersatz für jede noch so entfernte nachteilige Folge von Verhaltensweisen ihrer Organe (vgl. Urteil Gollnisch/Parlament, oben in Randnr. 58 angeführt, Randnr. 110 und die dort angeführte Rechtsprechung).

223    Da im vorliegenden Fall das Parlament nur feststellen konnte, dass der Antrag des Klägers auf Schutz der Immunität erledigt ist, da ihm ein Antrag auf Aufhebung seiner Immunität vorgelegt worden war, ist festzustellen, dass nur der Beschluss, mit dem über diesen Antrag entschieden wurde, ihm zum Nachteil gereichen konnte und allein dieser zu einer Haftung des Parlaments hätte führen können, wenn er rechtswidrig gewesen wäre, was jedoch nicht der Fall war (vgl. oben, Randnr. 212).

224    Somit kann jedenfalls kein Kausalzusammenhang zwischen dem vom Kläger behaupteten immateriellen Schaden und den Rechtswidrigkeiten, mit denen der Beschluss, seine Immunität nicht zu schützen, seines Erachtens behaftet ist, festgestellt werden.

225    Somit ist die Schadensersatzklage abzuweisen.

 Kosten

226    Nach Art. 87 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen.

227    Nach Art. 87 Abs. 6 der Verfahrensordnung entscheidet das Gericht, wenn es die Hauptsache für erledigt erklärt, über die Kosten nach freiem Ermessen.

228    Da der Kläger in der Rechtssache T‑346/11 sowie im Rahmen der Schadensersatzklage in der Rechtssache T‑347/11 unterlegen ist, ist er gemäß den Anträgen des Parlaments zur Tragung der Kosten, einschließlich der durch das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes entstandenen Kosten, zu verurteilen.

Aus diesen Gründen hat

DAS GERICHT (Erste Kammer)

für Recht erkannt und entschieden:

1.      Die Nichtigkeitsklage und die Schadensersatzklage in der Rechtssache T‑346/11 werden abgewiesen.

2.      Die Nichtigkeitsklage in der Rechtssache T‑347/11 ist erledigt.

3.      Die Schadensersatzklage in der Rechtssache T‑347/11 wird abgewiesen.

4.      Herr Bruno Gollnisch trägt die Kosten einschließlich der Kosten des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes in den Rechtssachen T‑346/11 und T‑347/11.

Azizi

Frimodt Nielsen

Kancheva

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 17. Januar 2013.

Unterschriften

Inhaltsverzeichnis


Rechtlicher Rahmen

Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen

Geschäftsordnung des Parlaments

Vorgeschichte des Rechtsstreits

Verfahren und Anträge der Parteien

Rechtliche Würdigung

Vorbemerkungen

Zur Regelung der parlamentarischen Immunität im Protokoll

Zur gebotenen Unterscheidung zwischen der Aufhebung der Immunität und dem Schutz der Immunität im Sinne des Protokolls

Zur Ausübung eines Klagerechts und zum Umfang der Kontrolle, die das Gericht in einem solchen Rahmen durchführt

Zur Nichtigkeitsklage in der Rechtssache T‑346/11 betreffend die Aufhebung der Immunität des Klägers

Zum ersten Klagegrund (Verstoß gegen Art. 9 des Protokolls) und zum vierten Klagegrund (Eingriff in die Unabhängigkeit des Abgeordneten)

Zum zweiten und zum dritten Klagegrund: Nichtbeachtung der „ständigen Spruchpraxis“ des Rechtsausschusses des Parlaments im Bereich der freien Meinungsäußerung und des fumus persecutionis sowie Verstoß gegen die Grundsätze der Rechtssicherheit, des Vertrauensschutzes und der Gleichbehandlung

– Zur Rechtsnatur der Mitteilung Nr. 11/2003 und zur vom Gericht durchgeführten Kontrolle

– Zum angefochtenen Rechtsakt

Zum fünften Klagegrund: Nichtbeachtung der Bestimmungen der Geschäftsordnung über das Verfahren, das zum Verlust des Abgeordnetenmandats führen kann

Zum sechsten Klagegrund: Verstoß gegen den Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens und Verletzung der Verteidigungsrechte

– Zur Aussprache im Plenum

– Zum Recht des Abgeordneten, in der Aussprache, die in Art. 7 Abs. 8 der Geschäftsordnung vorgesehen ist, das Wort zu ergreifen

– Zu den anderen Rügen, die der Kläger hinsichtlich des Verfahrensablaufs geltend macht

Zur Klage auf Schadensersatz in der Rechtssache T‑346/11 wegen Aufhebung der Immunität

Zur Nichtigkeits- und Schadensersatzklage in der Rechtssache T‑347/11 in Bezug auf den Beschluss, die Immunität des Klägers nicht zu schützen

Kosten


* Verfahrenssprache: Französisch.