Language of document : ECLI:EU:C:2015:39

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

MACIEJ SZPUNAR

vom 28. Januar 2015(1)

Rechtssache C‑579/13

P

und

S

gegen

Commissie Sociale Zekerheid Breda

und

College van Burgemeester en Wethouders van de gemeente Amstelveen

(Vorabentscheidungsersuchen des Centrale Raad van Beroep [Niederlande])

„Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Einwanderungspolitik – Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen – Richtlinie 2003/109/EG – Art. 5 Abs. 2 und Art. 11 Abs. 1 – Integrationspflicht nach nationalem Recht – Gleichbehandlung von langfristig Aufenthaltsberechtigten – Verhältnismäßigkeit – Geldbuße“





I –    Einleitung

1.        Gegenstand des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens ist die folgende Rechtsfrage: Inwieweit setzt das Unionsrecht im Bereich der Einwanderungspolitik der Anwendung von nationalen Vorschriften, die eine Integrationspflicht für Ausländer vorsehen, Grenzen?

2.        In den Niederlanden wurde die Integrationspflicht für Ausländer im Jahr 2007 eingeführt. Aufgrund dieser Pflicht muss eine Prüfung zum Nachweis niederländischer Sprachkenntnisse und grundlegender Kenntnisse über die Gesellschaft abgelegt werden. Wird diese Pflicht nicht fristgemäß erfüllt, liegt eine Ordnungswidrigkeit vor, die mit einer Geldbuße geahndet wird.

3.        In der vorliegenden Rechtssache hat der Centrale Raad van Beroep (oberstes Verwaltungsgericht der Niederlande, dessen Zuständigkeit u. a. Angelegenheiten der sozialen Sicherheit umfasst) Zweifel, ob und, wenn ja, unter welchen Umständen diese Verpflichtung Ausländern auferlegt werden darf, die sich legal über einen längeren Zeitraum in den Niederlanden aufhalten und die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten im Sinne der Richtlinie 2003/109/EG besitzen(2).

II – Rechtlicher Rahmen

A –    Unionsrecht

4.        Art. 4 („Dauer des Aufenthalts“) der Richtlinie 2003/109 sieht in seinem Abs. 1 vor:

„Die Mitgliedstaaten erteilen Drittstaatsangehörigen, die sich unmittelbar vor der Stellung des entsprechenden Antrags fünf Jahre lang ununterbrochen rechtmäßig in ihrem Hoheitsgebiet aufgehalten haben, die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten.“

5.        Art. 5 („Bedingungen für die Zuerkennung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten“) der Richtlinie 2003/109 sieht in seinem Abs. 2 vor:

„Die Mitgliedstaaten können von Drittstaatsangehörigen verlangen, dass sie die Integrationsanforderungen gemäß dem nationalen Recht erfüllen.“

6.        Art. 11 („Gleichbehandlung“) der Richtlinie 2003/109 sieht in seinem Abs. 1 vor:

„Langfristig Aufenthaltsberechtigte werden auf folgenden Gebieten wie eigene Staatsangehörige behandelt:

a)      Zugang zu einer unselbstständigen oder selbstständigen Erwerbstätigkeit, wenn diese nicht, auch nicht zeitweise, mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden ist, sowie Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen, einschließlich Entlassungsbedingungen und Arbeitsentgelt;

b)      allgemeine und berufliche Bildung, einschließlich Stipendien und Ausbildungsbeihilfen gemäß dem nationalen Recht;

…“

7.        Art. 15 („Bedingungen für den Aufenthalt in einem zweiten Mitgliedstaat“) der Richtlinie 2003/109 sieht in seinem Abs. 3 vor:

„Die Mitgliedstaaten können gemäß dem nationalen Recht von Drittstaatsangehörigen verlangen, dass sie Integrationsmaßnahmen nachkommen müssen.

Diese Bedingung gilt nicht, wenn die betreffenden Drittstaatsangehörigen gemäß Art. 5 Abs. 2 Integrationsanforderungen erfüllen mussten, um die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten zu erlangen.

Unbeschadet des Unterabsatzes 2 kann von den betreffenden Personen die Teilnahme an Sprachkursen verlangt werden.“

B –    Niederländisches Recht

8.        Die Bedingungen für die Zuerkennung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten im Sinne der Richtlinie 2003/109 regelt in den Niederlanden die Vreemdelingenwet (Ausländergesetz).

9.        Gemäß Art. 21 Abs. 1 Buchst. k der Vreemdelingenwet kann ein Antrag auf Erteilung einer unbefristeten Aufenthaltsgenehmigung abgelehnt werden, wenn der Ausländer die Prüfung gemäß Art. 7 Abs. 2 Buchst. a der Wet inburgering (Integrationsgesetz, im Folgenden: Wi) nicht bestanden oder ein Diplom, eine Bescheinigung oder ein anderes Dokument im Sinne von Art. 5 Abs. 1 Buchst. c dieses Gesetzes nicht erhalten hat.

10.      Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass diese Vorschrift am 1. Januar 2007 in Kraft trat, aber erst seit dem 1. Januar 2010 tatsächlich angewendet wird. Vor diesem Datum erforderte die Zuerkennung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten nicht die Ablegung der Integrationsprüfung.

11.      Art. 3 und 31 Wi lauteten in der in dieser Rechtssache geltenden Fassung:

„Art. 3

(1)      Integrationspflichtig ist ein Ausländer mit rechtmäßigem Aufenthalt [in den Niederlanden] im Sinne von Art. 8 Buchstaben a bis e oder l der Vreemdelingenwet 2000, der

a.      sich anders als zu einem vorübergehenden Zweck in den Niederlanden aufhält

Art. 31

(1)      Das College verhängt gegen die Integrationspflichtigen, die nicht innerhalb der Frist des Art. 7 Abs. 1 oder der gemäß Abs. 2 Buchst. a verlängerten Frist die Integrationsprüfung abgelegt haben, eine Verwaltungsgeldbuße.

(2)      Abweichend von Abs. 1:

a.      verlängert das College die Frist im Sinne von Art. 7 Abs. 1, wenn der Integrationspflichtige glaubhaft macht, dass ihn kein Vorwurf daran trifft, dass er die Integrationsprüfung nicht abgelegt hat, oder

b.      erteilt das College Befreiung von der Integrationspflicht, wenn es aufgrund vom Integrationspflichtigen nachweislich unternommener Anstrengungen zu dem Urteil gelangt, dass es ihm verständlicherweise nicht möglich ist, die Integrationsprüfung abzulegen.

…“

12.      Die Wi trat am 1. Januar 2007 in Kraft.

13.      Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass für Ausländer, die nach dem Inkrafttreten des Gesetzes in die Niederlande eingewandert sind, die Frist zur Ablegung der Prüfung der sprachlichen und gesellschaftlichen Kenntnisse am ersten Tag des Aufenthalts in den Niederlanden beginnt. Für Personen, die sich am Tag des Inkrafttretens des Gesetzes bereits in den Niederlanden aufgehalten haben, wird der Zeitpunkt der Prüfung in einem gesonderten Bescheid festgelegt.

III – Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

14.      P ist Staatsangehörige der Vereinigten Staaten von Amerika und hält sich seit 2002 in den Niederlanden auf. Am 14. November 2008 erlangte sie die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten im Sinne der Richtlinie 2003/109.

15.      Mit Bescheid vom 1. August 2008, der anschließend durch Bescheide vom 4. August 2009 und 25. Februar 2010 ersetzt wurde, teilte die Commissie Sociale Zekerheid Breda (Ausschuss für soziale Sicherheit der Stadt Breda, im Folgenden: Commissie) P mit, dass sie integrationspflichtig im Sinne der Wi sei und die entsprechende Prüfung bis zum 30. Juni 2013 abzulegen habe.

16.      P begann mit einem von der Commissie angebotenen Integrationslehrgang, den sie jedoch am 25. August 2008 aus medizinischen Gründen abbrach und nicht wieder aufnahm.

17.      S besitzt die neuseeländische Staatsangehörigkeit und wurde im ehemaligen Jugoslawien geboren; sie hält sich seit 2000 in den Niederlanden auf. Sie erlangte am 8. Juni 2007 die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten.

18.      Mit Bescheiden vom 24. Februar 2010 und vom 6. Mai 2010 teilte das College van burgemeester en wethouders van de gemeente Amstelveen (Gemeindeverwaltung von Amstelveen) S mit, dass sie integrationspflichtig im Sinne der Wi sei und die entsprechende Prüfung bis zum 24. August 2013 abzulegen habe.

19.      P und S klagten gegen die oben genannten Bescheide entsprechend bei der Rechtbank Breda und der Rechtbank Amsterdam (erstinstanzliche Gerichte in Breda und Amsterdam). Diese Klagen wurden mit Urteilen der Rechtbank Breda vom 12. Juli 2010 und der Rechtbank Amsterdam vom 8. September 2011 abgewiesen.

20.      Sowohl P als auch S haben Kassationsbeschwerden gegen diese Entscheidungen beim Centrale Raad van Beroep erhoben.

21.      In der Kassationsbeschwerdebegründung haben die Kassationsbeschwerdeführerinnen vorgebracht, dass sie als langfristig Aufenthaltsberechtigte wie niederländische Staatsangehörige zu behandeln seien und daher keiner Integrationspflicht unterliegen dürften. Sie haben außerdem darauf hingewiesen, dass es sowohl gegen die Ziele der Richtlinie 2003/109 als auch gegen deren Art. 5 Abs. 2 und Art. 11 Abs. 1 verstoße, langfristig Aufenthaltsberechtigten diese Verpflichtung aufzuerlegen.

22.      Nach Ansicht des Vorlagegerichts kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Integrationspflicht für langfristig Aufenthaltsberechtigte gegen die Richtlinie 2003/109 verstößt. Das Gericht betont, dass Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie dem Mitgliedstaat erlaubt, die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten zu verweigern, wenn die Integrationsanforderungen gemäß dem nationalen Recht nicht erfüllt sind. Die Zuerkennung dieser Rechtsstellung bedeutet grundsätzlich den Abschluss der Integration der betreffenden Person. Daher ist es nicht klar, ob ein Mitgliedstaat die Integrationspflicht Personen auferlegen darf, denen er bereits die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten gewährt hat, und auch, ob er die Nichterfüllung dieser Pflicht mit einer Geldbuße sanktionieren darf.

23.      Unter diesen Umständen hat der Centrale Raad van Beroep beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Sind Sinn und Zweck der Richtlinie 2003/109/EG oder deren Art. 5 Abs. 2 und/oder Art. 11 Abs. 1 dahin auszulegen, dass die im nationalen Recht vorgesehene Auferlegung einer bußgeldbewehrten Integrationspflicht für Staatsangehörige von Drittstaaten, die im Besitz des Status eines langfristig Aufenthaltsberechtigten sind, damit nicht vereinbar ist?

2.      Ist es bei der Beantwortung der ersten Frage von Belang, ob die Integrationspflicht auferlegt wurde, bevor der Status eines langfristig Aufenthaltsberechtigten verliehen wurde?

IV – Verfahren vor dem Gerichtshof

24.      Das Vorabentscheidungsersuchen ist am 15. November 2013 beim Gerichtshof eingegangen.

25.      Schriftliche Erklärungen haben P und S, die niederländische und die portugiesische Regierung sowie die Kommission eingereicht. P und S haben die Durchführung der mündlichen Verhandlung beantragt.

26.      An der mündlichen Verhandlung am 5. November 2014 haben P und S, die niederländische Regierung sowie die Kommission teilgenommen.

V –    Würdigung

A –    Einleitung

27.      Die Richtlinie 2003/109 ist einer von mehreren Rechtsakten der Union betreffend die Rechtsstellung von Drittstaatsangehörigen, die sich auf Gesetzgebungskompetenzen stützen, die durch den Vertrag von Amsterdam geschaffen wurden(3).

28.      Die gesetzgeberischen Ziele der Union, die durch die erwähnte Richtlinie umgesetzt werden, wurden in den Schlussfolgerungen der Tagung des Europäischen Rates in Tampere am 15. und 16. Oktober 1999 festgehalten. Diese Schlussfolgerungen sehen u. a. vor, dass die Rechtsstellung von Ausländern der Rechtsstellung der Staatsangehörigen angenähert werden sollte; insbesondere sollte einer Person, die sich während eines bestimmten Zeitraums in einem Mitgliedstaat rechtmäßig aufgehalten hat und einen langfristigen Aufenthaltstitel besitzt, eine Reihe von Rechten gewährt werden, die sich so nahe wie möglich an diejenigen der Unionsbürger anlehnen(4).

29.      Von diesen Annahmen ausgehend führt die Richtlinie 2003/109 für Drittstaatsangehörige, die sich fünf Jahre lang rechtmäßig in der Union aufgehalten haben, eine Rechtsstellung ein, die ausschließlich auf dem Unionsrecht beruht – die eines langfristig Aufenthaltsberechtigten(5).

30.      Die Einführung dieses Rechtsstatus erschafft eine zur Staatsangehörigkeit alternative Form der Teilnahme am Gesellschafts- und Wirtschaftsleben der Union für Ausländer – in der Literatur wird sie im Gegensatz zum „citizenship“ als „denizenship“ bezeichnet(6).

31.      Soweit das Unionsrecht keine Regelungen trifft, unterliegt die Rechtsstellung von Drittstaatsangehörigen, die sich in der Union aufhalten, weiterhin dem innerstaatlichen Recht der Mitgliedstaaten.

32.      Insbesondere behielten die Mitgliedstaaten das Recht, Integrationspolitik zu betreiben, um die Marginalisierung und Segregation von Ausländern zu verhindern(7). Die Integrationspflicht kann sich auf verschiedene Etappen der Einwanderung beziehen, je nachdem, ob sie als Bedingung für i) die Einreise- und Aufenthaltserlaubnis, ii) die langfristige Aufenthaltserlaubnis, iii) die Erlangung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten oder iv) den Erwerb der Staatsangehörigkeit durch Einbürgerung formuliert ist.

33.      Im Zuge dieser Verpflichtung wird in der Regel verlangt, einen gewissen Grad der Beherrschung der Amtssprache und manchmal auch Kenntnisse über die Gesellschaft des jeweiligen Landes – seine Geschichte, Rechtsordnung und Werte – vorweisen zu können. Einige Mitgliedstaaten verlangen die Ablegung einer Prüfung, der verbindliche Lehrgänge vorangehen können. In anderen ist lediglich die Teilnahme an Integrationskursen verpflichtend(8).

34.      Bei der vom niederländischen Gericht in dieser Rechtssache vorgelegten Frage geht es darum, ob die Integrationspflicht einer Person auferlegt werden darf, die die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten im Sinne des Unionsrechts besitzt. Nach niederländischem Recht ist diese Verpflichtung keine Bedingung für den Erwerb von Rechten durch diese Person, sondern ein besonderes Erfordernis, das allein wegen des Aufenthalts im betreffenden Staat erfüllt werden muss.

35.      Zur Beantwortung dieser Frage sind zwei grundlegende Erwägungen anzustellen. Erstens ist zu klären, ob die Verpflichtung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten zur Integration im Licht der Richtlinie 2003/109 mit der Rechtsstellung des langfristig Aufenthaltsberechtigten vereinbar ist. Zweitens ist, wenn die erste Frage bejaht wird, festzustellen, inwieweit das Unionsrecht das Recht der Mitgliedstaaten zur inhaltlichen Ausgestaltung dieser Integrationspflicht einschränkt.

B –    Zulässigkeit der Auferlegung der Integrationspflicht für langfristig Aufenthaltsberechtigte

36.      Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2003/109 sieht ausdrücklich die Möglichkeit vor, „Integrationsanforderungen“ nach dem innerstaatlichen Recht als Bedingungen für die Zuerkennung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten zu stellen.

37.      Die Richtlinie entscheidet aber nicht darüber, ob und in welchem Umfang die Auferlegung der Integrationspflicht nach der Erlangung dieser Rechtsstellung noch möglich ist.

38.      Die Auffassungen der Verfahrensbeteiligten hierzu sind geteilt. Die Kassationsbeschwerdeführerinnen im Ausgangsverfahren und die portugiesische Regierung vertreten die Auffassung, dass die Integrationspflicht für langfristig Aufenthaltsberechtigte gegen die Richtlinie 2003/109 verstoße. Die niederländische Regierung und die Kommission gehen hingegen in der Überzeugung, dass diese Frage in der Richtlinie nicht geregelt werde, von der Zulässigkeit dieser Verpflichtung aus.

39.      Wie aus dem Vorlagebeschluss hervorgeht, halten sich beide Kassationsbeschwerdeführerinnen im Ausgangsverfahren seit Jahren in den Niederlanden auf und gehören zu den „alten“ langfristig Aufenthaltsberechtigten, da sie diese Rechtsstellung erworben haben, bevor die Regelungen zur Integrationspflicht in der Praxis angewandt wurden. Nach niederländischem Recht sind sie aber verpflichtet, die Integrationsprüfung abzulegen(9).

40.      Im Vorabentscheidungsersuchen bezweifelt das niederländische Gericht, dass die Integrationspflicht Personen auferlegt werden darf, denen schon die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten zuerkannt worden ist. Nach Ansicht des Gerichts bedeutet der Erwerb dieser Rechtsstellung, dass die betreffende Person ihre Verwurzelung im Aufnahmestaat nachgewiesen hat, wie vom sechsten Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/109 gefordert wird, der Integrationsprozess also abgeschlossen ist.

41.      Ich möchte betonen, dass – worauf das Vorlagegericht zutreffend hinweist – die Richtlinie 2003/109 sich auf die Annahme stützt, dass im Laufe der Zeit die Verbindungen, die eine sich rechtmäßig und ununterbrochen im betreffenden Land aufhaltende Person knüpft, einen dauerhaften Charakter annehmen und die Verwurzelung dieser Person in der Gesellschaft belegen. Das Ziel der Richtlinie ist es, Drittstaatsangehörigen, die sich dauerhaft in den Mitgliedstaaten niedergelassen haben, eine besondere Rechtsstellung zu gewähren, weil dadurch der wirtschaftliche und soziale Zusammenhalt in der Union gefördert wird(10).

42.      Aus dieser Annahme kann aber nach meiner Ansicht nicht gefolgert werden, dass es den Mitgliedstaaten verboten ist, Integrationsmittel für langfristig Aufenthaltsberechtigte vorzusehen.

43.      Die Richtlinie 2003/109 verwendet zwei unterschiedliche Begriffe, wenn von Integrationsmitteln die Rede ist. Nach Art. 5 Abs. 2 darf die Erlangung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten davon abhängig gemacht werden, dass „Integrationsanforderungen“(11) erfüllt werden. Art. 15 Abs. 3 der Richtlinie, der das Recht eines langfristig Aufenthaltsberechtigten auf Aufenthalt in einem zweiten Mitgliedstaat betrifft, erlaubt dem Aufnahmestaat die Anwendung von „Integrationsmaßnahmen“ in Bezug auf eine Person, die die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten in einem anderen Mitgliedstaat erworben hat(12), wenn sie nicht schon zur Erfüllung von Integrationsanforderungen verpflichtet war, um diese Rechtsstellung in dem anderen Staat zu erlangen(13).

44.      Die Entstehungsgeschichte der angeführten Vorschrift bestätigt diese Auslegung. Während der Vorarbeiten zur Richtlinie 2003/109 schlugen einige Mitgliedstaaten im Rat vor, das Wort „Maßnahmen“ in Art. 15 durch „Anforderungen“ zu ersetzen. Dieser Vorschlag wurde aber in der endgültigen Fassung der Richtlinie nicht angenommen(14).

45.      Darauf, dass zwischen Integrationsmaßnahmen und Integrationsanforderungen unterschieden werden muss, deuten auch die Vorschriften der Richtlinie 2003/86 hin. Gemäß Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2003/86 können die Mitgliedstaaten von Ausländern, die einen Antrag auf Einreise im Rahmen der Familienzusammenführung gestellt haben, verlangen, dass sie Integrationsmaßnahmen nachkommen müssen. Der Gesetzgeber hat hier die gleiche Formulierung verwendet wie in Art. 15 Abs. 3 der Richtlinie 2003/109. Generalanwalt Mengozzi ist auf der Grundlage der Entstehungsgeschichte von Art. 15 Abs. 3 der Richtlinie 2003/109 und eines Vergleichs der Vorschriften beider Richtlinien zu der Ansicht gelangt, dass der Gesetzgeber bewusst einen anderen Ausdruck als „Integrationsanforderungen“, deren Erfüllung zur Erlangung der betreffenden Rechtsstellung erforderlich wäre, gewählt hat(15).

46.      Diese Unterscheidung ist außerordentlich wichtig für die Anwendung der Richtlinie 2003/86. Wenn die Integrationsprüfung als eine zwingende „Anforderung“ in Bezug auf die Einreise eines Familienmitglieds angesehen würde, wäre das Recht auf Familienzusammenführung im Kern in Frage gestellt(16).

47.      Diese Unterscheidung ist auch im Rahmen der Richtlinie 2003/109 grundlegend: Integrationsmaßnahmen, die in Bezug auf langfristig Aufenthaltsberechtigte, denen ein Aufenthaltsrecht in einem anderen Mitgliedstaat zusteht, ergriffen werden, dürfen keine „Anforderungen“ vorsehen, dürfen also weder de iure noch de facto ein Instrument der Selektion von Personen oder der Migrationskontrolle sein. Andernfalls untergrüben diese Integrationsmittel das Recht auf Freizügigkeit innerhalb der Union, das ein wesentliches Element der sich aus der Richtlinie 2003/109 ergebenden Rechtsstellung ist.

48.      Die beiden oben angeführten Gesetzgebungsakte unterscheiden also zwischen Integrationsmitteln, die als Anforderungen in Bezug auf die Erlangung oder die Ausübung von Rechten verstanden werden, einerseits und solchen, die als Maßnahmen, die lediglich die Integration von Personen erleichtern sollen, definiert werden, andererseits(17).

49.      Nach meiner Auffassung steht die Einführung von Integrationsmaßnahmen für langfristig Aufenthaltsberechtigte nicht im Widerspruch zu den Zielen der Richtlinie 2003/109. Denn diese Maßnahmen dienen ausschließlich dazu, langfristig Aufenthaltsberechtigte in das Gesellschafts- und Wirtschaftsleben im Aufenthaltsstaat einzubinden.

50.      Diese Maßnahmen erweisen sich auch unter Berücksichtigung der Systematik der Richtlinie als zulässig. Wie ich bereits erwähnt habe, erlaubt Art. 15 Abs. 3 es dem Mitgliedstaat – vorbehaltlich einiger besonderer Voraussetzungen –, Integrationsmaßnahmen für eine Person einzuführen, die die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten in einem anderen Mitgliedstaat erlangt hat. Die Einführung ähnlicher Maßnahmen für „einheimische“ langfristig Aufenthaltsberechtigte, denen kein Aufenthaltsrecht in einem anderen Mitgliedstaat zusteht, dürfte dann ebenso wenig den Zielen der Richtlinie widersprechen.

51.      Die Kassationsbeschwerdeführerinnen im Ausgangsverfahren berufen sich auf den Grundsatz der Gleichbehandlung der langfristig Aufenthaltsberechtigten und machen hierzu geltend, dass niederländische Staatsangehörige und andere Unionsbürger nicht der Integrationspflicht unterlägen.

52.      Dieses Argument überzeugt mich nicht, da im Hinblick auf die Integrationspflicht Drittstaatsangehörige weder mit den Staatsangehörigen des betreffenden Mitgliedstaats noch mit anderen Unionsbürgern vergleichbar sind.

53.      Dieser Schluss trifft auch auf Ausländer mit dem Status eines langfristig Aufenthaltsberechtigten zu. Gemäß Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie werden langfristig Aufenthaltsberechtigte auf vielen in dieser Vorschrift genannten Gebieten wie die Angehörigen des betreffenden Staates behandelt, z. B. im Hinblick auf den Zugang zu einer unselbständigen oder selbständigen Erwerbstätigkeit, die allgemeine und berufliche Bildung, die soziale Sicherheit und den Zugang zu Waren und Dienstleistungen. Das Recht der langfristig Aufenthaltsberechtigten auf Gleichbehandlung findet also vor allem auf den in Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie 2003/109 genannten konkreten Gebieten Anwendung(18). Den Normzweck dieser Vorschrift gibt der zweite Erwägungsgrund der Richtlinie wieder, wonach die Rechtsstellung von Drittstaatsangehörigen an diejenige der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten „angenähert“ werden soll, ohne sie jedoch zu vereinheitlichen.

54.      Ich habe keine Zweifel, dass innerstaatliche Vorschriften, die die Integrationspflicht als eine Voraussetzung für die Aufrechterhaltung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten oder die Ausübung der damit verbundenen Rechte vorsähen, sowohl mit Art. 9 der Richtlinie 2003/109, der die Voraussetzungen für den Entzug und den Verlust dieser Rechtsstellung regelt, als auch mit Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie, der die Aufstellung von „Integrationsanforderungen“ nur als Bedingungen für die Zuerkennung dieser Rechtsstellung erlaubt, unvereinbar wären.

55.      Die Unterscheidung zwischen der Integrationspflicht als einer Maßnahme der oder einer Anforderung in Bezug auf die Integration ist daher in der vorliegenden Rechtssache von entscheidender Bedeutung.

56.      Aus dem Vorlagebeschluss geht hervor, dass nach den innerstaatlichen Vorschriften, die in der vorliegenden Rechtssache Anwendung finden, die Ablegung der Integrationsprüfung nicht ausdrücklich als „Anforderung“ in Bezug auf die Inanspruchnahme der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten vorgesehen ist. Die Nichterfüllung dieser Verpflichtung zieht weder den Verlust der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten nach sich noch schränkt sie die daraus erwachsenden Rechte ein. Aus den Verfahrensakten geht hervor, dass nach innerstaatlichem Recht die einzige nachteilige Folge die Verhängung einer Geldbuße ist.

57.      Ich schließe daher nicht aus, dass die Integrationspflicht nach niederländischem Recht als eine „Integrationsmaßnahme“ im Sinne der Richtlinie 2003/109 angesehen werden kann.

58.      Im Licht der obigen Erwägungen bin ich der Ansicht, dass die Richtlinie 2003/109, und insbesondere deren Art. 5 Abs. 2 und Art. 11 Abs. 1, der Einführung von Integrationsmaßnahmen für Drittstaatsangehörige, die die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten in dem betreffenden Mitgliedstaat erworben haben, nicht entgegenstehen(19), soweit diese Maßnahmen nur dazu dienen, die Integration der betreffenden Person zu erleichtern, und keine offene oder verdeckte Bedingung für die Erlangung dieser Rechtsstellung oder die Ausübung der damit verbundenen Rechte darstellen.

59.      Im Hinblick auf die zweite Vorlagefrage möchte ich betonen, dass es für diese Auslegung nicht darauf ankommt, ob die Integrationspflicht eingeführt wurde, bevor die betreffende Person die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten erlangt hat, oder danach. Hat ein Staat diese Pflicht nicht als Anforderung in Bezug auf den Erwerb der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten vorgesehen, dann darf er diese Entscheidung nicht dadurch rückgängig machen, dass er eine Anforderung in Bezug auf die Aufrechterhaltung dieser Rechtsstellung oder die Ausübung der damit einhergehenden Rechte für Personen vorsieht, die diesen Status bereits besitzen. Ab dem Zeitpunkt der Erlangung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten müssen Integrationsmittel gegenüber diesen Personen auf Integrationsmaßnahmen beschränkt bleiben(20).

60.      Sodann ist zu überlegen, in welchem Umfang das Recht der Mitgliedstaaten zur inhaltlichen Ausgestaltung dieser Integrationsmaßnahmen durch das Unionsrecht eingeschränkt werden kann.

C –    Prüfung der Vereinbarkeit der innerstaatlichen Vorschriften über die Integrationspflicht für langfristig Aufenthaltsberechtigte mit dem Unionsrecht

1.      Kriterien für die Bewertung der angeführten Vorschriften im Hinblick auf das Unionsrecht

61.      Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass die Richtlinie 2003/109 den Mitgliedstaaten erlaubt, Integrationspflichten „gemäß dem nationalen Recht“ einzuführen (Art. 5 Abs. 2 sowie Art. 15 Abs. 3), jedoch keine Hinweise zum Inhalt dieser Maßnahmen oder den Voraussetzungen für ihre Anwendung enthält, sondern insoweit auf das innerstaatliche Recht verweist.

62.      Was also sind die Kriterien für die Bewertung der innerstaatlichen Vorschriften über die Integrationspflicht im Hinblick auf ihre Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht?

63.      Zur Beantwortung dieser Frage ist zu prüfen, ob die betreffenden Vorschriften dem Anwendungsbereich des Unionsrechts unterfallen. Wenn ja, sind diese Vorschriften im Hinblick auf das Verbot von Maßnahmen, die die Ziele oder die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigen, die Einhaltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes sowie die durch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) geschützten Grundrechte zu prüfen.

64.      Ich möchte betonen, dass mit der Richtlinie 2003/109 eine neue Rechtsstellung für Staatsangehörige der Mitgliedstaaten, die sich in der Union aufhalten, geschaffen wird, was eine umfassende Regelung dieser Rechtsstellung notwendig macht.

65.      In dieser Situation führt die bloße Feststellung, dass die Integrationsmittel zum Zuständigkeitsbereich der Mitgliedstaaten gehören, keineswegs zu dem Schluss, dass sie sich in diesem Bereich völlig frei betätigen können. Die Ausübung ihrer Zuständigkeiten durch die Mitgliedstaaten unterliegt, soweit sie die von der Rechtsordnung der Union verliehenen und geschützten Rechte berührt, der unionsrechtlichen Kontrolle(21).

66.      Im Hinblick auf die Gebühren für die Ausstellung von Aufenthaltstiteln im Sinne der Richtlinie 2003/109 hat der Gerichtshof entschieden, dass den Mitgliedstaaten zwar ein Gestaltungsspielraum bei der Festlegung der Höhe dieser Gebühren zukommt, sie aber keine nationale Regelung anwenden dürfen, die die Verwirklichung der mit der Richtlinie verfolgten Ziele gefährden und dieser damit ihre praktische Wirksamkeit nehmen könnte(22).

67.      Ich habe keine Zweifel, dass, wenn ein Mitgliedstaat von der Möglichkeit, die ausdrücklich in der Richtlinie 2003/109 vorgesehen ist, Gebrauch macht, die betreffenden innerstaatlichen Vorschriften dem Anwendungsbereich des Unionsrechts unterliegen.

68.      Dieser Fall liegt vor, wenn innerstaatliche Vorschriften im Rahmen der ausdrücklich in Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2003/109 genannten Befugnis „Integrationsanforderungen“ für den Erwerb der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten aufstellen. Hierbei ist auch der Umstand zu berücksichtigen, dass der Erwerb der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten einem besonderen Verfahren gemäß der Richtlinie 2003/109 unterliegt, die in erschöpfender Weise die Voraussetzungen für den Erwerb dieser Rechtsstellung festlegt(23).

69.      Ebenso unterliegen ohne Zweifel innerstaatliche Vorschriften, die „Integrationsmaßnahmen“ für Personen vorsehen, die die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten in einem anderen Mitgliedstaat gemäß Art. 15 Abs. 3 der Richtlinie 2003/109 erworben haben, dem Anwendungsbereich des Unionsrechts.

70.      Gehört auch eine innerstaatliche Vorschrift wie die in der vorliegenden Rechtssache, die eine Integrationspflicht für „einheimische“ langfristig Aufenthaltsberechtigte – also solche, die in keinem anderen Mitgliedstaat das Aufenthaltsrecht in Anspruch genommen haben – vorsieht, zum Anwendungsbereich des Unionsrechts?

71.      Meines Erachtens ist diese Frage zu bejahen.

72.      Die Rechtsstellung des langfristig Aufenthaltsberechtigten ergibt sich ausschließlich aus dem Unionsrecht. Unter diesen Umständen ist die Unterscheidung zwischen „zugewanderten“ und „einheimischen“ langfristig Aufenthaltsberechtigten, also solchen, die das Recht auf Freizügigkeit innerhalb der Union in Anspruch genommen haben, und solchen, die dies nicht getan haben, für die Bestimmung der Reichweite der Anwendung des Unionsrechts ohne Belang. Selbst wenn der langfristig Aufenthaltsberechtigte in keinem anderen Mitgliedstaat von seinem Aufenthaltsrecht Gebrauch gemacht hat, liegt kein rein innerstaatlicher Sachverhalt vor.

73.      Ich bin daher der Ansicht, dass innerstaatliche Vorschriften, die eine Integrationspflicht für langfristig Aufenthaltsberechtigte anordnen, dem Anwendungsbereich des Unionsrechts unabhängig davon unterliegen, ob die betreffende Person in einem anderen Mitgliedstaat von ihrem Aufenthaltsrecht Gebrauch gemacht hat.

74.      Diese Feststellung ist auch für die Bestimmung der Grenzen der Anwendung des Unionsrechts im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta von Bedeutung(24). Diese Bestimmung der Charta beruht auf der Rechtsprechung des Gerichtshofs, wonach die in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen Anwendung finden(25).

75.      Diese Feststellung gilt zweifellos auch dann, wenn ein Mitgliedstaat sich bei der Umsetzung der Richtlinie auf eine Befugnis beruft, die in ihren Vorschriften ausdrücklich vorgesehen ist oder sich aus der Systematik der Richtlinie ergibt. Dies ist hier der Fall.

76.      Ohne größere Bedeutung ist dabei, dass die Vorschriften der Richtlinie 2003/109, die die Integrationsanforderungen und ‑maßnahmen betreffen, auf das innerstaatliche Recht verweisen. Der Gerichtshof hatte schon die Gelegenheit, festzustellen, dass bei der Festlegung des Umfangs sowohl der dem langfristig Aufenthaltsberechtigten zustehenden Sozialhilfeleistungen im Sinne von Art. 11 Abs. 1 Buchst. d und Abs. 4 der Richtlinie 2003/109 als auch der „Kernleistungen“ die Mitgliedstaaten die in der Charta gewährleisteten Grundrechte beachten müssen, obwohl die erwähnte Vorschrift der Richtlinie auf das innerstaatliche Recht verweist(26).

77.      Ich erinnere daran, dass innerstaatliche Vorschriften, die Integrationsmaßnahmen im Fall der Einreise in den Mitgliedstaat auf der Grundlage von Vorschriften über die Familienzusammenführung vorsahen, schon Gegenstand der Prüfung durch den Gerichtshof waren, der dabei erwogen hat, ob sie durch ein zwingendes Allgemeininteresse gerechtfertigt und verhältnismäßig sind(27). Zwar betraf diese Prüfung die durch das Assoziierungsabkommen mit der Türkei geregelte Niederlassungsfreiheit, doch dürfte die Anwendung analoger Kriterien für die Bewertung von Integrationsmaßnahmen keine Bedenken hervorrufen, auch wenn sie einen Bereich betreffen, der durch die Richtlinien der Union über die Integrationspolitik geregelt wird.

78.      Im Licht all dieser Überlegungen bin ich zu der Auffassung gelangt, dass die innerstaatlichen Vorschriften, die eine Integrationspflicht für langfristig Aufenthaltsberechtigte vorsehen, dem Anwendungsbereich des Unionsrechts auch im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta unterliegen.

2.      Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Integrationsmaßnahmen

79.      Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass Art. 79 Abs. 4 AEUV die Zuständigkeit der Union für die Harmonisierung der Rechtsvorschriften im Bereich der Integration ausschließt; daher scheint den Mitgliedstaaten insoweit ein gewisser Handlungsspielraum zuzubilligen zu sein.

80.      Dieser Handlungsspielraum darf aber von den Mitgliedstaaten nicht in einer Weise genutzt werden, die das Ziel der Richtlinie und ihre praktische Wirksamkeit beeinträchtigen würde(28). Die innerstaatlichen Vorschriften, die in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen, müssen auch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren: Die Integrationspflicht muss so gefasst sein, dass sie die Erreichung des angestrebten Ziels garantiert und nicht über das hinausgeht, was zu seiner Erreichung erforderlich ist(29).

81.      Wenn die Integrationspflicht langfristig Aufenthaltsberechtigte betrifft, darf sie die Ausübung der aus dieser Rechtsstellung erwachsenden Rechte nicht übermäßig erschweren. Diese Pflicht darf weder den Zugang zu einer unselbständigen oder selbständigen Erwerbstätigkeit noch zur allgemeinen und beruflichen Bildung verschließen. Von wesentlicher Bedeutung ist hierbei die Möglichkeit der Teilnahme an Abendkursen, und zu berücksichtigen sind auch die Bildungskosten sowie die Bereitstellung von materieller Hilfe(30). Ich erinnere an die Rechtsprechung des Gerichtshofs, wonach Gebühren mit erheblichen finanziellen Auswirkungen für die Drittstaatsangehörigen, die die in der Richtlinie 2003/109 vorgesehenen Voraussetzungen für die Erteilung dieser Aufenthaltstitel erfüllen, diesen die Möglichkeit nehmen können, die durch die Richtlinie verliehenen Rechte geltend zu machen, was dem Ziel der Richtlinie zuwiderliefe(31).

82.      Nach der Prüfung, ob die Integrationsanforderungen an langfristig Aufenthaltsberechtigte für sich genommen verhältnismäßig sind, müssen sie darüber hinaus mit den Voraussetzungen für den Erwerb der Staatsangehörigkeit durch Einbürgerung verglichen werden. Die Anforderungen an langfristig Aufenthaltsberechtigte sollten niedriger sein – dürfen auf jeden Fall nicht höher ausfallen – als die, die für den Erwerb der Staatangehörigkeit gelten(32).

83.      Die angewandten Maßnahmen müssen mit den durch die Charta geschützten Grundrechten im Einklang stehen, insbesondere im Hinblick auf die Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 7 der Charta), die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit (Art. 10 der Charta), die Nichtdiskriminierung (Art. 21 der Charta)(33), die Rechte des Kindes (Art. 24 der Charta), die Rechte älterer Menschen (Art. 25 der Charta) und die Integration von Menschen mit Behinderung (Art. 26 der Charta).

84.      Obwohl die Prüfung der innerstaatlichen Vorschriften anhand dieser Grundsätze dem nationalen Gericht obliegt, ist der Gerichtshof zur Erteilung von Auslegungshinweisen befugt, die für diese Prüfung erforderlich sind.

85.      Bei dieser Prüfung ist vor allem zu beachten, ob die innerstaatlichen Vorschriften Integrationsanforderungen oder Integrationsmaßnahmen im Sinne der Richtlinie 2003/109 betreffen. Obwohl weder die Richtlinie 2003/86 noch die Richtlinie 2003/109 ausdrückliche Hinweise zu dieser Frage enthalten, ist doch klar, dass „Integrationsmaßnahmen“ als weniger restriktiv anzusehen sind als „Integrationsanforderungen“(34).

86.      Integrationsmaßnahmen dienen – im Gegensatz zu Integrationsanforderungen – ausschließlich der Förderung der Eingliederung der betreffenden Person in das Wirtschafts- und Gesellschaftsleben des jeweiligen Landes und dürfen keinesfalls ein Instrument der Selektion der Einwanderer oder der Migrationskontrolle sein(35).

87.      Welche Funktion erfüllt in diesem Kontext die Pflicht zur Ablegung der Integrationsprüfung?

88.      Eine Prüfung ermöglicht die Ermittlung des Wissensstands der betreffenden Person. Sie errichtet eine Schwelle, die die Klassifizierung von Personen erlaubt, die bestimmte Anforderungen erfüllen, wobei vorausgesetzt wird, dass manche Personen diese Anforderungen nicht erfüllen. Wird die Prüfung durch den Staat organisiert, handelt es sich zweifellos um ein Instrument der Selektion, das auf Kriterien beruht, die durch die Verwaltung festgelegt werden.

89.      Ich sehe indessen nicht, wie eine obligatorische Prüfung der sprachlichen oder gesellschaftlichen Kenntnisse der Erreichung der Ziele der Integrationsmaßnahmen – d. h. der Förderung der Eingliederung der betreffenden Person in die Gesellschaft – dienen kann. Dies gilt insbesondere für eine Person, die sich seit längerer Zeit rechtmäßig im betreffenden Staat aufhält und infolgedessen die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten besitzt und die unabhängig von ihren sprachlichen und gesellschaftlichen Kenntnissen schon über gewisse gesellschaftliche Bindungen verfügt.

90.      Würde eine solche Person verpflichtet, innerhalb einer bestimmten Frist eine Integrationsprüfung abzulegen, wäre damit der Grundgedanke der Integrationsmaßnahmen in Frage gestellt. Diese sollten darauf gerichtet sein, die Sozialisierung in der jeweiligen Gesellschaft voranzutreiben, und nicht darauf, Qualitätsanforderungen im Zusammenhang mit dem Aufenthalt in dem betreffenden Staat aufzustellen.

91.      Die Pflicht zur Ablegung der Prüfung ist umso weniger eine angemessene Maßnahme für langfristig aufenthaltsberechtigte Personen, als – dies scheint sich aus dem niederländischen System, wie es im Vorabentscheidungsersuchen dargestellt wurde, zu ergeben(36) – sie das einzige Kriterium für die Bestimmung des Integrationsgrads der betreffenden Person ist.

92.      Eine Person, die sich in der jeweiligen Umgebung über einen längeren Zeitraum aufhält, hat sicherlich ein Netz von Integrationsverbindungen geknüpft – die im Zusammenhang mit der Ehe oder der Familie, der Nachbarschaft, dem ausgeübten Beruf, dem betriebenen Hobby sowie der Tätigkeit in Nichtregierungsorganisationen stehen. Eine Integrationsmaßnahme, die die individuelle Bewertung dieser tatsächlichen Umstände nicht zulässt und ausschließlich das Ergebnis der Integrationsprüfung berücksichtigt, ist unverhältnismäßig im Hinblick auf das Ziel der Förderung der weiteren Eingliederung der betreffenden Person in die Gesellschaft.

93.      Die Möglichkeit, die Integrationsprüfung als eine Maßnahme anzuwenden, die die Integration von Einwanderern erleichtern soll, dürfte zu den Annahmen im Widerspruch stehen, auf die sich die Gemeinsamen Grundprinzipien der Integrationspolitik stützen, die durch den Rat im Jahr 2004 angenommen und durch das sogenannte Stockholmer Programm bestätigt wurden(37).

94.      Die Gemeinsamen Grundprinzipien bezeichnen die Integration als einen dynamischen, in zwei Richtungen verlaufenden Prozess, dessen Hauptelemente die Interaktion, der Ausbau von Kontakten zwischen den Einwanderern und den Staatsangehörigen des betreffenden Staats sowie die Förderung des Dialogs zwischen den Kulturen sind. Dieses Dokument besagt, dass die Kenntnis der Sprache der Aufnahmegesellschaft, ihrer Geschichte und Institutionen ein unabdingbarer Bestandteil des Integrationsprozesses ist; Einwanderern den Erwerb dieses Wissens zu ermöglichen, ist wiederum von wesentlicher Bedeutung für eine erfolgreiche Integration. Die verschiedenen Maßnahmen, die zur Erreichung dieses Ziels auf nationaler und Unionsebene empfohlen werden, sehen jedoch weder Prüfungen noch Integrationstests vor(38).

95.      Meines Erachtens bedeutet das nicht, dass Integrationsmaßnahmen mit keinerlei Pflichten für langfristig Aufenthaltsberechtigte verbunden sein dürfen. Diese Pflichten dürfen aber nicht darin bestehen, dass ein vorausgesetzter Wissenstand über die Gesellschaft oder Sprachkenntnisse im Rahmen einer Prüfung oder eines Qualifikationstests nachgewiesen werden müssen(39).

96.      Ich möchte betonen, dass ein ähnlicher Standpunkt – wonach Integrationsmaßnahmen keine Erfolgspflichten umfassen dürfen, wie die Ablegung einer Prüfung – in der Fachliteratur vertreten wird(40).

97.      Aus den angeführten Gründen dürfen meines Erachtens „Integrationsmaßnahmen“ im Sinne der Richtlinie 2003/109 – anders als „Integrationsanforderungen“ – nicht die Pflicht zur Ablegung einer Integrationsprüfung vorsehen.

3.      Verhältnismäßigkeit der Sanktionen

98.      Gesondert zu prüfen ist die Frage des Vorlagegerichts, ob im Fall der Nichterfüllung der Integrationspflicht Sanktionen angewandt werden dürfen.

99.      Meines Erachtens ist dies eine hypothetische Frage, da sich weder aus dem Vorabentscheidungsersuchen noch aus den Erklärungen der Verfahrensbeteiligten ergibt, dass einer der Kassationsbeschwerdeführerinnen eine Geldbuße auferlegt worden ist.

100. Da diese Frage im Verlauf des Verfahrens Gegenstand der Diskussion war, wobei im Übrigen deutlich auseinandergehende Ansichten vertreten wurden(41), möchte ich dennoch ein paar Anmerkungen dazu vortragen.

101. Die Sanktion bestätigt den Zwangscharakter der Integrationsmittel und ihre Rolle als Kontrollinstrument in den Händen der Verwaltung und verwischt die Grenze zwischen Integrationsanforderung und Integrationsmaßnahme. Die Möglichkeit, eine Sanktion zu verhängen, ist ein beträchtlicher staatlicher Eingriff in die Lebensumstände von Personen, die die unionsrechtlich geschützte Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten besitzen.

102. Die Verhängung von Sanktionen gegen langfristig Aufenthaltsberechtigte, um sie zur Teilnahme an Integrationsveranstaltungen zu zwingen, dürfte im Licht der Richtlinie 2003/109 kaum zu rechtfertigen sein.

103. Das einzige in der beschriebenen Situation unstreitig zulässige finanzielle Zwangsmittel ist die Verpflichtung zur Rückzahlung der Kosten der Integrationsveranstaltungen, wenn die betreffende Person ihre Teilnahme daran ohne Begründung verweigert hat.

104. Allerdings schließe ich – abweichend von dem Standpunkt, den die Kommission in der vorliegenden Rechtssache vertritt – auch die Möglichkeit nicht aus, gegen eine Person, die sich beharrlich den Verpflichtungen entzieht, die ihr im Rahmen der Integrationsmaßnahmen auferlegt wurden, eine Geldbuße zu verhängen. Die Strafe muss aber im Verhältnis zu dem Verstoß stehen und auch berücksichtigen, weshalb die betreffende Handlung als verwerflich angesehen wird(42). Bei der Festsetzung der Höhe der Geldbuße muss zudem berücksichtigt werden, dass die materielle Stellung der Einwanderer in der Regel unter dem Durchschnitt des jeweiligen Landes liegt. Die Anwendung von Sanktionen muss zeitlich befristet sein und den Fortsetzungszusammenhang berücksichtigen. Es ist auch zu überlegen, ob die entsprechende Sanktion repressiven Charakter hat; dann wäre Art. 49 Abs. 3 der Charta zu beachten, der ein der Straftat unverhältnismäßiges Strafmaß verbietet(43).

105. Diese Anmerkungen scheinen in der vorliegenden Rechtssache von Bedeutung zu sein, da – wie aus den Erklärungen der niederländischen Regierung in der Verhandlung hervorgeht – der Höchstbetrag der Geldbuße für die Nichterfüllung der Integrationspflicht in den Niederlanden auf den beträchtlichen Betrag von 1 000 Euro festgelegt wurde; zudem kann sie wiederholt verhängt werden, wenn die erneut angesetzte Prüfung nicht bestanden wird, wobei die Möglichkeit der Bildung einer Gesamtstrafe im Wiederholungsfall nicht vorgesehen ist. Bei einer so hohen Geldbuße, die im Wiederholungsfall ohne Einschränkungen zur Anwendung kommen kann, muss auch erwogen werden, ob die Strafandrohung einige Personen nicht dazu bewegen könnte, in einen anderen Mitgliedstaat umzuziehen, was offensichtlich die Rechtsstellung des langfristig Aufenthaltsberechtigten gemäß der Richtlinie 2003/109 untergraben würde.

106. Die obigen Erwägungen sprechen dafür, die im niederländischen Recht für den Fall der Nichterfüllung der Integrationspflicht vorgesehene Sanktion in Gestalt einer Geldbuße sowohl im Hinblick auf ihre Höhe als auch ihre Anwendungsvoraussetzungen für unverhältnismäßig zu erachten.

VI – Ergebnis

107. Aufgrund der vorstehenden Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, die Vorlagefrage des Centrale Raad van Beroep (Niederlande) wie folgt zu beantworten:

1.      Die Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen hindert einen Mitgliedstaat nicht daran, Drittstaatsangehörigen, die in dem betreffenden Staat die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten erworben haben, Pflichten in Form von Integrationsmaßnahmen aufzuerlegen. Diese Maßnahmen dürfen ausschließlich die Erleichterung der Integration der betreffenden Person bezwecken und keine Voraussetzung für die Aufrechterhaltung dieser Rechtsstellung oder die Ausübung der daraus erwachsenden Rechte sein.

Im Licht des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes dürfen Integrationsmaßnahmen die Ausübung der aus der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten erwachsenden Rechte nicht übermäßig erschweren. Außerdem müssen sie geeignet sein, das in der Erleichterung der Integration bestehende Ziel zu verwirklichen, und dürfen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist. Insbesondere dürfen Integrationsmaßnahmen für langfristig Aufenthaltsberechtigte nicht die Pflicht zur Ablegung einer Prüfung über die Integration in die Gesellschaft vorsehen.

2.      Für diese Auslegung kommt es nicht darauf an, ob die Integrationspflicht eingeführt worden ist, bevor die betreffende Person die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten erworben hat.


1 – Originalsprache: Polnisch.


2 – Richtlinie des Rates der Europäischen Union vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen (ABl. 2004, L 16, S. 44), geändert durch die Richtlinie 2011/51/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2011 (ABl. L 132, S. 1).


3 – Siehe auch Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (ABl. L 251, S. 12), Richtlinie 2004/114/EG des Rates vom 13. Dezember 2004 über die Bedingungen für die Zulassung von Drittstaatsangehörigen zur Absolvierung eines Studiums oder zur Teilnahme an einem Schüleraustausch, einer unbezahlten Ausbildungsmaßnahme oder einem Freiwilligendienst (ABl. L 375, S. 12), Richtlinie 2005/71/EG des Rates vom 12. Oktober 2005 über ein besonderes Zulassungsverfahren für Drittstaatsangehörige zum Zwecke der wissenschaftlichen Forschung (ABl. L 289, S. 15) sowie Richtlinie 2009/50/EG des Rates vom 25. Mai 2009 über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen zur Ausübung einer hochqualifizierten Beschäftigung (ABl. L 155, S. 17).


4 – Siehe zweiter Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/109 und die Mitteilung der Kommission über Einwanderung, Integration und Beschäftigung (KOM[2003] 336 vom 3. Juni 2003).


5 – Die Rechtsstellung rechtmäßig in einem Mitgliedstaat arbeitender Drittstaatsangehöriger, die noch nicht langfristig Aufenthaltsberechtigte sind, ist – restriktiver – in der Richtlinie 2011/98/EU des Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 (ABl. L 343, S. 1) geregelt.


6 – Das englische Wort „denizen” (in einer der Bedeutungen: eingebürgerter Ausländer) bezeichnet in der Literatur über die Migrationsproblematik eine Mittelstellung zwischen einem Staatsangehörigen und einem Ausländer. Siehe Hammar, T., Democracy and the Nation State: Aliens, Denizens, and Citizens in a World of International Migration, Aldershot, Avebury 1990.


7 – Art. 79 Abs. 4 AEUV schließt die Zuständigkeit der Union im Bereich der Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten, die die Förderung der Integration von Ausländern zum Ziel haben, aus.


8 – Siehe Bericht der Kommission vom 28. September 2011 über die Anwendung der Richtlinie 2003/109/EG betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen (KOM[2011] 585, S. 3).


9 – Das Vorlagegericht weist darauf hin, dass die Klägerin S im ehemaligen Jugoslawien geboren wurde und nicht ausgeschlossen werden kann, dass sie die kroatische Staatsangehörigkeit besitzt – diese Angabe bestätigte der Bevollmächtigte der Kassationsbeschwerdeführerin in der Verhandlung vor dem Gerichtshof. In diesem Fall unterläge S nicht der Integrationspflicht, da sie am Tag des Beitritts Kroatiens zur Union die Unionsbürgerschaft erworben hätte. Ich möchte zudem darauf hinweisen, dass die Unionsbürgerschaft der Kassationsbeschwerdeführerin auch die Sanktionierung der Nichterfüllung der Integrationspflicht in der Zeit vor dem Beitritt ausschließt.


10 – Siehe Urteil Tahir (C‑469/13, EU:C:2014:2094, Rn. 32).


11 – Die polnische Sprachfassung der Richtlinie unterscheidet sich von den anderen Sprachfassungen (siehe Nr. 7 der vorliegenden Schlussanträge), da sie sowohl im ersten als auch im zweiten Unterabsatz von Art. 15 Abs. 3 denselben Begriff der Integrationsmittel verwendet. In den vorliegenden Schlussanträgen werde ich in Bezug auf diese Vorschrift die Begriffe „Integrationsmaßnahmen“ oder „Integrationsanforderungen“ verwenden. Die polnische Sprachfassung der späteren Richtlinie 2009/50 verwendet in Bezug auf die Richtlinie 2003/86 die Begriffe „Integrationsbedingungen und ‑maßnahmen“.


12 – Vgl. entsprechend in den Sprachen Deutsch, Englisch und Französisch: „Integrationsanforderungen – Integrationsmaßnahmen“, „integration conditions – integration measures“, „conditions d’intégration – mesures d’intégration“. Die niederländische Sprachfassung verwendet hingegen denselben Begriff „integratievoorwaarden“, ohne in der genannten Weise zu differenzieren. Diese Unterscheidung taucht aber in Art. 15 Abs. 3 der Richtlinie 2009/50 auf („integratievoorwaarden en -maatregelen“).


13 – Gemäß Art. 15 Abs. 3 Unterabs. 3 der Richtlinie 2003/109 kann ausnahmsweise von den betreffenden Personen die Teilnahme an Sprachkursen verlangt werden.


14 – Siehe Schlussanträge des Generalanwalts Mengozzi in der Rechtssache Dogan (C‑138/13, EU:C:2014:287, Nr. 51) mit dem Verweis auf den Vermerk des Vorsitzes des Rates vom 14. März 2003 (Ratsdokument 7393/1/03 REV 1, S. 5).


15 – Siehe Schlussanträge des Generalanwalts Mengozzi in der Rechtssache Dogan (EU:C:2014:287, Nrn. 51 bis 56). In Art. 15 Abs. 3 der Richtlinie 2009/50 ist ebenfalls von „Integrationsvoraussetzungen und ‑maßnahmen“ die Rede. Vgl. auch die Art. 7, 10 und 11 der Richtlinie 2004/114, die fakultative „Bedingungen“ für die Einreise und den Aufenthalt von Studenten (Nachweis hinreichender Kenntnis der Sprache) und auch gewisse Anforderungen an unbezahlte Auszubildende und Freiwillige (Teilnahme an einer Sprachgrundausbildung) betreffen.


16 – Der Gerichtshof hatte noch nicht die Gelegenheit, zu entscheiden, ob es mit der Richtlinie 2003/86 vereinbar ist, die Einreise in den betreffenden Mitgliedstaat von der Ablegung einer Prüfung abhängig zu machen (siehe Schlussanträge des Generalanwalts Mengozzi in der Rechtssache Dogan [EU:C:2014:287, Nr. 59] und die dort in Fn. 52 angeführten Dokumente der Kommission). Der Europäische Ausschuss für soziale Rechte unterstrich, dass die Aufstellung einer solchen Pflicht als Bedingung für die Einreise oder den weiteren Aufenthalt im Rahmen der Familienzusammenführung gegen Art. 19 Abs. 6 der Europäischen Sozialcharta verstößt (siehe Arbeitspapier vom 15. Juli 2014, „Verhältnis zwischen dem Recht der Europäischen Union und der Europäischen Sozialcharta“, Nr. 76).


17 – Siehe Schlussanträge des Generalanwalts Mengozzi in der Rechtssache Dogan (EU:C:2014:287, Nr. 53).


18 – Gemäß Art. 11 Abs. 5 können die Mitgliedstaaten den Gleichbehandlungsgrundsatz auf Bereiche ausweiten, die nicht in Abs. 1 genannt sind.


19 – Ich erinnere daran, dass Drittstaatsangehörige, die die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten in einem anderen Mitgliedstaat erworben haben, dem Anwendungsbereich von Art. 15 Abs. 3 der Richtlinie 2003/109 unterliegen.


20 – Aus den Verfahrensakten geht hervor, dass diese Umstände in Bezug auf die Kassationsbeschwerdeführerin P zutreffen, die die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten am 14. November 2008 erworben hat, also erst nach dem Inkrafttreten der Wi am 1. Januar 2007 und nach dem Erlass des Bescheids vom 1. August 2008, mit dem der individuelle Termin zur Ablegung der Prüfung festgesetzt wurde. Ich erinnere daran, dass vor dem 1. Januar 2010 die Ablegung der Integrationsprüfung keine Voraussetzung für den Erwerb der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten in den Niederlanden war.


21 –      Zur Ausübung der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten im Bereich der Voraussetzungen für den Verlust der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats siehe Urteil Rottmann (C‑135/08, EU:C:2010:104, Rn. 48).


22 – Urteil Kommission/Niederlande (C‑508/10, EU:C:2012:243, Rn. 64 und 65).


23 – Siehe Urteile Kamberaj (C‑571/10, EU:C:2012:233, Rn. 66) und Tahir (EU:C:2014:2094, Rn. 27).


24 – Aus dem dritten Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/109 geht hervor, dass sie im Einklang mit den durch die Charta anerkannten Grundrechten steht; diese Bestimmung hat nunmehr ihre selbständige Bedeutung verloren, da gemäß Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 EUV die Charta und die Verträge rechtlich gleichrangig sind.


25 – Urteil Åkerberg Fransson (C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 19).


26 – Siehe Urteil Kamberaj (EU:C:2012:233, Rn. 81).


27 – Siehe Urteil Dogan (C‑138/13, EU:C:2014:2066, Rn. 37 und 38) zu Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls zu dem Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei (ABl. 1972, L 293, S. 3).


28 – Siehe ähnlich in Bezug auf die Richtlinie 2003/86 Urteil Chakroun (C‑578/08, EU:C:2010:117, Rn. 43) und Schlussanträge des Generalanwalts Mengozzi in der Rechtssache Noorzia (C‑338/13, EU:C:2014:288, Nr. 61).


29 – Siehe Urteil Siragusa (C‑206/13, EU:C:2014:126, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).


30 – Diese Voraussetzung ist auch bei dem Erwerb der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten von Bedeutung, da gemäß dem neunten Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/109 wirtschaftliche Erwägungen nicht als Grund dafür herangezogen werden sollten, die Zuerkennung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten zu versagen, und auch nicht so aufgefasst werden dürfen, dass sie die entsprechenden Bedingungen berühren.


31 – Urteil Kommission/Niederlande (EU:C:2012:243, Rn. 70).


32 – Siehe Mitteilung der Kommission vom 28. September 2011 (KOM[2011] 585, S. 4) sowie Urteil Kommission/Niederlande (EU:C:2012:243, Rn. 78).


33 – Gemäß dem fünften Erwägungsgrund der Richtlinie sollte diese ohne Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der ethnischen oder sozialen Herkunft, der genetischen Merkmale, der Sprache, der Religion oder der Weltanschauung, der politischen oder sonstigen Meinung, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung durchgeführt werden.


34 – Siehe Schlussanträge des Generalanwalts Mengozzi in der Rechtssache Dogan (EU:C:2014:287, Nr. 52).


35 – Siehe Nr. 48 dieser Schlussanträge.


36 – Aus den in dem Ersuchen angeführten niederländischen Vorschriften geht hervor, dass ausnahmsweise nicht integrationspflichtig ist, wer u. a. jünger als 16 Jahre oder 65 Jahre oder älter ist, sich mindestens acht Jahre lang im schulpflichtigen Alter in den Niederlanden aufgehalten hat, über ein Diplom, eine Bescheinigung oder ein anderes Dokument verfügt oder nachgewiesen hat, dass er über ausreichende mündliche und schriftliche Kenntnisse der niederländischen Sprache verfügt (Art. 5 Abs. 1 Wi).


37 – Siehe Schlussfolgerungen des Rates vom 19. November 2004 (Ratsdokument 14615/04) und vom 11. Dezember 2009 (Ratsdokument 17024/09) sowie die Mitteilung der Kommission „Eine gemeinsame Integrationsagenda – Ein Rahmen für die Integration von Drittstaatsangehörigen in die Europäische Union“ (KOM[2005] 389 vom 1. September 2005).


38 – Die auf der nationalen Ebene vorgeschlagenen Maßnahmen betreffen u. a. das Anbieten von unterschiedlichen Sprachkursen und staatsbürgerlichen Schulungen, Bildungsgängen, Beratungsprogrammen, die die unterschiedliche Situation der Einwanderer, ihren Bildungsstand und das bereits über den betreffenden Staat vorhandene Wissen berücksichtigen.


39 – Als Beispiele für solche Maßnahmen, die keinen Qualifikationstest voraussetzen, können genannt werden: Pflicht zur Teilnahme an Sprachkursen, Lehrveranstaltungen zu den Themen Gesellschaft und Recht, Kulturveranstaltungen oder Treffen mit in der jeweiligen Gesellschaft herausragenden Persönlichkeiten.


40 – Siehe E. Bribosia, S. Ganty, „Arrêt Dogan: quelle légalité pour les tests d’intégration civique?“, Journal de droit européen, 2014, Nr. 213, S. 378, sowie das umfangreiche in Fn. 19 auf S. 379 angeführte Schrifttum. Einige Autoren vertreten die Auffassung, dass der Begriff der Integrationsmaßnahmen – im Gegensatz zu den „Integrationsanforderungen“, die Disziplin und Sanktionen voraussetzen – auch in der Weise verstanden werden kann, dass sie überhaupt keine Verpflichtungen oder Sanktionen beinhalten dürfen, S. Carrera, „Integration of Immigrants in EU Law and Policy“, in: L. Azoulai, K. de Vries, EU Migration Law: Legal Complexities and Political Rationales, Oxford University Press 2014, S. 159.


41 – Die Kommission ist der Ansicht, dass die einzige im Licht des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zulässige Sanktion die Anordnung der Rückzahlung der Kosten der Integrationsveranstaltungen sei. Die niederländische Regierung vertritt hingegen die Auffassung, dass eine Geldbuße in Höhe von bis zu 1 000 Euro verhältnismäßig sei.


42 – Die Höchststrafe für die Nichtteilnahme an Integrationsveranstaltungen sollte nicht höher ausfallen als die Strafen für vergleichbare Vergehen auf dem Gebiet der staatsbürgerlichen Pflichten, z. B. die Nichtbefolgung der Wahlpflicht oder der Pflicht zur Hissung der Staatsflagge.


43 – Vgl. die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zum Anwendungsbereich der Art. 6 und 7 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten in Bezug auf Sanktionen, die nicht zum „harten Kern“ des Strafrechts gehören, insbesondere Urteil vom 23. November 2006, Jussila/Finnland (Beschwerde Nr. 73053/01, § 43), sowie – zur Verhältnismäßigkeit der Strafe – Urteil vom 7. Juni 2012, Segame SA/Frankreich (Beschwerde Nr. 4837/06, § 59).