Language of document : ECLI:EU:C:2023:409

BESCHLUSS DES PRÄSIDENTEN DES GERICHTSHOFS

27. April 2023(*)

„Rechtsmittel – Streithilfe – Art. 40 Abs. 2 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union – Berechtigtes Interesse am Ausgang des Rechtsstreits – Unionsmarke – Widerspruchsverfahren – Zurückweisung des Widerspruchs – Nichtberücksichtigung älterer, im Vereinigten Königreich geschützter Rechte – Für die Beurteilung, ob ein relatives Eintragungshindernis vorliegt, maßgebliches Verfahrensstadium – Verband von Markeninhabern und Markenrechtsspezialisten, der das Ziel der Förderung von Markenrechten verfolgt – Zulassung“

In der Rechtssache C‑337/22 P

betreffend ein Rechtsmittel nach Art. 56 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, eingelegt am 23. Mai 2022,

Amt der Europäischen Union für geistiges Eigentum (EUIPO), vertreten durch D. Gája, D. Hanf, E. Markakis und V. Ruzek als Bevollmächtigte,

Rechtsmittelführerin,

unterstützt durch

Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch J. Möller, J. Heitz und M. Hellmann als Bevollmächtigte,

Streithelferin im Rechtsmittelverfahren,

andere Partei des Verfahrens:

Nowhere Co. Ltd mit Sitz in Tokio (Japan), vertreten durch Rechtsanwalt R. Kunze,

Klägerin im ersten Rechtszug,

erlässt

DER PRÄSIDENT DES GERICHTSHOFS

aufgrund des Vorschlags des Berichterstatters D. Gratsias,

nach Anhörung der Generalanwältin T. Ćapeta

folgenden

Beschluss

1        Mit seinem Rechtsmittel beantragt das Amt der Europäischen Union für geistiges Eigentum (EUIPO) die Aufhebung des Urteils des Gerichts der Europäischen Union vom 16. März 2022, Nowhere/EUIPO – Ye (APE TEES) (T‑281/21, im Folgenden: angefochtenes Urteil, EU:T:2022:139), mit dem das Gericht die Entscheidung der Zweiten Beschwerdekammer des EUIPO vom 10. Februar 2021 (Sache R 2474/2017‑2) zu einem Widerspruchsverfahren zwischen der Nowhere Co. Ltd und Herrn Ye (im Folgenden: angefochtene Entscheidung) aufgehoben und die Klage von Nowhere im Übrigen abgewiesen hat.

2        Mit Schriftsatz, der am 22. Februar 2023 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen ist, hat die Bundesrepublik Deutschland beantragt, in der Rechtssache C‑337/22 P als Streithelferin zur Unterstützung der Anträge des EUIPO zugelassen zu werden. Mit Beschluss vom 21. März 2023 hat der Präsident des Gerichtshofs diesem Antrag stattgegeben.

3        Mit Schriftsatz, der am 27. Februar 2023 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen ist, hat die International Trademark Association (INTA) gemäß Art. 40 Abs. 2 der Satzung des Gerichtshofs und Art. 129 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs beantragt, in der Rechtssache C‑337/22 P als Streithelferin zur Unterstützung der Anträge des EUIPO zugelassen zu werden.

4        Mit Schreiben, das am 1. März 2023 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen ist, hat das EUIPO dem Gerichtshof mitgeteilt, dass es zum Streithilfeantrag der INTA keine Erklärungen abzugeben habe.

5        Mit einem am 16. März 2023 eingereichten Schreiben hat Nowhere mitgeteilt, dass sie die Entscheidung, ob dem Streithilfeantrag der INTA stattzugeben sei, der Würdigung durch den Gerichtshof der Europäischen Union überlasse.

 Zum Streithilfeantrag

6        Nach Art. 40 Abs. 2 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union kann jede Person, die ein berechtigtes Interesse am Ausgang eines beim Gerichtshof anhängigen Rechtsstreits glaubhaft macht, diesem Rechtsstreit beitreten; davon ausgenommen sind Rechtssachen zwischen Mitgliedstaaten, zwischen Organen der Europäischen Union oder zwischen diesen Staaten und den genannten Organen.

7        Nach ständiger Rechtsprechung ist der Begriff „berechtigtes Interesse am Ausgang eines … Rechtsstreits“ im Sinne dieser Vorschrift anhand des Gegenstands des Rechtsstreits zu bestimmen und als ein unmittelbares und gegenwärtiges Interesse daran zu verstehen, wie die Anträge selbst beschieden werden, und nicht als ein Interesse an den geltend gemachten Angriffs- und Verteidigungsmitteln oder Argumenten. Denn unter dem „Ausgang des Rechtsstreits“ ist die beantragte Endentscheidung zu verstehen, wie sie sich im Tenor des Urteils niederschlagen würde (Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 10. März 2023, Illumina/Kommission, C‑611/22 P, EU:C:2023:205, Rn. 6 und die dort angeführte Rechtsprechung).

8        Insoweit ist insbesondere zu prüfen, ob derjenige, der einen Antrag auf Zulassung als Streithelfer stellt, von der angefochtenen Handlung unmittelbar betroffen ist und ob sein Interesse am Ausgang des Rechtsstreits erwiesen ist. Grundsätzlich kann ein Interesse am Ausgang des Rechtsstreits nur dann als hinreichend unmittelbar angesehen werden, wenn dieser Ausgang eine Änderung der Rechtsstellung des Antragstellers bewirken könnte (Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 10. März 2023, Illumina/Kommission, C‑611/22 P, EU:C:2023:205, Rn. 7 und die dort angeführte Rechtsprechung).

9        Nach ständiger Rechtsprechung kann jedoch auch ein repräsentativer Branchen- oder Berufsverband, dessen Zweck der Schutz der Interessen seiner Mitglieder ist, zur Streithilfe zugelassen werden, wenn der Rechtsstreit Grundsatzfragen aufwirft, die sich auf diese Interessen auswirken können (vgl. u. a. Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 12. Januar 2018, Société des produits Nestlé u. a./Mondelez UK Holdings & Services, C‑84/17 P, C‑85/17 P und C‑95/17 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2018:16, Rn. 6 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). Folglich muss das Erfordernis, dass ein solcher Verband ein unmittelbares und gegenwärtiges Interesse am Ausgang des Rechtsstreits hat, dem er beitreten möchte, als erfüllt angesehen werden, wenn der Verband nachweist, dass er sich in einer solchen Situation befindet, und zwar unabhängig davon, ob der Ausgang des Rechtsstreits eine Änderung der Rechtsstellung des Verbands als solchen zu bewirken vermag (vgl. in diesem Sinne Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs du 10. März 2023, Illumina/Kommission, C‑611/22 P, EU:C:2023:205, Rn. 8 und die dort angeführte Rechtsprechung).

10      Eine derartige weite Auslegung des Rechts auf Streitbeitritt zugunsten repräsentativer Branchen- oder Berufsverbände soll es nämlich ermöglichen, den Kontext, in dem sich die dem Unionsrichter vorgelegten Fälle präsentieren, besser zu beurteilen, und gleichzeitig eine Vielzahl einzelner Streitbeitritte, die die Wirksamkeit und den ordnungsgemäßen Ablauf des Verfahrens gefährden würden, zu vermeiden. Denn der Streitbeitritt eines solchen Verbands bietet eine Gesamtschau dieser kollektiven Interessen seiner Mitglieder, die er verteidigt und die von einer Grundsatzfrage, von der die Entscheidung des Rechtsstreits abhängt, berührt werden (vgl. in diesem Sinne Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 10. März 2023, Illumina/Kommission, C‑611/22 P, EU:C:2023:205, Rn. 9 und die dort angeführte Rechtsprechung).

11      Folglich kann nach der in Rn. 9 des vorliegenden Beschlusses angeführten Rechtsprechung ein Branchen- oder Berufsverband zur Streithilfe zugelassen werden, wenn er erstens eine beträchtliche Anzahl von natürlichen und juristischen Personen, die in dem den Rechtsstreit betreffenden Sektor tätig sind, repräsentiert, wenn zweitens sein Verbandszweck den Schutz der Interessen seiner Mitglieder umfasst, wenn drittens die Rechtssache Grundsatzfragen aufwerfen kann, die die betreffende Tätigkeit berühren, und wenn schließlich viertens die kollektiven Interessen seiner Mitglieder durch das zu erlassende Urteil in erheblichem Maße beeinträchtigt werden können (vgl. in diesem Sinne Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 10. März 2023, Illumina/Kommission, C‑611/22 P, EU:C:2023:205, Rn. 10 und die dort angeführte Rechtsprechung).

12      Der von der INTA eingereichte Streithilfeantrag ist unter Berücksichtigung dieser Voraussetzungen zu prüfen.

13      Erstens ergibt sich aus dem Streithilfeantrag, dass die INTA eine gemeinnützige Vereinigung mit Sitz in New York (Vereinigte Staaten) ist, die Rechtspersönlichkeit besitzt. In ihr sind weltweit Inhaber von Marken, insbesondere von Unionsmarken, und Markenrechtsspezialisten zusammengeschlossen. Zu ihren Mitgliedern zählen mehr als 6 000 Organisationen aus allen Wirtschaftszweigen sowie Dienstleister im Bereich des Markenrechts oder in den 27 Mitgliedstaaten niedergelassene Unternehmensverbände. Die INTA weist somit die Merkmale eines repräsentativen Berufsverbands auf.

14      Zweitens geht aus diesem Streithilfeantrag und den ihm beigefügten Unterlagen hervor, dass der Verbandszweck der INTA insbesondere darin besteht, Marken und weitere ergänzende Rechte des geistigen Eigentums zu fördern, um das Vertrauen der Verbraucher zu stärken, das Wirtschaftswachstum anzukurbeln und Innovationen zu fördern, die Interessen der Öffentlichkeit durch die ordnungsgemäße Benutzung von Marken zu schützen, indem sie sich dafür einsetzt, die Gesetzgebung und Verträge betreffend Marken und unlauteren Wettbewerb weltweit weiterzuentwickeln, sowie die Interessen ihrer Mitglieder bei der Benutzung ihrer Marken zu unterstützen. Außerdem geht aus dem Antrag hervor, dass die INTA seit 1979 Beobachterstatus bei der Weltorganisation für geistiges Eigentum (WIPO) hat und mit dem EUIPO zusammenarbeitet, insbesondere durch die Teilnahme an den Sitzungen der EUIPO-Nutzergruppe und an gemeinsamen Sitzungen zwischen der INTA und dem EUIPO über die Verfahren der Markenämter.

15      Darüber hinaus betrifft der vorliegende Rechtsstreit das Markenrecht und weist daher einen Zusammenhang mit dem Verbandszweck der INTA auf, der darin besteht, die Interessen ihrer Mitglieder bei der Verwendung ihrer Marken zu fördern.

16      Drittens ist darauf hinzuweisen, dass die vorliegende Rechtssache, die ein Rechtsmittel gegen das angefochtene Urteil betrifft, das die Entscheidung der zweiten Beschwerdekammer des EUIPO vom 10. Februar 2021 aufgehoben hat, mit der diese einen auf ältere, im Vereinigten Königreich geschützte Rechte gestützten Widerspruch im Wesentlichen deshalb zurückgewiesen hatte, weil sich die Widerspruchsführerin nach dem Austritt dieses Staates aus der Union nicht mehr auf das Recht dieses Staates berufen könne, zum einen die Frage aufwirft, welcher Zeitpunkt und welche Umstände heranzuziehen sind, um das berechtigte Interesse des Inhabers eines älteren Rechts am Erfolg eines Widerspruchs gegen eine Anmeldung einer Unionsmarke und die Verpflichtung des EUIPO zur Berücksichtigung dieses älteren Rechts zu beurteilen. Zum anderen wirft die vorliegende Rechtssache die allgemeinere Frage auf, wie sich der Wegfall des älteren Rechts ex nunc während eines Widerspruchs- oder Nichtigkeitsverfahrens vor dem EUIPO auf den Ausgang dieses Verfahrens auswirkt (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 16. November 2022, EUIPO/Nowhere, C‑337/22 P, EU:C:2022:908, Rn. 34).

17      Es handelt sich um Grundsatzfragen, die sich insbesondere auf die Voraussetzungen des Rechtsschutzinteresses und des Interesses an der Fortsetzung des Verfahrens im Rahmen der Unionsmarken betreffenden Verwaltungsverfahren, auf das Territorialitätsprinzip der Marke und den Grundsatz der Einheitlichkeit der Unionsmarke beziehen. Darüber hinaus betreffen sie nicht nur die Auswirkung des Austritts des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Union auf solche Marken, sondern auch alle, im Bereich des geistigen Eigentums häufigen, Situationen, in denen ein älteres Recht im Lauf des Verwaltungsverfahrens wegfällt, u. a. bei Verfall oder Erlöschen dieses Rechts (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 16. November 2022, EUIPO/Nowhere, C‑337/22 P, EU:C:2022:908, Rn. 37 bis 39).

18      Daher sind diese Fragen sowohl für die Nutzer des Systems der Unionsmarke als auch für die nationalen Gerichte bedeutsam (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 16. November 2022, EUIPO/Nowhere, C‑337/22 P, EU:C:2022:908, Rn. 38), denn ein solches System soll den Unternehmen eine unbehinderte Wirtschaftstätigkeit im gesamten Binnenmarkt ermöglichen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Dezember 2012, Leno Merken, C‑149/11, EU:C:2012:816, Rn. 40).

19      Folglich wirft der vorliegende Fall Grundsatzfragen auf, die sich auf das Funktionieren des Systems der Unionsmarke, das von den Mitgliedern der INTA benutzt wird, auswirken können.

20      Viertens ist in Anbetracht der Erwägungen in den Rn. 16 bis 19 des vorliegenden Beschlusses festzustellen, dass das zu erlassende Urteil die Interessen der Mitglieder der INTA in erheblichem Umfang beeinträchtigen könnte, insbesondere, wie dieser Verband in seinem Streithilfeantrag im Wesentlichen ausführt, in Anbetracht des Umstands, dass der Gerichtshof mit diesem Urteil über die Frage entscheiden könnte, welcher Zeitpunkt für die Feststellung maßgeblich ist, ob ein älteres Recht durch das Unionsrecht geschützt ist und ob folglich ein Widerspruch gegen die Eintragung einer Unionsmarke darauf gestützt werden kann.

21      Nach alledem ist davon auszugehen, dass die INTA rechtlich hinreichend nachgewiesen hat, dass sie ein unmittelbares und gegenwärtiges Interesse an der Entscheidung über den Antrag des EUIPO auf Aufhebung des angefochtenen Urteils und folglich im Sinne von Art. 40 Abs. 2 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union ein berechtigtes Interesse am Ausgang des Rechtsstreits hat, mit dem der Gerichtshof im Rahmen des vorliegenden Rechtsmittels befasst ist.

 Zu den Verfahrensrechten der Streithelferin

22      Da dem Streithilfeantrag stattgegeben wird, werden der INTA gemäß Art. 131 Abs. 3 der Verfahrensordnung, der gemäß Art. 190 Abs. 1 der Verfahrensordnung auf das Rechtsmittelverfahren anwendbar ist, alle den Parteien zugestellten Schriftstücke übermittelt, da die Parteien nicht beantragt haben, bestimmte Belegstücke oder Unterlagen von dieser Übermittlung auszunehmen.

23      Da dieser Antrag innerhalb der in Art. 190 Abs. 2 der Verfahrensordnung vorgesehenen Frist von einem Monat gestellt worden ist, kann die INTA nach Art. 132 Abs. 1 der Verfahrensordnung, der nach Art. 190 Abs. 1 der Verfahrensordnung auf das Rechtsmittelverfahren anwendbar ist, innerhalb eines Monats nach der in der vorstehenden Randnummer genannten Übermittlung einen Streithilfeschriftsatz einreichen.

24      Schließlich kann die INTA mündliche Erklärungen abgeben, falls eine mündliche Verhandlung anberaumt wird.

 Kosten

25      Nach Art. 137 der Verfahrensordnung, der nach deren Art. 184 Abs. 1 auf das Rechtsmittelverfahren Anwendung findet, wird über die Kosten im Endurteil oder in dem das Verfahren beendenden Beschluss entschieden.

26      Da im vorliegenden Fall dem Antrag der INTA auf Zulassung als Streithelferin stattgegeben wird, ist die Entscheidung über die mit dieser Streithilfe verbundenen Kosten vorzubehalten.

Aus diesen Gründen hat der Präsident des Gerichtshofs beschlossen:

1.      Die International Trademark Association (INTA) wird in der Rechtssache C337/22 P als Streithelferin zur Unterstützung der Anträge des Amtes der europäischen Union für geistiges Eigentum (EUIPO) zugelassen.

2.      Der International Trademark Association (INTA) wird eine Abschrift sämtlicher Verfahrensunterlagen durch den Kanzler zugestellt.

3.      Der International Trademark Association (INTA) wird eine Frist von einem Monat, die mit dem Datum der in Nr. 2 des vorliegenden Tenors genannten Zustellung beginnt, zur Einreichung eines Streithilfeschriftsatzes gesetzt.

4.      Die Entscheidung über die mit der Streithilfe der International Trademark Association (INTA) verbundenen Kosten bleibt vorbehalten.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Englisch.