URTEIL DES GERICHTS (Fünfte Kammer)
29. Januar 1998 (1)
„Außervertragliche Haftung Einheitliche Europäische Akte Zollspediteur“
In der Rechtssache T-113/96
Edouard Dubois et Fils, Aktiengesellschaft französischen Rechts mit Sitz in
Roubaix (Frankreich), Prozeßbevollmächtigte: Rechtsanwälte Pierre Ricard und
Alain Crosson du Cormier, Paris, Zustellungsanschrift: Kanzlei des Rechtsanwalts
Marc Feiler, 67, rue Ermesinde, Luxemburg,
gegen
Rat der Europäischen Union, vertreten durch Guus Houttuin und Maria Cristina
Giorgi, Rechtsberater, als Bevollmächtigte, Zustellungsbevollmächtigter:
Generaldirektor Alessandro Morbilli, Direktion für Rechtsfragen der Europäischen
Investitionsbank, 100, boulevard Konrad Adenauer, Luxemburg,
und
Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch Rechtsberater
Hendrik van Lier und Fernando Castillo de la Torre, Juristischer Dienst, als
Bevollmächtigte, Zustellungsbevollmächtigter: Carlos Gómez de la Cruz,
Juristischer Dienst, Centre Wagner, Luxemburg-Kirchberg,
wegen Ersatzes des Schadens gemäß den Artikeln 178 und 215 Absatz 2 EG-Vertrag durch die Gemeinschaft, der der Klägerin durch die Schaffung des
Binnenmarktes mit Wirkung vom 1. Januar 1993 aufgrund der Einheitlichen
Europäischen Akte und den dadurch bedingten Wegfall der von ihr bisher in
Frankreich ausgeübten Tätigkeit des Zollspediteurs entstanden ist,
erläßt
DAS GERICHT ERSTER INSTANZ
DER EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFTEN (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten R. García-Valdecasas sowie der Richter J. Azizi
und M. Jaeger,
Kanzler: J. Palacio González, Verwaltungsrat
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom
16. September 1997,
folgendes
Urteil
Sachverhalt und rechtlicher Rahmen
- 1.
- Mit Artikel 13 der Einheitlichen Europäischen Akte (im folgenden: Einheitliche
Akte), die am 17. Februar 1986 in Luxemburg und am 28. Februar 1986 in Den
Haag unterzeichnet wurde und am 1. Juli 1987 in Kraft trat, wurde in den EWG-Vertrag ein Artikel 8a aufgrund von Artikel G Nummer 9 des Vertrages über die
Europäische Union nunmehr Artikel 7a EG-Vertrag eingefügt; dieser bestimmt:
„Die Gemeinschaft trifft die erforderlichen Maßnahmen, um bis zum 31. Dezember
1992 gemäß dem vorliegenden Artikel ... den Binnenmarkt schrittweise zu
verwirklichen.
Der Binnenmarkt umfaßt einen Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie
Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gemäß den
Bestimmungen dieses Vertrages gewährleistet ist.“
- 2.
- Die Verwirklichung des Binnenmarktes, die die Schaffung eines „Raumes ohne
Binnengrenzen“ zwischen den Mitgliedstaaten der EWG gebot, bedingte die
Abschaffung der Steuergrenzen und der innergemeinschaftlichen Zollkontrollen mit
Ablauf des genannten Zeitraums, also am 1. Januar 1993.
- 3.
- Dies führte zu einer erheblichen Einschränkung von wirtschaftlichen Tätigkeiten,
die unmittelbar mit dem Bestehen von Zoll- und Steuerkontrollen an den
innergemeinschaftlichen Grenzen verbunden waren.
- 4.
- Besonders waren die Zollagenten und -spediteure betroffen, die für Dritte gegen
Entgelt die für den Grenzübertritt der Waren erforderlichen Zollförmlichkeiten
abwickeln. Die Zollagenten wickeln diese Förmlichkeiten für fremde Rechnung und
in fremdem Namen, die Zollspediteure für fremde Rechnung, aber im eigenen
Namen ab.
- 5.
- Nach einer Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament und
den Wirtschafts- und Sozialausschuß betreffend die strukturelle Anpassung des
Gewerbes der Zollagenten und -spediteure (SEK [92] 887 endg.; im folgenden:
Mitteilung der Kommission) sind verschiedene flankierende Maßnahmen getroffen
worden, um den wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Verwirklichung des
Binnenmarktes für diesen Berufszweig Rechnung zu tragen.
- 6.
- Zum einen haben die Mitgliedstaaten, wenn auch in sehr unterschiedlichem
Ausmaß, eine Konzertierung mit den betroffenen Parteien vorgenommen und
oftmals soziale Maßnahmen (wie die Gewährung des Vorruhestands,
Umschulungsmaßnahmen, Ausgleichsmaßnahmen für Verdienstausfälle, Beihilfen
für die geographische Mobilität und technische Hilfe bei der Suche eines
Arbeitsplatzes) oder wirtschaftliche Maßnahmen (steuerliche Abzugsfähigkeit von
Entlassungsentschädigungen, Staffelung der Zahlung der Mehrwertsteuereinnahmen
über einen längeren Zeitraum oder Unternehmensbeihilfen) vorgeschlagen
(Mitteilung der Kommission, S. 11 bis 13, Abschnitt III).
- 7.
- Zum anderen hat die Gemeinschaft, nachdem die Kommission 1991 eine vom
Europäischen Sozialfonds finanzierte Studie hatte erstellen lassen (Mitteilung der
Kommission, S. 6 bis 11, Abschnitt II), drei Arten von Maßnahmen beschlossen.
- 8.
- Erstens hat der Europäische Sozialfonds die Zollagenten und -spediteure
Langzeitarbeitslosen gleichgestellt und ihnen damit Aktionen der Berufsbildung,
Beihilfen für die Schaffung von Arbeitsplätzen und spezifische Aktionen, zu denen
Interventionen zur Erleichterung ihrer beruflichen Umstellung gehörten, zugänglich
gemacht und finanziert (Mitteilung der Kommission, S. 14 bis 16, Abschnitt IV.1).
- 9.
- Zweitens hat die Interreg-Initiative die Umstrukturierung der betreffenden
Unternehmen, die Umschulung und anderweitige Verwendung ihres Personals, die
Umstellung und Wiederverwendung der Warenabfertigungsanlagen an den Grenzen
sowie die Schaffung von alternativen Arbeitsplätzen gefördert (Mitteilung der
Kommission, S. 16 f., Abschnitt IV.2).
- 10.
- Drittens und in Ergänzung der vorgenannten Aktionen, die sich im Rahmen der
Strukturfonds bewegen sind Maßnahmen außerhalb der Strukturfonds
vorgeschlagen und verabschiedet worden. In diesem Zusammenhang hat der Rat
die Verordnung (EWG) Nr. 3904/92 vom 17. Dezember 1992 über Maßnahmen zur
strukturellen Anpassung des Gewerbes der Zollagenten und -spediteure an den
Binnenmarkt (ABl. L 394, S. 1) erlassen.
- 11.
- Die Klägerin, eine Aktiengesellschaft französischen Rechts mit einem Kapital von
47 850 000 FF, beschäftigt 1 400 Angestellte und besitzt vierzig Niederlassungen
und Repräsentanten. Ihre Haupttätigkeit liegt im Bereich der Spedition und
verwandter Gebiete; vor der Vollendung des Binnenmarktes hatte sie in sechzehn
Orten in Frankreich Niederlassungen als zugelassener Zollspediteur.
- 12.
- Um sich auf die Auswirkungen vorzubereiten, die die Vollendung des
Binnenmarktes ab dem 1. Januar 1993 auf diese Tätigkeit haben würde, hat sie
ihrer Darstellung zufolge erhebliche Anstrengungen unternommen, um ihren
Betrieb zu entwickeln und auf andere Tätigkeitsbereiche umzustellen.
- 13.
- Insbesondere sei ihr die Verordnung Nr. 3904/92 zugute gekommen; in diesem
Zusammenhang seien ihr 100 000 ECU gewährt worden, die ihr die Übernahme
einer anderen Gesellschaft (Société Adrien Martin, nunmehr Adrien Martin
International) ermöglicht hätten, die sich in Abwicklung befunden habe. Dieser
Erwerb habe zu ihrer Umstellung von Tätigkeiten als Zollspediteur auf andere
Tätigkeiten, hier: auf Dienstleistungen für Waren, die aus Staaten außerhalb der
Gemeinschaft gestammt hätten oder für diese bestimmt gewesen seien, gehört.
- 14.
- Durch die Verwirklichung des Binnenmarktes ab 1. Januar 1993 sei ihre Tätigkeit
als Zollspediteur praktisch vollständig und endgültig weggefallen. Der ihr hierdurch
entstandene materielle Schaden belaufe sich auf 112 339 703 FF.
Verfahren und Anträge der Parteien
- 15.
- Die Klägerin hat am 24. Juli 1996 die vorliegende Schadensersatzklage erhoben.
- 16.
- Das Gericht (Fünfte Kammer) hat auf Bericht des Berichterstatters beschlossen,
die mündliche Verhandlung ohne vorherige Beweisaufnahme zu eröffnen.
- 17.
- Die Parteien haben in der öffentlichen Sitzung vom 16. September 1997 mündlich
verhandelt und Fragen des Gerichts beantwortet.
- 18.
- Die Klägerin beantragt,
festzustellen, daß die Beklagten gemäß Artikel 215 Absatz 2 EG-Vertrag für
den Schaden haften, der ihr durch die Anwendung der Einheitlichen Akte,
durch die ab 1. Januar 1993 ein freier Raum für den Waren- und
Dienstleistungsverkehr innerhalb der Grenzen der Mitgliedstaaten
geschaffen wurde, auf ihre Tätigkeit als Zollspediteur entstanden ist,
den Rat und die Kommission als Gesamtschuldner zu verurteilen,
Schadensersatz in Höhe von 112 339 702 FF zu zahlen,
dem Rat und der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
- 19.
- Der Rat beantragt,
die Klage als offensichtlich unzulässig abzuweisen,
hilfsweise, die Klage als unbegründet abzuweisen,
der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.
- 20.
- Die Kommission beantragt,
die Klage als unzulässig oder unbegründet abzuweisen,
der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.
Zur Zulässigkeit
Vorbringen der Parteien
- 21.
- Die Beklagten erheben gegen die Klage drei Einreden der Unzulässigkeit, von
denen die ersten beiden von der Kommission und dem Rat, die dritte vom Rat
geltend gemacht wird.
- 22.
- Mit ihrer ersten Unzulässigkeitseinrede machen die Beklagten geltend, mit der
Klage solle die Haftung der Gemeinschaft für einen Schaden festgestellt werden,
der durch einen zwischen Mitgliedstaaten geschlossenen Vertrag verursacht worden
sei. Nach der Rechtsprechung (Urteile des Gerichtshofes vom 4. Februar 1975 in
der Rechtssache 169/73, Compagnie Continentale France/Rat, Slg. 1975, 117,
Randnr. 16, und vom 28. April 1988 in den verbundenen Rechtssachen 31/86 und
35/86, LAISA und CPC España/Rat, Slg. 1988, 2285, Randnrn. 18 bis 22), seien
Schadensersatzklagen, die auf den Ersatz von Schäden gerichtet seien, die durch
ein Abkommen zwischen Mitgliedstaaten oder durch die Gründungsverträge selbst
verursacht worden seien, unzulässig. Die vorliegende Klage ziele auf den Ersatz
eines durch die Anwendung der Einheitlichen Akte verursachten Schadens ab.
- 23.
- Mit ihrer zweiten Unzulässigkeitseinrede machen die Beklagten zum einen geltend,
die Klageschrift enthalte keine Angaben zum schädigenden Ereignis und erfülle
somit nicht das Erfordernis des Artikels 19 der EG-Satzung des Gerichtshofes und
des Artikels 44 Absatz 1 Buchstabe c der Verfahrensordnung des Gerichts. Der
Streitgegenstand sei somit nicht mit ausreichender Eindeutigkeit festgelegt. Zum
anderen enthalte die Klageschrift, soweit sie nicht ausschließlich gegen die
Einheitliche Akte gerichtet sei, keine Angaben über die Rechtsgrundlage.
- 24.
- In einer dritten Unzulässigkeitseinrede macht der Rat geltend, der behauptete
Schaden sei den Mitgliedstaaten zuzurechnen. Soweit die Klage nämlich dahin zu
verstehen sei, daß den Gemeinschaftsorganen der Vorwurf der Untätigkeit gemacht
werde, sei sie unzulässig, da der behauptete Schaden zumindest zu einem nicht
unerheblichen Teil den Mitgliedstaaten zuzurechnen sei und Artikel 215 Absatz 2
EG-Vertrag als Rechtsgrundlage der Klage nur erlaube, die Haftung der
Gemeinschaftsorgane und ihrer Bediensteten geltend zu machen.
- 25.
- Zur ersten Unzulässigkeitseinrede vertritt die Klägerin die Auffassung, die Klage
beziehe sich auf die Einheitliche Akte nicht als Quelle des der Klägerin unmittelbar
entstandenen Schadens, sondern als Rechtsnorm, deren Inkrafttreten für die
Gemeinschaftsorgane die Grundlage neuer Verpflichtungen zum Tätigwerden,
insbesondere zum Erlaß der geeigneten Ausgleichs- und Anpassungsmaßnahmen
zugunsten des Berufszweiges der Zollspediteure dargestellt habe. Diese
Maßnahmen seien nicht oder nur in unzureichendem Umfang getroffen worden.
- 26.
- Die zweite Unzulässigkeitseinrede könne nicht ernst gemeint sein. Die Beklagten
hätten das schädigende Ereignis durchaus erkannt und seien auf die von der
Klägerin erhobenen Rügen erschöpfend eingegangen.
- 27.
- Zur dritten Unzulässigkeitseinrede bezieht die Klägerin keine Stellung.
Würdigung durch das Gericht
- 28.
- Es ist angebracht, die zweite Unzulässigkeitseinrede vor der ersten und der dritten
zu prüfen.
Zur zweiten Unzulässigkeitseinrede
- 29.
- Nach Artikel 19 Absatz 1 der EG-Satzung des Gerichtshofes, der gemäß Artikel 46
Absatz 1 dieser Satzung auf das Gericht anwendbar ist, und nach Artikel 44 § 1Buchstabe c der Verfahrensordnung des Gerichts muß die Klageschrift den
Streitgegenstand und eine kurze Darstellung der Klagegründe enthalten. Diese
Darstellung muß aus sich selbst heraus hinreichend klar und deutlich sein, um dem
Beklagten die Vorbereitung seiner Verteidigung und dem Gericht die Ausübung
der richterlichen Kontrolle zu ermöglichen. Um die Rechtssicherheit und eine
ordnungsgemäße Rechtspflege zu gewährleisten, ist es für die Zulässigkeit einer
Klage daher erforderlich, daß sich die tatsächlichen und rechtlichen Umstände, auf
die sich die Klage stützt, zumindest in gedrängter Form, aber zusammenhängend
und verständlich unmittelbar aus der Klageschrift ergeben (Beschluß des Gerichts
vom 28. April 1993 in der Rechtssache T-85/92, De Hoe/Kommission, Slg. 1993,
II-523, Randnr. 20).
- 30.
- Eine Klage auf Ersatz der von einem Gemeinschaftsorgan verursachten Schäden
genügt diesen Erfordernissen nur, wenn sie Angaben enthält, anhand deren sich das
dem Organ vom Kläger vorgeworfene Verhalten bestimmen läßt, die Gründe
angibt, aus denen nach Auffassung des Klägers ein Kausalzusammenhang zwischen
dem Verhalten und dem angeblich erlittenen Schaden besteht, sowie Art und
Umfang dieses Schadens bezeichnet (Urteile des Gerichts vom 18. September 1996
in der Rechtssache T-387/94, Asia Motor France u. a./Kommission, Slg. 1996,
II-961, Randnr. 107, vom 6. Mai 1997 in der Rechtssache T-195/95, Guérin
automobiles/Kommission, Slg. 1997, II-679, Randnr. 21, und vom 10. Juli 1997 in
der Rechtssache T-38/96, Guérin automobiles/Kommission, Slg. II-1223,
Randnr. 42).
- 31.
- Die vorliegende Klageschrift genügt diesen Mindestanforderungen. Die Klage ist
offenkundig auf Feststellung der außervertraglichen Haftung der Gemeinschaft für
den behaupteten Schaden Verlust des Tätigkeitsbereichs „Zollspediteur“ der
Klägerin, der als Firmenwert zu qualifizieren wäre und die mit diesem Verlust
verbundenen außerordentlichen betrieblichen Aufwendungen, gerichtet. Dieser
angeblich durch den Verlust des Tätigkeitsbereichs „innergemeinschaftlicher
Zollspediteur“ entstandene Schaden sei der Gemeinschaft zuzurechnen. Diese habe
den behaupteten Schaden verursacht, indem sie zum einen aufgrund der
Einheitlichen Akte die Steuer- und Zollgrenzen abgeschafft und es zum anderen
unterlassen habe, geeignete Entschädigungs- und flankierende Maßnahmen zu
treffen, um die Auswirkungen dieser Abschaffung auf den fraglichen Berufszweig
zu mildern.
- 32.
- Die Gemeinschaft habe damit die Gleichheit vor den öffentlichen Lasten verletzt,
einen entschädigungspflichtigen enteignungsgleichen Eingriff begangen und
schließlich höherrangige, dem Schutz des einzelnen dienende Rechtsnormen,
nämlich den Grundsatz des Schutzes wohlerworbener Rechte und den Grundsatz
des Vertrauensschutzes, in hinreichend qualifizierter Weise verletzt.
- 33.
- Entgegen dem Vorbringen der Beklagten enthält die Klageschrift somit in formaler
Hinsicht ausreichende Angaben zum schädigenden Ereignis und zur
Rechtsgrundlage der Klage, so daß diese Unzulässigkeitseinrede nicht begründet
ist.
Zur ersten und zur dritten Unzulässigkeitseinrede
- 34.
- Diese beiden Unzulässigkeitseinreden werfen im wesentlichen die Frage auf, ob der
behauptete Schaden den Mitgliedstaaten oder aber den Gemeinschaftsorganen
zuzurechnen ist. Sie beziehen sich somit auf die Voraussetzungen der Haftung der
Gemeinschaft, d. h. den haftungsbegründenden Tatbestand und den
Kausalzusammenhang zwischen diesem Tatbestand und dem behaupteten Schaden.
Ihre Prüfung ist daher mit der Prüfung der Begründetheit der Klage verbunden.
Zur Begründetheit
- 35.
- Die Klägerin stützt ihre Klage in erster Linie auf die verschuldensunabhängige
Haftung der Gemeinschaft, hilfsweise auf die Verschuldenshaftung der
Gemeinschaft.
Zur verschuldensunabhängigen Haftung
Vorbringen der Parteien
- 36.
- Zur Stützung ihres Hauptvorbringens zur verschuldensunabhängigen Haftung der
Gemeinschaft bringt die Klägerin zwei Klagegründe vor.
- 37.
- Der erste Klagegrund ist auf das Rechtsinstitut des Verstoßes gegen die Gleichheit
vor den öffentlichen Lasten (rupture de l'égalité devant les charges publiques)
gestützt, das im französischen Verwaltungsrecht anerkannt sei. Danach könne
demjenigen, der den Nachweis erbringe, daß er einen anomalen, spezifischen und
unmittelbaren Schaden erlitten habe, ohne daß ein rechtswidriges Verhalten
vorliege, Entschädigung gewährt werden. Die Anwendung der Einheitlichen Akte
habe zum Nachteil der Klägerin gegen den Grundsatz der Gleichheit vor den
öffentlichen Lasten verstoßen und ihr einen anomalen, spezifischen und
unmittelbaren Schaden zugefügt. Die Anwendung der Einheitlichen Akte habe
nämlich zum Wegfall der spezifischen Tätigkeit des Zollspediteurs im
innergemeinschaftlichen Handelsverkehr und damit zu einem unwiderruflichen
Verlust des Firmenwerts der Klägerin sowie zu außerordentlichen betrieblichen
Aufwendungen im sozialen, technischen und administrativen Bereich geführt. Ein
unmittelbarer Kausalzusammenhang sei nach der Mitteilung der Kommission (S. 1
Absatz 3) und der Verordnung Nr. 3904/92 schwerlich zu bestreiten, in deren
fünfter Begründungserwägung es heiße: „Mit der Beseitigung der
Zollförmlichkeiten an den innergemeinschaftlichen Grenzen wird der
innergemeinschaftlichen Tätigkeit dieses Gewerbes ein jähes Ende bereitet.“
- 38.
- Der zweite Klagegrund geht auf den Begriff des enteignungsgleichen Eingriffs nach
deutschem Recht zurück. Die Anwendung der Einheitlichen Akte stelle der
Klägerin gegenüber einen enteignungsgleichen Eingriff dar. Generalanwalt Sir
Gordon Slynn habe in seinen Schlußanträgen in der Rechtssache 59/83 (Urteil des
Gerichtshofes vom 6. Dezember 1984, Biovilac/EWG, Slg. 1984, 4057, 4091)
festgestellt: „Sofern die Gemeinschaft überhaupt rechtmäßig Enteignungen
vornehmen könnte, [bestünde] ein Anspruch des Eigentümers auf Entschädigung;
eine solche Entschädigung könnte dann aufgrund einer Klage gemäß Artikel 215
Absatz 2 zugesprochen werden.“ Dieser Grundsatz sei auf die Klägerin anwendbar.
- 39.
- Die Beklagten halten den Hauptantrag für unbegründet.
Würdigung durch das Gericht
- 40.
- Nach Artikel 215 Absatz 2 EG-Vertrag ersetzt die Gemeinschaft im Bereich der
außervertraglichen Haftung den durch ihre Organe oder Bediensteten in Ausübung
ihrer Amtstätigkeit verursachten Schaden.
- 41.
- Das Primärrecht der Gemeinschaft besteht aus den Verträgen zur Gründung der
Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, der Europäischen Gemeinschaft
und der Europäischen Atomgemeinschaft sowie den Abkommen, die diese
Gründungsverträge ergänzt oder geändert haben, wie das Abkommen über
gemeinsame Organe für die Europäischen Gemeinschaften, die Verträge über den
Beitritt neuer Mitgliedstaaten, die Einheitliche Akte und der Vertrag über die
Europäische Union. Diese Verträge wurden von den Mitgliedstaaten geschlossen,
um die Europäischen Gemeinschaften zu errichten oder zu ändern. Die
Einheitliche Akte ist somit weder eine Handlung der Organe noch eine Handlung
ihrer Bediensteten. Demzufolge kann sie auch keine außervertragliche Haftung der
Gemeinschaft auslösen (Urteile Compagnie Continentale France/Rat, zitiert in
Randnr. 22, Randnr. 16, und LAISA und CPC España/Rat, zitiert in Randnr. 22,
Randnrn. 18 bis 22). Auch die Artikel 178 und 215 Absatz 2 EG-Vertrag, die die
außervertragliche Haftung der Gemeinschaft regeln, gehören zum Primärrecht. Die
Normenhierarchie bedingt jedoch, daß diese Bestimmungen nicht auf gleichrangige
Rechtsakte angewandt werden können, sofern dies nicht ausdrücklich vorgesehen
ist.
- 42.
- Es kann somit dahinstehen, ob die außervertragliche Haftung der Gemeinschaft
nach Gemeinschaftsrecht ohne Verschulden ausgelöst werden kann. Soweit die
Klage nämlich auf diese Grundlage gestützt ist, geht sie ungeachtet des Vorbringens
der Klägerin, der von ihr geltend gemachte Schaden habe seine Grundlage nicht
in der Einheitlichen Akte, sondern in der Untätigkeit der Gemeinschaftsorgane im
Zusammenhang mit dem Erlaß angemessener Ausgleichs- und
Anpassungsmaßnahmen, der Sache nach dahin, die Haftung der Gemeinschaft aus
der Einheitlichen Akte selbst abzuleiten.
- 43.
- Nur die Verwirklichung des Binnenmarktes mit der daraus folgenden Abschaffung
der Zoll- und Steuergrenzen, die zum faktischen Wegfall des fraglichen
Berufszweiges führt, konnte der Klägerin nämlich gegebenenfalls einen anomalen,
spezifischen und unmittelbaren Schaden zufügen; nur die Einführung des
Binnenmarktes konnte einen Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichheit vor den
öffentlichen Lasten oder einen enteignungsgleichen Eingriff darstellen und faktisch
zum völligen, endgültigen Wegfall dieses Tätigkeitsbereichs sowie zu den mit
diesem Wegfall verbundenen außerordentlichen betrieblichen Aufwendungen
führen.
- 44.
- Dafür spricht entscheidend, daß das Hauptvorbringen als Ursache für den geltend
gemachten Schaden die Abschaffung der Zoll- und Steuergrenzen aufgrund der
Einheitlichen Akte ansieht.
- 45.
- Die Klagegründe zur Stützung des auf die verschuldensunabhängige Haftung der
Gemeinschaft gestützten Hauptvorbringens beruhen somit auf dem Wegfall der
Zoll- und Steuergrenzen, der zum Wegfall des innergemeinschaftlichen
Tätigkeitsbereichs der Zollspediteure geführt hat. Dieser Kausalzusammenhang ist
umstritten. Er wird sowohl von der Klägerin in ihrer Klageschrift ausdrücklich
geltend gemacht als auch von der Kommission anerkannt und vom Rat in der
fünften Begründungserwägung der Verordnung Nr. 3904/92 festgestellt, der zufolge
die Beseitigung der Zollförmlichkeiten an den innergemeinschaftlichen Grenzen der
innergemeinschaftlichen Tätigkeit dieses Gewerbes ein jähes Ende bereitet.
- 46.
- Die Abschaffung der Zoll- und Steuergrenzen folgt unmittelbar aus Artikel 13 der
Einheitlichen Akte, nunmehr Artikel 7a EG-Vertrag, in dem es heißt: „Der
Binnenmarkt umfaßt einen Raum ohne Binnengrenzen.“ Sie ist daher eine
unmittelbare und notwendige Folge dieser Bestimmung. Der durch die Abschaffung
der Zoll- und Steuergrenzen bewirkte Schaden hat daher seine unmittelbare und
entscheidende Ursache in Artikel 13 der Einheitlichen Akte. Die
gemeinschaftlichen oder staatlichen Maßnahmen zur Durchführung der
einheitlichen Akte, durch die die Zoll- und Steuergrenzen abgeschafft wurden,
stellen hingegen keine selbständige Ursache des behaupteten Schadens dar.
- 47.
- Das auf eine verschuldensunabhängige Haftung der Gemeinschaft gestützte
Vorbringen ist folglich darauf gerichtet, deren Haftung für einen Schaden geltend
zu machen, der auf die Einheitliche Akte, einen Rechtsakt des primären
Gemeinschaftsrechts, zurückgeht. Diese Akte ist somit weder eine Handlung der
Gemeinschaftsorgane noch eine Handlung der Bediensteten der Gemeinschaft in
Ausübung ihrer Amtstätigkeit, so daß sie keine außervertragliche,
verschuldensunabhängige Haftung der Gemeinschaft begründen kann.
- 48.
- Das auf die verschuldensunabhängige Haftung der Gemeinschaft gestützte
Hauptvorbringen ist daher unzulässig.
Zur Verschuldenshaftung
Vorbringen der Parteien
- 49.
- Das auf die Verschuldenshaftung gestützte Hilfsvorbringen der Klägerin geht dahin,
die Beklagten hätten bei der Anwendung der Einheitlichen Akte sowie bei der
Prüfung der Maßnahmen, die wegen der Auswirkungen dieser Akte oder zur
Kontrolle einiger ihrer Folgen getroffen wurden, höherrangige, den einzelnen
schützende Rechtsnormen in hinreichend qualifizierter Weise verletzt. Die
Ausgleichsmaßnahmen der Gemeinschaft nach der Verordnung Nr. 3904/92 seien
unzureichend.
- 50.
- Bei den von den Beklagten mißachteten höherrangigen, den einzelnen schützenden
Rechtsnormen handele es sich um die Grundsätze des Schutzes wohlerworbener
Rechte und des Vertrauensschutzes.
- 51.
- Der Berufszweig der Zollspediteure sei gemeinschaftsrechtlich in der Verordnung
(EWG) Nr. 3632/85 des Rates vom 12. Dezember 1985 zur Festlegung der
Voraussetzungen, unter denen eine Person eine Zollanmeldung abgeben kann
(ABl. L 350, S. 1), als solcher anerkannt worden. Diese wohlerworbenen Rechte
seien nicht unmittelbar durch das Primärrecht der Gemeinschaft, sondern durch
Vorschriften des abgeleiteten Gemeinschaftsrechts zur Änderung u. a. der
Förmlichkeiten für die Mehrwertsteueranmeldung beeinträchtigt worden, die zur
Folge gehabt hätten, daß die berufliche Tätigkeit des Zollspediteurs im
innergemeinschaftlichen Handelsverkehr faktisch weggefallen sei.
- 52.
- Im vorliegenden Fall gebe es drei Verstöße gegen den Grundsatz des
Vertrauensschutzes. Erstens sei das Grundrecht der Klägerin auf Ausübung ihres
Berufes verletzt worden. Zweitens sei der Grundsatz durch das Fehlen von
Übergangsmaßnahmen verletzt worden, die es dem Berufszweig der Zollspediteure
erlaubt hätten, sich auf die Errichtung des Binnenmarktes ab 1. Januar 1993
vorzubereiten und umzustellen. Diese Unterlassung wiege besonders schwer, weil
der Berufszweig gesetzlich verpflichtet gewesen sei, seine Tätigkeit bis zu diesem
Zeitpunkt uneingeschränkt fortzusetzen. Drittens hätten die Gemeinschaftsorgane
es unter Mißachtung der berechtigten Erwartungen der Betroffenen unterlassen,geeignete Maßnahmen zum Ersatz des dem Berufszweig entstandenen besonderen
Schadens zu treffen. Es habe nämlich keine Anhaltspunkte dafür gegeben, daß die
Gemeinschaftsorgane beim Erlaß der für die Vollendung des Binnenmarktes
erforderlichen Maßnahmen keine spezifischen Entschädigungs- und flankierenden
Maßnahmen treffen würden.
- 53.
- Die Beklagten halten den zweiten Klagegrund für unbegründet.
Würdigung durch das Gericht
- 54.
- Nach ständiger Rechtsprechung setzt die Haftung der Gemeinschaft die
Rechtswidrigkeit des dem Organ vorgeworfenen Verhaltens, das Vorliegen eines
Schadens und das Bestehen eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen dem
Verhalten und dem geltend gemachten Schaden voraus (Urteile des Gerichtshofes
vom 29. September 1982 in der Rechtssache 26/81, Oleifici Mediterranei/EWG,
Slg. 1982, 3057, Randnr. 16, und des Gerichts vom 13. Dezember 1995 in den
verbundenen Rechtssachen T-481/93 und T-484/93, Exporteurs in Levende Varkens
u. a./Kommission, Slg. 1995, II-2941, Randnr. 80, vom 11. Juli 1996 in der
Rechtssache T-175/94, International Procurement Services/Kommission, Slg. 1996,
II-729, Randnr. 44, vom 16. Oktober 1996 in der Rechtssache T-336/94,
Efisol/Kommission, Slg. 1996, II-1343, Randnr. 30, sowie vom 11. Juli 1997 in der
Rechtssache T-267/94, Oleifici Italiani/Kommission, Slg. 1997, II-1239, Randnr. 20).
- 55.
- Im vorliegenden Fall fehlt es unter zwei Gesichtspunkten am rechtswidrigen
Verhalten.
- 56.
- Zum einen können Unterlassungen der Gemeinschaftsorgane die Haftung der
Gemeinschaft nur dann begründen, wenn die Organe gegen eine Rechtspflicht zum
Handeln verstoßen haben, die sich aus einer Gemeinschaftsvorschrift ergibt (Urteil
des Gerichtshofes vom 15. September 1994 in der Rechtssache C-146/91,
KYDEP/Rat und Kommission, Slg. 1994, I-4199, Randnr. 58, und Urteil Oleifici
Italiani/Kommission, zitiert in Randnr. 54, Randnr. 21).
- 57.
- Somit stellt sich die Frage, auf welcher Rechtsgrundlage und inwieweit die
Gemeinschaft zum Handeln, d. h. zur Entschädigung der Klägerin verpflichtet sein
sollte. Eine solche Verpflichtung ergibt sich weder aus der Einheitlichen Akte selbst
noch aus irgendeiner anderen ausdrücklichen Bestimmung des geschriebenen
Gemeinschaftsrechts. Dahinstehen kann im vorliegenden Fall auch, ob es einen
allgemeinen, im Wege der Klage nach Artikel 215 Absatz 2 EG-Vertrag zu
erzwingenden Rechtsgrundsatz gibt, daß die Gemeinschaft denjenigen zu
entschädigen hat, gegen den eine enteignende Maßnahme oder eine Maßnahme
ergangen ist, durch die seine Freiheit, von seinem Eigentum Gebrauch zu machen,
eingeschränkt wird. Eine solche Entschädigungspflicht ist nämlich nur im Hinblick
auf enteignende Maßnahmen der Gemeinschaftsorgane selbst vorstellbar; die
Gemeinschaft kann keine Pflicht zur Entschädigung für Handlungen treffen, die ihr
nicht zuzurechnen sind. Wie bereits ausgeführt, ist der Wegfall des Berufszweigs
des innergemeinschaftlichen Zollspediteurs ein Ergebnis der Einheitlichen Akte,
eines von den Mitgliedstaaten ausgehandelten und gebilligten völkerrechtlichen
Vertrages. Die Voraussetzungen einer Haftung der Gemeinschaft sind daher nicht
erfüllt. Allerdings mag sich eine Entschädigungspflicht gegebenenfalls aus dem
innerstaatlichen Recht des Mitgliedstaats ergeben, in dessen Hoheitsgebiet der
innergemeinschaftliche Zollagent oder -spediteur seine Tätigkeit ausgeübt hat.
- 58.
- Selbst wenn zum anderen im vorliegenden Fall gegen eine gesetzliche Pflicht zum
Handeln verstoßen worden wäre, wäre dieser Verstoß unter den gegebenen
Umständen gewiß nicht geeignet, die Haftung der Gemeinschaft auszulösen.
- 59.
- Betrifft der vorgeworfene Rechtsverstoß eine generelle Rechtsnorm, so haftet die
Gemeinschaft nur bei Verletzung einer höherrangigen, den einzelnen schützenden
Rechtsnorm. Wenn das Organ die Handlung in Ausübung eines weiten Ermessens
erlassen hat, setzt die Haftung der Gemeinschaft weiter voraus, daß eine
qualifizierte, nämlich eine offenkundige und schwerwiegende Verletzung vorliegt
(vgl. z. B. Urteile des Gerichtshofes vom 2. Dezember 1971 in der Rechtssache
5/71, Schöppenstedt/Rat, Slg. 1971, 975, Randnr. 11, vom 25. Mai 1978 in den
verbundenen Rechtssachen 83/76 und 94/76, 4/77, 15/77 und 40/77, HNL u. a./Rat
und Kommission, Slg. 1978, 1209, Randnr. 6, vom 19. Mai 1992 in den verbundenen
Rechtssachen C-104/89 und C-37/90, Mulder u. a./Rat und Kommission, Slg. 1992,
I-3061, Randnr. 12, und Urteile des Gerichts vom 6. Juli 1995 in der Rechtssache
T-572/93, Odigitria/Rat und Kommission, Slg. 1995, II-2025, Randnr. 34, Exporteurs
in Levende Varkens u. a./Kommission, zitiert in Randnr. 54, Randnr. 81, und
Oleifici Italiani/Kommission, zitiert in Randnr. 54, Randnr. 22).
- 60.
- Diese Kriterien gelten auch im Fall einer rechtswidrigen Unterlassung (Urteile des
Gerichtshofes vom 8. Dezember 1987 in der Rechtssache 50/86, Grands Moulins
de Paris/EWG, Slg. 1987, 4833, Randnrn. 9 und 16, und des Gerichts vom
14. September 1995 in der Rechtssache T-571/93, Lefebvre u. a./Kommission, Slg.
1995, II-2379, Randnr. 39).
- 61.
- Die vorliegende Klage ist auf Ersatz eines Schadens gerichtet, der mit angeblich
unzureichenden Maßnahmen der Gemeinschaft zugunsten des Berufszweigs der
Zollspediteure anläßlich der Schaffung des Binnenmarktes in Zusammenhang steht.
Sie betrifft also offensichtlich generelle Rechtsnormen, die auf wirtschaftspolitischen
Entscheidungen beruhen und bei denen den Gemeinschaftsorganen ein weites
Ermessen zukommt.
- 62.
- Daher ist zunächst zu prüfen, ob die Beklagten eine höherrangige, den einzelnen
schützende Rechtsnorm verletzt haben, und sodann gegebenenfalls, ob diese
Verletzung hinreichend qualifiziert war.
- 63.
- Was den Grundsatz des Schutzes wohlerworbener Rechte angeht, so harmonisiert
die von der Klägerin angeführte Verordnung Nr. 3632/85 lediglich die
Voraussetzungen, unter denen eine Person eine Zollerklärung abgeben kann. In der
Verordnung heißt es zum einen, die Voraussetzungen, unter denen eine Person
diese Zollanmeldung abgeben könne, seien von einem Mitgliedstaat zum anderen
sehr verschieden, vor allem hinsichtlich der Möglichkeit, eine Zollanmeldung für
fremde Rechnung abzugeben (zweite Begründungserwägung), zum anderen, daß
in bestimmten Mitgliedstaaten eine Regelung bestehe, die die Ausübung des
Berufes, Zollanmeldungen entweder in fremdem Namen oder im eigenen Namen,
aber für fremde Rechnung abzugeben, nur Personen gestatte, die bestimmte
Voraussetzungen erfüllten (sechste Begründungserwägung); die Verordnung stehe
dieser Regelung nicht entgegen, soweit diese den Zugang zu einem bestimmtem
Beruf und seine Ausübung betreffe (sechste Begründungserwägung).
- 64.
- Die Verordnung Nr. 3632/85 regelt somit keineswegs die Tätigkeit der Zollagenten
und -spediteure gemeinschaftsrechtlich, sondern läßt nur die einschlägigen
Regelungen in den einzelnen Mitgliedstaaten bestehen. Ein etwaiges
wohlerworbenes Recht beruht also nicht auf der Verordnung Nr. 3632/85, sondern
allenfalls auf den einschlägigen Regelungen einiger Mitgliedstaaten, die es durch
die Unterzeichnung und gegebenenfalls durch die Ratifikation der Einheitlichen
Akte beeinträchtigt haben. So hat die Klägerin darauf hingewiesen, daß ihr
aufgrund des französischen Zollgesetzbuchs in Frankreich die ministerielle
Erlaubnis erteilt worden sei, das zuletzt durch französischen Erlaß vom
24. Dezember 1986 geregelte Gewerbe des zugelassenen Zollspediteurs
auszuüben.
- 65.
- Die Verordnung Nr. 3632/85 hat demgemäß der Klägerin keinen Vorteil verschafft,
der als wohlerworbenes Recht einzustufen wäre.
- 66.
- Zum anderen können die Wirtschaftsteilnehmer in Fällen, in denen die
Gemeinschaftsbehörden über einen weiten Ermessensspielraum verfügen, kein
wohlerworbenes Recht auf Beibehaltung eines Vorteils geltend machen, der ihnen
aus der fraglichen Gemeinschaftsregelung zu einem bestimmten Zeitpunkt erwächst
(vgl. z. B. Urteile des Gerichtshofes vom 27. September 1979 in der Rechtssache
230/78, Eridania, Slg. 1979, 2749, Randnr. 22, Biovilac/EWG, zitiert in Randnr. 38,
Randnr. 23, vom 21. Mai 1987 in den verbundenen Rechtssachen 133/85, 134/85,
135/85 und 136/85, Rau, Slg. 1987, 2289, Randnr. 18, und vom 7. Mai 1991 in der
Rechtssache C-69/89, Nakajima All Precision/Rat, Slg. 1991, I-2069, Randnr. 119).
- 67.
- Folglich kann die Klägerin unterstellt, die Verordnung Nr. 3632/85 habe
tatsächlich dem Berufszweig der Zollagenten und -spediteure einen besonderen
Vorteil gewährt gleichwohl nicht mit Erfolg ein wohlerworbenes Recht auf
Beibehaltung dieses Vorteils geltend machen, da die Gemeinschaftsorgane
berechtigt sind, die Regelungen erforderlichenfalls den Entwicklungen anzupassen.
Diese Anpassungsbefugnis der Organe liegt im vorliegenden Fall besonders klar zu
Tage, weil die Vollendung des Binnenmarktes wie sich aus der ersten
Begründungserwägung der Verordnung Nr. 3904/92 ergibt ein grundlegendes Ziel
im Hinblick auf die Entwicklung der Gemeinschaft darstellt.
- 68.
- Auf den Grundsatz des Vertrauensschutzes kann sich jeder berufen, bei dem die
Gemeinschaftsverwaltung begründete Hoffnungen geweckt hat (vgl. z. B. Urteil
Exporteurs in Levende Varkens u. a./Kommission, zitiert in Randnr. 54,
Randnr. 148). Dagegen kann eine Verletzung des Grundsatzes des
Vertrauensschutzes nicht geltend machen, wem die Verwaltung keine bestimmten
Zusicherungen gegeben hat (vgl. z. B. Urteil Lefebvre u. a./Kommission, zitiert in
Randnr. 60, Randnr. 72).
- 69.
- Im vorliegenden Fall hat die Klägerin keinen Anhaltspunkt vorgetragen, der
belegen würde oder auch nur dafür spräche, daß die Gemeinschaftsorgane bei ihr
begründete Hoffnungen auf geeignete Ausgleichs- und Anpassungsmaßnahmen
geweckt hätten.
- 70.
- Die Klägerin verweist lediglich in der Klageschrift auf die berechtigte Erwartung
des gesamten Berufszweigs und in der Erwiderung darauf, daß es keine
Anhaltspunkte dafür gegeben habe, daß die Gemeinschaftsorgane beim Erlaß der
für die Vollendung des Binnenmarktes erforderlichen Maßnahmen nicht die
besonderen Entschädigungs- und flankierenden Maßnahmen treffen würden. Sie
kann also offensichtlich nicht nachweisen, daß die Beklagten bei ihr begründete
Hoffnungen darauf geweckt hätten, daß sie die zur Verwirklichung des
Binnenmarktes erforderlichen Maßnahmen nicht ergreifen oder Ausgleichs- oder
flankierende Maßnahmen erlassen würden.
- 71.
- Das auf einen Verstoß gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes gestützte
Vorbringen ist daher unbegründet.
- 72.
- Unbegründet ist auch das Vorbringen der Klägerin, das Grundrecht auf freie
Berufsausübung sei verletzt worden, was einen Verstoß gegen den Grundsatz des
Vertrauensschutzes begründe.
- 73.
- Die Grundrechte gehören zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, die die
Gemeinschaftsgerichte zu wahren haben. Bei der Gewährleistung dieser Rechte
haben sie von den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten
auszugehen, so daß in der Gemeinschaft keine Maßnahmen als rechtens anerkannt
werden können, die mit den von den Verfassungen dieser Staaten geschützten
Grundrechten unvereinbar sind. Auch die völkerrechtlichen Verträge über den
Schutz der Menschenrechte, die die Mitgliedstaaten gschlossen haben oder denen
sie beigetreten sind, können Hinweise geben, die im Rahmen des
Gemeinschaftsrechts zu berücksichtigen sind (Urteil des Gerichtshofes vom
13. Dezember 1979 in der Rechtssache 44/79, Hauer, Slg. 1979, 3727, Randnr. 15,
und Gutachten 2/94 des Gerichtshofes vom 28. März 1996, Slg. 1996, I-1759,
Randnr. 33).
- 74.
- Das Recht der freien Berufsausübung gehört zu den allgemeinen Grundsätzen des
Gemeinschaftsrechts. Dieser Grundsatz kann jedoch keine uneingeschränkte
Geltung beanspruchen, sondern muß im Hinblick auf seine gesellschaftliche
Funktion gesehen werden. Folglich kann die freie Berufsausübung Beschränkungen
unterworfen werden, sofern diese Beschränkungen tatsächlich dem Gemeinwohl
dienenden Zielen der Gemeinschaft entsprechen und nicht einen im Hinblick auf
den verfolgten Zweck unverhältnismäßigen, nicht tragbaren Eingriff darstellen, der
das so gewährleistete Recht in seinem Wesensgehalt antastet (Urteile des
Gerichtshofes vom 11. Juli 1989 in der Rechtssache 265/87, Schräder, Slg. 1989,
2237, Randnr. 15, vom 30. Juli 1996 in der Rechtssache C-84/95, Bosphorus, Slg.
1996, I-3953, Randnr. 21, und des Gerichts vom 15. April 1997 in der Rechtssache
T-390/94, Schröder u. a./Kommission, Slg. 1997, II-504, Randnr. 125).
- 75.
- Im vorliegenden Fall tastet die Verwirklichung des Binnenmarktes die Existenz des
Unternehmens der Klägerin oder den Wesensgehalt ihrer freien Berufswahl nicht
an. Sie beeinträchtigt ein entsprechendes Recht nur mittelbar, nicht unmittelbar,
da die Abschaffung bestimmter Zoll- und Steuerformalitäten, die sie mit sich bringt,
sich zunächst darauf auswirkt, ob die Klägerin ihr Unternehmen betreiben kann,
und nur auf diesem Wege auch auf ihre Berufsausübung. Die Verwirklichung des
Binnenmarktes ist ein Ziel, das offensichtlich dem Gemeinwohl dient. In
Anbetracht dessen bringt sie keine unbillige Einschränkung der Ausübung des
betreffenden Grundrechts mit sich.
- 76.
- Nach alledem ist keiner der von der Klägerin angeführten höherrangigen
Rechtsgrundsätze verletzt.
- 77.
- Schließlich stellte die angebliche Untätigkeit im Zusammenhang mit dem Erlaß vonAusgleichs- und flankierenden Maßnahmen unterstellt, sie läge vor und wäre
rechtswidrig gleichwohl zweifelsfrei keine schwerwiegende und offensichtliche
Verletzung der fraglichen Grundsätze dar. Zum einen haben die Beklagten nämlich
bei der Durchführung des Binnenmarktes und damit bei der Berücksichtigung der
mit ihm möglicherweise verbundenen nachteiligen Auswirkungen ein weites
Ermessen, zum anderen haben sie mit der Verordnung Nr. 3904/92 vielfältige
Maßnahmen getroffen. Zudem wird in der achten Begründungserwägung dieser
Verordnung eigens darauf hingewiesen, daß es sich hierbei lediglich um ergänzende
Gemeinschaftsmaßnahmen handelt, die die Bemühungen der Mitgliedstaaten
wirkungsvoll unterstützen sollen. Wie sich nämlich aus der sechsten
Begründungserwägung der Verordnung Nr. 3632/85 ergibt, hatten einige
Mitgliedstaaten, darunter Frankreich, eine besondere Regelung für den Berufszweig
des Zollagenten oder -spediteurs, die das Gemeinschaftsrecht, in diesem Fall die
Verordnung Nr. 3632/85, nur bestehen ließ. Ohne daß die Frage der Subsidiarität
angesprochen werden müßte, ergibt sich hieraus klar, daß es in erster Linie Sache
der betreffenden Mitgliedstaaten ist, die durch die Annahme der Einheitlichen
Akte den angeblichen Schaden verursacht haben, gegebenenfalls Ausgleichs- oder
flankierende Maßnahmen zu treffen. Im Licht der Rolle, die die Mitgliedstaaten
hier gespielt haben, ist die Gemeinschaft in ausreichendem Umfang tätig geworden,
selbst wenn sie zum Handeln verpflichtet war.
- 78.
- Das auf die Verschuldenshaftung gegründete Hilfsvorbringen ist folglich
unbegründet. Aufgrund all dessen ist die Klage insgesamt abzuweisen.
Kosten
- 79.
- Nach Artikel 87 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag
zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Klägerin mit ihrem Vorbringen
unterlegen ist, sind ihr entsprechend dem Antrag der Kommission und des Rates
die Kosten aufzuerlegen.
Aus diesen Gründen
hat
DAS GERICHT (Fünfte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.
García-ValdecasasAzizi
Jaeger
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Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 29. Januar 1998.
Der Kanzler
Der Präsident
H. Jung
J. Azizi