URTEIL DES GERICHTSHOFES (Zweite Kammer)
29. April 1999 (1)
„Freier Dienstleistungsverkehr Beschränkung Bootsliegeplätze
Beschränkung für Bootseigner mit Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat“
In der Rechtssache C-224/97
betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 177 EG-Vertrag vom österreichischen
Verwaltungsgerichtshof in dem bei diesem anhängigen Verfahren
Erich Ciola
gegen
Land Vorarlberg
vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung der Artikel 59 bis
66 in Verbindung mit Artikel 5 EG-Vertrag und Artikel 2 der Akte über die
Bedingungen des Beitritts der Republik Österreich, der Republik Finnland und des
Königreichs Schweden und die Anpassungen der die Europäische Union
begründenden Verträge (ABl. 1994, C 241, S. 21; ABl. 1995, L 1, S. 1)
erläßt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten G. Hirsch (Berichterstatter) sowie der
Richter R. Schintgen und K. M. Ioannou,
Generalanwalt: J. Mischo
Kanzler: H. A. Rühl, Hauptverwaltungsrat
unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen
der österreichischen Regierung, vertreten durch Christine Stix-Hackl,
Gesandte im Bundesministerium für auswärtige Angelegenheiten, als
Bevollmächtigte,
der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch
Hauptrechtsberater Antonio Caeiro und Rechtsberater Viktor Kreuschitz
als Bevollmächtigte,
aufgrund des Sitzungsberichts,
nach Anhörung der mündlichen Ausführungen des Erich Ciola, vertreten durch
Rechtsanwalt Harald Bösch, Bregenz, des Landes Vorarlberg, vertreten durch Peter
Bußjäger, Jurist in der Abteilung Gesetzgebung beim Amt der Vorarlberger
Landesregierung, und Martina Büchel, Interimistische Leiterin der Abteilung
Europaangelegenheiten und Außenbeziehungen beim Amt der Vorarlberger
Landesregierung, als Bevollmächtigte, der österreichischen Regierung, vertreten
durch Christine Stix-Hackl, und der Kommission, vertreten durch Viktor Kreuschitz,
in der Sitzung vom 12. November 1998,
nach Anhörung der Schlußanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 10.
Dezember 1998,
folgendes
Urteil
- 1.
- Der Verwaltungsgerichtshof hat mit Beschluß vom 26. Mai 1997, bei der Kanzlei
des Gerichtshofes eingegangen am 16. Juni 1997, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag
zwei Fragen nach der Auslegung der Artikel 59 bis 66 in Verbindung mit Artikel
5 EG-Vertrag und Artikel 2 der Akte über die Bedingungen des Beitritts der
Republik Österreich, der Republik Finnland und des Königreichs Schweden und
die Anpassungen der die Europäische Union begründenden Verträge (ABl. 1994,
C 241, S. 21; ABl. 1995, L 1, S. 1; im folgenden: Beitrittsakte) zur
Vorabentscheidung vorgelegt.
- 2.
- Diese Fragen stellen sich in einem Verfahren über die Beschwerde von Erich Ciola
(im folgenden: Beschwerdeführer), mit der sich dieser dagegen wendet, daß gegen
ihn Geldstrafen mit der Begründung verhängt wurden, er habe das zulässige
Kontingent an Liegeplätzen im Uferbereich des Bodensees für Boote, deren Eigner
ihren Wohnsitz im Ausland hätten, überschritten.
- 3.
- Der Beschwerdeführer ist Geschäftsführer u. a. der ABC-Boots-Charter GmbH. Im
Jahr 1990 pachtete diese Gesellschaft einige im Uferbereich des Bodensees
belegene Grundstücke. Sie erhielt die Genehmigung, dort 200 Bootsliegeplätze zu
errichten.
- 4.
- Auf den Antrag des Beschwerdeführers richtete die Bezirkshauptmannschaft
Bregenz (erstinstanzliche Verwaltungsbehörde des Landes Vorarlberg) am 9.
August 1990 an diesen einen Bescheid, in dessen Punkt 2 es heißt:
„Ab 1.1.1996 dürfen maximal 60 Boote, deren Eigner ihren Wohnsitz im Ausland
haben, im Hafen untergebracht werden. Bis zu diesem Zeitpunkt ist der Anteil der
Boote mit Eignern, die ihren Wohnsitz im Ausland haben, kontinuierlich zu
verringern. Die Neuvergabe von Liegeplätzen an Bootseigner mit Wohnsitz im
Ausland bzw. die Verlängerung abgelaufener Bestandsverträge mit solchen
Bootseignern ist bis zum Erreichen des festgelegten maximalen
Ausländerkontingentes nicht gestattet ...“
- 5.
- Nach § 4 Absatz 1 Satz 1 des Vorarlberger Landschaftsschutzgesetzes ist im
Bereich von Seen und eines sich daran anschließenden 500 m breiten Uferstreifens,
gerechnet bei mittlerem Wasserstand, jegliche Veränderung in der Landschaft
verboten.
- 6.
- Nach Absatz 2 dieser Bestimmung kann die Verwaltungsbehörde jedoch
Ausnahmen von diesem Verbot bewilligen, wenn die Gewähr besteht, daß durch
solche Veränderungen Landschaftsschutzinteressen nicht verletzt und insbesondere
die Sicht auf Seen nicht erschwert wird oder wenn diese Veränderungen aus
Gründen der öffentlichen Sicherheit geboten sind.
- 7.
- Mit Bescheid vom 10. Juli 1996 wurde der Beschwerdeführer vom Unabhängigen
Verwaltungssenat des Landes Vorarlberg für schuldig erkannt, als Geschäftsführer
der genannten Gesellschaft zwei Bootsliegeplätze an Bootseigner mit Wohnsitz im
Ausland, nämlich im Fürstentum Liechtenstein und in der Bundesrepublik
Deutschland, vergeben zu haben, obwohl das zulässige Ausländerkontingent von 60
Liegeplätzen bereits überschritten gewesen sei.
- 8.
- Demgemäß wurde gegen den Beschwerdeführer wegen Nichteinhaltung von Punkt
2 des Bescheids vom 9. August 1990 und damit wegen Begehung einer
Verwaltungsübertretung nach § 34 Absatz 1 Buchstabe f des
Landschaftsschutzgesetzes für jede dieser beiden Übertretungen eine Geldbuße von
75 000 ATS verhängt.
- 9.
- Da der Verwaltungsgerichtshof der Auffassung ist, daß die vom Beschwerdeführer
gegen diese Geldstrafen eingelegte Beschwerde Fragen nach der Auslegung des
Gemeinschaftsrechts aufwerfe, hat er das Verfahren ausgesetzt und dem
Gerichtshof die folgenden beiden Fragen vorgelegt:
1. Sind die Vorschriften über die Freiheit des Dienstleistungsverkehrs dahin
auszulegen, daß sie einen Mitgliedstaat daran hindern, dem Betreiber eines
Bootshafens bei sonstiger Strafverfolgung zu verbieten, Bootsliegeplätze
über ein bestimmtes Kontingent hinaus an Bootseigner zu vermieten, die in
einem anderen Mitgliedstaat ansässig sind?
2. Räumt das Gemeinschaftsrecht, insbesondere die Vorschriften über die
Freiheit des Dienstleistungsverkehrs in Verbindung mit Artikel 5 EG-Vertrag und Artikel 2 der Akte über die Bedingungen des Beitritts der
Republik Österreich, der Republik Finnland und des Königreichs Schweden
und die Anpassungen der die Europäische Union begründenden Verträge
(ABl. 1994, Nr. C 241, S. 21; ABl. 1995, Nr. L 1, S. 1), dem in Österreich
ansässigen Erbringer der in Frage 1 erwähnten Dienstleistung das Recht ein,
geltend zu machen, das im Sinne von Frage 1 erlassene, in einer im Jahre
1990 ergangenen individuell-konkreten Verwaltungsentscheidung (Bescheid)
bestehende Verbot müsse bei nach dem 1. Januar 1995 ergehenden
Entscheidungen der österreichischen Gerichte und Behörden unangewendet
bleiben?
Zur ersten Frage
- 10.
- Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die
Vertragsbestimmungen über den freien Dienstleistungsverkehr dahin auszulegen
sind, daß sie es nicht zulassen, daß ein Mitgliedstaat für Bootsliegeplätze, die an in
einem anderen Mitgliedstaat ansässige Bootseigner vermietet werden können, ein
zulässiges Kontingent festlegt.
- 11.
- Zutreffend hat das vorlegende Gericht ausgeführt, daß sich zum einen ein
Unternehmen gegenüber dem Staat, in dem es seinen Sitz hat, auf die Freiheit des
Dienstleistungsverkehrs berufen kann, sofern die Leistungen an Leistungsempfänger
erbracht werden, die in einem anderen Mitgliedstaat ansässig sind (Urteil vom 17.
Juni 1997 in der Rechtssache C-70/95, Sodemare u. a., Slg. 1997, I-3395, Randnr.
37); zum anderen schließt nach den Urteilen vom 31. Januar 1984 in den
verbundenen Rechtssachen 286/82 und 26/83 (Luisi und Carbone, Slg. 1984, 377,
Randnr. 16) und vom 2. Februar 1989 in der Rechtssache 186/87 (Cowan, Slg.
1989, 195, Randnr. 15) der freie Dienstleistungsverkehr die Freiheit der
Leistungsempfänger ein, sich zur Inanspruchnahme einer Dienstleistung in einen
anderen Mitgliedstaat zu begeben, ohne durch Beschränkungen daran gehindert zu
werden.
- 12.
- Daher fällt eine Leistung, wie sie die Gesellschaft, deren Geschäftsführer der
Beschwerdeführer ist, aufgrund eines Vertrages über die Vermietung eines
Bootsliegeplatzes einem in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Bootseigner
erbringt, der Adressat und Empfänger dieser Leistung in einem anderen
Mitgliedstaat ist als dem, in dem er ansässig ist, unter die Artikel 59 bis 66 des
Vertrages.
- 13.
- Unter diesen Umständen verstößt eine Beschränkung der Zahl der Liegeplätze wie
die im Ausgangsverfahren fragliche gegen das in Artikel 59 Absatz 1 des Vertrages
vorgesehene Verbot jeglicher auch mittelbaren Diskriminierung am Ort des
Leistungserbringers.
- 14.
- Zwar wird die Beschränkung der Zahl der Liegeplätze, die an gebietsfremde
Bootseigner vergeben werden können, nicht auf deren Staatsangehörigkeit gestützt
so daß sie nicht als unmittelbare Diskriminierung angesehen werden kann ;
entscheidendes Kriterium für diese Beschränkung ist jedoch der Ort, an dem diese
Bootseigner ihren Wohnsitz haben. Nach ständiger Rechtsprechung besteht aber
bei einer nationalen Rechtsvorschrift, die eine Unterscheidung aufgrund des
Kriteriums des Wohnsitzes trifft, die Gefahr, daß sie sich hauptsächlich zum
Nachteil der Angehörigen anderer Mitgliedstaaten auswirkt, da Gebietsfremde
meist Ausländer sind (vgl. Urteil vom 7. Mai 1998 in der Rechtssache C-350/96,
Clean Car Autoservice, Slg. 1998, I-2521, Randnr. 29).
- 15.
- Um die Kontingentierung der Liegeplätze, die Staatsangehörigen anderer
Mitgliedstaaten vorbehalten sind, durch zwingende Gründe des Gemeinwohls zu
rechtfertigen, hat das Land Vorarlberg in der Sitzung auf die Notwendigkeit
hingewiesen, den Zugang zu diesen Liegeplätzen ortsansässigen Bootseignern
vorzubehalten, da die Liegeplätze sonst von in anderen Mitgliedstaaten ansässigen
Personen, die zur Zahlung höherer Mieten bereit wären, in Beschlag genommen
würden. Da die Gesamtzahl der verfügbaren Liegeplätze aus Gründen des
Umweltschutzes begrenzt sei, würde eine Aufhebung dieser Kontingentierung den
Druck auf die Behörden des Landes Vorarlberg erhöhen.
- 16.
- Innerstaatliche Vorschriften, die nicht unterschiedslos auf alle Dienstleistungen
ohne Rücksicht auf den Wohnsitz des Empfängers anwendbar und somit
diskriminierend sind, lassen sich mit dem Gemeinschaftsrecht nur dann vereinbaren,
wenn sie unter eine ausdrücklich abweichende Bestimmung, wie z. B. Artikel 56
EWG-Vertrag, fallen (vgl. Urteil vom 26. April 1988 in der Rechtssache 352/85,
Bond van Adverteerders u. a., Slg. 1988, 2085, Randnr. 32); wirtschaftliche Ziele
können jedoch keine Gründe der öffentlichen Ordnung im Sinne dieses Artikels
sein (Urteil vom 25. Juli 1991 in der Rechtssache C-288/89, Collectieve
Antennevoorziening Gouda, Slg. 1991, I-4007, Randnr. 11).
- 17.
- Da das Land Vorarlberg für die Kontingentierung der Liegeplätze für
gebietsfremde Bootseigner keine Gründe der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder
Gesundheit, sondern wirtschaftliche Gründe angeführt hat, die die ortsansässigen
Bootseigner begünstigen, greift Artikel 56 des Vertrages nicht ein; zu prüfen ist
daher, ob das Land Vorarlberg aufgrund einer Ausnahmeregelung in der
Beitrittsakte Maßnahmen wie die im Ausgangsverfahren fragliche Kontingentierung
treffen konnte, um den Zustrom von Bootseignern aus anderen Mitgliedstaaten zu
begrenzen.
- 18.
- Insoweit genügt es, darauf hinzuweisen, daß Artikel 70 der Beitrittsakte eine
befristete Abweichung nur für die bestehenden Rechtsvorschriften betreffend
Zweitwohnungen vorsieht.
- 19.
- Daher verstößt die Festlegung eines Kontingents durch einen Mitgliedstaat, das die
Zahl der Liegeplätze begrenzt, die an Bootseigner mit Wohnsitz in einem anderen
Mitgliedstaat vermietet werden können, gegen den Grundsatz des freien
Dienstleistungsverkehrs.
- 20.
- Infolgedessen ist auf die erste Frage zu antworten, daß Artikel 59 des Vertrages
dahin auszulegen ist, daß er es nicht zuläßt, daß ein Mitgliedstaat dem Betreiber
eines Bootshafens unter Androhung der Strafverfolgung verbietet, Bootsliegeplätze
über ein bestimmtes Kontingent hinaus an Bootseigner zu vermieten, die in einem
anderen Mitgliedstaat ansässig sind.
Zur zweiten Frage
- 21.
- Mit seiner zweiten Frage möchte der Verwaltungsgerichtshof im wesentlichen
wissen, ob ein gegen die Dienstleistungsfreiheit verstoßendes Verbot, das vor dem
Beitritt eines Mitgliedstaats zur Europäischen Union nicht durch eine generell-abstrakte Rechtsvorschrift, sondern durch eine individuell-konkrete, bestandskräftig
gewordene Verwaltungsentscheidung eingeführt wurde, bei der Beurteilung derRechtmäßigkeit einer Geldstrafe, die nach dem Zeitpunkt des Beitritts wegen der
Nichtbeachtung dieses Verbots verhängt wurde, unangewendet bleiben muß.
- 22.
- Aus der Begründung des Vorlagebeschlusses ergibt sich, daß der
Verwaltungsgerichtshof in einem Fall der Nichtbeachtung generell-abstrakter
Normen, die mit einem Grundprinzip des Vertrages unvereinbar sind, diese
Normen unter Zugrundelegung des Urteils des Gerichtshofes vom 9. März 1978 in
der Rechtssache 106/77 (Simmenthal, Slg. 1978, 629) zugunsten des
Gemeinschaftsrechts unangewendet gelassen hätte.
- 23.
- Das vorlegende Gericht meint jedoch, da Rechtsprechung bisher nur zur Frage des
Vorrangs des Gemeinschaftsrechts vor generellen Normen des innerstaatlichen
Rechts vorliege, stelle sich die Frage, ob dies auch für eine
gemeinschaftsrechtswidrige individuell-konkrete Verwaltungsentscheidung wie den
Bescheid vom 9. August 1990 gelte, um den es im Ausgangsverfahren gehe.
- 24.
- Nach Ansicht der österreichischen Regierung besteht kein Anlaß, die
Rechtsprechung zum Vorrang des Gemeinschaftsrechts ungeprüft und
uneingeschränkt auf individuell-konkrete Verwaltungsakte zu übertragen. Zur
Stützung ihrer Auffassung beruft sie sich auf die Bestandskraft von
Verwaltungsakten und verweist in diesem Zusammenhang auf die Rechtsprechung
zur sogenannten „Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten“. Wenn dem
Gemeinschaftsrecht Vorrang vor einem bestandskräftigen Verwaltungsakt
eingeräumt würde, so könnte dies die Grundsätze der Rechtssicherheit, des
Vertrauensschutzes oder des Schutzes wohlerworbener Rechte in Frage stellen.
- 25.
- Vorab ist mit dem Generalanwalt Nummern 40 bis 43 seiner Schlußanträge
festzustellen, daß der Rechtsstreit nicht das rechtliche Schicksal des
Verwaltungsaktes, nämlich des Bescheids vom 9. August 1990, selbst, sondern die
Frage betrifft, ob ein solcher Verwaltungsakt im Rahmen der Beurteilung der
Rechtmäßigkeit einer Sanktion, die wegen der Nichtbeachtung einer sich aus ihm
ergebenden Verpflichtung verhängt wurde, deshalb unangewendet bleiben muß,
weil er mit dem Grundsatz des freien Dienstleistungsverkehrs unvereinbar ist.
- 26.
- Sodann ist darauf hinzuweisen, daß die Bestimmungen des EG-Vertrags, da sie in
der Rechtsordnung jedes Mitgliedstaats unmittelbar gelten und da das
Gemeinschaftsrecht dem nationalen Recht vorgeht, Rechte zugunsten der
Betroffenen erzeugen, die die nationalen Behörden zu achten und zu wahren
haben, so daß ihnen entgegenstehende Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts
aus diesem Grund unanwendbar werden (vgl. Urteil vom 4. April 1974 in der
Rechtssache 167/73, Kommission/Frankreich, Slg. 1974, 359, Randnr. 35).
- 27.
- Da die zwingenden Bestimmungen des Artikels 59 des Vertrages mit Ablauf der
Übergangszeit unmittelbar und unbedingt anwendbar geworden sind (vgl. Urteil
vom 17. Dezember 1981 in der Rechtssache 279/80, Webb, Slg. 1981, 3305, Randnr.
13), schließt dieser Artikel die Anwendung jedes entgegenstehenden Rechtsakts des
innerstaatlichen Rechts aus.
- 28.
- Für die Republik Österreich ergibt sich aus Artikel 2 der Beitrittsakte, daß die
Bestimmungen des EG-Vertrags mit dem Beitritt, also am 1. Januar 1995,
verbindlich geworden sind; an diesem Tag ist mithin Artikel 59 EG-Vertrag
unmittelbare Rechtsquelle geworden.
- 29.
- Nachdem der Gerichtshof hat ursprünglich entschieden hat, daß die Verpflichtung,
gegebenenfalls jede entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts
unangewendet zu lassen, die nationalen Gerichte trifft (vgl. Urteil Simmenthal,
Randnr. 21), er hat in der Folge seine Rechtsprechung in zwei Richtungen
konkretisiert.
- 30.
- Zum einen haben sich nämlich nach dieser Rechtsprechung alle Träger der
Verwaltung einschließlich der Gemeinden und der sonstigen Gebietskörperschaften
diesem Vorrang zu beugen, so daß sich der einzelne ihnen gegenüber auf eine
solche Gemeinschaftsbestimmung berufen kann (Urteil vom 22. Juni 1989 in der
Rechtssache 103/88, Fratelli Costanzo, Slg. 1989, 1839, Randnr. 32).
- 31.
- Zum anderen können die Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts, die einer
solchen Gemeinschaftsbestimmung entgegenstehen, sowohl Rechts- als auch
Verwaltungsvorschriften umfassen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. Juli 1981 in
der Rechtssache 158/80, Rewe, Slg. 1981, 1805, Randnr. 43).
- 32.
- Nach der Logik dieser Rechtsprechung umfassen die genannten innerstaatlichen
Verwaltungsvorschriften nicht nur generell-abstrakte Normen, sondern auch
individuell-konkrete Verwaltungsentscheidungen.
- 33.
- Es wäre nämlich durch nichts zu rechtfertigen, wenn dem einzelnen der
Rechtsschutz, der sich für ihn aus der unmittelbaren Wirkung des
Gemeinschaftsrechts ergibt und den die innerstaatlichen Gerichte zu gewährleisten
haben (vgl. Urteil vom 19. Juni 1990 in der Rechtssache C-213/89, Factortame u. a.,
Slg. 1990, I-2433, Randnr. 19), in einem Fall verweigert würde, in dem es um die
Gültigkeit eines Verwaltungsakts geht. Dieser Rechtsschutz kann nicht von der Art
der entgegenstehenden Bestimmung des innerstaatlichen Rechts abhängen.
- 34.
- Nach alledem muß ein gegen die Dienstleistungsfreiheit verstoßendes Verbot, das
vor dem Beitritt eines Mitgliedstaats zur Europäischen Union nicht durch eine
generell-abstrakte Rechtsvorschrift, sondern durch eine individuell-konkrete,
bestandskräftig gewordene Verwaltungsentscheidung eingeführt wurde, bei der
Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Geldstrafe, die nach dem Zeitpunkt des
Beitritts wegen der Nichtbeachtung dieses Verbots verhängt wurde, unangewendet
bleiben.
Kosten
- 35.
- Die Auslagen der österreichischen Regierung und der Kommission, die vor dem
Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die
Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden
Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses
Gerichts.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
auf die ihm vom Verwaltungsgerichtshof mit Beschluß vom 26. Mai 1997
vorgelegten Fragen für Recht erkannt:
1. Artikel 59 EG-Vertrag ist dahin auszulegen, daß er es nicht zuläßt, daß ein
Mitgliedstaat dem Betreiber eines Bootshafens unter Androhung der
Strafverfolgung verbietet, Bootsliegeplätze über ein bestimmtes Kontingent
hinaus an Bootseigner zu vermieten, die in einem anderen Mitgliedstaat
ansässig sind.
2. Ein gegen die Dienstleistungsfreiheit verstoßendes Verbot, das vor dem
Beitritt eines Mitgliedstaats zur Europäischen Union nicht durch eine
generell-abstrakte Rechtsvorschrift, sondern durch eine individuell-konkrete, bestandskräftig gewordene Verwaltungsentscheidung eingeführt
wurde, muß bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Geldstrafe, die
nach dem Zeitpunkt des Beitritts wegen der Nichtbeachtung dieses Verbots
verhängt wurde, unangewendet bleiben.
Hirsch Schintgen Für Herrn Ioannou,
verstorben am 10. März 1999,
der an der Beratung
teilgenommen hat
|
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 29. April 1999.
Der Kanzler
Der Präsident der Zweiten Kammer
R. Grass
G. Hirsch