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URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)

30. März 2023(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Elektrizitätsbinnenmarkt – Richtlinie 2009/72/EG – Art. 37 – Anhang I – Aufgaben und Befugnisse der nationalen Regulierungsbehörde – Verbraucherschutz – Verwaltungskosten – Befugnis der nationalen Regulierungsbehörde, die Rückzahlung von Beträgen anzuordnen, die Endkunden aufgrund von Vertragsklauseln gezahlt haben, wegen deren die Behörde eine Sanktion verhängt hat“

In der Rechtssache C‑5/22

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Consiglio di Stato (Staatsrat, Italien) mit Entscheidung vom 31. Dezember 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 3. Januar 2022, in dem Verfahren

Green Network SpA

gegen

SF,

YB,

Autorità di Regolazione per Energia Reti e Ambiente (ARERA)

erlässt

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten E. Regan sowie der Richter D. Gratsias, M. Ilešič, I. Jarukaitis (Berichterstatter) und Z. Csehi,

Generalanwältin: J. Kokott,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der Green Network SpA, vertreten durch V. Cerulli Irelli und A. Fratini, Avvocati,

–        der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von G. Aiello und F. Fedeli, Avvocati dello Stato,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch O. Beynet, G. Gattinara und T. Scharf als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 37 Abs. 1 und 4 sowie von Anhang I der Richtlinie 2009/72/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über gemeinsame Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 2003/54/EG (ABl. 2009, L 211, S. 55).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Green Network SpA und der Autorità di Regolazione per Energia Reti e Ambiente (Regulierungsbehörde für Strom, Netze und Umwelt, Italien) (im Folgenden: ARERA) über deren Entscheidung, gegen Green Network eine verwaltungsrechtliche Geldbuße in Höhe von 655 000 Euro zu verhängen und sie anzuweisen, ihren Endkunden einen Betrag in Höhe von 13 987 495,22 Euro zurückzuerstatten, der bestimmten Verwaltungskosten entspricht, die sie ihnen in Rechnung gestellt hatte.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        In den Erwägungsgründen 37, 42, 51 und 54 der Richtlinie 2009/72 hieß es:

„(37)      Die Regulierungsbehörden sollten über die Befugnis verfügen, Entscheidungen zu erlassen, die für die Elektrizitätsunternehmen bindend sind, und wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Sanktionen gegen Elektrizitätsunternehmen, die ihren Verpflichtungen nicht nachkommen, entweder selbst zu verhängen oder einem zuständigen Gericht die Verhängung solcher Sanktionen gegen solche Unternehmen vorzuschlagen. Auch sollte den Regulierungsbehörden die Befugnis zuerkannt werden, unabhängig von der Anwendung der Wettbewerbsregeln über geeignete Maßnahmen zu entscheiden, die durch Förderung eines wirksamen Wettbewerbs als Voraussetzung für einen ordnungsgemäß funktionierenden Energiebinnenmarkt Vorteile für die Kunden herbeiführen. …

(42)      Überall in der [Europäischen Union] sollten Industrie und Handel, einschließlich der kleinen und mittleren Unternehmen, sowie die Bürger der Union, die von den wirtschaftlichen Vorteilen des Binnenmarktes profitieren, aus Gründen der Gerechtigkeit und der Wettbewerbsfähigkeit und indirekt zur Schaffung von Arbeitsplätzen auch ein hohes Verbraucherschutzniveau genießen können und insbesondere die Haushalte und, soweit die Mitgliedstaaten dies für angemessen halten, Kleinunternehmen in den Genuss gemeinwirtschaftlicher Leistungen kommen können, insbesondere hinsichtlich Versorgungssicherheit und angemessener Tarife. Darüber hinaus sollten diese Kunden ein Recht auf Wahlmöglichkeiten, Fairness, Interessenvertretung und die Inanspruchnahme eines Streitbeilegungsverfahrens haben.

(51)      Im Mittelpunkt dieser Richtlinie sollten die Belange der Verbraucher stehen, und die Gewährleistung der Dienstleistungsqualität sollte zentraler Bestandteil der Aufgaben von Elektrizitätsunternehmen sein. Die bestehenden Verbraucherrechte müssen gestärkt und abgesichert werden und sollten auch auf mehr Transparenz ausgerichtet sein. Durch den Verbraucherschutz sollte sichergestellt werden, dass allen Kunden im größeren Kontext der [Union] die Vorzüge eines Wettbewerbsmarktes zugutekommen. Die Rechte der Verbraucher sollten von den Mitgliedstaaten oder, sofern dies von einem Mitgliedstaat so vorgesehen ist, von den Regulierungsbehörden durchgesetzt werden.

(54)      Ein besserer Verbraucherschutz ist gewährleistet, wenn für alle Verbraucher ein Zugang zu wirksamen Streitbeilegungsverfahren besteht. Die Mitgliedstaaten sollten Verfahren zur schnellen und wirksamen Behandlung von Beschwerden einrichten.“

4        Art. 1 („Gegenstand und Anwendungsbereich“) der Richtlinie 2009/72 bestimmte:

„Mit dieser Richtlinie werden gemeinsame Vorschriften für die Elektrizitätserzeugung, ‑übertragung, ‑verteilung und ‑versorgung sowie Vorschriften im Bereich des Verbraucherschutzes erlassen, um in der [Union] für die Verbesserung und Integration von durch Wettbewerb geprägte[n] Strommärkte[n] zu sorgen. … Darüber hinaus werden in der Richtlinie die Verpflichtungen zur Gewährleistung der Grundversorgung und die Rechte der Stromverbraucher festgelegt und die wettbewerbsrechtlichen Vorschriften klargestellt.“

5        In Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) der Richtlinie 2009/72 hieß es:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

7.      ‚Kunden‘ einen Großhändler oder Endkunden, die Elektrizität kaufen;

8.      ‚Großhändler eine natürliche oder juristische Person, die Elektrizität zum Zwecke des Weiterverkaufs innerhalb oder außerhalb des Netzes, in dem sie ansässig ist, kauft;

9.      ‚Endkunden‘ einen Kunden, der Elektrizität für den eigenen Verbrauch kauft;

…“

6        Art. 3 („Gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen und Schutz der Kunden“) der Richtlinie 2009/72 sah vor:

„…

(7)      Die Mitgliedstaaten ergreifen geeignete Maßnahmen zum Schutz der Endkunden und tragen insbesondere dafür Sorge, dass für schutzbedürftige Kunden ein angemessener Schutz besteht. … Die Mitgliedstaaten gewährleisten einen hohen Verbraucherschutz, insbesondere in Bezug auf die Transparenz der Vertragsbedingungen, allgemeine Informationen und Streitbeilegungsverfahren. …

(9)      …

Die nationale Regulierungsbehörde oder eine andere zuständige nationale Behörde ergreift die notwendigen Maßnahmen, um dafür zu sorgen, dass die Informationen, die von den Versorgungsunternehmen gemäß diesem Artikel an ihre Kunden weitergegeben werden, verlässlich sind und so zur Verfügung gestellt werden, dass sie auf nationaler Ebene eindeutig vergleichbar sind.

…“

7        Art. 36 („Allgemeine Ziele der Regulierungsbehörde“) der Richtlinie 2009/72 bestimmte:

„Bei der Wahrnehmung der in dieser Richtlinie genannten Regulierungsaufgaben trifft die Regulierungsbehörde alle angemessenen Maßnahmen zur Erreichung folgender Ziele im Rahmen ihrer Aufgaben und Befugnisse gemäß Artikel 37, gegebenenfalls in engem Benehmen mit anderen einschlägigen nationalen Behörden, einschließlich der Wettbewerbsbehörden, und unbeschadet deren Zuständigkeiten:

g)      Maßnahmen, die bewirken, dass die Kunden Vorteile aus dem effizienten Funktionieren des nationalen Marktes ziehen, Förderung eines effektiven Wettbewerbs und Beiträge zur Gewährleistung des Verbraucherschutzes;

…“

8        Art. 37 („Aufgaben und Befugnisse der Regulierungsbehörde“) der Richtlinie 2009/72 sah in den Abs. 1 und 4 vor:

„(1)      Die Regulierungsbehörde hat folgende Aufgaben:

i)      sie beobachtet den Grad der Transparenz, auch der Großhandelspreise, und gewährleistet, dass die Elektrizitätsunternehmen die Transparenzanforderungen erfüllen;

j)      sie beobachtet den Grad und die Wirksamkeit der Marktöffnung und den Umfang des Wettbewerbs auf Großhandelsebene und Endkundenebene, einschließlich Strombörsen, Preise für Haushaltskunden, einschließlich Vorauszahlungssystemen, Versorgerwechselraten, Abschaltraten, Durchführung von Wartungsdiensten und dafür erhobene Gebühren, Beschwerden von Haushaltskunden …

n)      sie trägt zusammen mit anderen einschlägigen Behörden dazu bei, dass Maßnahmen zum Verbraucherschutz, einschließlich der in Anhang I festgelegten Maßnahmen, wirksam sind und durchgesetzt werden;

(4)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die Regulierungsbehörden mit den erforderlichen Befugnissen ausgestattet werden, die es ihnen ermöglichen, die in den Absätzen 1, 3 und 6 genannten Aufgaben effizient und schnell zu erfüllen. Hierzu muss die Regulierungsbehörde unter anderem über folgende Befugnisse verfügen:

d)      Verhängung wirksamer, verhältnismäßiger und abschreckender Sanktionen gegen Elektrizitätsunternehmen, die ihren aus dieser Richtlinie oder allen einschlägigen rechtsverbindlichen Entscheidungen der Regulierungsbehörde oder der Agentur erwachsenden Verpflichtungen nicht nachkommen, oder Vorschlag der Verhängung solcher Sanktionen bei einem zuständigen Gericht, derartige Sanktionen zu verhängen. Hierzu zählt auch die Befugnis, bei Nichteinhaltung der jeweiligen Verpflichtungen gemäß dieser Richtlinie gegen den Übertragungsnetzbetreiber bzw. das vertikal integrierte Unternehmen Sanktionen in Höhe von bis zu 10 % des Jahresumsatzes des Übertragungsnetzbetreibers bzw. des vertikal integrierten Unternehmens zu verhängen oder vorzuschlagen; …

…“

9        Anhang I („Maßnahmen zum Schutz der Kunden“) der Richtlinie 2009/72 bestimmte in Abs. 1:

„(1)      Unbeschadet der Verbraucherschutzvorschriften der [Union], … soll mit den in Artikel 3 genannten Maßnahmen sichergestellt werden, dass die Kunden

a)      Anspruch auf einen Vertrag mit ihren Anbietern von Elektrizitätsdienstleistungen haben, in dem Folgendes festgelegt ist:

–        etwaige Entschädigungs- und Erstattungsregelungen bei Nichteinhaltung der vertraglich vereinbarten Leistungsqualität, einschließlich ungenauer und verspäteter Abrechnung

c)      transparente Informationen über geltende Preise und Tarife sowie über die Standardbedingungen für den Zugang zu Elektrizitätsdienstleistungen und deren Inanspruchnahme erhalten;

f)      transparente, einfache und kostengünstige Verfahren zur Behandlung ihrer Beschwerden in Anspruch nehmen können. Insbesondere haben alle Verbraucher Anspruch auf eine gute Qualität der Dienstleistung und die Behandlung ihrer Beschwerden durch ihren Anbieter von Elektrizitätsdienstleistungen. Diese Verfahren zur außergerichtlichen Einigung müssen eine gerechte und zügige Beilegung von Streitfällen, vorzugsweise innerhalb von drei Monaten, ermöglichen und für berechtigte Fälle ein Erstattungs- und/oder Entschädigungssystem vorsehen. …

…“

 Italienisches Recht

10      Art. 2 Abs. 12 Buchst. g der Legge n. 481 – Norme per la concorrenza e la regolazione dei servizi di pubblica utilità. Istituzione delle Autorità di regolazione dei servizi di pubblica utilità (Gesetz Nr. 481 mit Vorschriften über den Wettbewerb und die Regulierung im Bereich der Gemeinwohldienstleistungen und zur Errichtung der Regulierungsbehörden für Gemeinwohldienstleistungen) vom 14. November 1995 (Beilage Nr. 136 zur GURI Nr. 270 vom 18. November 1995) überträgt der ARERA die Aufgabe der „Überwachung der Erbringung der Dienstleistungen mit Befugnissen zur Kontrolle, zum Zugang zu und zur Beschaffung von Unterlagen und sachdienlichen Informationen sowie zur Bestimmung der Fälle einer automatischen Entschädigung durch den Dienstleistungsanbieter gegenüber den Nutzern, wenn der Anbieter die Vertragsklauseln nicht einhält oder die Dienstleistung mit einem Qualitätsniveau erbringt, das unter dem in der Dienstleistungsregelung … festgelegten Niveau liegt“.

11      Nach Art. 2 Abs. 20 Buchst. d dieses Gesetzes ist die ARERA befugt, den Dienstleistungsanbieter anzuweisen, ein die Rechte der Nutzer beeinträchtigendes Verhalten einzustellen, und ihm gemäß Art. 2 Abs. 12 Buchst. g dieses Gesetzes die Verpflichtung aufzuerlegen, eine Entschädigung zu leisten.

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

12      Nach Erhalt eines Berichts des Sportello per il consumatore Energia e Ambiente (Verbraucherschutzstelle für Energie und Umwelt, Italien), aus dem sich ergab, dass Green Network, ein Strom- und Erdgasversorgungsunternehmen, in den an ihre Kunden adressierten Rechnungen eine Gebühr angesetzt hatte, die diese als unklar beanstandeten, leitete die ARERA ein Verfahren gegen dieses Unternehmen ein.

13      Im Anschluss an diesen Bericht führte die ARERA weitere Prüfungen durch, mit denen sie feststellte, dass diese Gebühr in einer Klausel der allgemeinen Bedingungen vorgesehen war, die für die von Green Network angebotenen Verträge über die Energieversorgung mit Strom bzw. Erdgas gelten. Nach dieser Klausel waren die Verwaltungskosten nicht in den für die Energieversorgung vorgesehenen Gebühren enthalten, und der Versorger konnte dem Kunden dafür eine Gebühr von höchstens fünf Euro pro Monat bzw. für bestimmte Kunden zehn Euro pro Monat in Rechnung stellen.

14      Nachdem die ARERA festgestellt hatte, dass diese Gebühr von Green Network in den allgemeinen Vertragsbedingungen rechtswidrig angesetzt worden sei, da diese Gebühr in der Vergleichstabelle, die einen Vergleich der verschiedenen kommerziellen Angebote auf dem Markt ermögliche, und im System zur Suche von Angeboten nicht angegeben sei, verhängte sie mit Entscheidung vom 20. Juni 2019 gegen Green Network eine verwaltungsrechtliche Geldbuße in Höhe von 655 000 Euro, weil sie ihren Endkunden vertragliche Informationen übermittelt habe, die gegen die von der ARERA erlassenen Vorschriften verstießen. In dieser Entscheidung wies sie Green Network an, den Endkunden einen Betrag von 13 987 495,22 Euro zurückzuzahlen, den sie bei ihnen als Verwaltungskosten erhoben hatte.

15      Green Network erhob gegen diese Entscheidung Klage beim Tribunale amministrativo regionale per la Lombardia (Regionales Verwaltungsgericht für die Lombardei, Italien), die abgewiesen wurde.

16      Green Network legte gegen das abweisende Urteil beim Consiglio di Stato (Staatsrat, Italien), dem vorlegenden Gericht, Berufung ein und machte u. a. geltend, dass die Befugnis der ARERA, die Rückerstattung einer Gebühr an die Kunden zu verlangen, gegen die Richtlinie 2009/72 verstoße, da diese Gebühr im Rahmen privater Vertragsbeziehungen festgelegt worden sei.

17      Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass es in dem bei ihm anhängigen Rechtsstreit um die Frage gehe, ob die Befugnis der ARERA, die Rückzahlung von den Kunden in Rechnung gestellten Beträgen anzuordnen, aus der Richtlinie 2009/72 abgeleitet werden könne. Die von Green Network angeführten einschlägigen Bestimmungen dieser Richtlinie, deren korrektes Verständnis nicht offensichtlich scheine, seien vom Gerichtshof offenbar noch nicht ausgelegt worden.

18      Unter diesen Umständen hat der Consiglio di Stato (Staatsrat) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Sind die unionsrechtlichen Bestimmungen, die in der Richtlinie 2009/72 – insbesondere in Art. 37 Abs. 1 und 4, die die Befugnisse der Regulierungsbehörde regeln, sowie in Anhang I – enthalten sind, dahin auszulegen, dass sie auch die von der ARERA gegenüber den im Elektrizitätssektor tätigen Unternehmen ausgeübte Anordnungsbefugnis umfassen, kraft deren diese Unternehmen angewiesen werden, den Kunden – und zwar auch früheren oder säumigen Kunden – den Betrag der wirtschaftlichen Gegenleistung zurückzuzahlen, den diese aufgrund einer Vertragsklausel, wegen deren die ARERA eine Sanktion verhängt hat, zur Deckung von Verwaltungskosten gezahlt haben?

2.      Sind die unionsrechtlichen Bestimmungen, die in der Richtlinie 2009/72 – insbesondere in Art. 37 Abs. 1 und 4, die die Befugnisse der Regulierungsbehörde regeln, sowie in Anhang I – enthalten sind, dahin auszulegen, dass sie im Rahmen etwaiger Entschädigungs- und Erstattungsregelungen für die Kunden auf dem Elektrizitätsmarkt bei Nichteinhaltung der vertraglich vereinbarten Leistungsqualität durch den Marktteilnehmer auch die Rückzahlung einer von den Kunden gezahlten wirtschaftlichen Gegenleistung – die in einer Klausel des unterschriebenen und akzeptierten Vertrags ausdrücklich geregelt ist – umfassen, die völlig unabhängig von der Qualität der Dienstleistung ist, aber zur Deckung der Verwaltungskosten des Wirtschaftsteilnehmers vorgesehen ist?

 Zu den Vorlagefragen

19      Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 37 Abs. 1 Buchst. i und n und Abs. 4 Buchst. d sowie Anhang I der Richtlinie 2009/72 dahin auszulegen sind, dass sie einen Mitgliedstaat daran hindern, der nationalen Regulierungsbehörde die Befugnis zu übertragen, Elektrizitätsunternehmen anzuweisen, ihren Endkunden den Betrag der Gegenleistung zurückzuzahlen, die diese aufgrund einer von dieser Behörde für rechtswidrig gehaltenen Vertragsklausel als „Verwaltungskosten“ gezahlt haben, und zwar auch in den Fällen, in denen die Rückzahlungsanordnung nicht auf Gründen der Qualität der betreffenden, von den Unternehmen erbrachten Dienstleistung beruht, sondern auf der Verletzung von Tariftransparenzanforderungen.

20      Wie der Gerichtshof bereits festgestellt hat, ergibt sich insoweit aus Art. 1 der Richtlinie 2009/72 sowie aus ihren Erwägungsgründen 37, 42, 51 und 54, dass die Richtlinie den Energieregulierungsbehörden die Befugnis verleihen soll, die volle Wirksamkeit der zum Schutz der Verbraucher ergriffenen Maßnahmen zu gewährleisten, und dass sie dafür sorgen soll, dass überall in der Industrie und im Handel sowie allen Unionsbürgern ein hohes Verbraucherschutzniveau und Streitbeilegungsverfahren gewährleistet werden, dass die Belange der Verbraucher in den Mittelpunkt dieser Richtlinie gestellt werden, dass die nationale Regulierungsbehörde, wenn der Mitgliedstaat ihr diese Befugnis überträgt, die Rechte der Stromverbraucher durchsetzt und dass für alle Verbraucher ein Zugang zu wirksamen Streitbeilegungsverfahren eingerichtet wird (Urteil vom 8. Oktober 2020, Crown Van Gelder, C‑360/19, EU:C:2020:805, Rn. 26).

21      Nach Art. 3 Abs. 7 der Richtlinie 2009/72 ergreifen die Mitgliedstaaten geeignete Maßnahmen zum Schutz der Endkunden und gewährleisten einen hohen Verbraucherschutz, insbesondere in Bezug auf die Transparenz der Vertragsbedingungen, allgemeine Informationen und Streitbeilegungsverfahren. Nach dieser Bestimmung müssen solche Maßnahmen zumindest im Fall der Haushalts-Kunden die in Anhang I aufgeführten Maßnahmen einschließen; dazu gehören Maßnahmen, mit denen sichergestellt werden soll, dass die Kunden transparente Informationen über geltende Preise und Tarife sowie über die Standardbedingungen erhalten.

22      Der Gerichtshof hat außerdem bereits festgestellt, dass die Richtlinie 2009/72 zur Verfolgung der oben genannten Ziele von den Mitgliedstaaten verlangt, dass sie ihren nationalen Regulierungsbehörden weitgehende Befugnisse im Bereich der Regulierung und Überwachung des Elektrizitätsmarkts übertragen (Urteil vom 11. Juni 2020, Prezident Slovenskej republiky, C‑378/19, EU:C:2020:462, Rn. 23). Eines der allgemeinen Ziele, deren Verwirklichung die Mitgliedstaaten ihren nationalen Regulierungsbehörden im Rahmen der Wahrnehmung ihrer Aufgaben und Befugnisse zu übertragen haben, ist gemäß Art. 36 Buchst. g der Richtlinie das Ziel, den Verbraucherschutz zu gewährleisten (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 23. Januar 2020, Energiavirasto, C‑578/18, EU:C:2020:35, Rn. 35, und vom 8. Oktober 2020, Crown Van Gelder, C‑360/19, EU:C:2020:805, Rn. 27).

23      Insbesondere hat die nationale Regulierungsbehörde nach Art. 37 Abs. 1 Buchst. i und n der Richtlinie 2009/72 die Aufgaben, zu gewährleisten, dass die Elektrizitätsunternehmen die Transparenzanforderungen erfüllen, und zusammen mit anderen einschlägigen Behörden dazu beizutragen, dass Maßnahmen zum Verbraucherschutz, einschließlich der in Anhang I festgelegten Maßnahmen, wirksam sind und durchgesetzt werden. Dabei haben die Mitgliedstaaten nach Art. 37 Abs. 4 der Richtlinie sicherzustellen, dass die Regulierungsbehörden mit den erforderlichen Befugnissen ausgestattet werden, die es ihnen ermöglichen, die in Art. 37 Abs. 1, 3 und 6 genannten Aufgaben effizient und schnell zu erfüllen, und hierzu u. a. über die in dieser Bestimmung aufgeführten Befugnisse verfügen. Eine dieser Befugnisse ist zwar die in Art. 37 Abs. 4 Buchst. d der Richtlinie 2009/72 vorgesehene Befugnis, wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Sanktionen gegen Elektrizitätsunternehmen zu verhängen, die ihren aus dieser Richtlinie oder allen einschlägigen rechtsverbindlichen Entscheidungen der nationalen Regulierungsbehörde erwachsenden Verpflichtungen nicht nachkommen, doch wird in dieser Bestimmung nicht die Befugnis genannt, von diesen Unternehmen die Rückzahlung aller Beträge zu verlangen, die sie als Gegenleistung für eine als rechtswidrig angesehene Vertragsklausel erhalten haben.

24      Der Gebrauch der Wendung „die Regulierungsbehörde [muss] unter anderem über folgende Befugnisse verfügen“ in Art. 37 Abs. 4 der Richtlinie 2009/72, weist darauf hin, dass einer solchen Behörde andere als die in Art. 37 Abs. 4 der Richtlinie ausdrücklich genannten Befugnisse übertragen werden können, damit sie die Aufgaben nach Art. 37 Abs. 1, 3 und 6 der Richtlinie erfüllen kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. Januar 2020, Energiavirasto, C‑578/18, EU:C:2020:35, Rn. 37, 38 und 40).

25      Da es zu den Aufgaben nach Art. 37 Abs. 1, 3 und 6 der Richtlinie gehört, zu gewährleisten, dass die den Elektrizitätsunternehmen obliegenden Transparenzanforderungen erfüllt werden, und die Verbraucher zu schützen, kann ein Mitgliedstaat einer Regulierungsbehörde die Befugnis übertragen, von diesen Wirtschaftsteilnehmern die Rückzahlung der Beträge zu verlangen, die sie unter Verstoß gegen die Erfordernisse des Verbraucherschutzes, insbesondere hinsichtlich der Transparenzanforderungen und der Genauigkeit der Abrechnung, erhoben haben.

26      Diese Auslegung wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass Art. 36 der Richtlinie 2009/72 im Wesentlichen vorsieht, dass die nationale Regulierungsbehörde erforderliche Maßnahmen „gegebenenfalls in engem Benehmen mit anderen einschlägigen nationalen Behörden, einschließlich der Wettbewerbsbehörden, und unbeschadet deren Zuständigkeiten“ trifft, oder dass Art. 37 Abs. 1 Buchst. n dieser Richtlinie die Wendung „zusammen mit anderen einschlägigen Behörden“ enthält. Aus diesen Bestimmungen ergibt sich nämlich nicht, dass in einem Fall wie der Rechtssache des Ausgangsverfahrens nur eine dieser anderen nationalen Behörden die Rückerstattung der von den Elektrizitätsunternehmen bei den Endkunden zu Unrecht erhobenen Beträge anordnen kann. Die Verwendung des Wortes „gegebenenfalls“ bedeutet vielmehr, dass eine solche Rücksprache nur dann erforderlich ist, wenn die Maßnahme, deren Erlass beabsichtigt ist, für andere einschlägige Behörden Auswirkungen haben kann.

27      Darüber hinaus fragt sich das vorlegende Gericht im Wesentlichen, ob Art. 37 Abs. 1 Buchst. i und n und Abs. 4 Buchst. d sowie Anhang I der Richtlinie 2009/72 dahin auszulegen sind, dass die nationale Regulierungsbehörde auf der Grundlage einer nationalen Bestimmung, nach der die Kunden bei Nichteinhaltung der vertraglich vereinbarten Leistungsqualität für die von einem Elektrizitätsunternehmen erhobenen Beträge automatisch entschädigt werden sollen, das Elektrizitätsunternehmen anweisen kann, seinen Endkunden die ihnen in Rechnung gestellten Beträge zurückzuzahlen, wenn die Rückzahlungsanordnung nicht auf Gründen der Qualität der betreffenden Dienstleistung beruht, sondern auf der Rechtswidrigkeit einer Vertragsklausel, die die Zahlung von „Verwaltungskosten“ vorsieht.

28      In dieser Hinsicht verlangt die Richtlinie 2009/72, wie sich im Wesentlichen aus Rn. 25 des vorliegenden Urteils ergibt, von den Mitgliedstaaten zwar nicht, dass sie vorsehen, dass die nationale Regulierungsbehörde die Befugnis hat, die Rückzahlung von Beträgen anzuordnen, die ein Elektrizitätsunternehmen zu Unrecht bei seinen Kunden erhoben hat, doch hindert diese Richtlinie einen Mitgliedstaat nicht daran, dieser Behörde eine solche Befugnis zu übertragen. Da der Verbraucherschutz und die Erfüllung der Transparenzanforderungen zu den Aufgaben gehören, die den Regulierungsbehörden nach Art. 37 Abs. 1 Buchst. i und n der Richtlinie 2009/72 zu übertragen sind, ist der genaue Grund, aus dem – zur Erfüllung einer dieser Aufgaben – ein Elektrizitätsunternehmen angewiesen wird, seinen Kunden Rückzahlung zu leisten, unerheblich.

29      Es ist jedoch Sache des nationalen Gerichts, zu beurteilen, ob das nationale Recht der nationalen Regulierungsbehörde tatsächlich die Befugnis verleiht, in Fällen wie dem im Ausgangsverfahren die Rückzahlung zu Unrecht erhobener Beträge anzuordnen, oder auch, ob diese Behörde das nationale Recht fehlerfrei angewandt hat.

30      Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 37 Abs. 1 Buchst. i und n und Abs. 4 Buchst. d sowie Anhang I der Richtlinie 2009/72 dahin auszulegen sind, dass sie einen Mitgliedstaat nicht daran hindern, der nationalen Regulierungsbehörde die Befugnis zu übertragen, Elektrizitätsunternehmen anzuweisen, ihren Endkunden den Betrag der Gegenleistung zurückzuzahlen, die diese aufgrund einer von dieser Behörde für rechtswidrig gehaltenen Vertragsklausel als „Verwaltungskosten“ gezahlt haben, und zwar auch in den Fällen, in denen die Rückzahlungsanordnung nicht auf Gründen der Qualität der betreffenden, von den Unternehmen erbrachten Dienstleistung beruht, sondern auf der Verletzung von Tariftransparenzanforderungen.

 Kosten

31      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 37 Abs. 1 Buchst. i und n und Abs. 4 Buchst. d sowie Anhang I der Richtlinie 2009/72/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über gemeinsame Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 2003/54/EG

sind dahin auszulegen, dass

sie einen Mitgliedstaat nicht daran hindern, der nationalen Regulierungsbehörde die Befugnis zu übertragen, Elektrizitätsunternehmen anzuweisen, ihren Endkunden den Betrag der Gegenleistung zurückzuzahlen, die diese aufgrund einer von dieser Behörde für rechtswidrig gehaltenen Vertragsklausel als „Verwaltungskosten“ gezahlt haben, und zwar auch in den Fällen, in denen die Rückzahlungsanordnung nicht auf Gründen der Qualität der betreffenden, von den Unternehmen erbrachten Dienstleistung beruht, sondern auf der Verletzung von Tariftransparenzanforderungen.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Italienisch.