Language of document : ECLI:EU:C:2005:788

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

JULIANE KOKOTT

vom 15. Dezember 2005(1)

Rechtssachen C-443/04 und C-444/04

H. A. Solleveld

gegen

Staatssecretaris van Financiën


und


J. E. van den Hout-van Eijnsbergen

gegen

Staatssecretaris van Financiën


(Vorabentscheidungsersuchen des Hoge Raad [Niederlande])

„Sechste Mehrwertsteuerrichtlinie – Artikel 13 Teil A Absatz 1 Buchstabe c –Befreite Umsätze – Heilbehandlungen, die im Rahmen der Ausübung der von dem betreffenden Mitgliedstaat anerkannten arztähnlichen Berufen erbracht werden – Leistungen eines Physiotherapeuten, die nicht zu seinem Berufsbild gehören – Leistungen einer Psychotherapeutin, die nur nach dem nationalen Berufsrecht nicht aber nach den Mehrwertsteuerbestimmungen als solche anerkannt ist“





I –    Einleitung

1.        In diesen beiden verbundenen Verfahren ersucht der Hoge Raad der Nederlanden den Gerichtshof um eine Auslegung der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (im Folgenden: Sechste Richtlinie)(2) im Hinblick auf die Steuerbefreiung von Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin, die von Personen mit arztähnlichen Berufe erbracht werden.

2.        In der Rechtssache C-443/04 geht es um die Beurteilung von bestimmten alternativen Diagnose- und Behandlungsmethoden – die so genannte Störfelddiagnostik. Herr Solleveld, der diese Leistungen erbrachte, ist staatlich anerkannter Physiotherapeut. Die Steuerverwaltung hielt die Störfelddiagnostik jedoch nicht für eine befreite Leistung, weil sie nicht zu den vom Berufsbild des Physiotherapeuten umfassten Tätigkeiten gehört.

3.        Frau van den Hout-van Eijnsbergen, die Klägerin im Ausgangsrechtsstreit zu der Rechtssache C-444/04, ist nach den einschlägigen berufsrechtlichen Bestimmungen als Psychotherapeutin anerkannt und erbringt auch für diesen Beruf typische Leistungen. Die niederländischen Bestimmungen über die Mehrwertsteuerbefreiung medizinischer Leistungen erfassten zwar Leistungen von Psychologen und Psychiatern, nicht aber von Psychotherapeuten. Die Tätigkeiten von Frau van den Hout-van Eijnsbergen waren daher nach Ansicht der Steuerverwaltung steuerpflichtig.

4.        Diese beiden Sachverhaltskonstellationen geben dem Hoge Raad Anlass, den Gerichtshof um die Auslegung des entsprechenden Befreiungstatbestands in Artikel 13 Teil A Absatz 1 Buchstabe c der Sechsten Richtlinie zu ersuchen. Zu klären ist vor allem, wie weit der Spielraum der Mitgliedstaaten bei der Anerkennung von Berufen als arztähnlich im Sinne dieser Vorschrift und bei der Definition der im Rahmen eines anerkannten Berufes erbrachten Tätigkeiten reicht.

II – Rechtlicher Rahmen

A –    Sechste Richtlinie

5.        Artikel 13 Teil A Absatz 1 der Sechsten Richtlinie lautet auszugsweise:

Unbeschadet sonstiger Gemeinschaftsvorschriften befreien die Mitgliedstaaten unter den Bedingungen, die sie zur Gewährleistung einer korrekten und einfachen Anwendung der nachstehenden Befreiungen sowie zur Verhütung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Missbräuchen festsetzen, von der Steuer:

c)      die Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin, die im Rahmen der Ausübung der von dem betreffenden Mitgliedstaat definierten ärztlichen und arztähnlichen Berufe erbracht werden;

B –    Nationales Recht

6.        Artikel 11 Absatz 1 Buchstabe g des Wet op de omzetbelasting (Umsatzsteuergesetz) 1968 (in der ab dem 1. Dezember 1997 geltenden Fassung) bestimmt, dass von der Umsatzsteuer befreit sind: „die Dienstleistungen der Personen, die einen Beruf ausüben, für den durch die oder gemäß der Wet op de beroepen in de individuele gezondheidszorg (Wet BIG) Regeln aufgestellt sind.“

7.        Artikel 3 der Wet BIG sieht die Errichtung eines Registers vor, in der die Angehörigen medizinischer Berufe, u. a. Physiotherapeuten und Psychotherapeuten, bei Erfüllung der jeweiligen Voraussetzungen eingetragen werden.

8.        Für die Rechtssache C-444/04 ist die vor 1997 geltende Fassung des Umsatzsteuergesetzes relevant. Damals waren nach Artikel 11 Absatz 1 Buchstabe g von der Umsatzsteuer befreit: „die Dienstleistungen von anderen Ärzten als Tierärzten, von Psychologen, Logopäden, Krankenpflegern und Geburtshelfern; die Dienstleistungen von Personen, die einen arztähnlichen Beruf ausüben, für den gemäß der Wet op de paramedische beroepen (Gesetz über arztähnliche Berufe)(3) Regeln aufgestellt sind“. Psychotherapeuten fielen nicht unter diese Aufzählung, selbst wenn sie gemäß dem Besluit inzake Registratie van Psychotherapeuten (Verordnung über die Eintragung von Psychotherapeuten)(4) in das entsprechende Berufsregister eingetragen waren.

9.        Artikel 29 der Wet BIG verweist für die nähere Definition der physiotherapeutischen Behandlungen auf den Besluit opleidingseisen en deskundigheidsgebied fysiotherapeuten (Verordnung über die Ausbildungsanforderungen und das Fachgebiet des Physiotherapeuten)(5). Nach Artikel 5 Absatz 1 dieser Verordnung gehört es zu den Aufgaben des Physiotherapeuten, Patienten im Hinblick auf Störungen des Bewegungsapparates zu untersuchen und entsprechende Störungen mit physiotherapeutischen Methoden zu behandeln. Nach Absatz 2 der Bestimmung zählen zu diesen Methoden die Behandlung durch Bewegung, Massagen und die physische Stimulation (mit Ausnahme der Bestrahlung mit ionisierenden Strahlen).

III – Sachverhalt, Verfahren und Vorlagefragen

A –    Rechtssache C-444/04 (van den Hout-van Eijnsbergen)

10.      Frau van den Hout-van Eijnsbergen ist selbständige Psychotherapeutin und als solche in das entsprechende Berufsregister eingetragen. Sie hat in dem Zeitraum von 1992 bis 1995 keine Umsatzsteuer für die von ihr erbrachten psychotherapeutischen Leistungen entrichtet, da sie der Ansicht war, dass diese Leistungen von der Umsatzsteuer befreit seien.

11.      Die Steuerbehörde hielt die Leistungen jedoch für steuerpflichtig und richtete für den betreffenden Zeitraum einen Nacherhebungsbescheid über Umsatzsteuer in Höhe von 65 402 NLG an Frau van den Hout-van Eijnsbergen. Nachdem ihre Klage gegen diesen Bescheid in erster Instanz erfolglos geblieben war, legte Frau van den Hout-van Eijnsbergen Kassationsbeschwerde zum Hoge Raad ein. Dieser ersuchte den Gerichtshof mit Urteil vom 15. Oktober 2004 um Vorabentscheidung gemäß Artikel 234 EG über folgende Frage:

„Ist Artikel 13 Teil A Absatz 1 Buchstabe c der Sechsten Richtlinie dahin auszulegen, dass von der Mehrwertsteuer psychotherapeutische Leistungen befreit sind, die durch eine diesen Beruf ausübende Person, die die … gesetzlichen Anforderungen für die Eintragung erfüllt und in das … Register der Psychotherapeuten eingetragen ist, erbracht werden, auch wenn diese Leistungen nicht zur Ausübung eines von dem betreffenden Mitgliedstaat definierten ärztlichen oder arztähnlichen Berufes – durch denjenigen, der die Leistungen erbringt – gehören?“

B –    Rechtssache C-443/04 (Solleveld)

12.      Herr Solleveld ist Physiotherapeut und als solcher in das Register nach der Wet BIG eingetragen. Er untersucht seine Patienten, die mit den verschiedensten Beschwerden körperlicher und seelischer Art zu ihm kommen, auf „Fokalherd- und Störfeldaktivitäten“, wobei die Aufmerksamkeit vor allem Störungen im Kiefer und im Mund gilt. Diese Störungen werden durch Röntgenaufnahmen, Mundstrommessungen, elektrodermale und intraorale Untersuchungen ermittelt. Ausgangspunkt ist die Auffassung, dass das Gebiss bei Krankheiten in allen Teilen des Körpers eine wichtige Rolle spielt.

13.      Werden bei der Untersuchung Störfelder ausgemacht, behandelt Herr Solleveld den Patienten selbst oder überweist ihn an einen Zahnarzt oder Kieferchirurgen. Herr Solleveld behandelt seine Patienten hauptsächlich mit einem Softlaser, durch die Gabe homöopathischer Präparate und durch manuelle Therapien. Neben den Tätigkeiten im Rahmen der Störfelddiagnostik war er in den in Rede stehenden Jahren auch als „klassischer“ Physiotherapeut tätig.

14.      Rund 40 % der Patienten werden durch Ärzte oder Zahnärzte an Herrn Solleveld überwiesen. Die meisten Krankenversicherungen ersetzen die Kosten für die Behandlung im Rahmen der Störfelddiagnostik – jedenfalls bei Bestehen einer Zusatzversicherung für so genannte alternative Behandlungsmethoden.

15.      Nach Ansicht der Koninklijk Nederlands Genootschap voor Fysiotherapie (Königlich Niederländische Gesellschaft für Physiotherapie) fällt die Störfelddiagnostik nicht in das Tätigkeitsgebiet eines Physiotherapeuten, wie sie in der Verordnung über die Ausbildungsanforderungen und das Fachgebiet des Physiotherapeuten umschrieben ist. Die zuständige Gesundheitsbehörde schloss sich dieser Einschätzung an.

16.      Nachdem Herr Solleveld keine Mehrwertsteuer entrichtet hatte, da er seine Tätigkeit für steuerbefreit hielt, erließ die Steuerbehörde mehrere Nacherhebungsbescheide über Umsatzsteuer in Höhe von insgesamt fast 64 000 NLG für die Zeit von 1994 bis 2000. Das erstinstanzliche Gericht bestätigte die Rechtsauffassung der Finanzverwaltung, dass die Steuerbefreiung nach Artikel 11 Absatz 1 Buchstabe g des Umsatzsteuergesetzes nicht anwendbar sei.

17.      Der mit der Kassationsbeschwerde gegen diese Entscheidung befasste Hoge Raad hat dem Gerichtshof mit Urteil vom 15. Oktober 2004 folgende Frage zur Vorabentscheidung gemäß Artikel 234 EG vorgelegt:

„Ist Artikel 13 Teil A Absatz 1 Buchstabe c der Sechsten Richtlinie dahin auszulegen, dass von der Mehrwertsteuer Leistungen befreit sind, die – allesamt im Rahmen der … beschriebenen Störfelddiagnostik – in der Erstellung einer Diagnose, der Empfehlung einer Therapie und der eventuellen Durchführung einer Behandlung bestehen, auch wenn diese Leistungen nicht zur Ausübung eines von dem betreffenden Mitgliedstaat definierten ärztlichen oder arztähnlichen Berufes – durch denjenigen, der die Leistungen erbringt – gehören?“

IV – Rechtliche Würdigung

A –    Vorbemerkung

18.      Nach Artikel 13 Teil A Absatz 1 Buchstabe c der Sechsten Richtlinie sind Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin, die im Rahmen der Ausübung der von dem betreffenden Mitgliedstaat definierten ärztlichen und arztähnlichen Berufe erbracht werden, von der Mehrwertsteuer befreit.

19.      Wie die Kommission zu Recht in der mündlichen Verhandlung betont hat, ist in beiden Ausgangsverfahren unstreitig, dass die Betroffenen jeweils Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin erbringen. Auch im Fall von Herrn Solleveld wird dies nicht in Frage gestellt, obwohl die Störfelddiagnostik eine gegenüber der Schulmedizin alternative Methode darstellt. Einer Auslegung des – zweifelsohne gemeinschaftsrechtlichen – Begriffes der Heilbehandlung bedarf es daher in den vorliegenden Rechtssachen nicht. Die Auslegungszweifel beziehen sich allein auf die Passage „im Rahmen der Ausübung der von dem betreffenden Mitgliedstaat definierten ärztlichen und arztähnlichen Berufe“.

20.      Die in Artikel 13 der Sechsten Richtlinie vorgesehenen Steuerbefreiungen stellen grundsätzlich eigenständige Begriffe des Gemeinschaftsrechts dar und erfordern daher eine gemeinschaftsrechtliche Definition.(6)

21.      Der Gerichtshof betont in ständiger Rechtsprechung insbesondere, dass die Mitgliedstaaten nach dem Eingangssatz von Artikel 13 Teil A Absatz 1 der Sechsten Richtlinie zwar die Bedingungen für die Steuerbefreiungen festlegen, um die korrekte und einfache Anwendung dieser Befreiungen zu gewährleisten und Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaige Missbräuche zu verhüten, doch dass sich diese Bedingungen nicht auf den Inhalt der vorgesehenen Steuerbefreiungen erstrecken könnten.(7) Die spezifischen Bedingungen, die die Eigenschaft oder die Identität des Wirtschaftsteilnehmers betreffen, der die von der Befreiung erfassten Leistungen erbringt, erforderten eine gemeinschaftsrechtliche Definition.(8)

22.      Diese Feststellungen des Gerichtshofes gelten aber nur, soweit die Richtlinie eigene Begriffe des Gemeinschaftsrechts prägt, nicht aber soweit sie ausnahmsweise auf Definitionen der Mitgliedstaaten verweist.(9) Aus dem eindeutigen Wortlaut des Artikel 13 Teil A Absatz 1 Buchstabe c folgt, dass die Mitgliedstaaten die ärztlichen und arztähnlichen Berufe definieren, auf die die Steuerbefreiung anwendbar ist.(10)

23.      Auch in diesen Fällen geht die rechtsangleichende Wirkung der Richtlinie indes nicht völlig verloren. Bei der Ausübung der Zuständigkeit, im Rahmen der Richtlinie einzelne Begriffe zu definieren, müssen die Mitgliedstaaten nämlich die Ziele der Richtlinie und die allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts beachten.(11)

24.      Solange der Mitgliedstaat die Grenzen dieses Ermessens beachtet, kann der Einzelne durch die unmittelbare Berufung auf die Richtlinie keine Rechte gegenüber dem Mitgliedstaat erlangen.(12) Die Kernfrage in beiden Ausgangsverfahren ist daher, ob die Grenzen des Ermessens, das Artikel 13 Teil A Absatz 1 Buchstabe c der Sechsten Richtlinie den Mitgliedstaaten im Hinblick auf die Definition der arztähnlichen Berufe einräumt, gewahrt worden sind.

25.      Für die Beantwortung der Vorlagefrage in der Rechtssache C-444/04 (van den Hout-van Eijnsbergen) ist insofern zu klären, welche Vorgaben die Mitgliedstaaten bei der Festlegung der begünstigten Berufsgruppen einhalten müssen. In der Rechtssache C-443/04 (Solleveld) stellt sich die Frage, ob die Mitgliedstaaten bei der Definition der Berufe auch die Tätigkeiten festlegen dürfen, die allein als Mehrwertsteuer befreite Leistungen im Rahmen der Berufsausübung anerkannt werden.

B –    Zur Rechtssache C-444/04 (van den Hout-van Eijnsbergen)

1.      Vorbringen der Beteiligten

26.      Die Kommission meint, ein Mitgliedstaat definiere einen arztähnlichen Beruf, indem er aus Gründen des Schutzes der öffentlichen Gesundheit Bestimmungen erlässt, nach denen die jeweilige Berufsbezeichnung Personen mit bestimmten Qualifikationen vorbehalten ist. Eine solche Definition binde den Mitgliedstaat auch für die Zwecke der Mehrwertsteuerbefreiung. Für den Fall, dass mit der Eintragung in das niederländische Berufsregister der Psychotherapeuten das ausschließliche Recht verbunden gewesen sei, den entsprechenden Titel zu führen, seien die Leistungen von Frau van den Hout-van Eijnsbergen mehrwertsteuerfrei gewesen.

27.      Die Klägerin selbst hält es für diskriminierend, dass Psychologen und Psychiater, die psychotherapeutische Leistungen erbrachten, nicht der Mehrwertsteuer unterlagen, während Psychotherapeuten mit pädagogischer Ausbildung bis 1997 mehrwertsteuerpflichtig gewesen seien.

28.      Die niederländische Regierung führt dagegen aus, die nationale Regelung habe der Vorgabe entsprochen, die Befreiungstatbestände in Artikel 13 Teil A Absatz 1 der Sechsten Richtlinie eng auszulegen und an objektive und einfach anzuwendende Bedingungen zu knüpfen. Erst nachdem psychotherapeutische Behandlungen eine größere gesellschaftliche Bedeutung gewonnen hätten, wäre es angebracht gewesen, die entsprechenden Leistungen von der Mehrwertsteuer zu befreien. Auch der Grundsatz der steuerlichen Neutralität sei nicht verletzt, da insoweit alle Psychotherapeuten gleich behandelt worden seien.

2.      Würdigung

a)      Ermessen der Mitgliedstaaten bei der Definition arztähnlicher Berufe

29.      Artikel 13 Teil A Absatz 1 Buchstabe c der Sechsten Richtlinie räumt den Mitgliedstaaten ein Ermessen bei der Definition arztähnlicher Berufe ein. Dabei bleibt es dem Mitgliedstaat auch überlassen, auf welchem gesetzgeberischen Weg er von diesem Ermessen Gebrauch macht.

30.      Wie sich aus dem Einleitungssatz des Absatzes 1 der genannten Bestimmung ergibt, sollen die Umsetzungsvorschriften u. a. eine einfache Anwendung der Befreiungstatbestände ermöglichen. Diesem Ziel wird ein Mitgliedstaat am besten gerecht, wenn er in den nationalen Bestimmungen über die Mehrwertsteuer die Berufe aufführt, die er als arztähnlich ansieht und deren Umsätze daher von der Mehrwertsteuer befreit sind. Dabei können die mehrwertsteuerrechtlichen Regelungen auch auf das Berufsrecht verweisen, das die Berufe näher spezifiziert.

31.      Allerdings kann eine ausdrückliche steuerrechtliche Regelung nicht zwingend verlangt werden.(13) Um zu bestimmen, welche Berufe in dem betroffenen Mitgliedstaat für die Zwecke der Mehrwertsteuerbefreiung als arztähnliche Berufe gelten, dürfen sonstige Vorschriften aber nur dann herangezogen werden, wenn eine entsprechende steuerrechtliche Regelung fehlt.

32.      Die Kommission möchte dagegen – ungeachtet der nationalen Mehrwertsteuerregelungen – auch sonstige Vorschriften berücksichtigen, in denen Berufe mit Bezug zum Gesundheitswesen geregelt werden. Aus solchen Regelungen folge die mehrwertsteuerliche Behandlung quasi automatisch, ohne dass der Mitgliedstaat noch eine gesonderte Gestaltungsfreiheit bezüglich der mehrwertsteuerlichen Einordnung besäße.

33.      Ich teile diese Ansicht der Kommission nicht. Artikel 13 Teil A Absatz 1 Buchstabe c der Sechsten Richtlinie setzt voraus, dass ein Mitgliedstaat einen bestimmten Beruf als arztähnlichen Beruf definiert. Der niederländische Gesetzgeber hat den Beruf des Psychotherapeuten zwar rechtlich geregelt, allerdings nicht als arztähnlichen Beruf eingeordnet. Er wird weder im Mehrwertsteuergesetz noch in dem Gesetz über arztähnliche Berufe genannt, auf den das Umsatzsteuergesetz verweist.

34.      Die Tatsache allein, dass eine Berufsbezeichnung aus Gründen des Schutzes der öffentlichen Gesundheit nur von Personen mit bestimmten Qualifikationen geführt werden darf, sagt nichts darüber aus, ob ein Beruf als arztähnlich anzusehen ist. Es widerspräche dem Erfordernis der Rechtsklarheit, das im Einleitungssatz von Artikel 13 Teil A Absatz 1 der Sechsten Richtlinie zum Ausdruck kommt, aus der Regelung über das Register der Psychotherapeuten auf die mehrwertsteuerliche Behandlung als arztähnlicher Beruf zu schließen.

b)      Schranken des Ermessens

35.      Das Ermessen, das den Mitgliedstaaten bei der Definition der arztähnlichen Berufe im Sinne des Mehrwertsteuerrechts zukommt, ist nicht schrankenlos. Die Schranken stellen insbesondere sicher, dass ein Mitgliedstaat nicht willkürlich zwischen mehrwertsteuerfreien und mehrwertsteuerpflichtigen arztähnlichen Berufen differenziert.

36.      Im vorliegenden Fall ist zu prüfen, ob die Niederlande die Grenzen dieses Ermessens überschritten haben, weil sie Psychotherapeuten nicht als arztähnlichen Beruf anerkannt, und die im Rahmen dieses Berufes erbrachten Umsätze nicht von der Mehrwertsteuer befreit haben. Diese Prüfung verlangt eine genaue Untersuchung der Sach- und Rechtslage in den Niederlanden im Zeitraum vor 1997 und obliegt daher grundsätzlich dem vorlegenden Gericht.(14) Jedoch kann der Gerichtshof Hinweise geben, welche Gesichtspunkte dabei zu beachten sind.

37.      Bei der Ausübung seines Ermessens muss der Mitgliedstaat die Ziele der Richtlinie und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, insbesondere die Grundsätze der Gleichbehandlung und der steuerlichen Neutralität beachten.(15)

38.      Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes sind die Steuerbefreiungen des Artikels 13 der Sechsten Richtlinie grundsätzlich eng auszulegen, da sie Ausnahmen von dem allgemeinen Grundsatz darstellen, dass jede Dienstleistung, die ein Steuerpflichtiger gegen Entgelt erbringt, der Mehrwertsteuer unterliegt.(16) Im Fall der Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin ist aber auch der soziale Zweck der Steuerbefreiung zu berücksichtigen. Diese Leistungen sollen für die Allgemeinheit erschwinglich bleiben und nicht durch die Mehrwertsteuer verteuert werden.(17)

39.      Der nationale Gesetzgeber darf den Kreis der steuerbegünstigten arztähnlichen Berufe also nicht zu weit ziehen und nur Berufsgruppen einschließen, deren Angehörige für die Erbringung der medizinischen Dienstleistungen qualifiziert sind. Wie die Kommission und die niederländische Regierung zu Recht hervorheben, besteht ein Allgemeininteresse nämlich ausschließlich an der Steuerbefreiung von Heilbehandlungen, die durch qualifiziertes Personal vorgenommen werden.

40.      Aus dem Gleichbehandlungsgrundsatz folgt, dass die Angehörigen verschiedener Berufsgruppen steuerlich gleich behandelt werden müssen, soweit sie im Hinblick auf bestimmte Tätigkeiten über gleichartige Qualifikation verfügen. Der Grundsatz der steuerlichen Neutralität, der letztlich nur eine nähere Ausprägung des allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatzes ist, verbietet außerdem, Wirtschaftsteilnehmer, die die gleichen Umsätze bewirken, bei deren Besteuerung unterschiedlich zu behandeln.(18)

41.      Das vorlegende Gericht muss im vorliegenden Fall also untersuchen, ob ein Psychotherapeut im Sinne der Verordnung über die Eintragung von Psychotherapeuten, der eine Ausbildung wie die Klägerin besitzt, in gleicher Weise für die Erbringung psychotherapeutischer Leistungen qualifiziert ist wie ein Psychiater und ein Psychologe.

42.      Entgegen dem Vorbringen der niederländischen Regierung ist ein Verstoß gegen den Grundsatz der steuerlichen Neutralität nicht schon deswegen ausgeschlossen, weil alle Psychotherapeuten gleich behandelt worden sind. Zu vergleichen sind nämlich die psychotherapeutischen Leistungen, die Psychiater und Psychologen einerseits und Psychotherapeuten andererseits erbringen. Dagegen ist für die Prüfung der Gleichartigkeit der Dienstleistungen die Identität des Dienstleistungserbringers grundsätzlich nicht von Bedeutung.(19) Allerdings kann die unterschiedliche Qualifikation verschiedener Anbieter medizinischer Leistungen Rückschlüsse auf die Qualität der Leistungen selbst zulassen und damit die Gleichartigkeitsprüfung indirekt beeinflussen.

43.      Bei der Vergleichbarkeit der Leistungen spielt es keine entscheidende Rolle, dass Psychiater und Psychologen die Psychotherapie im Zusammenhang mit anderen Leistungen, z. B. medikamentösen Behandlungen, anbieten können und sich dadurch möglicherweise gewisse Synergieeffekte erzielen lassen. Dass es einen Beruf des Psychotherapeuten gibt, belegt nämlich, dass die Psychotherapie grundsätzlich als eigenständige Leistung anzusehen ist, die auch losgelöst von anderen Therapien eingesetzt werden kann.

44.      Auf die Vorlagefrage in der Rechtssache C-444/04 ist daher zu antworten, dass Artikel 13 Teil A Absatz 1 Buchstabe c der Sechsten Richtlinie den Mitgliedstaaten ein Ermessen bei der Definition der arztähnlichen Berufe einräumt. Bei der Ausübung dieses Ermessens müssen die Mitgliedstaaten die Ziele der Sechsten Richtlinie und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, insbesondere den Grundsatz der Gleichbehandlung und der steuerlichen Neutralität beachten. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts zu prüfen, ob der betroffene Mitgliedstaat sein Ermessen überschritten hat, indem er die Leistungen von Psychotherapeuten anders als entsprechende Leistungen von Psychiatern und Psychologen nicht von der Mehrwertsteuer befreit hat.

C –    Zur Rechtssache C-443/04 (Solleveld)

45.      In diesem Verfahren ist zu klären, ob das Ermessen, das Artikel 13 Teil A Absatz 1 Buchstabe c der Sechsten Richtlinie den Mitgliedstaaten bei der Definition arztähnlicher Berufe eröffnet, auch die Befugnis einschließt, die jeweiligen berufstypischen Tätigkeiten festzulegen, die allein steuerbefreit sind.

1.      Vorbringen der Beteiligten

46.      Nach Ansicht von Herrn Solleveld gilt Artikel 13 Teil A Absatz 1 Buchstabe c der Sechsten Richtlinie für alle Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin. Die Mitgliedstaaten dürften nicht einzelne Formen von Heilbehandlungen von der Steuerbefreiung ausschließen, wenn sie von Angehörigen einer bestimmten arztähnlichen Berufsgruppe erbracht werden. Es sei außerdem unzulässig, die Leistungen der Störfelddiagnostik in steuerlicher Hinsicht unterschiedlich zu behandeln, je nachdem ob sie von einem diplomierten Physiotherapeuten oder einem Arzt erbracht werden.

47.      Die Kommission hält die Leistungen für steuerfrei, da sie Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin darstellten, die ein Angehöriger eines anerkannten arztähnlichen Berufes im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit erbringe. Falls Physiotherapeuten nach nationalem Berufsrecht nicht befugt seien, entsprechende Behandlungen durchzuführen, müsse der Mitgliedstaat dies durch berufsrechtliche bzw. disziplinarische Maßnahmen unterbinden und nicht durch einen Ausschluss der Leistungen von der Mehrwertsteuerbefreiung. Es sei nicht in jedem Einzelfall zu prüfen, ob eine Heilbehandlung von einer qualifizierten Person ausgeführt werde, und ob die Mehrwertsteuerbefreiung daher im Allgemeininteresse liege. Die einheitliche Anwendung der Richtlinie sei gefährdet, wenn die Steuerbefreiung von der Beschreibung der Heilbehandlungen abhinge, deren Erbringung ein bestimmtes Berufbild umfasse.

48.      Die niederländische Regierung verweist auf das Gebot, die Befreiungstatbestände eng auszulegen. Es entspreche der sozialen Zielsetzung der Regelung, allein diejenigen medizinischen Leistungen von der Mehrwertsteuer zu befreien, die von dafür qualifizierten Personen erbracht werden. Die niederländische Regelung sei objektiv und einfach. Anhand der Wet BIG könne ermittelt werden, welche Leistungen befreit seien.

2.      Würdigung

49.      Die Befreiung von Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin dient – wie bereits ausgeführt – dem Zweck, diese Leistungen nicht zu verteuern.(20) Damit die Befreiung gerechtfertigt ist, müssen die Leistungen allerdings gewisse Qualitätsstandards erfüllen; die Regelung stellt deswegen darauf ab, dass die Dienstleistungen im Rahmen der Ausübung eines ärztlichen oder arztähnlichen Berufes und damit von einer kompetenten Person erbracht werden.(21)

50.      Den Mitgliedstaaten bleibt es vorbehalten, die entsprechenden Berufe zu definieren. Fraglich ist allerdings, ob dieses Ermessen die Bestimmung der Tätigkeiten einschließt, die als Ausübung eines bestimmten Berufes und damit als steuerbefreit gelten.

51.      Der Wortlaut von Artikel 13 Teil A Absatz 1 Buchstabe c der Sechsten Richtlinie gibt darüber keinen klaren Aufschluss. Lediglich in der englischen Fassung könnte man schon den Wortlaut so verstehen, dass die Mitgliedstaaten auch definieren, welche Tätigkeiten dem jeweiligen Berufsbild eines arztähnlichen Berufes zuzurechnen sind. Sie lautet: the provision of medical care in the exercise of the medical and paramedical professions as defined by the Member State concerned. Hier bleibt indes offen, ob sich der Satzteil as defined by the Member State nur auf medical and paramedical professions oder auf den gesamten Ausdruck the exercise of the medical and paramedical professions bezieht.

52.      Die Kommission versteht den Ausdruck „im Rahmen der Ausübung der …arztähnlichen Berufe“ eher in einem tatsächlichen Sinne, d. h., dass die entsprechende Leistung innerhalb der beruflichen Tätigkeit erbracht werden muss und nicht im Rahmen einer weiteren (Neben-) Beschäftigung.

53.      Zum einen bleibt dabei jedoch unklar, wie der tatsächliche Rahmen der Ausübung des arztähnlichen Berufes in diesem Sinne zu bestimmen ist. Zwar könnte man insofern verschiedene Indizien berücksichtigen, etwa, dass die Heilbehandlung in den Praxisräumen durchgeführt wird. Wie sind dann aber Hausbesuche zu beurteilen? Gerade der Umstand, dass eine bestimmte Tätigkeit nichts mit dem ausgeübten Beruf zu tun hat, ist ein zuverlässigeres Indiz dafür, dass der Dienstleistende seinen professionellen Rahmen verlassen hat.

54.      Zum anderen verkennt die Kommission die Zielsetzung der Richtlinie, dass Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin nur dann von der Steuer zu befreien sind, wenn sie von dafür qualifizierten Personen erbracht werden.(22)

55.      Die Richtlinie überlässt es den Mitgliedstaaten, die ärztlichen und arztähnlichen Berufe zu definieren, deren Angehörige für die Erbringung medizinischer Leistungen qualifiziert sind. Dabei wäre diese Definition unvollständig, wenn sie nur abstrakte Anforderungen an die Qualifikation derjenigen stellte, die einen bestimmten medizinischen Beruf ausüben wollen, ohne zugleich festzulegen, was dieser Beruf für Tätigkeiten umfasst. Denn nicht alle ärztlichen und arztähnlichen Berufsqualifikationen bereiten auf alle Arten von Heilbehandlungen vor. Es liegt auf der Hand, dass ein Physiotherapeut etwa nicht dafür ausgebildet ist, chirurgische Eingriffe vorzunehmen. Sollte er dies dennoch tun, so verstieße es gegen die Zielsetzung der Richtlinie, derartige Leistungen von der Mehrwertsteuer zu befreien. Das Ermessen, das die Mitgliedstaaten bei der Definition der ärztlichen und arztähnlichen Berufe besitzen, schließt daher auch die Befugnis ein, die Tätigkeiten zu definieren, für die ein bestimmter Beruf qualifiziert und dadurch auch die Mehrwertsteuerbefreiung auf diese Tätigkeiten zu beschränken.

56.      Die Kommission schlägt in diesem Zusammenhang vor, die Durchführung von Heilbehandlungen, die die fachlichen Grenzen eines Berufs überschreiten, durch entsprechende berufsrechtliche Regeln zu untersagen, statt hieraus Konsequenzen für die Mehrwertsteuerbefreiung zu ziehen.

57.      Der Kommission ist zuzugeben, dass die Qualitätssicherung normalerweise nicht durch das Mehrwertsteuerrecht geschieht. Dementsprechend stellt der Gerichtshof auch in ständiger Rechtsprechung fest, dass der Grundsatz der steuerlichen Neutralität im Allgemeinen eine Differenzierung zwischen erlaubten und unerlaubten Leistungen verbietet.(23)

58.      Mit der vorliegenden Befreiung verfolgt das Mehrwertsteuerrecht aber gerade selbst ein am Gemeinwohl orientiertes Ziel. Dieses Ziel gebietet es, eine Leistung nur dann von der Steuer zu befreien, wenn sie von einer hierfür im Allgemeinen qualifizierten Person erbracht wird.

59.      Die Kommission befürchtet jedoch, dass es je nach Mitgliedstaat zu erheblichen Abweichungen bei der Anwendung der Steuerbefreiung von Heilbehandlungen kommen könnte, wenn die Befreiung von der jeweiligen Ausgestaltung der Berufsbilder abhinge.

60.      Dazu ist zunächst festzustellen, dass der Gemeinschaftsgesetzgeber gewisse Abweichungen zwischen den nationalen Rechtsordnungen in Kauf genommen hat, indem er den Mitgliedstaaten ein eigenes Ermessen bei der Definition der ärztlichen und arztähnlichen Berufe belassen hat.

61.      Im Übrigen schließt der Grundsatz der steuerlichen Neutralität aus, dass die Ausgestaltung der Berufsbilder in einem Mitgliedstaat zu einer willkürlichen und allzu stark von den anderen Mitgliedstaaten abweichenden Anwendung der Steuerbefreiung führen kann.(24) Nach diesem Grundsatz dürfen gleichartige Leistungen zwar nicht allein deswegen unterschiedlich behandelt werden, weil sie von Personen mit unterschiedlichem beruflichem Hintergrund erbracht werden.(25) Bei Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin hat die persönliche Qualifikation des Dienstleistenden aber entscheidenden Einfluss auf die Qualität der Leistung selbst. Folglich können Leistungen, die von hierfür nicht ausgebildeten Personen erbracht werden, und Leistungen von entsprechend qualifiziertem Personal in der Regel nicht als gleichartig angesehen werden.

62.      Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob die niederländische Steuerverwaltung bei der Einordnung der Störfelddiagnostik dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität im konkreten Fall hinreichend Rechnung getragen hat.

63.      Dabei ergibt sich allerdings das Problem, dass diese Form der Heilbehandlung möglicherweise keinem ärztlichen oder arztähnlichen Beruf eindeutig zuzuordnen ist, weil es sich um ein neuartiges und alternatives Verfahren handelt. Zudem scheint diese Methode einem interdisziplinären Ansatz zu folgen, da sie seelische und organische Störungen, die herkömmlicherweise von den Angehörigen verschiedener Berufsgruppen behandelt werden – u. U. auch von Physiotherapeuten, wenn es sich um Beeinträchtigungen des Bewegungsapparates handelt – mit Diagnosen und Behandlungen im Bereich des Mundes und Kiefers in Bezug setzt.

64.      Es wäre mit dem Sinn und Zweck des Artikels 13 Teil A Absatz 1 Buchstabe c der Sechsten Richtlinie nicht zu vereinbaren, wenn eine Leistung, die unstreitig als Heilbehandlung im Bereich der Humanmedizin anzusehen ist, letztlich dennoch der Mehrwertsteuer unterworfen wird, weil sie in keines der traditionellen Berufsbilder passt.(26)

65.      Um dieses Ergebnis zu vermeiden, dürfen die nationalen Vorschriften, die die Tätigkeitsfelder eines Berufes festlegen, nicht zu eng ausgelegt werden. Vielmehr muss gewährleistet sein, dass sie die nötige Offenheit besitzen, um auch neuartige und interdisziplinäre Methoden einzuschließen. Berufe, die eine umfassende Ausbildung voraussetzen, werden dabei im Regelfall einen größeren Spielraum lassen, als Berufe, die geringere Qualifikationen erfordern.

66.      Von dieser These ausgehend könnte man annehmen, dass Umsätze im Zusammenhang mit der Störfelddiagnostik jedenfalls von der Mehrwertsteuer befreit sind, wenn ein Arzt oder Zahnarzt sie tätigt, da die Angehörigen dieser Berufsgruppen in umfassender Weise medizinisch ausgebildet sind. Andererseits ist fraglich, ob Ärzte bzw. Zahnärzte hierfür tatsächlich besser qualifiziert sind als Physiotherapeuten. Denn aus dem Vorabentscheidungsersuchen ergibt sich, dass Herrn Solleveld die Patienten häufig gerade von Ärzten überwiesen werden, die diese Methode offenbar nicht selbst anwenden können (oder wollen).

67.      Es ist unklar, ob Leistungen der Störfelddiagnostik nach niederländischem Recht tatsächlich steuerfrei wären, wenn ein Arzt sie erbringt. Herr Solleveld vertritt diese Auffassung. Die niederländische Regierung wollte sich auch auf ausdrückliche Nachfrage in der mündlichen Verhandlung hierzu nicht festlegen. Sollte das vorlegende Gericht zu der Überzeugung gelangen, dass die ärztliche Tätigkeit in diesem Bereich von der Mehrwertsteuer befreit ist, müsste es prüfen, ob entsprechende Leistungen eines Physiotherapeuten als gleichartig anzusehen sind, weil Angehörige dieses Berufs in gleicher Weise für diese Tätigkeiten qualifiziert sind wie Ärzte. Ist dies der Fall, gebietet der Grundsatz der steuerlichen Neutralität, sie gleich zu behandeln.

68.      Fällt eine anerkannte Form der Heilbehandlung nach den bestehenden Regeln weder in den Tätigkeitsbereich eines ärztlichen noch eines arztähnlichen Berufes, so ist auch zu berücksichtigen, ob der Dienstleistungserbringer über besondere Qualifikationen für die neuartige Methode verfügt, etwa weil er spezifische Fortbildungen dafür absolviert hat.

69.      Zusammenfassend ist festzustellen, dass Artikel 13 Teil A Absatz 1 Buchstabe c der Sechsten Richtlinie es den Mitgliedstaaten erlaubt zu definieren, welche Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin als Tätigkeiten eines bestimmten ärztlichen oder arztähnlichen Berufes anzusehen und als solche von der Mehrwertsteuer befreit sind. Die entsprechenden Definitionen müssen jedoch hinreichend offen sein, um auch alternative und interdisziplinäre Methoden, die als Heilbehandlung anerkannt sind, einer oder mehreren Berufsgruppen zuordnen zu können. Bei der Ausübung dieser Befugnis müssen die Mitgliedstaaten zudem den Grundsatz der steuerlichen Neutralität beachten.

V –    Ergebnis

70.      Im Ergebnis schlage ich folgende Antworten auf die Vorlagefragen des Hoge Raad vor:

Rechtssache C-444/04

Artikel 13 Teil A Absatz 1 Buchstabe c der Sechsten Richtlinie räumt den Mitgliedstaaten ein Ermessen bei der Definition der arztähnlichen Berufe ein. Bei der Ausübung dieses Ermessens müssen die Mitgliedstaaten die Ziele der Sechsten Richtlinie und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, insbesondere den Grundsatz der Gleichbehandlung und der steuerlichen Neutralität beachten. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts zu prüfen, ob der betroffene Mitgliedstaat sein Ermessen überschritten hat, indem er die Leistungen von Psychotherapeuten anders als entsprechende Leistungen von Psychiatern und Psychologen nicht von der Mehrwertsteuer befreit hat.

Rechtssache C-443/04

Ein Mitgliedstaat ist nach Artikel 13 Teil A Absatz 1 Buchstabe c der Sechsten Richtlinie befugt zu definieren, welche Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin als Tätigkeiten eines bestimmten ärztlichen oder arztähnlichen Berufes anzusehen und als solche von der Mehrwertsteuer befreit sind. Die entsprechenden Definitionen müssen jedoch hinreichend offen sein, um auch alternative und interdisziplinäre Methoden, die als Heilbehandlung anerkannt sind, einer oder mehreren Berufsgruppen zuordnen zu können. Bei der Ausübung dieser Befugnis müssen die Mitgliedstaaten zudem den Grundsatz der steuerlichen Neutralität beachten.


1 – Originalsprache: Deutsch.


2  – ABl. L 145, S. 1.


3 – Stb. 1963, S. 113.


4 – Staatscourant 1986, S. 149.


5 – Stb. 1997, S. 516.


6 – Urteile vom 12. Juni 2003 in der Rechtssache C-275/01 (Sinclair Collis, Slg. 2003, I-5965, Randnr. 22), vom 18. November 2004 in der Rechtssache C-284/03 (Temco Europe, Slg. 2004, I-11237, Randnr. 16) und vom 26. Mai 2005 in der Rechtssache C-498/03 (Kingscrest und Montecello, Slg. 2005, I-4427, Randnr. 22). In diesem Sinne auch Urteil vom 10. September 2002 in der Rechtssache C-141/00 (Kügler, Slg. 2002, I-6833, Randnr. 25).


7 – Urteil Kingscrest und Montecello (zitiert in Fußnote 6, Randnr. 24) unter Verweis auf das Urteil vom 20. Juni 2002 in der Rechtssache C-287/00 (Kommission/Deutschland, Slg. 2002, I-5811, Randnr. 50); siehe auch Urteil vom 28. März 1996 in der Rechtssache C-468/93 (Gemeente Emmen, Slg. 1996, I-1721, Randnr. 19).


8 – Urteil Kingscrest und Montecello (zitiert in Fußnote 6, Randnr. 22 f.) unter Verweis auf das Urteil vom 11. August 1995 in der Rechtssache C-453/93 (Bulthuis-Griffioen, Slg. 1995, I-2341, Randnr. 18).


9 – Urteil Gemeente Emmen (zitiert in Fußnote 7, Randnr. 25); siehe auch meine Schlussanträge vom 8. September 2005 in der Rechtssache C-169/04 (Abbey National, Slg. 2005, I-0000, Nr. 36) betreffend Artikel 13 Teil B Buchstabe d Nummer 6 der Sechsten Richtlinie (Verwaltung von durch die Mitgliedstaaten als solche definierten Sondervermögen durch Kapitalanlagegesellschaften).


10 – Für eine Reihe medizinischer Berufe (z. B. Ärzte, Zahnärzte, Hebammen und Krankenschwestern) sind in Richtlinien gemeinsame Anforderungen an die berufliche Qualifikation aufgestellt worden, um deren gegenseitige Anerkennung zu gewährleisten (siehe neuerdings vor allem die Richtlinie 2005/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. September 2005 über die Anerkennung von Berufsqualifikationen, ABl. L 255, S. 22, die eine Reihe spezieller Richtlinien ersetzt). An diese Vorgaben sind die Mitgliedstaaten bei der Ausübung ihres Ermessens gebunden. Soweit ersichtlich, bestehen für Psychotherapeuten und Physiotherapeuten jedoch noch keine sekundärrechtlichen Vorgaben. Der Beruf des Physiotherapeuten bzw. Krankengymnasten gilt lediglich in einigen Mitgliedstaaten als Beruf mit einem besonders strukturierten Ausbildungsgang (vgl. Artikel 11 Buchstabe c Ziffer ii in Verbindung mit Anhang II Ziffer 1 der Richtlinie 2005/36).


11 – Vgl. hinsichtlich der Ziele der Richtlinie: Urteil Gemeente Emmen (zitiert in Fußnote 7, Randnr. 25); hinsichtlich der allgemeinen Rechtsgrundsätze Urteile Kügler (zitiert in Fußnote 6, Randnrn. 55 f.) und Urteil vom 6. November 2003 in der Rechtssache C-45/01 (Dornier, Slg. 2003, I-12911, Randnr. 69). Siehe dazu näher unten, Nrn. 37 ff.).


12 – Urteile Kügler (zitiert in Fußnote 6, Randnrn. 55) und Dornier (zitiert in Fußnote 11, Randnr. 69).


13 – Vgl. bezüglich der Anerkennung als Einrichtungen im Sinne des Artikels 13 Teil A Absatz 1 Buchstabe b der Sechsten Richtlinie das Urteil Dornier (zitiert in Fußnote 11, Randnr. 67).


14 – Vgl. Urteile Kügler (zitiert in Fußnote 6, Randnr. 56) und Dornier (zitiert in Fußnote 11, Randnr. 69). Im Urteil Dornier ist der Gerichtshof sogar selbst zu dem Schluss gekommen, dass der betroffene Mitgliedstaat das ihm in Artikel 13 Teil A Absatz 1 Buchstabe b der Sechsten Richtlinie eröffnete Ermessen bei der Anerkennung einer Einrichtung, die staatlichen Krankenhäusern gleichzustellen ist, überschritten hat (Randnr. 70 des Urteils).


15 – Vgl. hinsichtlich der Ziele der Richtlinie; Urteil Gemeente Emmen (zitiert in Fußnote 7, Randnr. 25); hinsichtlich der allgemeinen Rechtsgrundsätze Urteile Kügler (zitiert in Fußnote 6, Randnrn. 55 f.) und Dornier (zitiert in Fußnote 11, Randnr. 69). Siehe auch das Urteil vom 11. Juni 1998 in der Rechtssache C-283/95 (Fischer, Slg. 1998, I-3369, Randnr. 27), in dem der Gerichtshof festgestellt hat, dass die Sechste Richtlinie, wenn sie den Mitgliedstaaten Gestaltungsspielräume bei der Festlegung der Bedingungen für eine Steuerbefreiung einräumt, nicht dazu ermächtigt, den Grundsatz der steuerlichen Neutralität zu verletzen.


16 – Urteil Kügler (zitiert in Fußnote 6, Randnr. 28), vom 20. Oktober 2003 in der Rechtssache C-307/01 (d'Ambrumenil und Dispute Resolutions Services Ltd, Slg. 2003, I-13989, Randnr. 52) und Dornier (zitiert in Fußnote 11, Randnr. 42) sowie Urteil Kingscrest und Montecello (zitiert in Fußnote 6, Randnr. 29).


17 – Urteil d'Ambrumenil (zitiert in Fußnote 16, Randnr. 58) unter Verweis auf die Urteile vom 11. Januar 2001 in der Rechtssache C-76/99 (Kommission/Frankreich, Slg. 2001, I-249, Randnr. 23) und Kügler (zitiert in Fußnote 6, Randnr 29), die die entsprechende Steuerbefreiung von Krankenhausleistungen in Artikel 13 Teil A Absatz 1 Buchstabe b der Sechsten Richtlinie betreffen.


18 – Urteile Kügler (zitiert in Fußnote 6, Randnr. 30); Dornier (zitiert in Fußnote 11, Randnr. 44) sowie die Urteile vom 7. September 1999 in der Rechtssache C-216/97 (Gregg, Slg. 1999, I-4947, Randnr. 20) und vom 17. Februar 2005 in den Rechtssachen C-453/02 und C-462/02 (Linneweber und Akritidis, Slg. 2005, I-0000, Randnr. 24).


19 – Urteile Gregg (zitiert in Fußnote 18, Randnr. 20) und Linneweber und Akritidis (zitiert in Fußnote 18, Randnr. 25).


20 – Siehe oben, Nr. 38.


21 – Siehe oben, Nr. 37.


22 – Siehe oben, Nr. 39.


23 – Urteile vom 2. August 1993 in der Rechtssache C-111/92 (Lange, Slg. 1993, I-4677, Randnrn. 16 und 17), Fischer (zitiert in Fußnote 15, Randnrn. 21 und 27 f.), vom 29. Juni 1999 in der Rechtssache C-158/98 (Coffeeshop „Siberië“, Slg. 1999, I-3971, Randnrn. 14 und 21) und vom 29. Juni 2000 in der Rechtssache C-455/98 (Salumets, Slg. 2000, I-4993, Randnr. 19).


24 – Siehe dazu oben, Nrn. 37 und 42 ff.


25 – Siehe dazu oben, Nr. 42 und die Nachweise in Fußnote 19.


26 – Dieser Umstand könnte allerdings die Frage aufwerfen, ob man derartige Leistungen tatsächlich als Heilbehandlungen ansehen kann.