Rechtssache C‑117/20
bpost SA
gegen
Autorité belge de la concurrence
(Vorabentscheidungsersuchen der Cour d’appel de Bruxelles [Appellationshof Brüssel, Belgien])
Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 22. März 2022
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Wettbewerb – Postdienste – Von einem Anbieter von Universaldienstleistungen eingeführtes Tarifsystem – Von einer nationalen Regulierungsbehörde für den Postsektor verhängte Geldbuße – Von einer nationalen Wettbewerbsbehörde verhängte Geldbuße – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 50 – Grundsatz ne bis in idem – Vorliegen derselben Straftat – Art. 52 Abs. 1 – Einschränkungen des Grundsatzes ne bis in idem – Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen – Voraussetzungen – Verfolgung einer dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung – Verhältnismäßigkeit“
1. Grundrechte – Grundsatz ne bis in idem – Verankerung sowohl in der Charta der Grundrechte als auch im Zusatzprotokoll Nr. 7 zur Europäischen Menschenrechtskonvention – Gleiche Bedeutung und Tragweite
(Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 50 und Art. 52 Abs. 3)
(vgl. Rn. 22, 23)
2. Grundrechte – Grundsatz ne bis in idem – Anwendungsvoraussetzungen – Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen strafrechtlicher Natur – Kriterien für die Beurteilung der strafrechtlichen Natur – Rechtliche Einordnung der Zuwiderhandlung im innerstaatlichen Recht, Art der Zuwiderhandlung und Schweregrad der drohenden Sanktion
(Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 50)
(vgl. Rn. 24‑27)
3. Grundrechte – Grundsatz ne bis in idem – Anwendungsvoraussetzungen – Vorliegen einer früheren endgültigen Entscheidung – Beurteilungskriterien – Nach einer Prüfung in der Sache ergangene endgültige Entscheidung
(Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 50)
(vgl. Rn. 29, 30)
4. Grundrechte – Grundsatz ne bis in idem – Anwendungsvoraussetzungen – Vorliegen derselben Straftat – Beurteilungskriterium – Identität der materiellen Tat
(Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 50)
(vgl. Rn. 33‑38)
5. Grundrechte – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Einschränkung der Ausübung der in der Charta niedergelegten Rechte und Freiheiten – Einschränkung des Grundsatzes ne bis in idem – Voraussetzungen – Wahrung des Wesensgehalts dieses Grundsatzes – Beurteilung
(Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 50 und Art. 52 Abs. 1)
(vgl. Rn. 43)
6. Grundrechte – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Einschränkung der Ausübung der in der Charta niedergelegten Rechte und Freiheiten – Einschränkung des Grundsatzes ne bis in idem – Voraussetzungen – Verfolgung einer dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung – Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen auf der Grundlage einer sektorspezifischen Regelung und des Wettbewerbsrechts – Regelungen, mit denen verschiedene legitime Ziele verfolgt werden
(Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 50 und Art. 52 Abs. 1)
(vgl. Rn. 44‑47)
7. Grundrechte – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Einschränkung der Ausübung der in der Charta niedergelegten Rechte und Freiheiten – Einschränkung des Grundsatzes ne bis in idem – Voraussetzungen – Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit – Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen auf der Grundlage einer sektorspezifischen Regelung und des Wettbewerbsrechts – Angemessenheit, Verhältnismäßigkeit und zwingende Erforderlichkeit der Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen – Beurteilung – Kriterien
(Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 50 und Art. 52 Abs. 1)
(vgl. Rn. 48‑57)
Zusammenfassung
Ab dem Jahr 2010 führte der etablierte Postdiensteanbieter in Belgien, die bpost SA, ein neues Tarifsystem ein.
Mit Entscheidung vom 20. Juli 2011 verhängte die belgische Regulierungsbehörde für den Postsektor(1) gegen bpost eine Geldbuße in Höhe von 2,3 Mio. Euro wegen eines Verstoßes gegen eine anwendbare sektorspezifische Regelung, da dieses neue Tarifsystem auf einer ungerechtfertigten Ungleichbehandlung von Konsolidierern und unmittelbaren Kunden beruhe.
Diese Entscheidung wurde von der Cour d’appel de Bruxelles (Appellationshof Brüssel, Belgien) mit der Begründung aufgehoben, dass das in Rede stehende Tarifsystem nicht diskriminierend sei. Dieses Urteil, das rechtskräftig geworden ist, erging im Anschluss an ein Vorabentscheidungsersuchen, zu dem das Urteil bpost des Gerichtshofs vom 11. Februar 2015 ergangen ist(2).
In der Zwischenzeit stellte die belgische Wettbewerbsbehörde mit Entscheidung vom 10. Dezember 2012 fest, dass bpost einen nach dem Gesetz über den Schutz des Wettbewerbs(3) und Art. 102 AEUV verbotenen Missbrauch einer beherrschenden Stellung begangen habe. Dieser Missbrauch habe in der Einführung und Umsetzung des neuen Tarifsystems im Zeitraum von Januar 2010 bis Juli 2011 bestanden. Die belgische Wettbewerbsbehörde erlegte bpost folglich eine Geldbuße in Höhe von 37 399 786 Euro auf, die unter Berücksichtigung der zuvor von der Regulierungsbehörde für den Postsektor verhängten Geldbuße berechnet wurde.
Diese Entscheidung wurde ebenfalls von der Cour d’appel de Bruxelles (Appellationshof Brüssel) aufgehoben, da sie gegen den Grundsatz ne bis in idem verstoße. Dieses Gericht war insoweit der Ansicht, dass die von der Regulierungsbehörde für den Postsektor und von der Wettbewerbsbehörde durchgeführten Verfahren denselben Sachverhalt beträfen.
Die Cour de cassation (Kassationshof, Belgien) hob dieses Urteil jedoch auf und verwies die Sache an die Cour d’appel de Bruxelles (Appellationshof Brüssel) zurück.
Im Rahmen des auf diese Zurückverweisung folgenden Verfahrens hat die Cour d’appel de Bruxelles (Appellationshof Brüssel) beschlossen, dem Gerichtshof zwei Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen, mit denen im Wesentlichen geklärt werden sollte, ob der Grundsatz ne bis in idem, so wie er in Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) niedergelegt ist, der Verhängung einer Geldbuße gegen einen Postdiensteanbieter wegen eines Verstoßes gegen das Wettbewerbsrecht der Union entgegensteht, wenn gegen ihn im Hinblick auf denselben Sachverhalt bereits eine endgültige Entscheidung zu einem Verstoß gegen eine spezifische Regelung für den Postsektor ergangen ist.
In Beantwortung dieser Fragen erläutert der Gerichtshof (Große Kammer) sowohl den Umfang als auch die Schranken des Schutzes, den der in Art. 50 der Charta verbürgte Grundsatz ne bis in idem gewährt.
Würdigung durch den Gerichtshof
Der Gerichtshof weist zunächst darauf hin, dass der Grundsatz ne bis in idem, so wie er in Art. 50 der Charta niedergelegt ist, eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen, die strafrechtlicher Natur im Sinne dieses Artikels sind, gegenüber derselben Person wegen derselben Tat verbietet.
Da das vorlegende Gericht die strafrechtliche Natur der von der belgischen Regulierungsbehörde für den Postsektor bzw. von der belgischen Wettbewerbsbehörde gegen bpost eingeleiteten Verfahren bestätigt hat, stellt der Gerichtshof sodann fest, dass die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem zweierlei voraussetzt: nämlich zum einen, dass es eine frühere endgültige Entscheidung gibt (Voraussetzung „bis“), und zum anderen, dass bei der früheren Entscheidung und bei den späteren Verfolgungsmaßnahmen oder Entscheidungen auf denselben Sachverhalt abgestellt wird (Voraussetzung „idem“).
Da die Entscheidung der belgischen Regulierungsbehörde für den Postsektor durch ein rechtskräftiges Urteil aufgehoben wurde, mit dem bpost in dem Verfahren, das auf der Grundlage der spezifischen Regelung für den Postsektor gegen sie geführt wurde, von den entsprechenden Vorwürfen freigesprochen wurde, wurde das von dieser Behörde eingeleitete Verfahren offensichtlich durch eine endgültige Entscheidung beendet, so dass die Voraussetzung „bis“ im vorliegenden Fall erfüllt ist.
Was die Voraussetzung „idem“ betrifft, so ist für die Beurteilung, ob es sich um dieselbe Straftat handelt, das Kriterium der Identität der materiellen Tat maßgebend, unabhängig von der rechtlichen Einordnung der Tat nach nationalem Recht und dem geschützten Rechtsgut. Die Identität der materiellen Tat ist insoweit als die Gesamtheit der konkreten Umstände zu verstehen, die sich aus Ereignissen ergeben, bei denen es sich im Wesentlichen um dieselben handelt, da dieselbe Person gehandelt hat und sie zeitlich sowie räumlich unlösbar miteinander verbunden sind.
Es ist daher Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob der Sachverhalt, der Gegenstand der beiden auf der Grundlage der spezifischen Regelung für den Postsektor bzw. des Wettbewerbsrechts gegen bpost eingeleiteten Verfahren war, identisch ist. Sollte dies der Fall sein, würde die Kumulierung der beiden gegen bpost geführten Verfahren den in Art. 50 der Charta verbürgten Grundsatz ne bis in idem einschränken.
Eine solche Einschränkung des Grundsatzes ne bis in idem kann jedoch auf der Grundlage von Art. 52 Abs. 1 der Charta gerechtfertigt werden. Gemäß dieser Bestimmung muss jede Einschränkung der Ausübung der in der Charta anerkannten Rechte und Freiheiten gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten. Außerdem dürfen gemäß dieser Bestimmung Einschränkungen dieser Rechte und Freiheiten unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen.
Die gesetzlich vorgesehene Möglichkeit, die von zwei verschiedenen nationalen Behörden durchgeführten Verfolgungsmaßnahmen und die von ihnen verhängten Sanktionen zu kumulieren, wahrt den Wesensgehalt von Art. 50 der Charta, sofern die nationale Regelung es nicht ermöglicht, denselben Sachverhalt aufgrund desselben Verstoßes oder zur Verfolgung desselben Ziels zu verfolgen und zu ahnden, sondern nur die Möglichkeit einer Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen aufgrund unterschiedlicher Regelungen vorsieht.
Zur Frage, ob eine solche Kumulierung einer von der Union anerkannten, dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung entsprechen kann, stellt der Gerichtshof fest, dass mit den beiden Regelungen, auf deren Grundlage bpost verfolgt wurde, verschiedene legitime Ziele verfolgt werden. Während nämlich mit der spezifischen Regelung für den Postsektor der Binnenmarkt für Postdienste liberalisiert werden soll, wird mit den Vorschriften zum Schutz des Wettbewerbs das Ziel verfolgt, zu garantieren, dass der Wettbewerb im Binnenmarkt nicht verfälscht wird. Es ist somit legitim, dass ein Mitgliedstaat, um zu gewährleisten, dass der Prozess der Liberalisierung des Binnenmarkts für Postdienste bei gleichzeitiger Sicherstellung seines reibungslosen Funktionierens fortschreitet, Verstöße sowohl gegen die sektorspezifische Regelung zur Liberalisierung des betreffenden Marktes als auch gegen die nationalen und unionsrechtlichen Wettbewerbsvorschriften ahndet.
Zur Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit ist festzustellen, dass nach diesem Grundsatz die in einer nationalen Regelung vorgesehene Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen nicht die Grenzen dessen überschreiten darf, was zur Erreichung der mit dieser Regelung zulässigerweise verfolgten Ziele geeignet und erforderlich ist; stehen mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl, ist die am wenigsten belastende zu wählen, und die durch sie bedingten Nachteile müssen in angemessenem Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen.
Die Tatsache, dass mit zwei Verfahren unterschiedliche dem Gemeinwohl dienende Zielsetzungen verfolgt werden, deren kumulierter Schutz legitim ist, kann im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit einer Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen als Faktor zur Rechtfertigung dieser Kumulierung berücksichtigt werden, sofern diese Verfahren komplementär sind und die zusätzliche Belastung durch diese Kumulierung somit durch die beiden verfolgten Ziele gerechtfertigt werden kann.
Hinsichtlich der zwingenden Erforderlichkeit einer solchen Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen ist zu prüfen, ob die Belastungen, die sich aus der Kumulierung für die Betroffenen ergeben, auf das zwingend Erforderliche beschränkt bleiben und ob die Gesamtheit der verhängten Sanktionen der Schwere der begangenen Straftaten entspricht. Zu diesem Zweck ist zu prüfen, ob es klare und präzise Regeln gibt, anhand deren sich vorhersehen lässt, bei welchen Handlungen und Unterlassungen eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen in Frage kommt, und die eine Koordinierung zwischen den beiden zuständigen Behörden ermöglichen; weiter ist zu prüfen, ob die beiden Verfahren in hinreichend koordinierter Weise und in einem engen zeitlichen Zusammenhang geführt wurden und ob die Gesamtheit der verhängten Sanktionen der Schwere der begangenen Straftaten entspricht.
Die etwaige Rechtfertigung einer Kumulierung von Sanktionen ist somit an Voraussetzungen geknüpft, die, wenn sie erfüllt sind, insbesondere dazu dienen, die in funktionaler Hinsicht bestehende Verschiedenartigkeit der betreffenden Verfahren und damit die konkreten Auswirkungen, die sich für die Betroffenen aus dem Umstand ergeben, dass die gegen sie geführten Verfahren kumuliert werden, zu begrenzen, ohne jedoch das Vorliegen eines „bis“ als solches in Frage zu stellen.