Language of document : ECLI:EU:C:2012:602

STELLUNGNAHME DER GENERALANWÄLTIN

Juliane Kokott

vom 2. Oktober 2012(1)

Rechtssache C‑286/12

Europäische Kommission

gegen

Ungarn


„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Sozialpolitik – Richtlinie 2000/78/EG – Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf – Ungleichbehandlung wegen des Alters – Zwangsweise Versetzung von Richtern, Staatsanwälten und Notaren in den Ruhestand mit Vollendung des 62. Lebensjahrs – Absenkung und spätere Erhöhung des Pensionsalters – Rechtfertigung und Verhältnismäßigkeit der Maßnahme“





I –    Einleitung

1.        Unter welchen Bedingungen lässt das Unionsrecht es zu, ein Höchstalter für die Ausübung von hoheitlichen Funktionen in der Rechtspflege festzulegen? Mit dieser Frage ist der Gerichtshof nicht zum ersten Mal seit der Einführung der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf(2) konfrontiert.

2.        Während es im Urteil Fuchs und Köhler(3) noch darum ging, ob es überhaupt eine zwingende Altersgrenze geben darf, betrifft das vorliegende Vertragsverletzungsverfahren die Absenkung der Altersgrenze für Richter, Staatsanwälte und Notare von 70 Jahren auf 62 Jahre. Damit hat Ungarn das Pensionsalter in der Justiz dem allgemein geltenden Pensionsalter angepasst. Ein halbes Jahr nach Inkrafttreten dieser neuen Regelung wurden alle Amtsträger, die die neue Grenze bereits überschritten hatten, also acht Jahrgänge, in den Ruhestand versetzt. In den nächsten Jahren wird das nunmehr auch für die Justiz geltende allgemeine Pensionsalter allerdings jedes Jahr um sechs Monate angehoben, bis ein allgemeines Pensionsalter von 65 Jahren erreicht ist.

3.        Zu klären ist im Wesentlichen, ob diese Regelung gerechtfertigt ist.

II – Rechtlicher Rahmen

A –    Zur Richtlinie 2000/78

4.        Die Erwägungsgründe 8, 9, 11 und 25 der Richtlinie 2000/78 lauten:

„(8)      In den vom Europäischen Rat auf seiner Tagung am 10. und 11. Dezember 1999 in Helsinki vereinbarten beschäftigungspolitischen Leitlinien für 2000 wird die Notwendigkeit unterstrichen, einen Arbeitsmarkt zu schaffen, der die soziale Eingliederung fördert, indem ein ganzes Bündel aufeinander abgestimmter Maßnahmen getroffen wird, die darauf abstellen, die Diskriminierung von benachteiligten Gruppen, wie den Menschen mit Behinderung, zu bekämpfen. Ferner wird betont, dass der Unterstützung älterer Arbeitnehmer mit dem Ziel der Erhöhung ihres Anteils an der Erwerbsbevölkerung besondere Aufmerksamkeit gebührt.

(9)      Beschäftigung und Beruf sind Bereiche, die für die Gewährleistung gleicher Chancen für alle und für eine volle Teilhabe der Bürger am wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Leben sowie für die individuelle Entfaltung von entscheidender Bedeutung sind.

(11)      Diskriminierungen wegen … des Alters … können die Verwirklichung der im EG-Vertrag festgelegten Ziele unterminieren, insbesondere die Erreichung eines hohen Beschäftigungsniveaus und eines hohen Maßes an sozialem Schutz, die Hebung des Lebensstandards und der Lebensqualität, den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt, die Solidarität sowie die Freizügigkeit.“

(25)      „Das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters stellt ein wesentliches Element zur Erreichung der Ziele der beschäftigungspolitischen Leitlinien und zur Förderung der Vielfalt im Bereich der Beschäftigung dar. Ungleichbehandlungen wegen des Alters können unter bestimmten Umständen jedoch gerechtfertigt sein und erfordern daher besondere Bestimmungen, die je nach der Situation der Mitgliedstaaten unterschiedlich sein können. Es ist daher unbedingt zu unterscheiden zwischen einer Ungleichbehandlung, die insbesondere durch rechtmäßige Ziele im Bereich der Beschäftigungspolitik, des Arbeitsmarktes und der beruflichen Bildung gerechtfertigt ist, und einer Diskriminierung, die zu verbieten ist.“

5.        Zweck der Richtlinie 2000/78 ist nach Art. 1 „die Schaffung eines allgemeinen Rahmens zur Bekämpfung der Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung in Beschäftigung und Beruf im Hinblick auf die Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung in den Mitgliedstaaten“.

6.        Art. 2 Abs. 1 und 2 Buchst. a der Richtlinie 2000/78 enthalten das Diskriminierungsverbot:

„(1)      Im Sinne dieser Richtlinie bedeutet ‚Gleichbehandlungsgrundsatz‘, dass es keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung wegen eines der in Art. 1 genannten Gründe geben darf.

(2)      Im Sinne des Abs. 1

a)      liegt eine unmittelbare Diskriminierung vor, wenn eine Person wegen eines der in Art. 1 genannten Gründe in einer vergleichbaren Situation eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person erfährt, erfahren hat oder erfahren würde“.

7.        Art. 3 („Geltungsbereich“) der Richtlinie 2000/78 sieht in Abs. 1 vor:

„Im Rahmen der auf die Gemeinschaft übertragenen Zuständigkeiten gilt diese Richtlinie für alle Personen in öffentlichen und privaten Bereichen, einschließlich öffentlicher Stellen, in Bezug auf

c)      die Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen, einschließlich der Entlassungsbedingungen und des Arbeitsentgelts;

…“

8.        Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 enthält mögliche Rechtfertigungsgründe für eine Differenzierung anhand des Alters:

„(1)      Ungeachtet des Art. 2 Abs. 2 können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass Ungleichbehandlungen wegen des Alters keine Diskriminierung darstellen, sofern sie objektiv und angemessen sind und im Rahmen des nationalen Rechts durch ein legitimes Ziel, worunter insbesondere rechtmäßige Ziele aus den Bereichen Beschäftigungspolitik, Arbeitsmarkt und berufliche Bildung zu verstehen sind, gerechtfertigt sind und die Mittel zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich sind.

Derartige Ungleichbehandlungen können insbesondere Folgendes einschließen:

a)      die Festlegung besonderer Bedingungen für den Zugang zur Beschäftigung und zur beruflichen Bildung sowie besonderer Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen, einschließlich der Bedingungen für Entlassung und Entlohnung, um die berufliche Eingliederung von Jugendlichen, älteren Arbeitnehmern und Personen mit Fürsorgepflichten zu fördern oder ihren Schutz sicherzustellen;

b)      die Festlegung von Mindestanforderungen an das Alter, die Berufserfahrung oder das Dienstalter für den Zugang zur Beschäftigung oder für bestimmte mit der Beschäftigung verbundene Vorteile;

c)      die Festsetzung eines Höchstalters für die Einstellung aufgrund der spezifischen Ausbildungsanforderungen eines bestimmten Arbeitsplatzes oder aufgrund der Notwendigkeit einer angemessenen Beschäftigungszeit vor dem Eintritt in den Ruhestand.“

B –    Ungarisches Recht

9.        Vor dem 1. Januar 2012 erlaubte Art. 57 Abs. 2 des Gesetzes Nr. LXVIII aus 1997 Richtern, bis zum Alter von 70 Jahren im Amt zu bleiben.

10.      Art. 90 Buchst. ha des Gesetzes Nr. CLXII aus 2011, das am 1. Januar 2012 in Kraft trat, sieht nunmehr vor, dass Richter mit Erreichen der anwendbaren Pensionsgrenze in den Ruhestand versetzt werden.

11.      Bis zum 1. Januar 2010 lag das Pensionsalter in Ungarn bei 62 Jahren. Nach Art. 18 Abs. 1 des Gesetzes Nr. LXXXI aus 1997 in der ab dem 1. Januar 2010 geltenden Fassung liegt nunmehr das Pensionsalter nur noch für Personen, die vor 1952 geboren sind, bei 62 Jahren. Für jeden jüngeren Jahrgang steigt das Pensionsalter um jeweils ein halbes Jahr an, bis es mit dem Jahrgang 1957 das neue allgemeine Pensionsalter von 65 Jahren erreicht.

12.      Gemäß Art. 230 des Gesetzes Nr. CLXII aus 2011 wurden die Richter, die vor dem 1. Januar 2012 das 62. Lebensjahr erreicht hatten, zum 30. Juni 2012 in Ruhestand versetzt und die Richter, die während des Jahres 2012 dieses Alter erreichen, zum 31. Dezember 2012.

13.      Entsprechende Regeln gelten für Staatsanwälte. Für Notare greift die neue Altersgrenze zum 31. Dezember 2013.

III – Vorverfahren und Anträge

14.      Am 17. Januar 2012 hat die Kommission Ungarn gemäß Art. 258 AEUV aufgefordert, sich zu dem Vorwurf zu äußern, mit der Festlegung der neuen Höchstaltersgrenze für Richter, Staatsanwälte und Notare Art. 1, 2 und 6 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 verletzt zu haben. Obwohl Ungarn in der Antwort vom 17. Februar 2012 einen Verstoß bestritten hat, blieb die Kommission in ihrer mit Gründen versehenen Stellungnahme vom 7. März 2012 bei ihrer Auffassung. Darin setzte sie Ungarn eine Frist von einem Monat, um den gerügten Verstoß zu beenden. Allerdings gab Ungarn in seiner Antwort vom 30. März 2012 seinen Standpunkt nicht auf.

15.      Die Kommission erhob daher am 7. Juni 2012 die vorliegende Klage und beantragt,

–        festzustellen, dass die Republik Ungarn dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 2 und Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf verstoßen hat, dass sie eine nationale Regelung erlassen hat, wonach das Dienstverhältnis von Richtern, Staatsanwälten und Notaren mit Vollendung des 62. Lebensjahrs zwingend endet, was zu einer unterschiedlichen Behandlung aufgrund des Alters führt, die nicht durch ein legitimes Ziel gerechtfertigt und jedenfalls zur Erreichung des verfolgten Ziels weder angemessen noch erforderlich ist, und

–        Ungarn die Kosten aufzuerlegen.

16.      Ungarn beantragt,

–        die Klage abzuweisen und

–        der Kommission die Kosten aufzuerlegen.

17.      Nach Angaben Ungarns endete wegen der neuen Altersgrenze zum 30. Juni 2012 das Dienstverhältnis von 194 der 2996 ungarischen Richter. Für 37 weitere Richter wurde bereits die Entscheidung des ungarischen Präsidenten veröffentlicht, ihr Dienstverhältnis zum 31. Dezember 2012 zu beenden. Das gleiche gilt für 79 bzw. 20 von 1784 Staatsanwälten. 61 von 315 Notaren sollen am 31. Dezember 2013 außer Dienst treten.

18.      Auf Antrag der Kommission hat der Präsident des Gerichtshofs mit Beschluss vom 13. Juli 2012 entschieden, die Klage einem beschleunigten Verfahren gemäß Art. 23a der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union und Art. 62a der Verfahrensordnung zu unterwerfen. Die Beteiligten haben schriftlich und in der Verhandlung vom 1. Oktober 2012 mündlich verhandelt.

19.      Am 16. Juli 2012 erklärte der ungarische Verfassungsgerichtshof die Änderung des Pensionsalters der Richter für verfassungswidrig.(4) Seine Entscheidung gilt rückwirkend ab dem 1. Januar 2012, bewirkt allerdings nicht automatisch, dass die bereits aus dem Dienst entlassenen Richter wieder in ihre Stellung eingesetzt werden. Dafür müssen sie sich an die zuständigen ungarischen Gerichte wenden.

IV – Rechtliche Würdigung

A –    Zur Zulässigkeit der Klage

20.      Ungarn vertritt die Auffassung, mit der Entscheidung des ungarischen Verfassungsgerichtshofs habe sich der Rechtsstreit hinsichtlich der rückwirkend zum 1. Januar 2012 aufgehobenen Bestimmungen erledigt. Dieser Einwand betrifft das Pensionsalter der Richter.

21.      Auf den ersten Blick hat es den Anschein, dass die beanstandeten Bestimmungen zum maßgeblichen Zeitpunkt, d. h. bei Ablauf der Frist der mit Gründen versehenen Stellungnahme(5) am 7. April 2012, nicht existierten, da sie aufgrund des Urteils des Verfassungsgerichtshofs rückwirkend entfallen sind. Damit hätte sich der Verfahrensgegenstand der Klage in Bezug auf die Richter nachträglich erledigt.

22.      Tatsächlich ist die rückwirkende Aufhebung der die Richter betreffenden Regeln aber unvollständig. Dass sie zum maßgeblichen Zeitpunkt existierten, zeigt sich vielmehr daran, dass auf ihrer Grundlage zum 30. Juni 2012 194 Richter und 79 Staatsanwälte in den Ruhestand versetzt wurden. Und auch das Urteil des Verfassungsgerichtshofs hat insofern keine unmittelbare Rückwirkung, weil es diese Richter nicht wieder in ihre alte Stellung eingesetzt hat.

23.      Der angeblich unionsrechtswidrige Zustand ist somit nicht vollständig ausgeräumt.(6)

24.      Daher hat das genannte Urteil keine Erledigung des Rechtsstreits in Bezug auf die betroffenen Richter bewirkt.

B –    Materielle Prüfung des Klageantrags

25.      Nach Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 der Richtlinie 2000/78 darf es keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung wegen des Alters geben. Allerdings kann eine Ungleichbehandlung nach Art. 6 gerechtfertigt werden.

26.      Die Richtlinie 2000/78 ist auf Richter, Staatsanwälte und Notare anwendbar, da sie gemäß Art. 3 Abs. 1 für alle Personen in öffentlichen und privaten Bereichen, einschließlich öffentlicher Stellen gilt. Anders als für die Streitkräfte besteht auch keine Ausnahme für die Justiz.

1.      Vorliegen einer Ungleichbehandlung

27.      Die Beendigung des Dienstverhältnisses mit Erreichen der Altersgrenze, die zum Bezug des Ruhegehalts berechtigt, stellt immer eine Ungleichbehandlung wegen des Alters im Sinne des Art. 2 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2000/78 dar.

28.      Eine solche Bestimmung berührt nämlich die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen im Sinne des Art. 3 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2000/78, indem sie die betreffenden Richter, Staatsanwälte und Notare daran hindert, über ihr vollendetes 62. Lebensjahr hinaus zu arbeiten. Darüber hinaus führt diese Bestimmung dadurch eine Ungleichbehandlung wegen des Alters im Sinne des Art. 2 Abs. 1 dieser Richtlinie ein, dass sie diesen Personen eine weniger günstige Behandlung zuteil werden lässt, als sie andere Personen genießen, die dieses Alter noch nicht erreicht haben.(7)

29.      Wenn eine Altersgrenze als solche bereits eine Ungleichbehandlung bewirkt, so muss dies für die Absenkung der Altersgrenze erst recht gelten.

2.      Zur Rechtfertigung der Ungleichbehandlung

30.      Nach Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 stellt eine Ungleichbehandlung wegen des Alters aber keine Diskriminierung dar, sofern sie objektiv und angemessen sowie im Rahmen des nationalen Rechts durch ein legitimes Ziel gerechtfertigt ist, worunter insbesondere rechtmäßige Ziele aus den Bereichen Beschäftigungspolitik, Arbeitsmarkt sowie berufliche Bildung zu verstehen sind. Darüber hinaus müssen die Mittel zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich sein.

31.      Diese Rechtfertigung prüft der Gerichtshof in zwei Schritten: Zunächst untersucht er die Ziele der Maßnahme und anschließend in einer Gesamtbetrachtung des Regelungskontextes sowie der Vor- und Nachteile, ob sie angemessen und erforderlich ist.(8) Ich halte es jedoch für klarer, mich bei der Beurteilung von Angemessenheit und Erforderlichkeit am Prüfungsschema des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zu orientieren.(9)

32.      Danach, dürfen die Maßnahmen nicht die Grenzen dessen überschreiten, was zur Erreichung der mit ihnen zulässigerweise verfolgten Ziele geeignet und erforderlich ist. Wenn mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl stehen, ist die am wenigsten belastende zu wählen. Die dadurch bedingten Nachteile müssen in angemessenem Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen.(10)

33.      Dabei ist zu beachten, dass die Mitgliedstaaten auf nationaler Ebene nicht nur bei der Entscheidung, welches konkrete Ziel von mehreren im Bereich der Arbeits- und Sozialpolitik sie verfolgen wollen, sondern auch bei der Festlegung der Maßnahmen zu seiner Erreichung über einen weiten Spielraum verfügen.(11) Dieser Spielraum besteht auf jeder Ebene der Prüfung der Verhältnismäßigkeit. Dementsprechend ersetzt der Gerichtshof nicht die Bewertung der Mitgliedstaaten, sondern prüft nur, ob sie nicht unvernünftig erscheint.(12)

34.      Im Rahmen des vorliegenden Vertragsverletzungsverfahrens ist es Sache der Kommission, das Vorliegen der behaupteten Vertragsverletzung nachzuweisen. Ihr obliegt es, dem Gerichtshof die erforderlichen Anhaltspunkte zu liefern, die es ihm ermöglichen, das Vorliegen der Vertragsverletzung zu prüfen, wobei sie sich nicht auf bloße Vermutungen stützen kann.(13)

35.      Will ein Mitgliedstaat eine Ausnahme zu einem allgemeinen Prinzip in Anspruch nehmen, so obliegt es hingegen ihm, die Voraussetzungen dieser Ausnahme nachzuweisen.(14) Bei der Anwendung von Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 dürfen die Anforderungen an diesen Nachweis angesichts des weiten Spielraums des Mitgliedstaats nicht überspannt werden.

36.      Nachfolgend werde ich anhand dieser Maßstäbe prüfen, ob die fünf von Ungarn angeführten Ziele legitim sowie ob die Maßnahmen zur Erreichung dieser Ziele geeignet und erforderlich sind. Ob die durch die Maßnahme bedingten Nachteile in einem angemessenen Verhältnis zu den Vorteilen der verbleibenden Ziele stehen, ist ggf. anschließend zu untersuchen. Zunächst ist jedoch auf das Vorbringen der Kommission einzugehen, dass die Ziele der neuen Altersgrenze nicht hinreichend klar erkennbar seien.

a)      Zur Erkennbarkeit der angestrebten Ziele

37.      Der Gerichtshof hat wiederholt entschieden, dass sich aus Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 nicht ableiten lässt, dass eine nationale Regelung, die das angestrebte Ziel nicht genau angibt, automatisch von einer Rechtfertigung nach dieser Bestimmung ausgeschlossen ist. Fehlt es an einer solchen genauen Angabe, ist allerdings wichtig, dass andere – aus dem allgemeinen Kontext der betreffenden Maßnahme abgeleitete – Anhaltspunkte die Feststellung des hinter dieser Maßnahme stehenden Ziels ermöglichen, damit dessen Rechtmäßigkeit sowie die Angemessenheit und Erforderlichkeit der zu seiner Erreichung eingesetzten Mittel gerichtlich überprüft werden können.(15)

38.      An diese Anhaltspunkte können jedoch keine übermäßig strengen Anforderungen gestellt werden. So hat der Gerichtshof auch das Vorbringen eines Mitgliedstaats in der mündlichen Verhandlung ausreichen lassen, um die Ziele einer Altersgrenze zu präzisieren.(16) Daher scheint es mir sinnvoll, das ungarische Vorbringen zu akzeptieren, dass sich die nachfolgend dargestellten Ziele hinreichend klar aus dem Gesetzgebungsverfahren ergeben, obwohl dies nicht weiter belegt wird. Im Übrigen liegen die möglichen Ziele teilweise auch unabhängig von einer ausdrücklichen Erwähnung nahe.

b)      Zur Sicherung des Pensionssystems

39.      Nach Darstellung Ungarns soll die neue Altersgrenze die weitere Funktionsfähigkeit des Pensionssystems sicherstellen.

40.      Dieses Ziel fällt nicht unter die in Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 beispielhaft angeführten Ziele. Die Aufzählung ist jedoch nicht abschließend.(17) Sie umfasst sozialpolitische Ziele wie solche aus den Bereichen Beschäftigungspolitik, Arbeitsmarkt oder berufliche Bildung.(18) Auch das finanzielle Gleichgewicht eines Pensionssystems ist ein solches sozialpolitisches Ziel.(19)

41.      Durch die Senkung der Altersgrenze wird jedoch der Kreis der Personen erweitert, die Pensionen beziehen, und der Kreis derjenigen reduziert, die zur Finanzierung beitragen. Das System wird somit stärker belastet. Die Maßnahme ist daher selbst bei Anerkennung eines weiten Spielraums der Mitgliedstaaten ungeeignet, zum finanziellen Gleichgewicht des Pensionssystems beizutragen.

42.      Dieses Vorbringen Ungarns ist daher zurückzuweisen.

c)      Zur Altersstruktur

43.      Die neue Altersgrenze bezweckt nach Ungarn auch die Schaffung einer ausgewogenen Altersstruktur. Der Zusammenhang zwischen Altersgrenzen und der Altersstruktur liegt auf der Hand. Der Gerichtshof hat bereits festgestellt, dass das Ziel, eine ausgewogene Altersstruktur von jüngeren und älteren Beamten zu schaffen, ein legitimes Ziel der Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik darstellen kann.(20)

44.      Es ist jedoch zweifelhaft, ob die abrupte Einführung der neuen Altersgrenze dazu beitragen kann, eine ausgewogene Altersstruktur im Justizdienst herbeizuführen. Sie zwingt nämlich dazu, acht Altersjahrgänge durch gegenwärtig am Arbeitsmarkt verfügbare Juristen zu ersetzen. Die jetzt eingestellten Jahrgänge werden daher künftig im Justizdienst gegenüber den anderen Jahrgängen ein zahlenmäßiges unverhältnismäßig großes Gewicht haben. Und wenn sie ihrerseits in Ruhestand treten, werden sie ein unverhältnismäßig großes Einstellungsbedürfnis auslösen.

45.      Ob dieser Effekt eintritt, hängt von der bestehenden Altersstruktur und der Einstellungspolitik Ungarns ab. Ungarn hat zu diesen Punkten jedoch nichts vorgetragen.

46.      Aber selbst wenn man wegen des weiten Spielraums der Mitgliedstaaten bei Anwendung von Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 anerkennen würde, dass die Einführung der neuen Altersgrenze zu einer ausgewogenen Altersstruktur beitragen kann, wäre sie in ihrer konkreten Form nicht erforderlich. Eine ausgewogene Altersstruktur kann vielmehr sogar besser erreicht werden, wenn die neue Altersgrenze über mehrere Jahre hinweg schrittweise eingeführt wird. Dann ist es nämlich nicht notwendig, acht Juristenjahrgänge auf einmal zu ersetzen.

47.      Das Ziel einer ausgewogenen Altersstruktur kann daher die streitgegenständliche Regelung nicht rechtfertigen.

d)      Effektivität der Justiz

48.      Weiter trägt Ungarn vor, die neue Altersgrenze solle zu einer größeren Effektivität des öffentlichen Dienstes in der Justiz führen.

49.      Diese Zielsetzung beruht anscheinend auf der Überlegung, dass die neu eingestellten jüngeren Juristen ihren Dienst besser ausüben könnten als die in den Ruhestand versetzten älteren Juristen. Insoweit hat der Gerichtshof für Staatsanwälte bereits grundsätzlich anerkannt, dass die Bereitstellung einer leistungsfähigen Justizverwaltung ein legitimes Ziel einer Altersgrenze sein kann.(21)

50.      Ungarn ist zuzugeben, dass eine Altersgrenze von 62 Jahren das Risiko einer altersbedingten Minderung der Leistungsfähigkeit stärker begrenzt als eine Altersgrenze von 70 Jahren. Insofern ist sie im Prinzip geeignet, zur Qualität der Justiz beizutragen.

51.      Zugleich führt Ungarn an, dass jüngere Juristen aufgrund ihrer größeren Nähe zur Ausbildung über aktuellere juristische Kenntnisse verfügen, z. B. im Bereich des Rechts der Europäischen Union, das erst seit Kurzem in Ungarn gelehrt wird. Es ist nicht zu bestreiten, dass die Pensionierung von Juristen und ihr Ersatz durch jüngere Juristen ein Weg sein kann, solche aktuelleren Rechtskenntnisse in die Justiz hineinzutragen.

52.      Allerdings ist höchst zweifelhaft, dass neu eingestellte Juristen die Berufe des Richters, des Staatsanwalts und des Notars besser ausüben können als die ausscheidenden Juristen. Verglichen mit anderen Berufsgruppen können Juristen nämlich bis in ein relativ hohes Alter effektiv arbeiten. Insbesondere die erworbene Erfahrung und die mit dem Alter oft einhergehende größere natürliche Autorität sind in diesem Beruf von großem praktischen Nutzen.

53.      Auch ist zu befürchten, dass zur Deckung des außerordentlichen Einstellungsbedarfs teilweise ein deutlich geringeres Qualifikationsniveau der neu einzustellenden Juristen in Kauf genommen werden muss. Wenn z. B. aufgrund aller Pensionierungen des Jahres 2012 neue Richter und Staatsanwälte eingestellt werden sollten, wäre es notwendig, die 273 besten Bewerber zu akzeptieren. Beim Ersatz nur eines Jahrgangs könnten die Einstellungen dagegen auf etwa ein Achtel dieser Zahl, d. h. die 35 besten Bewerber, beschränkt werden.

54.      Was insbesondere die Gruppe der betroffenen Richter angeht, so ist außerdem zu berücksichtigen, dass ihre abrupte Pensionierung Zweifel an der Unabhängigkeit und damit der Qualität der Gerichte hervorrufen kann.(22) Nach Art. 6 Abs. 1 der EMRK und Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union müssen Gerichte unabhängig und unparteiisch sein sowie auf dem Gesetz beruhen. Auch der Gerichtshof hat insbesondere im Rahmen des Vorabentscheidungsersuchens die notwendige Unabhängigkeit der Gerichte hervorgehoben.(23)

55.      Der Begriff der richterlichen Unabhängigkeit umfasst nach gefestigter Rechtsprechung zwei Aspekte: einen externen und einen internen. Vorliegend ist der externe Aspekt der Unabhängigkeit von Bedeutung, der voraussetzt, dass die Stelle, die zur Entscheidung berufen ist, vor Interventionen oder Druck von außen geschützt ist, welche die Unabhängigkeit des Urteils ihrer Mitglieder im Hinblick auf die ihnen unterbreiteten Streitigkeiten gefährden könnten.(24)

56.      Daher kann die Exekutive Richter während ihrer Amtszeit nicht aus dem Amt entfernen.(25) Hier geht es zwar nicht um Maßnahmen der Exekutive in Bezug auf einzelne Richter oder Verfahren. Gleichwohl handelt es sich um einen schwerwiegenden Eingriff in die Justiz, nämlich die Entfernung einer größeren Zahl von Richtern, die nach der bisherigen Regelung noch bis zu acht Jahre länger im Dienst geblieben wären. Dieser Eingriff ist nicht erst dann von Bedeutung, wenn er tatsächlich in der Absicht erfolgt, die Justiz zu beeinflussen. Vielmehr muss bereits jeder Anschein der Einflussnahme vermieden werden.(26)

57.      Selbst wenn man trotzdem wegen des weiten Spielraums der Mitgliedstaaten anerkennen sollte, dass die Absenkung der Altersgrenze auf 62 Jahre zu einer größeren Effektivität der Justiz beitragen kann, so ist sie jedenfalls nicht erforderlich. Das ergibt sich vor allem aus der Widersprüchlichkeit der ungarischen Regelung. Da die Altersgrenze in den kommenden Jahren wieder auf 65 Jahre angehoben wird, geht anscheinend auch Ungarn davon aus, dass die Qualität der Justiz keine Altersgrenze von 62 Jahren verlangt.(27)

58.      Was insbesondere die Einführung aktuellerer Rechtskenntnisse in die Justiz angeht, so liegen darüber hinaus mildere Mittel auf der Hand: Aktuelle Rechtskenntnisse erwerben Juristen nicht nur in der Ausbildung, sondern auch berufsbegleitend – z. B. im Selbststudium oder im Rahmen organisierter Fortbildungen.

59.      Daher kann auch das Ziel, die Qualität der Justiz zu stärken, die ungarische Regelung nicht rechtfertigen.

e)      Zur Angleichung der Altersgrenzen

60.      Ein zentrales Argument Ungarns ist, dass die neue Altersgrenze die Situation der Richter an den übrigen öffentlichen Dienst angleicht. Zwar bestreitet die Kommission, dass dieses Ziel hinreichend klar erkennbar sei, doch es ist schon deshalb offensichtlich, weil die Altersgrenzen tatsächlich angeglichen werden.

61.      Festzulegen, dass Arbeitnehmer zu einem bestimmten Zeitpunkt aus dem Erwerbsleben ausscheiden und in den Ruhestand treten, fällt grundsätzlich unter die von Art. 6 Abs. 1 erfassten Ziele.

62.      Die Legitimität des Ziels, Altersgrenzen anzugleichen, zeigt sich insbesondere daran, dass eine nationale Regelung nur dann geeignet ist, die Verwirklichung des geltend gemachten Ziels zu gewährleisten, wenn sie tatsächlich dem Anliegen gerecht wird, es in kohärenter und systematischer Weise zu erreichen.(28) Zweifel an der Kohärenz von Regelungen ergeben sich insbesondere aus Ausnahmen. So hat der Gerichtshof in Bezug auf die Altersgrenzen für Staatsanwälte bereits geprüft, ob Ausnahmen für andere Beamtengruppen die Kohärenz in Frage stellen.(29) Die Angleichung von Altersgrenzen kann daher die Kohärenz des Gesamtsystems stärken.

63.      Dabei geht es letztlich darum, den allgemeinen Grundsatz der Gleichbehandlung zu verwirklichen. Dieser mittlerweile auch in Art. 20 der Charta der Grundrechte verankerte Grundsatz verlangt, dass vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich und unterschiedliche Sachverhalte nicht gleich behandelt werden dürfen, es sei denn, dass eine solche Behandlung objektiv gerechtfertigt ist.(30) Anzunehmen, dass die Situation von Juristen in der Justiz mit der Situation ihrer Berufsgenossen im übrigen öffentlichen Dienst vergleichbar ist, bleibt im Prinzip im Rahmen des Spielraums, der den Mitgliedstaaten zusteht. Auch die Kommission hat dieser Annahme nicht widersprochen.

64.      Eine sofortige Angleichung des Pensionsalters im gesamten öffentlichen Dienst lässt sich nicht anders als durch die neue Altersgrenze erreichen. Für diese Zielsetzung wäre die streitgegenständliche Regelung daher geeignet und erforderlich.

65.      Unter Berücksichtigung des Gleichheitssatzes ist ein so definiertes Ziel in der konkreten Situation jedoch nicht mehr legitim. Ungarische Richter, Staatsanwälte und Notare unterscheiden sich nämlich in einem wichtigen Punkt von Juristen im übrigen öffentlichen Dienst: Sie konnten bisher davon ausgehen, dass sie erst mit 70 Jahren in den Ruhestand eintreten müssen. Warum trotz dieses berechtigten Vertrauens ein legitimes Interesse daran besteht, die Altersgrenze zur Herstellung der Kohärenz sofort um acht Jahre abzusenken, hat Ungarn nicht dargelegt.

66.      Dass in dieser Situation vielmehr ein legitimes Interesse an Übergangsregelungen besteht, zeigt sich auch daran, dass Ungarn die Anhebung der Altersgrenze für den gesamten öffentlichen Dienst um lediglich drei Jahre über mehrere Jahre streckt. Diese Unterschiede der Übergangsregelungen indizieren, dass die Interessen derjenigen, die von der Absenkung der Altersgrenze betroffen sind, nicht in gleicher Weise berücksichtigt wurden, wie die Interessen der übrigen Beschäftigten im öffentlichen Dienst, deren Altersgrenze angehoben wird.

67.      Inkohärent ist darüber hinaus, dass – wie die Kommission unwidersprochen vorträgt(31) – die übrigen Beschäftigten im öffentlichen Dienst nicht automatisch bei Erreichen der Altersgrenze in den Ruhestand versetzt werden, sondern nur, wenn sie auch die notwendigen Dienstjahre für den Bezug der vollen Pension erreicht haben. Danach ist es möglich, dass Richter, Staatsanwälte und Notare zwangsweise in den Ruhestand versetzt werden können, obwohl nur Anspruch auf eine reduzierte Pension haben. Insoweit greift die neue Altersgrenze für die Justiz stärker in die Rechte der Betroffenen ein, als notwendig wäre, um die Altersgrenzen im gesamten öffentlichen Dienst anzugleichen.

68.      Somit kann das Ziel der Angleichung der Altersgrenzen im öffentlichen Dienst die sofortige Absenkung der Altersgrenze um acht Jahre nicht rechtfertigen.

f)      Zugang junger Juristen zum Justizdienst

69.      Das letzte von Ungarn angeführte Ziel ist die Beseitigung von Hindernissen für den Eintritt junger Juristen in den Justizdienst. Dies ist eine naheliegende Konsequenz von Höchstaltersgrenzen und insbesondere von ihrer Herabsetzung. Die Förderung von Einstellungen stellt nach ständiger Rechtsprechung unstrittig ein legitimes Ziel der Sozial- oder Beschäftigungspolitik der Mitgliedstaaten dar, zumal wenn es darum geht, den Zugang jüngerer Personen zur Ausübung eines Berufs zu fördern.(32)

70.      Die neue Altersgrenze ist geeignet, den Zugang jüngerer Juristen zum Justizdienst zu fördern. Allerdings sind die Unterschiede zwischen ihrer langfristigen und ihrer unmittelbaren Wirkung zu beachten.

71.      Dauerhaft mindert sie die Verweildauer von Juristen im Justizdienst, da diese nun acht Jahre früher pensioniert werden. Doch wird dieser Effekt in den kommenden Jahren dadurch reduziert, dass das Pensionsalter schrittweise wieder auf 65 Jahre angehoben wird, so dass letztlich nur eine Reduzierung von fünf Jahren verbleibt. Trotzdem werden die Stellen im Justizdienst früher wieder frei als bei Anwendung der früheren Altersgrenze.

72.      Vorübergehend überwiegt allerdings der unmittelbare Effekt. Im Jahr 2012 sind aufgrund der Pensionierung von acht Juristenjahrgängen außergewöhnlich viele Stellen zu besetzen, was den jetzt am Arbeitsmarkt verfügbaren jungen Juristen zugute kommt. Diese Stellen stehen dagegen den nachkommenden Juristenjahrgängen nicht mehr zur Verfügung, da sie von den jetzt eingestellten Juristen langfristig blockiert werden. Damit wird die Erreichung des Ziels einer dauerhaften Förderung des Zugangs junger Juristen zwar nicht ausgeschlossen, aber stark behindert.

73.      Die sofortige Einführung der neuen Altersgrenze ist daher nicht erforderlich, um dauerhaft den Zugang junger Juristen zum Justizdienst zu fördern. Im Gegenteil, durch die potenzielle Verzerrung der Altersstruktur(33) werden langfristig die Zugangschancen junger Juristen beeinträchtigt. Ein fairer Ausgleich zwischen den verschiedenen Juristengenerationen würde darauf abzielen, die bei einer Herabsetzung der Altersgrenze frei werdenden Stellen möglichst gleichmäßig zwischen den heranwachsenden Jahrgängen zu verteilen. Dafür würde es sich anbieten, die Altersgrenze schrittweise auf 65 Jahre abzusenken, die ohnehin angestrebte endgültige Altersgrenze.

74.      Wenn das Ziel allerdings sein sollte, den Zugang gerade der jetzt aktuell am Arbeitsmarkt verfügbaren Juristen maximal zu fördern, ist tatsächlich keine andere gleichermaßen wirksame Maßnahme erkennbar als die Altersgrenze sofort auf 62 Jahre abzusenken.

75.      Ein so definiertes Ziel kann jedoch nur dann als legitim anerkannt werden, wenn es besondere Gründe dafür gibt, gerade diese Gruppe zu fördern. Denn es belastet nicht nur zwangsläufig die pensionierten Juristen, sondern blockiert darüber hinaus mittel- und längerfristig die sonst für nachfolgende Juristenjahrgänge offen werdenden Stellen. Derartige besondere Gründe hat Ungarn nicht dargelegt.

76.      Daher kann auch das Ziel eines erleichterten Zugangs junger Juristen zur Justiz die Einführung der neuen Altersgrenze nicht rechtfertigen.

g)      Zur Frage einer übermäßigen Beeinträchtigung der Betroffenen

77.      Soweit sich die getroffenen Maßnahmen als geeignet und erforderlich erweisen, um die angestrebten legitimen Ziele zu erreichen, bliebe normalerweise noch zu prüfen, ob sie nicht zu einer übermäßigen Beeinträchtigung der Betroffenen führen (Übermaßverbot).(34) Da die Einführung der neuen Altersgrenze aber für keines der angeführten legitimen Ziele geeignet und erforderlich ist, muss dieser Punkt an sich nicht mehr geprüft werden. Vielmehr ist die Klage bereits nach den bisherigen Überlegungen begründet.

78.      Nur für den Fall, dass der Gerichtshof nicht bei allen Zielen meiner Einschätzung folgt, gehe ich im Folgenden dennoch auf das Übermaßverbot ein. Danach muss ein gerechter Ausgleich zwischen den verschiedenen widerstreitenden Interessen gefunden werden.(35)

79.      Um diese Abwägung hilfsweise durchführen zu können, müsste ich – entgegen der von mir vertretenen Ansicht – unterstellen, dass die neue Altersgrenze geeignet und erforderlich ist, um irgendeines oder mehrere der fünf vorstehend untersuchten Ziele zu erreichen.

80.      Für eine vollständige Abwägung müssten darüber hinaus die daraus resultierenden hypothetischen Vorteile gewichtet werden.

81.      Derartige Spekulationen sind jedoch nicht sinnvoll. Daher beschränke ich meine Überlegungen zum Übermaßverbot darauf, die Nachteile der neuen Altersgrenze zu untersuchen. Auf dieser Grundlage lässt sich eine Aussage darüber treffen, welches Gewicht die Vorteile der neuen Altersgrenze erreichen müssten, um sie zu rechtfertigen.

82.      Die betroffenen Juristen sind unmittelbar in ihrem Recht betroffen, den von ihnen gewählten Beruf weiter auszuüben. Zwar können sie theoretisch weiterhin als Juristen tätig sein, z. B. als Rechtsanwälte. Doch verlieren sie die Möglichkeit, in der Stellung weiter zu arbeiten, die sie bis zum Erreichen der Altersgrenze aktiv ausübten.

83.      Mit diesem Eingriff in die Berufsfreiheit sind wirtschaftliche Nachteile verbunden. Denn es ist davon auszugehen, dass die Betroffenen statt des vollen Gehalts in der Regel nur noch eine Pension von geringerem Umfang erhalten.(36)

84.      Zwar hat der Gerichtshof anerkannt, dass eine Maßnahme, die die zwangsweise Versetzung von Arbeitnehmern mit Vollendung des 65. Lebensjahrs erlaubt, dem Ziel der Förderung von Einstellungen entsprechen und nicht als übermäßige Beeinträchtigung der berechtigten Erwartungen der Arbeitnehmer angesehen werden kann, wenn ihnen eine Rente zugute kommt, deren Höhe nicht als unangemessen betrachtet werden kann.(37) Die Angemessenheit hängt aber von mehreren Faktoren ab.

85.      So ist der Einkommensverlust von besonderem Gewicht, wenn Betroffene wirtschaftliche Entscheidungen im Vertrauen auf die weitere Ausübung ihres Amtes getroffen haben. Sie könnten z. B. einen Kredit aufgenommen, einen Vertrag über eine ergänzende private Alterssicherung geschlossen oder eine lukrative Beschäftigung in der Privatwirtschaft abgelehnt haben. Und es ist keine Maßnahme erkennbar, um derartige Nachteile abzumildern. Zudem ist es sogar möglich, dass manche Betroffenen erhebliche Abstriche bei ihrer Pension in Kauf nehmen müssen, weil sie nicht lange genug tätig waren, um den vollen Pensionsanspruch zu erwerben.(38)

86.      Zwar trägt Ungarn vor, die neue Altersgrenze sei seit Juni 2011 vorhersehbar gewesen. Doch bei allen zuvor getroffenen wirtschaftlichen Dispositionen mussten die Betroffenen nicht damit rechnen, vor Erreichen des 70. Lebensjahrs in den Ruhestand gehen zu müssen.

87.      Diese gravierenden Beeinträchtigungen der Betroffenen würden erheblich reduziert und zugleich würden viele Nachteile für die angestrebten Ziele vermieden, wenn Ungarn die neue Altersgrenze nur auf eine andere Art und Weise eingeführt hätte. Es drängt sich nämlich auf, die Absenkung des Pensionsalters für Richter, Staatsanwälte und Notare mit der Anhebung des Pensionsalters für die übrigen Angehörigen des öffentlichen Dienstes zu koordinieren. Dafür müsste Ungarn nur das Pensionsalter in der Justiz schrittweise auf 65 Jahre absenken, so dass dieses Alter für beide Gruppen zum gleichen Zeitpunkt wirksam wird.

88.      Die vollständige Vernachlässigung dieser Möglichkeit durch Ungarn zwingt zu der Schlussfolgerung, dass ein gerechter Ausgleich zwischen den Interessen der betroffenen Juristen und dem Interesse an der Einführung der neuen Altersgrenze nicht angestrebt wurde.

89.      Im Übrigen zeigen diese Überlegungen, dass die Vorteile der sofortigen Einführung der neuen Altersgrenze für die Erreichung eines legitimen Ziels von ganz erheblichem Gewicht sein müssten, um gegenüber den oben aufgezeigten schwerwiegenden Nachteilen zu überwiegen. Unabhängig davon, ob der Gerichtshof entgegen meiner Auffassung die Maßnahme als geeignet und erforderlich ansieht, um eines oder mehrere der angeführten Ziele zu erreichen, sind solche gewichtigen Vorteile nicht ersichtlich.

3.      Ergebnis

90.      Folglich ist der Klage stattzugeben.

V –    Zu den Kosten

91.      Nach Art. 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kommission obsiegt, sind die Kosten Ungarn aufzuerlegen.

VI – Ergebnis

92.      Ich schlage dem Gerichtshof daher vor, wie folgt zu entscheiden:

1.      Die Republik Ungarn hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus den Art. 2 und Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf verstoßen, dass sie eine Regelung erlassen hat, wonach das Dienstverhältnis von Richtern, Staatsanwälten und Notaren nicht mehr mit Vollendung des 70. Lebensjahrs, sondern mit Vollendung des 62. Lebensjahrs zwingend endet.

2.      Die Republik Ungarn trägt die Kosten des Verfahrens.


1 – Originalsprache: Deutsch.


2 – ABl. L 303, S. 16.


3 – Vgl. das Urteil vom 21. Juli 2011, Fuchs und Köhler (C‑159/10 und C‑160/10, Slg. 2011, I‑6919).


4 – Rechtssache 33/2012 (VII.17.).


5 – Urteil vom 15. März 2012, Kommission/Zypern (C‑340/10, Randnr. 27, und die dort angeführte Rechtsprechung).


6 – Vgl. das Urteil vom 2. Juni 2005, Kommission/Griechenland (C‑394/02, Slg. 2005, I‑4713, Randnr. 19).


7 – Vgl. das Urteil Fuchs und Köhler (zitiert in Fn. 3, Randnr. 34).


8 – Vgl. die Urteile vom 12. Oktober 2010, Rosenbladt (C‑45/09, Slg. 2010, I‑9391, Randnr. 73), und vom 5. Juli 2012, Hörnfeldt (C‑141/11, Randnr. 38).


9 – Siehe meine Schlussanträge vom 6. Mai 2010, Andersen (C‑499/08, Slg. 2010, I‑9343, Nr. 47).


10 – Urteile vom 12. Juli 2001, Jippes u. a. (C‑189/01, Slg. 2001, I‑5689, Randnr. 81), vom 7. Juli 2009, S.P.C.M. u. a. (C‑558/07, Slg. 2009, I‑5783, Randnr. 41), und vom 8. Juli 2010, Afton Chemical (C‑343/09, Slg. 2010, I‑7023, Randnr. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).


11 – Urteile vom 16. Oktober 2007, Palacios de la Villa (C‑411/05, Slg. 2007, I‑8531, Randnr. 68), und Rosenbladt (zitiert in Fn. 8, Randnr. 41).


12 – Siehe die Urteile Palacios de la Villa (zitiert in Fn. 11, Randnr. 72), Rosenbladt (zitiert in Fn. 8, Randnrn. 41 und 69), sowie Hörnfeldt (zitiert in Fn. 8, Randnr. 32).


13 – Urteile vom 25. Mai 1982, Kommission/Niederlande (96/81, Slg. 1982, 1791, Randnr. 6), und vom 14. Juni 2007, Kommission/Finnland (C‑342/05, Slg. 2007, I‑4713, Randnr. 23).


14 – Vgl. etwa das Urteil vom 15. Dezember 2005, Kommission/Finnland (C‑344/03, Slg. 2005, I‑11033, Randnrn. 36, 39 und 42).


15 – Urteile Fuchs und Köhler (zitiert in Fn. 3, Randnr. 39, und die dort angeführte Rechtsprechung) sowie Hörnfeldt (zitiert in Fn. 8, Randnr. 24).


16 – Urteil Fuchs und Köhler (zitiert in Fn. 3, Randnr. 40).


17 – Urteil vom 5. März 2009, Age Concern England (C‑388/07, Slg. 2009, I‑1569, Randnr. 43), und vom 13. September 2011, Prigge u. a. (C‑447/09, Slg. 2011, I‑8003, Randnr. 80).


18 – Siehe die Urteile Age Concern England (zitiert in Fn. 17, Randnr. 46), vom 18. Juni 2009, Hütter (C‑88/08, Slg. 2009, I‑5325, Randnr. 41), sowie Prigge u. a. (zitiert in Fn. 17, Randnr. 81).


19 – Vgl. Urteile vom 30. März 1993, Thomas u. a. (C‑328/91, Slg. 1993, I‑1247, Randnr. 12), vom 23. Mai 2000, Buchner u. a. (C‑104/98, Slg. 2000, I‑3625, Randnr. 26), und vom 1. April 2008, Maruko (C‑267/06, Slg. 2008, I‑1757, Randnr. 78), sowie zum finanziellen Gleichgewicht von Krankenversicherungssystemen die Urteile vom 28. April 1998, Kohll (C‑158/96, Slg. 1998, I‑1931, Randnr. 41), vom 16. Mai 2006, Watts (C‑372/04, Slg. 2006, I‑4325, Randnr. 103), vom 10. März 2009, Hartlauer (C‑169/07, Slg. 2009, I‑1721, Randnr. 47), und vom 12. Januar 2010, Petersen (C‑341/08, Slg. 2010, I‑47, Randnr. 45).


20 – Urteil Fuchs und Köhler (zitiert in Fn. 3, Randnr. 50).


21 – Urteil Fuchs und Köhler (zitiert in Fn. 3, Randnr. 50).


22 – Vgl. auch das Urteil des ungarischen Verfassungsgerichtshofs (zitiert in Fn. 4).


23 – Vgl. u. a. Urteile vom 11. Juni 1987, X (14/86, Slg. 1987, 2545, Randnr. 7), vom 17. September 1997, Dorsch Consult (C‑54/96, Slg. 1997, I‑4961, Randnr. 23), vom 31. Mai 2005, Syfait u. a. (C‑53/03, Slg. 2005, I‑4609, Randnr. 29), und vom 14. Juni 2011, Miles u. a. (C‑196/09, Slg. 2011, I‑5105, Randnr. 37).


24 – Urteile vom 19. September 2006, Wilson (C‑506/04, Slg. 2006, I‑8613, Randnrn. 50 und 51), und vom 22. Dezember 2010, RTL Belgium (C‑517/09, Slg. 2010, I‑14093, Randnr. 39), sowie EGMR, Urteil vom 28. Juni 1984, Campbell und Fell/Vereinigtes Königreich (Beschwerden Nr. 7819/77 und 7878/77, Serie A Nr. 80, § 78).


25 – EGMR, Urteil Campbell und Fell/Vereinigtes Königreich (zitiert in Fn. 24, § 80).


26 – Vgl. EGMR, Urteile vom 24. Mai 1989, Hauschildt/Dänemark (Beschwerde Nr. 10486/83, Randnr. 48), vom 25. Juni 1992, Thorgeir Thorgeirson/Island (Beschwerde Nr. 13778/88, Serie A, Nr. 239, § 51), und vom 9. Juni 1998, Incal/Türkei (Beschwerde Nr. 22678/93, Randnr. 71).


27 – Vgl. zu Wertungswidersprüchen bei den Altersgrenzen für Piloten das Urteil Prigge u. a. (zitiert in Fn. 17, Randnrn. 73 bis 75).


28 – Urteile Petersen (zitiert in Fn. 19, Randnr. 53) und Fuchs und Köhler (zitiert in Fn. 3, Randnr. 85). Illustrativ ist das Urteil Hütter (zitiert in Fn. 18, Randnr. 46).


29 – Fuchs und Köhler (zitiert in Fn. 3, Randnr. 91).


30 – Urteile vom 10. Januar 2006, IATA und ELFAA (C‑344/04, Slg. 2006, I‑403, Randnr. 95), vom 16. Dezember 2008, Arcelor Atlantique et Lorraine u. a. (C‑127/07, Slg. 2008, I‑9895, Randnr. 23), vom 7. Juli 2009, S.P.C.M. u. a. (C‑558/07, Slg. 2009, I‑5783, Randnr. 74), sowie vom 14. September 2010, Akzo Nobel Chemicals und Akcros Chemicals/Kommission u. a. (C‑550/07 P, Slg. 2010, I‑8301, Randnr. 55).


31 – Randnr. 60 der Klageschrift. Nach Art. 18 Abs. 2 Buchst. b des Gesetzes LXXXI aus 1997 ist eine Dienstzeit von mindestens 20 Jahren notwendig.


32 – Urteile vom 18. November 2010, Georgiev (C‑250/09 und C‑268/09, Slg. 2010, I‑11869, Randnr. 45), und Fuchs und Köhler (zitiert in Fn. 3, Randnr. 49).


33 – Siehe oben, Nr. 44.


34 – Urteile Palacios de la Villa (zitiert in Fn. 11, Randnr. 73), vom 12. Oktober 2010, Andersen (C‑499/08, Slg. 2010, I‑9343, Randnrn. 41 bis 48, insbesondere Randnr. 47), sowie meine Schlussanträge in jener Rechtssache (zitiert in Fn. 9, Nr. 67).


35 – Vgl. hierzu meine Schlussanträge in der Rechtssache Andersen (zitiert in Fn. 9, Nr. 68).


36 – In der mündlichen Verhandlung schätzte die ungarische Regierung das Pensionsniveau auf etwa 60 % bis 80 % des Durchschnittseinkommens im Laufe der Karriere. Im Verfahren vor dem ungarischen Verfassungsgerichtshof (zitiert in Fn. 4) wurde vorgetragen, dass die Pension etwa 30 % des Einkommens beträgt.


37 – Urteile Palacios de la Villa (zitiert in Fn. 11, Randnr. 73) und Fuchs und Köhler (zitiert in Fn. 3, Randnr. 66).


38 – Siehe oben, Nr. 67.