Language of document : ECLI:EU:T:2015:513

Rechtssachen T‑389/10 und T‑419/10

(auszugsweise Veröffentlichung)

Siderurgica Latina Martin SpA (SLM)

und

Ori Martin SA

gegen

Europäische Kommission

„Wettbewerb – Kartelle – Europäischer Markt für Spannstahl – Preisfestsetzung, Marktaufteilung und Austausch sensibler Geschäftsinformationen – Beschluss, mit dem eine Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV festgestellt wird – Einheitliche, komplexe und fortgesetzte Zuwiderhandlung – Verjährung – Leitlinien von 2006 für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen – Zurechnung der Verantwortlichkeit für die Zuwiderhandlung an die Muttergesellschaft – Verhältnismäßigkeit – Grundsatz der individuellen Zumessung von Strafen und Sanktionen – Unbeschränkte Nachprüfung“

Leitsätze – Urteil des Gerichts (Sechste Kammer) vom 15. Juli 2015

1.      Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Verfolgungsverjährung – Beginn – Fortdauernde oder fortgesetzte Zuwiderhandlung – Tag der Beendigung der Zuwiderhandlung – Unterbrechung – Auskunftsverlangen – Umfang

(Art. 101 AEUV; EWR-Abkommen, Art. 53; Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 25)

2.      Recht der Europäischen Union – Grundsätze – Verbot der Rückwirkung von Strafvorschriften – Geltungsbereich – Wegen Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln verhängte Geldbußen – Einbeziehung – Möglicher Verstoß aufgrund der Anwendung der Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen auf eine vor ihrer Einführung begangene Zuwiderhandlung – Vorhersehbarkeit der durch die Leitlinien eingeführten Änderungen – Kein Verstoß

(Art. 101 AEUV; EWR-Abkommen, Art. 53; Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 49 Abs. 1; Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 23 Abs. 2; Mitteilungen 98/C 9/03 und 2006/C 210/02 der Kommission)

3.      Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Festlegung des Grundbetrags – Ermittlung des Umsatzes – Berechnung anhand des Umsatzes der an der Zuwiderhandlung beteiligten Unternehmen auf dem relevanten räumlichen Markt

(Art. 101 AEUV; EWR-Abkommen, Art. 53; Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 23 Abs. 2; Mitteilung 2006/C 210/02 der Kommission, Ziff. 13)

4.      Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – In den Leitlinien der Kommission festgelegte Berechnungsmethode – Individuelle Festlegung der Strafe in verschiedenen Stadien der Festsetzung ihrer Höhe

(Art. 101 AEUV; EWR-Abkommen, Art. 53; Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 23 Abs. 2; Mitteilung 2006/C 210/02 der Kommission, Ziff. 22, 27, 29, 36 und 37)

5.      Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Festlegung des Grundbetrags – Schwere der Zuwiderhandlung – Eintrittsgebühr – Zu berücksichtigende Kriterien – Erfordernis der individuellen Festlegung der Sanktion im ursprünglichen Stadium der Bemessung des Grundbetrags – Fehlen

(Art. 101 AEUV; EWR-Abkommen, Art. 53; Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 23 Abs. 2; Mitteilung 2006/C 210/02 der Kommission, Ziff. 19 bis 23 und 25)

6.      Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Entscheidung der Kommission, mit der eine Zuwiderhandlung festgestellt wird – Beweislast der Kommission für die Zuwiderhandlung und ihre Dauer – Umfang der Beweislast – Grad an Genauigkeit, den die von der Kommission herangezogenen Beweise aufweisen müssen – Bündel von Indizien – Gerichtliche Nachprüfung – Umfang – Entscheidung, die einen Zweifel beim Richter bestehen lässt – Beachtung des Grundsatzes der Unschuldsvermutung

(Art 101 AEUV; EWR-Abkommen, Art. 53; Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 48 Abs. 1; Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 2)

7.      Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Anpassung des Grundbetrags – Mildernde Umstände – Hinweischarakter der in den Leitlinien genannten Umstände

(Art. 101 AEUV; EWR-Abkommen, Art. 53; Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 23 Abs. 2; Mitteilung 2006/C 210/02 der Kommission, Ziff. 29)

8.      Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Anpassung des Grundbetrags – Mildernde Umstände – Begrenzte Dauer der Beteiligung eines Unternehmens an der Zuwiderhandlung – Berücksichtigung – Grenzen

(Art. 101 AEUV; EWR-Abkommen, Art. 53; Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 23 Abs. 2; Mitteilung 2006/C 210/02 der Kommission, Ziff. 29)

9.      Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Anpassung des Grundbetrags – Mildernde Umstände – Von den kartellinternen Vereinbarungen abweichendes Verhalten – Reduzierte Beteiligung – Voraussetzungen

(Art. 101 AEUV; EWR-Abkommen, Art. 53; Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 23 Abs. 2 und 3; Mitteilung 2006/C 210/02 der Kommission, Ziff. 29 Abs. 3)

10.    Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Beachtung der Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der individuellen Zumessung von Strafen und Sanktionen – Verpflichtung zur individuellen Festlegung der Strafe anhand der besonderen Modalitäten der Beteiligung jedes beschuldigten Unternehmens – Keine hinreichende Individualisierung – Folgen

(Art. 101 AEUV; EWR-Abkommen, Art. 53; Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 23 Abs. 2)

11.    Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Verpflichtungen der Kommission – Einhaltung einer angemessenen Verfahrensdauer – Verstoß – Folgen – Nichtigerklärung der Entscheidung, mit der eine Zuwiderhandlung festgestellt wird, wegen überlanger Verfahrensdauer – Voraussetzung – Beeinträchtigung der Verteidigungsrechte der betroffenen Unternehmen

(Art. 101 AEUV; EWR-Abkommen, Art. 53; Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 23 Abs. 2)

12.    Wettbewerb – Regeln der Union – Zuwiderhandlungen – Zurechnung – Muttergesellschaft und Tochtergesellschaften – Wirtschaftliche Einheit – Beurteilungskriterien – Vermutung, dass die Muttergesellschaft einen bestimmenden Einfluss auf Tochtergesellschaften ausübt, deren Anteile sie zu 100 % hält – Widerlegbarkeit – Berücksichtigung unter Beachtung des Grundsatzes der individuellen Bestrafung

(Art. 101 AEUV; EWR-Abkommen, Art. 53; Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 23 Abs. 2)

13.    Wettbewerb – Regeln der Union – Zuwiderhandlungen – Zurechnung – Muttergesellschaft und Tochtergesellschaften – Wirtschaftliche Einheit – Beurteilungskriterien – Vermutung, dass die Muttergesellschaft einen bestimmenden Einfluss auf Tochtergesellschaften ausübt, deren Anteile sie zu 100 % hält – Widerlegbarkeit – Verletzung des Grundsatzes der beschränkten Haftung, der sich aus dem Gesellschaftsrecht innerhalb der Union ergibt – Fehlen

(Art. 101 AEUV; EWR-Abkommen, Art. 53; Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 23 Abs. 2)

14.    Nichtigkeitsklage – Zulässigkeit – Natürliche oder juristische Personen – Unternehmen, das Adressat einer Mitteilung der Beschwerdepunkte ist und deren tatsächliche oder rechtliche Gesichtspunkte im Verwaltungsverfahren nicht beanstandet hat – Einschränkung des Rechts, Klage zu erheben – Fehlen

(Art. 6 Abs. 1 AEUV, 101 AEUV und 263 Abs. 4 AEUV; Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 47)

15.    Wettbewerb – Regeln der Union – Zuwiderhandlungen – Zurechnung – Muttergesellschaft und Tochtergesellschaften – Wirtschaftliche Einheit – Beurteilungskriterien – Vermutung, dass die Muttergesellschaft einen bestimmenden Einfluss auf Tochtergesellschaften ausübt, deren Anteile sie zu 100 % hält – Beweispflichten der Gesellschaft, die diese Vermutung widerlegen will – Für eine Widerlegung der Vermutung unzureichende Gesichtspunkte

(Art. 101 AEUV; EWR-Abkommen, Art. 53; Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 23 Abs. 2)

16.    Wettbewerb – Regeln der Union – Zuwiderhandlungen – Geldbußen – Vorsätzlich oder fahrlässig begangene Zuwiderhandlung – Zurechenbarkeit des Verhaltens seiner Organe an ein Unternehmen – Voraussetzungen

(Art. 101 AEUV; EWR-Abkommen, Art. 53; Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 23)

17.    Nichtigkeitsklage – Anfechtbare Handlungen – Begriff – Handlungen mit verbindlichen Rechtswirkungen – Keine Stellungnahme der Kommission zu einem Antrag auf Zahlung von Zinsen auf den überschießenden Teil einer Geldbuße, der bereits im Anschluss an einen ursprünglichen Beschluss gezahlt worden war, bevor er aufgrund eines Änderungsbeschlusses zurückgezahlt wurde – Unzuständigkeit

(Art. 261 AEUV und 263 AEUV; Verordnung Nr. 1/2003 des Rates)

18.    Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Ermessen der Kommission – Gerichtliche Nachprüfung – Befugnis des Unionsrichters zu unbeschränkter Nachprüfung – Umfang – Herabsetzung einer unter Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der verhängten Geldbuße – Berücksichtigung des Grundsatzes der individuellen Zumessung von Strafen

(Art. 261 AEUV; Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 23 Abs. 2 und 3 und 31)

1.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 76-81)

2.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 92-107, 109)

3.      Bei der Bemessung der wegen Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln verhängten Geldbußen sind bei einer einheitlichen Zuwiderhandlung im Sinne einer komplexen Zuwiderhandlung, die aus einer Gesamtheit von Vereinbarungen und abgestimmten Verhaltensweisen auf verschiedenen Märkten besteht, wenn die Zuwiderhandelnden dort nicht alle präsent sind oder den Gesamtplan möglicherweise nur zum Teil kennen, die Sanktionen individuell festzulegen, d. h. anhand der für die betreffenden Unternehmen kennzeichnenden Verhaltensweisen und Eigenschaften.

Zur Festsetzung der Geldbuße unter Berücksichtigung der Schwere und der Dauer der von einem Unternehmen begangenen Zuwiderhandlung können somit zum einen nicht für die gesamte Dauer seiner Beteiligung an dem Kartell Umsätze zugrunde gelegt werden, die in einem Staat erzielt wurden, der nicht Gegenstand von Gesprächen war, die in seiner Anwesenheit stattgefunden haben.

Wenn die Märkte bestimmter Mitgliedstaaten Gegenstand von Gesprächen waren, die in Anwesenheit dieses Unternehmens stattgefunden haben, können zum anderen zur Festsetzung der Geldbuße unter Berücksichtigung der Schwere und der Dauer der von ihm begangenen Zuwiderhandlung nicht für die gesamte Dauer seiner Beteiligung an dem Kartell Umsätze zugrunde gelegt werden, die in den Staaten erzielt wurden, in denen es ursprünglich insbesondere deshalb nicht präsent war, weil es keine Zulassung für den Vertrieb seiner Produkte in diesen Staaten hatte.

Wenn sich ein Unternehmen folglich nur spät und schrittweise an der einheitlichen Zuwiderhandlung beteiligt hat, indem es sich zunächst im Wesentlichen auf die getroffenen Absprachen für einen Markt eines Mitgliedstaats beschränkt hat, muss die Kommission bei der Berechnung der Geldbuße berücksichtigen, dass dieses Unternehmen vor einem bestimmten Zeitpunkt keine Zulassungen für den Verkauf in anderen Mitgliedstaaten hatte und dass nichts vorliegt, was darauf schließen ließe, dass sich dieses Unternehmen noch vor seiner Teilnahme an Zusammenkünften an dem Kartell beteiligt haben könnte.

(vgl. Rn. 140, 174, 178, 327)

4.      Aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit folgt bei einer einheitlichen Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln, dass die von der Kommission verhängte Geldbuße in angemessenem Verhältnis zu den Faktoren festzusetzen ist, die bei der Beurteilung der objektiven Schwere der Zuwiderhandlung als solcher und der Beurteilung der relativen Schwere der Beteiligung des mit einer Sanktion belegten Unternehmens an der Zuwiderhandlung zu berücksichtigen sind.

Die Kommission hat insbesondere darauf zu achten, dass sie die Strafen für die Zuwiderhandlungen individuell festlegt, unter Berücksichtigung der besonderen Situation jedes Zuwiderhandelnden. Die individuelle Festlegung der Strafe für eine Zuwiderhandlung kann in der Praxis in verschiedenen Stadien der Festsetzung der Geldbuße erfolgen.

Erstens kann die Kommission die Besonderheit der Beteiligung eines Unternehmens an der Zuwiderhandlung im Stadium der Beurteilung der objektiven Schwere der einheitlichen Zuwiderhandlung im Sinne der Ziff. 22 der Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen gemäß Art. 23 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 1/2003 anerkennen.

Zweitens kann die Kommission diese Besonderheit im Stadium der Beurteilung der in Ziff. 29 der Leitlinien genannten mildernden Umstände bei der Würdigung sämtlicher einschlägiger Umstände in einer Gesamtperspektive (vgl. Ziff. 27 dieser Leitlinien) anerkennen.

Drittens kann die Kommission diese Besonderheit in einem späteren Stadium als dem der Beurteilung der objektiven Schwere der Zuwiderhandlung oder der von den betreffenden Unternehmen geltend gemachten mildernden Umstände anerkennen. Nach Ziff. 36 der Leitlinien kann sie in bestimmten Fällen eine symbolische Geldbuße verhängen, und nach Ziff. 37 dieser Leitlinien kann sie u. a. aufgrund der besonderen Umstände einer Situation auch von der in den Leitlinien dargelegten allgemeinen Methode für die Berechnung der Geldbußen abweichen.

(vgl. Rn. 141-146, 314)

5.      Bei der Bemessung des Grundbetrags der wegen Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln verhängten Geldbußen betreffen die bei der Beurteilung der Schwere der Zuwiderhandlung berücksichtigten Faktoren ebenso wie die Faktoren, die die Kommission dazu veranlassen, diesem Grundbetrag einen von der Dauer der Beteiligung unabhängigen Betrag hinzuzufügen, um die Unternehmen von vornherein von rechtswidrigen Verhaltensweisen abzuschrecken, die Zuwiderhandlung im Allgemeinen. In Anbetracht der in den Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen gemäß Art. 23 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 1/2003 dargelegten allgemeinen Methode wird der Grundbetrag von der Kommission erst in einem späteren Stadium angepasst, um etwaigen mildernden Umständen, u. a. der individuellen Rolle jedes Unternehmens, Rechnung zu tragen. Wenn somit die Kommission die vier Umstände berücksichtigt, die in Rn. 22 der Leitlinien als Beispiele aufgeführt werden, kann ihr nicht zum Vorwurf gemacht werden, dass sie es für angemessen erachtet, dem Grundbetrag einen von der Dauer der Beteiligung unabhängigen Betrag hinzuzufügen. Da die Ausführungen zur Prüfung unter dem Gesichtspunkt der Begründung des zur Bestimmung des für die Beurteilung der Schwere der Zuwiderhandlung herangezogenen Umsatzanteils auch für die Beurteilung der Begründung zur Rechtfertigung des für die Bestimmung des zu Abschreckungszwecken dienenden Zusatzbetrags herangezogenen Umsatzanteils gelten, genügt der einfache Verweis auf die Analyse der Faktoren, die für die Beurteilung der Schwere der Zuwiderhandlung verwendet wurden, als Begründung im Hinblick auf den für den Zusatzbetrag berücksichtigten Umsatzanteil.

(vgl. Rn. 186, 193, 261-264)

6.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 215-219, 223-227, 233, 240-249, 251)

7.      In Ziff. 29 der Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen gemäß Art. 23 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 1/2003 werden bestimmte mildernde Umstände, die berücksichtigt werden können, nur demonstrativ und nicht abschließend aufgezählt, wie aus der Verwendung des Begriffs „wie beispielsweise“ in dieser Ziffer hervorgeht.

(vgl. Rn. 271)

8.      Bei der Bemessung der Höhe der wegen einer Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV verhängten Geldbußen ist die begrenzte Dauer der Beteiligung eines Unternehmens an der Zuwiderhandlung ein Faktor, dem bereits im Stadium der Festsetzung des Grundbetrags der Geldbuße, für den die Dauer der Beteiligung jedes Unternehmens an der Zuwiderhandlung berücksichtigt wird, Rechnung getragen worden ist.

Demnach lässt es sich zwar nicht ausschließen, dass in bestimmten Fällen ein wesentlicher Unterschied in der Beteiligungsdauer der betroffenen Unternehmen im Rahmen der mildernden Umstände berücksichtigt werden kann, doch ist dies nicht der Fall, wenn die Dauer der Beteiligung eines Unternehmens an der Zuwiderhandlung hinreichend bedeutsam ist.

(vgl. Rn. 283, 285)

9.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 287, 288, 297-300)

10.    Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 314-320, 323, 324, 326-328)

11.    Die Angemessenheit der Dauer eines wettbewerbsrechtlichen Verwaltungsverfahrens beurteilt sich nach den besonderen Umständen des jeweiligen Einzelfalls und insbesondere nach dessen Kontext, dem Verhalten der Beteiligten im Laufe des Verfahrens, der Bedeutung der Angelegenheit für die verschiedenen betroffenen Unternehmen und der Komplexität der Sache sowie gegebenenfalls nach Informationen oder Rechtfertigungen, die die Kommission zu den im Verlauf des Verwaltungsverfahrens vorgenommenen Untersuchungsmaßnahmen beibringen kann.

Die Dauer eines solchen Verfahrens kann auf mehrere Faktoren zurückzuführen sein. Es kann sich dabei u. a. um die Dauer des Kartells, seinen räumlich besonders ausgedehnten Umfang, die Organisation des Kartells in räumlicher und zeitlicher Hinsicht, die Zahl der Zusammenkünfte, die abgehalten wurden, die Zahl der beteiligten Unternehmen, die Zahl der Anträge auf Anwendung der Kronzeugenregelung und die besonders hohe Zahl in unterschiedlichen Sprachen abgefasster Dokumente, die im Rahmen der Nachprüfungen zur Verfügung gestellt oder in deren Verlauf sichergestellt wurden und die von der Kommission zu prüfen waren, die verschiedenen ergänzenden Auskunftsverlangen, die die Kommission nach und nach mit zunehmendem Verständnis des Kartells an die verschiedenen betroffenen Gesellschaften richtete, die Zahl der Empfänger der Mitteilung der Beschwerdepunkte, die Zahl der Verfahrenssprachen sowie die verschiedenen Anträge betreffend die Leistungsfähigkeit handeln.

Sollte die Dauer des Verwaltungsverfahrens gegen den Grundsatz der angemessenen Verfahrensdauer verstoßen, kann dieser Verstoß zwei Arten möglicher Folgen nach sich ziehen. Zum einen kann die Überschreitung der angemessenen Verfahrensdauer dann, wenn sie Auswirkungen auf den Ausgang des Verfahrens hat, zur Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses führen. Was die Anwendung der Wettbewerbsregeln angeht, kann die Überschreitung der angemessenen Verfahrensdauer einen Grund für die Nichtigerklärung nur im Fall von Beschlüssen darstellen, mit denen die Zuwiderhandlungen festgestellt werden, und soweit erwiesen ist, dass der Verstoß gegen diesen Grundsatz die Verteidigungsrechte der betroffenen Unternehmen beeinträchtigt hat. Außerhalb dieser besonderen Fallgestaltung wirkt sich die Nichtbeachtung der Verpflichtung zur Entscheidung innerhalb eines angemessenen Zeitraums nicht auf die Rechtsgültigkeit des Verwaltungsverfahrens im Rahmen der Verordnung Nr. 1/2003 aus. Da jedoch der Beachtung der Verteidigungsrechte in wettbewerbsrechtlichen Verwaltungsverfahren größte Bedeutung zukommt, muss verhindert werden, dass diese Rechte aufgrund der übermäßigen Dauer der Ermittlungsphase in nicht wieder gutzumachender Weise beeinträchtigt werden und dass die Verfahrensdauer der Erbringung von Beweisen dafür entgegensteht, dass keine Verhaltensweisen vorlagen, die die Verantwortung der betroffenen Unternehmen auslösen könnten. Aus diesem Grund darf sich die Prüfung einer etwaigen Beeinträchtigung der Ausübung der Verteidigungsrechte nicht auf den Abschnitt beschränken, in dem diese Rechte ihre volle Wirkung entfalten, nämlich den zweiten Abschnitt des Verwaltungsverfahrens. Die Beurteilung der Quelle einer etwaigen Schwächung der Wirksamkeit der Verteidigungsrechte muss sich auf das gesamte Verwaltungsverfahren erstrecken und es in voller Länge einbeziehen.

Zum anderen kann die Überschreitung der angemessenen Verfahrensdauer dann, wenn sie keine Auswirkungen auf den Ausgang des Verfahrens hat, den Unionsrichter dazu veranlassen, den auf der Überschreitung der angemessenen Dauer des Verwaltungsverfahrens beruhenden Verstoß in Ausübung seiner Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung in angemessener Weise wiedergutzumachen, indem er gegebenenfalls die auferlegte Geldbuße herabsetzt.

(vgl. Rn. 336, 338-342, 354, 355)

12.    Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 372-384, 386, 387)

13.    Für die Zwecke der Zurechnung der Zuwiderhandlung an eine Muttergesellschaft im Wettbewerbsrecht kann sich die Kommission angesichts des Umstands, dass die Muttergesellschaft das gesamte bzw. nahezu das gesamte Kapital der Tochtergesellschaft, die die Zuwiderhandlung begangen hat, hält, zu Recht auf die Vermutung der tatsächlichen Ausübung eines bestimmenden Einflusses berufen, ohne diesbezüglich weitere Umstände geltend machen zu müssen.

In diesem Zusammenhang verstößt die Kommission dadurch, dass sie von der gesamtschuldnerischen Haftung der Muttergesellschaft ausgeht, nicht gegen den Grundsatz der beschränkten Haftung, der sich aus dem innerhalb der Union geltenden Gesellschaftsrecht ergibt. Die beschränkte Haftung von Gesellschaften ist nämlich in erster Linie darauf gerichtet, eine Obergrenze für deren finanzielle Haftung festzusetzen, und soll nicht verhindern, dass ein Unternehmen, das gegen das Wettbewerbsrecht verstoßen hat, über die juristischen Personen, aus denen es besteht, und insbesondere über die Gesellschaft, die die Zuwiderhandlung begangen hat, und deren Muttergesellschaft, mit einer Sanktion belegt wird, insbesondere dann, wenn diese nahezu das gesamte Kapital ihrer Tochtergesellschaft hält und die Vermutung der tatsächlichen Ausübung eines bestimmenden Einflusses auf ihre Tochtergesellschaft nicht widerlegen kann.

(vgl. Rn. 385, 388)

14.    Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 391-393)

15.    Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 394-400, 407-409)

16.    Bei Verstößen gegen wettbewerbsrechtliche Vorschriften bedarf es, um einem Unternehmen eine Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV zurechnen zu können, keiner Handlung und nicht einmal einer Kenntnis der Inhaber oder Geschäftsführer des betreffenden Unternehmens von der Zuwiderhandlung, sondern es genügt die Handlung einer Person, die berechtigt ist, für das Unternehmen tätig zu werden

Wenn somit die innerhalb des Kartells tätigen Vertreter einer Tochtergesellschaft von dieser wirksam zur Verpflichtung des Unternehmens ermächtigt worden sind, ist der Umstand, dass diese Vertreter keinerlei Funktion innerhalb der Muttergesellschaft ausübten, unerheblich, da sie zur Verpflichtung der an der Zuwiderhandlung beteiligten Tochtergesellschaft befugt waren. Der Umstand, dass diese Personen selbständig handeln, ist demzufolge nicht geeignet, eine Tochtergesellschaft und folglich die Muttergesellschaft von ihrer Haftung zu entbinden.

(vgl. Rn. 410, 411)

17.    In Ermangelung jeder Stellungnahme der Kommission zu einem Antrag eines Unternehmens auf Zahlung von Zinsen auf den überschießenden Teil der Geldbuße, den sie im Anschluss an einen ursprünglichen Beschluss gezahlt hatte und der ihr aufgrund eines Änderungsbeschlusses zurückgezahlt worden war, ist der Unionsrichter nicht dafür zuständig, über den von diesem Unternehmen in seiner Stellungnahme zum Änderungsbeschluss gestellten Antrag auf Erteilung einer Anordnung zu befinden, da sich eine solche Zuständigkeit insbesondere nicht aus Art. 263 AEUV oder Art. 261 AEUV i. V. m. Art. 31 der Verordnung Nr. 1/2003 ergibt.

Das ist insbesondere der Fall, wenn ein Änderungsbeschluss, mit dem die einem Unternehmen auferlegte Geldbuße ermäßigt wurde, keine Rückzahlung des überschießenden Betrags mit Zinsen auf Antrag des Betroffenen vorgesehen hat, dieses Unternehmen keinen entsprechenden Antrag bei der Kommission gestellt hat und diese zu einem solchen Antrag in keiner das Unternehmen beschwerenden und demzufolge vor dem Gericht anfechtbaren Rechtshandlung Stellung genommen hat.

(vgl. Rn. 428-430)

18.    Die dem Unionsrichter nach Art. 261 AEUV durch Art. 31 der Verordnung Nr. 1/2003 übertragene Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung ermächtigt diesen, über die reine Kontrolle der Rechtmäßigkeit der wegen Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln verhängten Sanktion hinaus, die es nur zulässt, die Nichtigkeitsklage abzuweisen oder den angefochtenen Rechtsakt für nichtig zu erklären, die Beurteilung der Kommission durch seine eigene Beurteilung zu ersetzen und demgemäß den angefochtenen Rechtsakt, auch ohne ihn für nichtig zu erklären, unter Berücksichtigung aller tatsächlichen Umstände abzuändern und insbesondere die festgesetzte Geldbuße abzuändern, wenn ihm die Frage nach deren Höhe zur Beurteilung vorgelegt worden ist.

Die Festsetzung einer Geldbuße durch den Unionsrichter ist dem Wesen nach kein streng mathematischer Vorgang. Im Übrigen ist der Unionsrichter weder an die Berechnungen der Kommission noch an deren Leitlinien gebunden, wenn er aufgrund seiner Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung entscheidet, vielmehr muss er seine eigene Beurteilung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls vornehmen. Für die Festsetzung der Geldbuße zur Ahndung der Beteiligung an einer einheitlichen Zuwiderhandlung ergibt sich aus Art. 23 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1/2003, dass sowohl die Schwere der Zuwiderhandlung als auch deren Dauer zu berücksichtigen ist, und aus dem Grundsatz der individuellen Zumessung von Strafen folgt, dass der Situation jedes Zuwiderhandelnden im Hinblick auf die Zuwiderhandlung Rechnung zu tragen ist. Dies hat insbesondere dann zu erfolgen, wenn es sich um eine komplexe Zuwiderhandlung von langer Dauer der von der Kommission im angefochtenen Beschluss beschriebenen Art handelt, die durch die Heterogenität der Beteiligten gekennzeichnet ist.

(vgl. Rn. 432, 436, 437)