Language of document : ECLI:EU:C:2023:21

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

NICHOLAS EMILIOU

vom 12. Januar 2023(1)

Rechtssache C638/22 PPU

T. C.,

Rzecznik Praw Dziecka,

Prokurator Generalny,

Beteiligte:

M. C.,

Prokurator Prokuratury Okręgowej we Wrocławiu

(Vorabentscheidungsersuchen des Sąd Apelacyjny w Warszawie [Berufungsgericht Warschau, Polen])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Ehesachen und Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung – Internationale Kindesentführung – Haager Übereinkommen von 1980 – Art. 11 bis 13 – Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 – Art. 11 – Gebot der Beschleunigung des Rückgabeverfahrens – Aussetzung der Vollstreckung einer rechtskräftigen Rückgabeentscheidung, die auf Antrag einer dazu befugten öffentlichen Stelle von Rechts wegen gewährt wird, um dieser Stelle die Einlegung einer Kassationsbeschwerde und deren Prüfung durch das zuständige Gericht zu ermöglichen – Unvereinbarkeit mit dem Unionsrecht“






I.      Einleitung

1.        Fälle von Kindesentführungen gehören unbestreitbar zu den sensibelsten Fällen, die ein Gericht zu entscheiden haben kann. Sie stehen nämlich in einem besonders belasteten emotionalen und rechtlichen Kontext, in dem sich die gegenseitige Abneigung der Eltern, die Gefühle, die sie gegenüber ihrem Kind oder ihren Kindern haben, und die – auf das Kindeswohl ausgerichteten – Grundrechte der einen und der anderen miteinander vermischen.

2.        Zu dem Verfahren, das insoweit durch das am 25. Oktober 1980 in Den Haag geschlossene Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (im Folgenden: Haager Übereinkommen von 1980) eingeführt wurde und in der Union durch einige Bestimmungen der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung(2) (im Folgenden: Brüssel‑IIa-Verordnung) ergänzt wurde und die sofortige Rückgabe des Kindes in den Staat seines gewöhnlichen Aufenthalts gewährleisten soll, ist bereits eine umfangreiche Rechtsprechung des Gerichtshofs und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR) ergangen. Nichtsdestoweniger bleibt seine Durchführung streitig, zumindest in einigen Staaten.

3.        Mit dem vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen des Sąd Apelacyjny w Warszawie (Berufungsgericht Warschau, Polen) wird der Gerichtshof ersucht, sich mit der sich aus diesen Instrumenten ergebenden Verpflichtung der Mitgliedstaaten der Union zu befassen, rasche Verfahren für die Behandlung von Rückgabeanträgen vorzusehen. Konkret möchte das vorlegende Gericht wissen, ob ein Mitgliedstaat im Einklang mit den genannten Instrumenten in diesem Bereich neben zwei ordentlichen Gerichtsinstanzen die Möglichkeit einer Kassationsbeschwerde vorsehen kann, die bewirkt, dass auf einen einfachen, nicht mit einer Begründung versehenen Antrag einer der öffentlichen Stellen, die zur Einlegung einer solchen Beschwerde befugt sind, die Vollstreckung einer rechtskräftigen Rückgabeentscheidung ausgesetzt wird. In den vorliegenden Schlussanträgen werde ich erläutern, warum dies nicht der Fall sein kann.

II.    Rechtlicher Rahmen

A.      Haager Übereinkommen von 1980

4.        Nach seinem Art. 1 Buchst. a hat das Haager Übereinkommen von 1980 u. a. zum Ziel, „die sofortige Rückgabe widerrechtlich in einen Vertragsstaat verbrachter oder dort zurückgehaltener Kinder sicherzustellen“.

5.        Nach Art. 2 des Haager Übereinkommens von 1980 treffen die Vertragsstaaten „alle geeigneten Maßnahmen, um in ihrem Hoheitsgebiet die Ziele des Übereinkommens zu verwirklichen. Zu diesem Zweck wenden sie ihre schnellstmöglichen Verfahren an.“

6.        Art. 11 des Haager Übereinkommens von 1980 bestimmt:

„In Verfahren auf Rückgabe von Kindern haben die Gerichte oder Verwaltungsbehörden eines jeden Vertragsstaats mit der gebotenen Eile zu handeln.

Hat das Gericht oder die Verwaltungsbehörde, die mit der Sache befasst sind, nicht innerhalb von sechs Wochen nach Eingang des Antrags eine Entscheidung getroffen, so kann der Antragsteller oder die zentrale Behörde des ersuchten Staates von sich aus oder auf Begehren der zentralen Behörde des ersuchenden Staates eine Darstellung der Gründe für die Verzögerung verlangen. …“

7.        Art. 12 des Haager Übereinkommens von 1980 sieht vor:

„Ist ein Kind im Sinn des Artikels 3 widerrechtlich verbracht oder zurückgehalten worden und ist bei Eingang des Antrags bei dem Gericht oder der Verwaltungsbehörde des Vertragsstaats, in dem sich das Kind befindet, eine Frist von weniger als einem Jahr seit dem Verbringen oder Zurückhalten verstrichen, so ordnet das zuständige Gericht oder die zuständige Verwaltungsbehörde die sofortige Rückgabe des Kindes an.

…“

8.        Art. 13 des Haager Übereinkommens von 1980 sieht vor:

„Ungeachtet des Artikels 12 ist das Gericht oder die Verwaltungsbehörde des ersuchten Staates nicht verpflichtet, die Rückgabe des Kindes anzuordnen, wenn die Person, Behörde oder sonstige Stelle, die sich der Rückgabe des Kindes widersetzt, nachweist,

b)      dass die Rückgabe mit der schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind verbunden ist oder das Kind auf andere Weise in eine unzumutbare Lage bringt.

…“

B.      BrüsselIIa-Verordnung

9.        Art. 11 („Rückgabe des Kindes“) der Brüssel‑IIa-Verordnung bestimmt:

„(1)      Beantragt eine sorgeberechtigte Person … bei den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats eine Entscheidung auf der Grundlage des [Haager Übereinkommens von 1980], um die Rückgabe eines Kindes zu erwirken, das widerrechtlich in einen anderen als den Mitgliedstaat verbracht wurde oder dort zurückgehalten wird, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, so gelten die Absätze 2 bis 8.

(3)      Das Gericht, bei dem die Rückgabe eines Kindes nach Absatz 1 beantragt wird, befasst sich mit gebotener Eile mit dem Antrag und bedient sich dabei der zügigsten Verfahren des nationalen Rechts.

Unbeschadet des Unterabsatzes 1 erlässt das Gericht seine Anordnung spätestens sechs Wochen nach seiner Befassung mit dem Antrag, es sei denn, dass dies aufgrund außergewöhnlicher Umstände nicht möglich ist.

…“

C.      Polnisches Recht

10.      Art. 5191 § 21 des Kodeks postępowania cywilnego (Zivilprozessordnung), der auf die Ustawa o wykonywaniu niektórych czynności organu centralnego w sprawach rodzinnych z zakresu obrotu prawnego na podstawie prawa Unii Europejskiej i umów międzynarodowych (Gesetz über die Ausübung bestimmter Tätigkeiten der zentralen Behörde in Familiensachen im Bereich des Rechtsverkehrs auf der Grundlage des Rechts der Europäischen Union und völkerrechtlicher Übereinkünfte) vom 26. Januar 2018 (Dz. U. 2018, Position 416, im Folgenden: Gesetz von 2018) zurückgeht, bestimmt:

„Die Kassationsbeschwerde ist auch statthaft in auf der Grundlage des Haager Übereinkommens von 1980 geführten Rechtssachen über die Wegnahme einer Person, die unter elterlicher Sorge oder unter Vormundschaft steht.“

11.      In Art. 5191 § 2² der Zivilprozessordnung, der ebenfalls auf das Gesetz von 2018 zurückgeht, heißt es:

„Die Kassationsbeschwerde in den in § 21 genannten Rechtssachen können der Prokurator Generalny (Generalstaatsanwalt), der Rzecznik Praw Dziecka (Beauftragte für Kinderrechte) und der Rzecznik Praw Obywatelskich (Beauftragte für Bürgerrechte) innerhalb einer Frist von vier Monaten ab dem Tag des Eintritts der Rechtskraft des Beschlusses einlegen.“

12.      Mit der Ustawa z dnia 7 kwietnia 2022 r. o zmianie ustawy Kodeks postępowania cywilnego (Gesetz vom 7. April 2022 zur Änderung der Zivilprozessordnung) (Dz. U. 2022, Position 1098, im Folgenden: Gesetz von 2022), die am 24. Juni 2022 in Kraft trat, wurde Art. 3881 in die Zivilprozessordnung eingefügt, der wie folgt lautet:

„§ 1.      In auf der Grundlage des [Haager Übereinkommens von 1980] geführten Rechtssachen über die Wegnahme einer Person, die unter elterlicher Sorge oder unter Vormundschaft steht, wird die Vollstreckung eines Beschlusses über die Wegnahme der Person, die unter elterlicher Sorge oder unter Vormundschaft steht, von Rechts wegen ausgesetzt, wenn eine in Art. 5191 § 2² genannte Stelle innerhalb einer Frist von höchstens zwei Wochen ab dem Tag des Eintritts der Rechtskraft dieses Beschlusses [beim Sąd Apelacyjny w Warszawie (Berufungsgericht Warschau)] einen entsprechenden Antrag stellt.

§ 2.      Die Aussetzung der Vollstreckung des in § 1 angeführten Beschlusses endet, wenn die in Art. 5191 § 2² genannte Stelle innerhalb von zwei Monaten ab dem Tag des Eintritts der Rechtskraft dieses Beschlusses keine Kassationsbeschwerde einlegt.

§ 3.      Legt die in Art. 5191 § 2² genannte Stelle innerhalb von zwei Monaten ab dem Tag des Eintritts der Rechtskraft des in § 1 angeführten Beschlusses eine Kassationsbeschwerde ein, so wird die Aussetzung der Vollstreckung dieses Beschlusses von Rechts wegen bis zum Abschluss des Kassationsverfahrens verlängert.

§ 4.      Die Stelle, die den Antrag auf Aussetzung der Vollstreckung des in § 1 angeführten Beschlusses gestellt hat, kann diesen Antrag innerhalb von zwei Monaten ab dem Tag des Eintritts der Rechtskraft des Beschlusses zurücknehmen, es sei denn, eine der in Art. 5191 § 2² genannten Stellen hat eine Kassationsbeschwerde eingelegt.

§ 5.      Durch die Rücknahme des Antrags auf Aussetzung der Vollstreckung des in § 1 angeführten Beschlusses wird dieser Beschluss vollstreckbar.“

III. Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

13.      Die polnischen Staatsangehörigen T. C. (im Folgenden: Vater) und M. C. (im Folgenden: Mutter) sind Eltern von zwei Kindern, nämlich N., geboren am 8. Juni 2011, und M., geboren am 1. Januar 2017 (im Folgenden zusammen: Kinder). Die Familie lebte mehrere Jahre lang in Irland. Die Kinder wurden dort geboren und besitzen auch die irische Staatsangehörigkeit. Außerdem haben beide Elternteile eine feste Beschäftigung in diesem Land, die Mutter ist jedoch wegen einer Erkrankung längerfristig arbeitsunfähig.

14.      Im Sommer 2021 fuhr die Mutter mit Zustimmung des Vaters mit den Kindern in die Ferien nach Polen. Im September teilte sie ihm mit, dass sie dort dauerhaft bleiben werde. Der Vater hat einer Änderung des gewöhnlichen Aufenthalts der Kinder und damit ihrer Nichtrückreise nach Irland nie zugestimmt.

15.      Am 18. November 2021 beantragte der Vater beim Sąd Okręgowy we Wrocławiu (Regionalgericht Wrocław [Breslau]) auf der Grundlage des Haager Übereinkommens von 1980 die Rückgabe der Kinder nach Irland. Die Mutter trat dem Verfahren bei und beantragte, diesen Antrag zurückzuweisen. Der Prokurator Okręgowy we Wrocławiu (Regionalstaatsanwalt Wrocław) trat dem Verfahren zur Unterstützung dieses Antrags bei.

16.      Mit Beschluss vom 15. Juni 2022 gab der Sąd Okręgowy we Wrocławiu (Regionalgericht Wrocław) dem Antrag des Vaters statt. Dieses Gericht vertrat im Wesentlichen die Auffassung, dass im vorliegenden Fall ein „widerrechtliches Zurückhalten eines Kindes“ im Sinne des Haager Übereinkommens von 1980 vorgelegen habe und dass der in Art. 13 Abs. 1 Buchst. b dieses Übereinkommens vorgesehene Grund für die Ablehnung der Anordnung der Rückgabe nicht anwendbar sei. Daher gab es der Mutter auf, die Rückgabe der Kinder nach Irland innerhalb von sieben Tagen ab dem Tag des Eintritts der Rechtskraft dieses Beschlusses sicherzustellen.

17.      Anschließend legte die Mutter gegen diesen Beschluss beim Sąd Apelacyjny w Warszawie (Berufungsgericht Warschau, Polen) Beschwerde ein. Der Vater und der Regionalstaatsanwalt Wrocław beantragten, die Beschwerde zurückzuweisen.

18.      Mit Beschluss vom 21. September 2022 wies der Sąd Apelacyjny w Warszawie (Berufungsgericht Warschau) die Beschwerde zurück. Das Berufungsgericht bestätigte im Wesentlichen die Beurteilung des erstinstanzlichen Gerichts, insbesondere hinsichtlich der Unanwendbarkeit des in Art. 13 Abs. 1 Buchst. b des Haager Übereinkommens von 1980 vorgesehenen Grundes für die Ablehnung der Anordnung der Rückgabe.

19.      Der Beschluss des Sąd Apelacyjny w Warszawie (Berufungsgericht Warschau) wurde am Tag seiner Verkündung, d. h. am 21. September 2022, rechtskräftig. Am selben Tag wurde auch der Beschluss des Sąd Okręgowy we Wrocławiu (Regionalgericht Wrocław) vom 15. Juni 2022 rechtskräftig.

20.      Am 28. September 2022 lief die der Mutter mit dem rechtskräftigen Beschluss des Sąd Okręgowy we Wrocławiu (Regionalgericht Wrocław) vom 15. Juni 2022 für die freiwillige Durchführung der Rückgabeanordnung gesetzte Frist von sieben Tagen ab, ohne dass sie für die Rückgabe der Kinder nach Irland gesorgt hätte.

21.      Am 29. September 2022 beantragte der Vater für die Zwecke der Zwangsvollstreckung aus der rechtskräftigen Rückgabeentscheidung beim Sąd Apelacyjny w Warszawie (Berufungsgericht Warschau), den Beschluss mit einem Vermerk über seine Vollstreckbarkeit zu versehen und ihm eine Ausfertigung des Beschlusses mit diesem Vermerk zu übersenden.

22.      Am 30. September 2022 stellte der Beauftragte für Kinderrechte einen Antrag auf Aussetzung der Vollstreckung der Beschlüsse der Gerichte erster und zweiter Instanz gemäß Art. 3881 § 1 der Zivilprozessordnung. Am 5. Oktober 2022 stellte auch der Generalstaatsanwalt einen entsprechenden Antrag.

23.      Unter diesen Umständen hat der Sąd Apelacyjny w Warszawie (Berufungsgericht Warschau) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Stehen Art. 11 Abs. 3 der Brüssel‑IIa-Verordnung sowie Art. 22, Art. 24, Art. 27 Abs. 6 und Art. 28 Abs. 1 und 2 der Brüssel‑IIb-Verordnung in Verbindung mit Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) der Anwendung einer nationalen Rechtsvorschrift entgegen, wonach in auf der Grundlage des Haager Übereinkommens von 1980 geführten Rechtssachen über die Wegnahme einer Person, die unter elterlicher Sorge oder unter Vormundschaft steht, auf Antrag des Generalstaatsanwalts, des Beauftragten für Kinderrechte oder des Beauftragten für Bürgerrechte, der beim Sąd Apelacyjny w Warszawie (Berufungsgericht Warschau) innerhalb von zwei Wochen ab dem Tag des Eintritts der Rechtskraft des Beschlusses über die Wegnahme der Person, die unter elterlicher Sorge oder unter Vormundschaft steht, eingereicht wird, die Vollstreckung dieses Beschlusses von Rechts wegen ausgesetzt wird?

IV.    Verfahren vor dem Gerichtshof

24.      Das vorlegende Gericht hat beantragt, das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen gemäß Art. 107 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs dem Eilvorabentscheidungsverfahren zu unterwerfen.

25.      Zur Stützung dieses Antrags macht das vorlegende Gericht geltend, dass – angesichts der Tatsache, dass sich die Kinder bereits seit mehr als einem Jahr in Polen aufhielten – die Gefahr bestehe, dass eine weitere Verlängerung dieser instabilen Situation um zusätzliche Monate, in denen das Verfahren geführt werde, zum einen ihrer Beziehung zum Vater ernsthaft schade und zum anderen ihr Wohlergehen beeinträchtige und insbesondere ihre potenzielle Rückkehr nach Irland und ihre Wiedereingliederung in diesem Staat erschwere.

26.      In Anbetracht dessen hat die Dritte Kammer am 26. Oktober 2022 beschlossen, diesem Antrag stattzugeben.

27.      Der Vater, der Beauftragte für Kinderrechte, der Generalstaatsanwalt, die Mutter, die polnische Regierung und die Europäische Kommission haben beim Gerichtshof schriftliche Erklärungen eingereicht. Der Vater, der Generalstaatsanwalt, die Mutter, die polnische, die belgische, die französische und die niederländische Regierung sowie die Kommission waren in der mündlichen Verhandlung vom 8. Dezember 2022 vertreten.

V.      Würdigung

28.      Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass mit dem Haager Übereinkommen von 1980, dem alle Mitgliedstaaten beigetreten sind(3), zivilrechtlich auf „internationale Kindesentführungen“ oder, genauer gesagt, auf „widerrechtliches Verbringen oder Zurückhalten“ von Kindern reagiert werden soll. Hier geht es um Situationen, in denen ein Minderjähriger – im Allgemeinen von einem seiner Elternteile – von dem Vertragsstaat, in dem er seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, in einen anderen Vertragsstaat „verbracht“ wird oder aber unter Verletzung eines nach dem Recht des erstgenannten Staates bestehenden Sorgerechts nicht in diesen Staat „zurückgegeben“ wird, insbesondere dann, wenn nach diesem Recht der andere Elternteil einem solchen Verbringen oder Zurückhalten hätte zustimmen müssen – dies aber nicht getan hat(4).

29.      Ausgehend von der Prämisse, dass eine solche Schaffung von Tatsachen im Allgemeinen das Wohl des entführten Kindes – das damit aus der Umwelt, in der es vor der Entführung lebte, gerissen wird und häufig keine Kontakte zu seinem anderen Elternteil hat – schwer beeinträchtigt, und dass es grundsätzlich dem Kindeswohl dient, den „Status quo ante“ und die Beständigkeit seiner Existenz- und Entwicklungsbedingungen so schnell wie möglich wiederherzustellen(5), sieht dieses Übereinkommen ein besonderes Verfahren mit dem Ziel vor, die unverzügliche Rückgabe des Kindes in den Staat seines gewöhnlichen Aufenthalts sicherzustellen.

30.      Für den Fall, dass auf der Grundlage des Haager Übereinkommens von 1980 – im Allgemeinen von dem verlassenen Elternteil – ein „Antrag auf Rückgabe“ bei einer zuständigen Stelle des Staates, in den das Kind entführt wurde (ersuchter Staat), gestellt wird, sieht dieses Übereinkommen in Art. 12 den Grundsatz vor, dass diese Stelle die „sofortige Rückgabe“ des Kindes in den Staat seines gewöhnlichen Aufenthalts anordnen muss. Die betreffende Stelle kann jedoch ausnahmsweise die Rückgabe des Kindes nicht anordnen, und zwar in den in dem Übereinkommen abschließend aufgezählten Fällen, in denen die Wiederherstellung des „Status quo ante“ nicht dem Kindeswohl entspräche. Dies ist nach Art. 13 Abs. 1 Buchst. b des Übereinkommens insbesondere dann der Fall, wenn die Rückgabe mit der „schwerwiegenden Gefahr“ eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind verbunden ist oder das Kind auf andere Weise in eine unzumutbare Lage bringt.

31.      In Fällen – wie im Ausgangsverfahren –, in denen ein Kind innerhalb der Union entführt wird, werden die Vorschriften des Haager Übereinkommens von 1980 durch die Bestimmungen von Art. 11 der Brüssel‑IIa-Verordnung – bzw. nunmehr, für nach dem 1. August 2022 gestellte Rückgabeanträge, durch die Art. 22 bis 29 der Brüssel‑IIb-Verordnung ergänzt(6). Durch diese Verordnungen wird im Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten im Wesentlichen der in Art. 12 des Übereinkommens vorgesehene Grundsatz der sofortigen Rückgabe des Kindes verstärkt, indem insbesondere die in Art. 13 des Übereinkommens geregelten Gründe für die Ablehnung der Anordnung der Rückgabe strikter geregelt werden als dort.

32.      Nach diesen allgemeinen Ausführungen ist festzustellen, dass die vorliegende Rechtssache, wie ich in der Einleitung der vorliegenden Schlussanträge ausgeführt habe, speziell die Rechtsbehelfe betrifft, die im polnischen Recht für die Prüfung von Anträgen auf Rückgabe von Kindern und somit für die Durchführung des oben beschriebenen Verfahrens vorgesehen sind. In diesem Eingangsstadium meiner Untersuchung erscheint es mir ferner nützlich, die entsprechenden relevanten Aspekte kurz darzustellen.

33.      Insoweit geht aus der Vorlageentscheidung und den beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen hervor, dass ein bei den polnischen Stellen auf der Grundlage des Haager Übereinkommens von 1980 gestellter Rückgabeantrag, insbesondere im Fall einer Entführung zwischen zwei Mitgliedstaaten, in dem die Brüssel‑II-Verordnungen dieses Übereinkommen ergänzen, zu zwei ordentlichen Instanzen führen kann.

34.      Der Rückgabeantrag wird zunächst von einem der zuständigen Regionalgerichte geprüft. Die Parteien und die etwaigen Beteiligten können sodann gegen die am Ende dieses erstinstanzlichen Verfahrens ergangene Entscheidung über die Rückgabe – oder die Ablehnung der Anordnung der Rückgabe – ein Rechtsmittel einlegen. Gegebenenfalls wird die Rechtssache dann vom Sąd Apelacyjny w Warszawie (Berufungsgericht Warschau), das insoweit ausschließlich zuständig ist(7), noch einmal geprüft.

35.      Die zweitinstanzliche Entscheidung gilt mit ihrer Verkündung als rechtskräftig. Am selben Tag wird sie in der Regel in der innerstaatlichen Rechtsordnung vollstreckbar. Dasselbe gilt für die erstinstanzliche Entscheidung im Fall ihrer Bestätigung. Wird die Rückgabe des Kindes angeordnet, so können die zuständigen Behörden sie vorbehaltlich der Erfüllung bestimmter Förmlichkeiten(8) grundsätzlich durchführen.

36.      Mit dem Erlass des Gesetzes von 2018 hat der polnische Gesetzgeber allerdings die – bis dahin nicht vorgesehene – Möglichkeit eröffnet, gegen eine Rückgabeentscheidung eine Kassationsbeschwerde beim Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen) einzulegen(9). Dieser außerordentliche Rechtsbehelf steht indessen nicht den Eltern des verbrachten Kindes oder der verbrachten Kinder zu. Nur drei öffentliche Stellen – der Generalstaatsanwalt, der Beauftragte für Kinderrechte und der Beauftragte für Bürgerrechte – sind nämlich zur Einlegung einer solchen Kassationsbeschwerde befugt, und zwar unabhängig davon, ob sie zuvor am Verfahren beteiligt waren oder nicht, und innerhalb einer Frist von vier Monaten ab dem Tag des Eintritts der Rechtskraft der fraglichen Rückgabeentscheidung(10).

37.      Im Allgemeinen hat die Einlegung einer Kassationsbeschwerde nach polnischem Recht keine aufschiebende Wirkung. Die Parteien können jedoch nach einer allgemeinen Bestimmung der Zivilprozessordnung, nämlich deren Art. 388 Abs. 1, bei dem Berufungsgericht, das die angefochtene rechtskräftige Entscheidung erlassen hat, beantragen, die Vollstreckung dieser Entscheidung bis zum Abschluss des Kassationsverfahrens auszusetzen, wenn ihre Durchführung einem Beteiligten einen nicht wiedergutzumachenden Schaden zufügen könnte – wobei die Beurteilung dieser Voraussetzung und somit die Gewährung einer solchen Aussetzung von diesem Gericht zu beurteilen sind.

38.      Während diese allgemeinen Regeln in der Zeit von 2018 bis 2022 auch auf Rückgabeentscheidungen anwendbar waren, hat der polnische Gesetzgeber mit dem Gesetz von 2022 eine Sonderbestimmung eingeführt, die seit dem 24. Juni 2022(11) speziell diese Kategorie von Entscheidungen betrifft.

39.      Nach dem neuen Art. 3881 § 1 der Zivilprozessordnung wird die Vollstreckung einer rechtskräftigen Rückgabeentscheidung nämlich von Rechts wegen ausgesetzt, wenn eine der zur Einlegung einer Kassationsbeschwerde gegen eine solche Entscheidung befugten öffentlichen Stellen beim Sąd Apelacyjny w Warszawie (Berufungsgericht Warschau) innerhalb einer Frist von zwei Wochen ab dem Tag des Eintritts der Rechtskraft dieser Entscheidung einen entsprechenden Antrag stellt(12). Entgegen dem, was in Art. 388 der Zivilprozessordnung vorgesehen ist, muss ein solcher Antrag nicht begründet und vom Gericht auch nicht geprüft werden. Wird ein solcher Antrag gestellt, wird die Vollstreckung der Rückgabeentscheidung von Rechts wegen für einen Zeitraum von zwei Monaten ab dem Tag des Eintritts der Rechtskraft der Entscheidung ausgesetzt. Wenn die Stelle, die die Aussetzung beantragt hat, innerhalb dieses Zeitraums keine Kassationsbeschwerde einlegt, endet die Aussetzung(13). Wird hingegen eine Kassationsbeschwerde eingelegt, so wird die Aussetzung bis zum Abschluss des Kassationsverfahrens verlängert(14).

40.      In Anwendung dieser Verfahrensmodalitäten wurde im Ausgangsverfahren der Antrag des Vaters auf Rückgabe der Kinder im ersten Rechtszug und sodann auf Beschwerde der Mutter vom vorlegenden Gericht geprüft. Die beiden befassten Gerichte gaben diesem Antrag statt. Die von ihnen erlassenen Beschlüsse sind am Tag der Verkündung des zweiten Beschlusses rechtskräftig geworden. Der Generalstaatsanwalt und der Beauftragte für Kinderrechte haben jedoch auf Ersuchen der Mutter beim vorlegenden Gericht gemäß Art. 3881 § 1 der Zivilprozessordnung beantragt, ihre Vollstreckung auszusetzen. Diese beiden Stellen haben anschließend innerhalb der gesetzlichen Frist Kassationsbeschwerden eingelegt. Grundsätzlich müssten diese Aussetzungsanträge von Rechts wegen die Durchführung der rechtskräftigen Entscheidung über die Rückgabe der Kinder während der gesamten Dauer des Verfahrens vor dem Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) verhindern.

41.      Das vorlegende Gericht bezweifelt, dass ein solches Ergebnis mit dem Haager Übereinkommen von 1980, der Brüssel‑IIa-Verordnung sowie der Brüssel‑IIb-Verordnung und dem in Art. 47 der Charta garantierten Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf vereinbar ist. Ich teile diese Auffassung, wie ich im Folgenden im Einzelnen erläutern werde (Abschnitt B). Zuvor werde ich mich jedoch kurz mit der Zulässigkeit befassen (Abschnitt A).

A.      Zur Zulässigkeit

42.      In ihren jeweiligen Erklärungen machen der Generalstaatsanwalt und die Mutter geltend, die Frage des vorlegenden Gerichts sei unzulässig, da sie hypothetisch sei. Bei diesem Gericht sei derzeit kein „Rechtsstreit“ oder „Verfahren“ anhängig, in dessen Rahmen der „Erlass [eines] Urteils“ im Sinne von Art. 267 AEUV anstehe, bei dem das vorlegende Gericht eine etwaige Vorabentscheidung des Gerichtshofs berücksichtigen könne(15).

43.      Ich bin ebenso wie der Vater und die Kommission der Ansicht, dass die Vorlagefrage sehr wohl zulässig ist und dass dieser Einwand daher zurückzuweisen ist.

44.      Insoweit weise ich erstens darauf hin, dass diese Frage im Zusammenhang mit einem u. a. vor dem vorlegenden Gericht geführten gerichtlichen Rückgabeverfahren steht. Zwar hat dieses Gericht, wie die Mutter hervorhebt, diese Frage nach dem Erlass seines Beschlusses vom 21. September 2022(16) formuliert, mit dem dieses Verfahren in der Hauptsache endgültig abgeschlossen wurde. Die Zweifel des vorlegenden Gerichts beziehen sich jedoch nicht auf die Begründetheit des Rückgabeantrags, sondern auf die Vollstreckbarkeit der ihm stattgebenden Entscheidung, über die dieses Gericht noch zu entscheiden hat, angesichts zum einen des Antrags des Vaters auf Bestätigung der Vollstreckbarkeit(17) und zum anderen der Anträge des Generalstaatsanwalts und des Beauftragten für Kinderrechte, die umgekehrt auf die Aussetzung der Vollstreckung gerichtet sind.

45.      Zu beachten ist indessen, dass der Gerichtshof den in Art. 267 AEUV verwendeten Ausdruck „Erlass seines Urteils“ weit auslegt(18). Die gerichtliche Bestätigung der Vollstreckbarkeit einer Rückgabeentscheidung erfolgt zwar zwangsläufig erst nach dem „Erlass“ dieser Entscheidung, doch ist diese Formalität, wie der Vater erläutert hat, im polnischen Recht erforderlich, um anschließend bei den Behörden die Vollstreckung der Entscheidung beantragen zu können. Diese Bestätigung erscheint daher in funktionaler Hinsicht wie die letzte Phase des früheren Gerichtsverfahrens, die erforderlich ist, um die Wirksamkeit der Rückgabeentscheidung zu gewährleisten(19).

46.      Zweitens weise ich darauf hin, dass, selbst wenn man die Bestätigung der Vollstreckbarkeit der Rückgabeentscheidung isoliert betrachten sollte, kein Zweifel daran besteht, dass das vorlegende Gericht in diesem Rahmen zum „Erlass [eines] Urteils“ im Sinne von Art. 267 AEUV berufen ist. Hierzu hat der Vater in der mündlichen Verhandlung unwidersprochen ausgeführt, dass diese Bestätigung – für die das vorlegende Gericht zuständig ist, wie sowohl die Mutter als auch der Generalstaatsanwalt in der mündlichen Verhandlung eingeräumt haben(20) – als solche ein im polnischen Recht vorgesehenes gerichtliches Verfahren sei. Der „Vermerk“ über die Vollstreckbarkeit ergehe in Form eines speziellen Beschlusses des genannten Gerichts, der dem Rückgabebeschluss beigefügt werde und den zuständigen Behörden aufgebe, diesen Beschluss zu vollstrecken(21). Zudem sei, so der Vater, für jeden – außer bei einer übertrieben formalistischen Betrachtung – leicht ersichtlich, dass der offensichtliche Widerspruch zwischen den Anträgen zum einen des Vaters und zum anderen des Generalstaatsanwalts und des Beauftragten für Kinderrechte das Bestehen eines „Rechtsstreits“ zwischen diesen Parteien über diese Problematik widerspiegele, den das Gericht im Rahmen dieses Verfahrens zu „entscheiden“ habe.

47.      Irrelevant ist in diesem Zusammenhang das Vorbringen des Generalstaatsanwalts, diese verschiedenen Anträge erforderten keine Prüfung durch das vorlegende Gericht, weil die Aussetzung gemäß Art. 3881 der Zivilprozessordnung von Rechts wegen erfolge und zur automatischen Zurückweisung des Antrags des Vaters führe. Ich erinnere nämlich daran, dass die von dem vorlegenden Gericht gestellte Frage im Wesentlichen genau die Frage betrifft, ob es mit dem Unionsrecht vereinbar ist, dass auf Antrag eine solche Aussetzung von Rechts wegen erlangt werden kann, ohne dass die Notwendigkeit und die Verhältnismäßigkeit dieser Maßnahme gerichtlich überprüft werden. Dieses Vorbringen gehört somit zur inhaltlichen Beurteilung dieser Frage und kann aus diesem Grund nicht zu ihrer Unzulässigkeit führen(22).

48.      In diesem Zusammenhang kann eine Antwort des Gerichtshofs auf diese Frage vom vorlegenden Gericht im Ausgangsverfahren nicht nur berücksichtigt werden, sondern erscheint, wie der Vater geltend macht, sogar „erforderlich“, damit es den Rechtsstreit über die Vollstreckbarkeit der Rückgabeentscheidung entscheiden kann. Sollte der Gerichtshof nämlich antworten, dass das Unionsrecht einer Bestimmung wie Art. 3881 der Zivilprozessordnung entgegensteht, hat es die Aussetzungsanträge als gegenstandslos zu behandeln und dem Antrag des Vaters stattzugeben. Andernfalls muss es die Aussetzung der Vollstreckung dieser Entscheidung feststellen und diesen Antrag zurückweisen.

49.      Allerdings macht der Generalstaatsanwalt noch geltend, dass die Vorlagefrage unzulässig sei, soweit sie die Auslegung der Brüssel‑IIb-Verordnung betreffe, obwohl diese Verordnung auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens nicht anwendbar sei.

50.      Zwar ist auf diese Rechtssache in zeitlicher Hinsicht nur die Brüssel‑IIa-Verordnung anwendbar(23) – was dem vorlegenden Gericht im Übrigen bewusst ist. Der Gerichtshof kann sich daher in der vorliegenden Rechtssache in Anbetracht der inneren Logik des Vorabentscheidungsverfahrens nicht unmittelbar zur Auslegung der Brüssel‑IIb-Verordnung äußern. Dieses Problem erfordert jedoch lediglich eine Umformulierung der Vorlagefrage, um sie auf das erste Instrument zu beschränken. Im Übrigen kann bei der Prüfung dieser Frage die Brüssel‑IIb-Verordnung als Teil des Kontexts berücksichtigt werden(24).

B.      Zur Beantwortung der Frage

51.      Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob zum einen Art. 11 Abs. 3 der Brüssel‑IIa-Verordnung in Verbindung mit den Art. 2 und 11 des Haager Übereinkommens von 1980 und zum anderen die Art. 7 und 47 der Charta einer nationalen Rechtsvorschrift wie Art. 3881 der Zivilprozessordnung entgegenstehen, die bewirkt, dass auf einen einfachen, nicht mit einer Begründung versehenen Antrag bestimmter dazu befugter öffentlicher Stellen die Vollstreckung einer nach zwei ordentlichen Instanzen ergangenen rechtskräftigen Rückgabeentscheidung von Rechts wegen ausgesetzt wird, und zwar für einen ersten Zeitraum von zwei Monaten, der es diesen Stellen ermöglichen soll, eine Kassationsbeschwerde einzulegen, und gegebenenfalls für die gesamte Dauer des Verfahrens über diese Beschwerde.

52.      Wie die Mutter, der Generalstaatsanwalt und die polnische Regierung hervorgehoben haben, werden die Verfahrensvorschriften für auf der Grundlage des Haager Übereinkommens von 1980 gestellte Rückgabeanträge durch dieses Übereinkommen und die Brüssel‑IIa-Verordnung nicht vereinheitlicht. Diese Instrumente enthalten insbesondere keine Bestimmungen über die eventuellen Rechtsbehelfe, die gegen eine von einem Gericht des ersuchten Mitgliedstaats erlassene Rückgabeentscheidung ab dem Eintritt ihrer Vollstreckbarkeit gegeben sind, oder über die aufschiebende Wirkung eines solchen Rechtsbehelfs hinsichtlich der Vollstreckung dieser Entscheidung. Alle diese Fragen sind dem Verfahrensrecht des ersuchten Mitgliedstaats überlassen.

53.      Die Festlegung dieser Verfahrensvorschriften fällt somit in die Zuständigkeit der einzelnen Mitgliedstaaten. Aus diesen Instrumenten sowie aus den Verträgen, der Charta und der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) ergeben sich jedoch bestimmte, in den folgenden Abschnitten näher behandelte Verpflichtungen, die die Mitgliedstaaten beachten müssen, wenn sie diese Zuständigkeit ausüben(25) – die somit nicht unbegrenzt ist, sondern der vielmehr Grenzen gesetzt sind.

54.      Wie der Vater, die belgische, die französische und die niederländische Regierung sowie die Kommission bin ich der Ansicht, dass der polnische Gesetzgeber mit dem Erlass von Art. 3881 der Zivilprozessordnung gerade die Grenzen seiner Zuständigkeit überschritten hat. Mit dieser Bestimmung hat der polnische Gesetzgeber nämlich dem Rückgabeverfahren die Wirksamkeit genommen (Abschnitt 1). Damit hat er auch das Grundrecht auf Achtung des Familienlebens und das Grundrecht des Vaters auf einen wirksamen Rechtsbehelf eingeschränkt (Abschnitt 2), ohne dass eine solche Einschränkung und die damit verbundenen negativen Folgen gerechtfertigt wären (Abschnitt 3).

1.      Zur Wirksamkeit des Rückgabeverfahrens

55.      Wie oben dargelegt, wird mit dem Rückgabeverfahren, wie es im Haager Übereinkommen von 1980 vorgesehen ist und durch die Bestimmungen der Brüssel‑IIa-Verordnung ergänzt wird, im Fall einer Kindesentführung ein einfaches Ziel verfolgt: die Gewährleistung einer „sofortigen“(26) – oder, anders ausgedrückt, „unverzüglichen“(27) – Rückgabe des Kindes in den Staat seines gewöhnlichen Aufenthalts.

56.      Die Zeit ist nämlich in diesem Bereich ein entscheidender Faktor. In der Regel wird die durch die Änderung der Umgebung verursachte Störung das Kind umso weniger traumatisieren, je schneller sie abgestellt wird. Umgedreht wird eine Rückkehr des Kindes in seinen Herkunftsstaat für das Kind umso schwieriger, je mehr Zeit es gehabt hat, sich in seine neue Umgebung zu integrieren(28). Auch die Beziehung des Kindes zu dem verlassenen Elternteil hängt davon ab. Die Intensität dieser Beziehung nimmt im Laufe der Monate, in denen kein Kontakt stattgefunden hat, ab. Hinzu kommt, dass sich das betreffende Kind, je jünger es ist, umso schneller in seiner geistigen und psychologischen Struktur entwickelt – und umso mehr kann der Zeitablauf ihm schaden und diese Beziehung beeinträchtigen(29).

57.      Das Ziel der „sofortigen“ oder „unverzüglichen“ Rückgabe des Kindes impliziert natürlich ein Beschleunigungsgebot, das in verschiedenen Bestimmungen des Haager Übereinkommens von 1980 und der Brüssel‑IIa-Verordnung hervorgehoben wird. Insbesondere verpflichtet Art. 2 Satz 2 dieses Übereinkommens die Stellen der Mitgliedstaaten, bei der Bearbeitung eines Rückgabeantrags ihre „schnellstmöglichen Verfahren“ anzuwenden, und nach seinem Art. 11 Abs. 1 haben sie „[i]n Verfahren auf Rückgabe von Kindern … mit der gebotenen Eile zu handeln“. Art. 11 Abs. 3 Unterabs. 1 der Brüssel‑IIa-Verordnung übernimmt im Wesentlichen die gleichen Verpflichtungen, indem er den Gerichten dieser Staaten, wenn sie mit einem Rückgabeantrag befasst werden, vorschreibt, „sich mit gebotener Eile mit dem Antrag [zu befassen] und … sich dabei der zügigsten Verfahren des nationalen Rechts [zu bedienen]“.

58.      Dieses Beschleunigungsgebot kommt im Übrigen konkret in Art. 11 Abs. 2 des Haager Übereinkommens von 1980 zum Ausdruck, aus dem hervorgeht, dass die nationalen Stellen über einen Rückgabeantrag idealerweise(30) innerhalb einer Frist von sechs Wochen nach seinem Eingang entscheiden müssen. Überdies hat der Unionsgesetzgeber, wie die Kommission hervorhebt, diese Frist bei Kindesentführungen innerhalb der Union zwingend vorgeschrieben. Nach Art. 11 Abs. 3 Unterabs. 2 der Brüssel‑IIa-Verordnung muss ein mit einem solchen Antrag befasstes Gericht nämlich „seine Anordnung spätestens sechs Wochen nach seiner Befassung mit dem Antrag [erlassen], es sei denn, dass dies aufgrund außergewöhnlicher Umstände nicht möglich ist“.

59.      Außerdem trifft es zwar zu, dass diese verschiedenen Verpflichtungen, wie der Generalstaatsanwalt und die polnische Regierung geltend machen, den Erlass einer Rückgabeentscheidung und nicht die Vollstreckung einer solchen Entscheidung betreffen, doch gilt für die nationalen Stellen insoweit dasselbe Gebot der Wirksamkeit und Zügigkeit. Könnte nämlich eine mit der gebotenen Schnelligkeit ergangene Rückgabeentscheidung anschließend lediglich auf dem Papier bestehen oder von diesen Stellen erst verspätet vollstreckt werden, so verlören die fraglichen Verpflichtungen jede praktische Wirksamkeit(31).

60.      In diesem Zusammenhang müssen die Gesetzgeber der Mitgliedstaaten nach Art. 2 des Haager Übereinkommens von 1980(32) und nach dem in Art. 4 Abs. 3 EUV niedergelegten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit(33) einen rechtlichen Rahmen vorsehen, mit dem die Schnelligkeit und Wirksamkeit des Rückgabeverfahrens gewährleistet und damit die Erreichung des mit ihm verfolgten Ziels sichergestellt werden kann, indem es den ersuchten Stellen ermöglicht wird, die Bearbeitung von Rückgabeanträgen und die Vollstreckung entsprechender Entscheidungen mit der gebotenen Schnelligkeit vorzunehmen.

61.      Wie der Vater, die belgische, die französische und die niederländische Regierung sowie die Kommission bin ich indessen der Ansicht, dass der polnische Gesetzgeber mit dem Erlass von Art. 3881 der Zivilprozessordnung genau das Gegenteil getan hat.

62.      Insoweit weise ich darauf hin, dass nach polnischem Recht ein Rückgabeantrag in zwei ordentlichen Instanzen geprüft werden kann, wobei ein etwaiges Rechtsmittel gegen die erstinstanzliche Entscheidung aufschiebende Wirkung hat. In diesem Zusammenhang stand es dem polnischen Gesetzgeber zwar frei, darüber hinaus die Möglichkeit einer Kassationsbeschwerde vorzusehen – eine entsprechende Möglichkeit besteht im Übrigen auch in anderen Mitgliedstaaten. Allerdings hat der polnische Gesetzgeber dadurch, dass er diesen außerordentlichen Rechtsbehelf mit einem Mechanismus der von Rechts wegen erfolgenden Aussetzung der Vollstreckung der angefochtenen rechtskräftigen Entscheidung wie dem in Art. 3881 der Zivilprozessordnung vorgesehenen verbunden hat, ohne ausreichende Maßnahmen zu treffen, um die zügige Behandlung dieses Rechtsbehelfs sicherzustellen, die Schnelligkeit und Wirksamkeit des Rückgabeverfahrens auf systemischer Ebene(34) beeinträchtigt.

63.      Erstens ist nämlich darauf hinzuweisen, dass eine der zur Einlegung einer Kassationsbeschwerde befugten öffentlichen Stellen – der Generalstaatsanwalt, der Beauftragte für Kinderrechte und der Beauftragte für Bürgerrechte –, sowie sie einen Antrag auf der Grundlage von Art. 3881 der Zivilprozessordnung gestellt hat, von Rechts wegen über eine erste aufschiebende Frist von zwei Monaten verfügt, die ab dem Tag der Verkündung der rechtskräftigen Entscheidung berechnet wird, um eine Kassationsbeschwerde einzulegen(35). Auch wenn diese Frist offensichtlich, wie die Mutter, der Generalstaatsanwalt, der Beauftragte für Kinderrechte und die polnische Regierung geltend machen, kürzer ist als die im polnischen Recht allgemein vorgesehene Frist für die Einlegung einer Kassationsbeschwerde – es handelt sich offensichtlich um eine Frist von sechs Monaten –, ist ihre Dauer im Kontext eines Rückgabeverfahrens nichtsdestoweniger verblüffend. Zum Vergleich: Die genannte Frist – die, wie gesagt, für die eventuelle Vorbereitung eines Rechtsbehelfs gewährt wird – geht über die sechs Wochen hinaus, innerhalb denen die Gerichte normalerweise über einen Rückgabeantrag entscheiden müssen.

64.      Darüber hinaus weise ich darauf hin, dass dann, wenn innerhalb dieser Frist eine Kassationsbeschwerde eingelegt wird, die aufschiebende Wirkung bis zum Abschluss des Verfahrens vor dem Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) verlängert wird. Wie die polnische Regierung in der mündlichen Verhandlung eingeräumt hat, ist im nationalen Recht für die Prüfung einer solchen Beschwerde jedoch keine Frist vorgesehen. Diese Regierung hat bei dieser Gelegenheit ferner angeben, dass die Verfahren vor diesem Gericht im Durchschnitt elf Monate dauern, was die in Art. 11 Abs. 2 des Haager Übereinkommens von 1980 und Art. 11 Abs. 3 der Brüssel‑IIa-Verordnung vorgesehene Frist von sechs Wochen ganz erheblich überschreitet(36). Außerdem scheint das Oberste Gericht nach seinen internen Regeln nicht über Instrumente wie das vom Gerichtshof in der vorliegenden Rechtssache angewandte Eilvorabentscheidungsverfahren zu verfügen, die es dazu verpflichten würden, zügig über eine Kassationsbeschwerde zu entscheiden(37).

65.      Zweitens dürfte sich der streitige Mechanismus entgegen dem Vorbringen der Mutter, des Generalstaatsanwalts und der polnischen Regierung nicht nur auf einige, sondern auf zahlreiche bei den polnischen Gerichten anhängig gemachte Rückgabeverfahren auswirken.

66.      Insoweit ist die Kassationsbeschwerde in Polen zwar auf Rechtsfragen beschränkt, doch ist darauf hinzuweisen, dass dies auch eine geltend gemachte „fehlerhafte Rechtsanwendung“(38) durch das Berufungsgericht umfasst, einschließlich einer fehlerhaften Anwendung der in Art. 13 des Haager Übereinkommens von 1980 vorgesehenen rechtlichen Gründe für die Ablehnung der Anordnung der Rückgabe. Da diese Gründe vom entführenden Elternteil häufig geltend gemacht werden, um sich der Rückgabe des Kindes zu widersetzen, und gegebenenfalls von diesem Gericht zu prüfen sind, kann bei fast allen Rückgabeentscheidungen ein solcher Rechtsbehelf in Betracht kommen. Der Generalstaatsanwalt hat im Übrigen in der mündlichen Verhandlung angegeben, dass er in seiner Kassationsbeschwerde im Ausgangsverfahren gerade diesen Grund geltend gemacht habe(39).

67.      Außerdem wird durch den Umstand, dass der polnische Gesetzgeber den Kreis der Personen, die eine Kassationsbeschwerde einlegen können, auf den Generalstaatsanwalt, den Beauftragten für Kinderrechte und den Beauftragten für Bürgerrechte beschränkt hat, zwar verhindert, dass von dem entführenden Elternteil missbräuchliche Rechtsbehelfe allein zu Verzögerungszwecken eingelegt werden, um die Wirksamkeit der Bestimmungen des Haager Übereinkommens von 1980 und der Brüssel‑IIa-Verordnung zu untergraben(40). Nichtsdestoweniger erhöht zum einen die Zahl dieser Stellen die Aussichten, dass eine solche Beschwerde eingelegt wird, und zum anderen könnten diese ihrerseits, gegebenenfalls auf Ersuchen des fraglichen Elternteils, dieses Verfahren in missbräuchlicher Weise nutzen – auf diesen Aspekt werde ich noch zurückkommen(41).

68.      Zu diesem letztgenannten Punkt haben die Mutter, der Generalstaatsanwalt und die polnische Regierung erwidert, dass die Zahl der Kassationsbeschwerden, die von den dazu befugten Stellen in Verfahren über internationale Kindesentführungen eingelegt würden, in der Praxis gering sei. Selbst wenn es sich so verhalten sollte, ändert dies jedoch nichts daran, dass die bloße Möglichkeit eines solchen Rechtsbehelfs mit aufschiebender Wirkung ernste Zweifel an der Fähigkeit der polnischen Stellen aufkommen lässt, im Fall von Kindesentführungen in diesen Mitgliedstaat die unverzügliche Rückgabe des Kindes sicherzustellen(42).

69.      Drittens ist, wie das vorlegende Gericht hervorhebt, der Widerspruch zwischen einem solchen Mechanismus der automatischen Aussetzung und dem Geist der Regeln des Haager Übereinkommens von 1980 und der Brüssel‑IIa-Verordnung umso offenkundiger, als dieser Mechanismus allein für auf dieses Übereinkommen gestützte Rückgabeanträge vorgesehen wurde. Statt für die Bearbeitung dieser Anträge die Anwendung der „zügigsten Verfahren des nationalen Rechts“ vorzusehen, wie es Art. 11 Abs. 3 Unterabs. 1 der Brüssel‑IIa-Verordnung verlangt, scheint der polnische Gesetzgeber ihnen somit im Gegenteil eines der langsamsten in diesem Recht vorgesehenen Verfahren vorbehalten zu haben.

70.      Letztens ist ein weiterer Aspekt, der vor dem Gerichtshof weniger diskutiert wird, gleichwohl zu erwähnen. Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass die in Rede stehenden öffentlichen Stellen nach Abschluss des Kassationsverfahrens im Fall der Bestätigung der Rückgabeentscheidung noch über einen weiteren Rechtsbehelf gegen eine solche Entscheidung verfügen, nämlich die Einlegung einer „außerordentlichen Beschwerde“ gemäß Art. 89 der Ustawa z dnia 8 grudnia 2017 r. o Sądzie Najwyższym (Gesetz vom 8. Dezember 2017 über das Oberste Gericht)(43), die von der Izba Kontroli Nadzwyczajnej i Spraw Publicznych Sądu Najwyższego (Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts) geprüft wird. Eine solche Beschwerde kann innerhalb einer Frist von einem Jahr ab dem Tag der Zurückweisung der Kassationsbeschwerde eingelegt werden und hat noch einmal aufschiebende Wirkung(44).

71.      Zwar ist, wie der Generalstaatsanwalt und die polnische Regierung geltend gemacht haben, die Einlegung einer solchen „außerordentlichen Beschwerde“ in dem Stadium, in dem sich das Ausgangsverfahren befindet, noch hypothetisch. Im Übrigen könnte sich eine solche „Beschwerde“ ihren Angaben nach nur auf begrenzte Gründe beziehen(45), die sich von denen unterschieden, die bereits im Rahmen der Kassationsbeschwerde geprüft worden seien, und von dieser Beschwerdemöglichkeit sei bislang in Verfahren über Kindesentführungen nie Gebrauch gemacht worden. Nichtsdestoweniger bestätigt meines Erachtens die bloße Existenz dieses zusätzlichen Rechtsbehelfs bei einer Gesamtbetrachtung des nationalen Verfahrenssystems die Auswirkungen, die eine Bestimmung wie Art. 3881 der Zivilprozessordnung auf die Schnelligkeit und die Wirksamkeit des Rückgabeverfahrens haben kann.

2.      Zu den Rechten des Vaters auf Achtung seines Familienlebens und auf einen wirksamen Rechtsbehelf

72.      Meiner Ansicht nach bewirkt eine Bestimmung wie Art. 3881 der Zivilprozessordnung überdies eine schwere Einschränkung des Grundrechts eines Elternteils – im vorliegenden Fall des Vaters – auf Achtung seines Familienlebens und seines Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf, die in Art. 7 bzw. in Art. 47 der Charta niedergelegt sind(46). Da diese Rechte denen entsprechen, die in Art. 8 bzw. Art. 6 EMRK vorgesehen sind, sind sie im Licht der einschlägigen Rechtsprechung des EGMR auszulegen(47).

73.      Insoweit ergibt sich aus dieser Rechtsprechung, dass das Recht auf Achtung des Familienlebens das Recht eines Elternteils umfasst, im Fall einer internationalen Kindesentführung die Rückgabe des Kindes zu verlangen(48). In diesem Rahmen hat der EGMR wiederholt entschieden, dass die Mitgliedstaaten in diesem Bereich positive Verpflichtungen nach Art. 8 EMRK haben, die er im Licht des Haager Übereinkommens von 1980 auslegt. Sie müssen sich insbesondere angemessene und wirksame Mittel, einschließlich eines geeigneten rechtlichen Rahmens, geben, um das Recht des verlassenen Elternteils auf Rückgabe des Kindes durchzusetzen. Die Angemessenheit dieser Mittel ist nach der Auffassung des EGMR angesichts der Folgen, die der Zeitablauf in diesem Bereich haben kann, anhand ihrer Schnelligkeit zu beurteilen(49).

74.      So sind die Mitgliedstaaten zum einen nach Art. 8 EMRK verpflichtet, einen rechtlichen Rahmen vorzusehen, der gewährleistet, dass über Anträge auf Rückgabe über alle Instanzen hinweg innerhalb einer „angemessenen Frist“ entschieden wird, wobei von den nationalen Stellen im Bereich internationaler Kindesentführungen eine „außergewöhnliche Zügigkeit“ verlangt wird. Diese Verpflichtung obliegt diesen Stellen auch aufgrund des in Art. 6 EMRK verankerten Rechts auf ein faires Verfahren(50).

75.      Aus der Rechtsprechung des EGMR geht indessen hervor, dass der Umstand, dass ein Mitgliedstaat zahlreiche Berufungen, Kassationsbeschwerden und andere „außergewöhnliche Rechtsbehelfe“ gegen Rückgabeentscheidungen – gegebenenfalls mit aufschiebender Wirkung – zulässt, insoweit einen systemischen Mangel darstellt, da diese zahlreichen Rechtsbehelfe zu einer unangemessenen Verlängerung der Prüfung jedes Rückgabeantrags führen können – oder sogar an eine Rechtsverweigerung grenzen können(51).

76.      Zum anderen sind die Mitgliedstaaten nach den Art. 6 und 8 EMRK auch verpflichtet, im Fall einer rechtskräftigen Rückgabeentscheidung alle angemessenen und erforderlichen Maßnahmen zur Erleichterung ihrer Vollstreckung zu ergreifen(52). Wie der Vater und die Kommission geltend machen, würden das Recht auf Achtung des Familienlebens und das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf des verlassenen Elternteils hingegen illusorisch, wenn bestimmte öffentliche Stellen, ohne dafür eine Begründung geben zu müssen und sogar ohne letztlich eine Kassationsbeschwerde einlegen zu müssen, die Vollstreckung einer solchen Entscheidung von Rechts wegen aussetzen lassen könnten, mit der Folge, dass die Entscheidung während eines erheblichen Zeitraums zulasten dieses Elternteils wirkungslos bliebe(53).

3.      Zur fehlenden Rechtfertigung eines solchen Mechanismus

77.      Die Mutter, der Generalstaatsanwalt, der Beauftragte für Kinderrechte und die polnische Regierung machen indessen geltend, ein Mechanismus wie der in Art. 3881 der Zivilprozessordnung vorgesehene bezwecke – und sei hierfür erforderlich –, gemäß Art. 47 der Charta einen wirksamen gerichtlichen Schutz für das Kind zu gewährleisten, dessen Wohl, das u. a. durch Art. 24 der Charta geschützt werde, eine vorrangige Erwägung für die Auslegung und Anwendung des Haager Übereinkommens von 1980 und der Brüssel‑IIa-Verordnung darstelle(54).

78.      Diese Instrumente seien zwar gerade zu dem Zweck geschaffen worden, dem Wohl des verbrachten Kindes zu entsprechen, und es diene in der Regel dem Wohl des Kindes, wenn es so schnell wie möglich in den Staat seines gewöhnlichen Aufenthalts zurückkehre(55), doch sei dies nicht immer der Fall. Insbesondere müssten, wenn der entführende Elternteil – wie im vorliegenden Fall die Mutter – vorbringe, dass die Rückgabe im Sinne von Art. 13 Abs. 1 Buchst. b der Haager Konvention von 1980 mit der „schwerwiegenden Gefahr“ eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind verbunden sei oder das Kind auf andere Weise in eine unzumutbare Lage bringe, dieses Vorbringen, da es das Wohlergehen und die Würde des Kindes betreffe, zu einer eingehenden gerichtlichen Kontrolle – wie vom EGMR gefordert – führen. Dazu müsse es Gegenstand einer Kassationsbeschwerde sein können, gegebenenfalls auch zu Lasten der Schnelligkeit des Rückgabeverfahrens.

79.      In diesem Rahmen sei eine von Rechts wegen erfolgende Aussetzung der Vollstreckung der rechtskräftigen Rückgabeentscheidung, wie sie in Art. 3881 der Zivilprozessordnung vorgesehen sei, womit verhindert werde, dass das Kind zwangsweise in seinen Herkunftsstaat zurückgeschickt werde, bevor eine solche Beschwerde eingelegt und gegebenenfalls vom Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) geprüft worden sei, unerlässlich, um die praktische Wirksamkeit der Kassationsbeschwerde zu gewährleisten und um zu verhindern, dass sich die vorgebrachte „schwerwiegenden Gefahr“ realisiere und das Kind infolgedessen einen nicht wiedergutzumachenden Schaden erleide.

80.      Wie der Vater, die belgische, die französische und die niederländische Regierung sowie die Kommission teile ich diese Ansicht nicht. Auch wenn das erklärte Ziel lobenswert ist, geht die streitige Maßnahme meines Erachtens über das hinaus, was zu seiner Erreichung erforderlich ist, und ist darüber hinaus nicht verhältnismäßig.

81.      Zwar ergibt sich aus der Rechtsprechung des EGMR, dass, wenn im Rahmen eines Rückgabeverfahrens in vertretbarer Weise eine „schwerwiegende Gefahr“ im Sinne von Art. 13 Abs. 1 Buchst. b des Haager Übereinkommens von 1980 vorgebracht wird, die Wahrung des Kindeswohls die Gerichte verpflichtet, dieses Vorbringen gebührend zu prüfen, um sich in jedem Fall vergewissern zu können, dass die Rückgabe des Kindes tatsächlich seinem Wohl dient – oder andernfalls den in dieser Bestimmung vorgesehenen Grund für die Ablehnung der Anordnung der Rückgabe zur Anwendung zu bringen. Ein solches Vorbringen muss daher von den Gerichten „tatsächlich berücksichtigt“ werden – wobei die entsprechende Prüfung in einigen Fällen eine angemessene Überschreitung der ihnen normalerweise vorgegebenen Frist von sechs Wochen rechtfertigen kann(56) – und kann sie dazu veranlassen, im Hinblick auf die Umstände jedes Einzelfalls „speziell“ und „hinreichend“ begründete Entscheidungen zu erlassen(57).

82.      Daraus lässt sich jedoch nicht ableiten – wie es die Verfechter von § 3881 der Zivilprozessordnung tun –, dass ein und dasselbe Vorbringen hinsichtlich einer für das Kind im Fall der Rückgabe bestehenden „schwerwiegenden Gefahr“ zwingend in mehreren Instanzen wiederholt geprüft werden können muss. Der gerichtliche Rechtsschutz des Kindes gegen eine solche „Gefahr“ wird nämlich grundsätzlich – in dem vom Unionsrecht und von der EMRK geforderten Maß – bereits dadurch gewährleistet, dass ein Rechtsbehelf bei einer gerichtlichen Instanz eingelegt werden kann(58).

83.      Das wird in meinen Augen durch die Ausgangsrechtssache veranschaulicht. In dieser Rechtssache wurde der gerichtliche Schutz der Kinder bereits gewährleistet, und zwar nicht im Rahmen einer Instanz, wie durch die Art. 24 und 47 der Charta geboten, sondern in zwei Instanzen. Obwohl die vom Generalstaatsanwalt und vom Beauftragten für Kinderrechte auf Ersuchen der Mutter eingelegten Kassationsbeschwerden offenbar auf einem geltend gemachten Verstoß der untergeordneten Gerichte gegen Art. 13 Abs. 1 Buchst. b des Haager Übereinkommens von 1980 beruhen, weise ich darauf hin, dass diese Gerichte die Rückgabe der Kinder nicht automatisch oder mechanisch angeordnet haben. Sie scheinen vielmehr das Vorbringen der Mutter zum Vorliegen einer „schwerwiegenden Gefahr“ für die Kinder im Fall der Rückgabe „tatsächlich berücksichtigt“ zu haben. Insbesondere steht fest, dass das erstinstanzliche Gericht insoweit eine umfassende Beweiserhebung durchgeführt hat – was die sieben Monate erklären kann, die es für die Entscheidung gebraucht hat –, indem es u. a. ein Sachverständigengutachten eingeholt hat, dessen Schlussfolgerungen es herangezogen hat, um auszuschließen, dass die Rückgabe die Kinder einer solchen „Gefahr“ aussetzen würde(59). Ferner steht fest, dass diese Gerichte Entscheidungen erlassen haben, die hierzu eine eingehende Begründung enthalten, die auf die Umstände des Einzelfalls eingeht(60).

84.      Aus dem Vorstehenden ergibt sich meines Erachtens, dass die Wahrung des Kindeswohls und das Recht des Kindes auf gerichtlichen Rechtsschutz, wie sie in den Art. 24 und 47 der Charta geschützt sind, selbst in Bezug auf die vorgetragene „schwerwiegende Gefahr“ für das Kind im Fall der Rückgabe im Sinne von Art. 13 Abs. 1 Buchst. b des Haager Übereinkommens von 1980 den polnischen Gesetzgeber nicht dazu verpflichteten, eine Kassationsbeschwerde gegen die Rückgabeentscheidungen zu eröffnen, und erst recht nicht dazu, dieser Beschwerde auf einen einfachen, nicht mit einer Begründung versehenen Antrag von Rechts wegen aufschiebende Wirkung zu verleihen. Art. 3881 der Zivilprozessordnung geht somit über das hinaus, was insoweit erforderlich ist(61).

85.      Es trifft zu, dass außergewöhnliche Situationen eintreten können, in denen eine nach einer oder sogar zwei gerichtlichen Instanzen erlassene rechtskräftige Entscheidung über die Rückgabe das betroffene Kind im Fall der Vollstreckung einer körperlichen oder seelischen Gefahr (etc.) im Sinne von Art. 13 Abs. 1 Buchst. b des Haager Übereinkommens von 1980 aussetzen würde. Dazu könnte es kommen, wenn eine solche Gefahr bereits bei der Prüfung des Rückgabeantrags bestand, aber dem befassten Gericht oder den befassten Gerichten nicht zur Kenntnis gebracht wurde – etwa weil der entführende Elternteil dies nicht vorgetragen hat –, oder wenn das Gericht oder die Gerichte das entsprechende Vorbringen aus unerklärlichen Gründen – unter offenkundiger Verletzung der sich aus der Rechtsprechung des EGMR ergebenden Verfahrenspflichten – außer Acht gelassen hat bzw. haben. Eine solche Situation könnte sich auch aus einer nach dem Erlass der Rückgabeentscheidung eingetretenen Änderung der Umstände ergeben, die eine neue Gefahr für das Kind geschaffen hat(62).

86.      Für solche Fälle ist meines Erachtens ein Mechanismus zur Aussetzung der Vollstreckung der Rückgabeentscheidung – gegebenenfalls bis zur Entscheidung über einen Rechtsbehelf, der darauf gerichtet ist, die Entfernung dieser Entscheidung aus der Rechtsordnung zu erwirken oder ihre Hinfälligkeit festzustellen – unerlässlich, um das Wohl des Kindes zu schützen.

87.      Auch wenn der in Art. 3881 der Zivilprozessordnung vorgesehene Mechanismus, wie die polnische Regierung vorträgt, für solche außergewöhnlichen Fälle bestimmt sein sollte, ist er indessen, wie ich bereits ausgeführt habe, mit keiner Garantie verbunden, die gewährleisten könnte, dass er in der Praxis allein in solchen Fällen angewandt wird.

88.      Ich weise insoweit darauf hin, dass die Aussetzung der Vollstreckung einer rechtskräftigen Rückgabeentscheidung auf der Grundlage dieser Bestimmung von keiner anderen Voraussetzung als der förmlichen Stellung eines entsprechenden Antrags durch eine der zur Einlegung eines Rechtsbehelfs befugten Stellen abhängt und keiner Begründung seitens dieser Stellen bedarf. Demnach müssen diese Stellen nicht den geringsten Anhaltspunkt dafür vorbringen, dass die Vollstreckung der Entscheidung mit der Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind im Sinne von Art. 13 Abs. 1 Buchst. b des Haager Übereinkommens von 1980 verbunden sein könnte(63). Ein solcher Mechanismus erlaubt daher keinerlei gerichtliche Überprüfung, mit der seine fehlerhafte oder sogar missbräuchliche Anwendung durch diese Stellen verhindert werden könnte(64). Wie der Vater geltend macht, sind die drei fraglichen öffentlichen Stellen letztlich durch nichts daran gehindert, einen solchen Antrag automatisch im Zusammenhang mit jeder in zweiter Instanz ergangenen Rückgabeentscheidung zu stellen. Dieser Mechanismus verleitet sie sogar dazu. Sie haben dabei nämlich nichts zu verlieren, während sie jedes Mal Zeit gewinnen, um eine solche Entscheidung in aller Ruhe prüfen zu können.

89.      Ein solcher Mechanismus ist auch im engeren Sinne nicht verhältnismäßig. Er bringt nämlich die verschiedenen in Rede stehenden Rechte und Interessen nicht angemessen miteinander in Einklang. Der polnische Gesetzgeber hat keinen „angemessenen Ausgleich“ zwischen dem Ziel, das Kind vor jeder „schwerwiegenden Gefahr“ zu schützen, und der Schnelligkeit und Wirksamkeit des Rückgabeverfahrens gewahrt(65). Er hat die Abwägung übermäßig zugunsten des ersten Ziels ausfallen lassen, auf die Gefahr hin, dass es in der Praxis zu einer Umkehrung von Grundsatz (Rückgabe) und Ausnahme (keine Rückgabe) kommt.

90.      Insoweit darf nicht außer Acht gelassen werden, welche entscheidenden Auswirkungen die Aussetzung einer Rückgabeentscheidung während der Dauer des Verfahrens über eine Kassationsbeschwerde auf den Ausgang des Rückgabeverfahrens haben kann. Wie ich in Nr. 56 der vorliegenden Schlussanträge ausgeführt habe, ist die Zeit nämlich in diesem Bereich ein entscheidender Faktor. Je mehr sich das Kind in den Staat integriert, in den es verbracht wurde, desto schwieriger wäre für das Kind eine Rückkehr in seinen Herkunftsstaat, und desto weniger ist eine Rückgabe des Kindes gerechtfertigt. Selbst wenn die zweitinstanzliche Entscheidung am Ende des Kassationsverfahrens letztlich bestätigt würde, ist es daher wahrscheinlich, dass sie im Interesse des Kindeswohls – Verbleib in der Umgebung, die zwischenzeitlich seine neue Umgebung geworden ist – nicht vollstreckt werden wird. So könnte unter dem Deckmantel einer Stabilisierung der Situation des Kindes – die von den Verfechtern von Art. 3881 der Zivilprozessordnung angeführt wird – eine Aussetzung auf der Grundlage dieser Bestimmung vor allem dazu dienen, die tatsächliche Situation, die sich aus der rechtswidrigen Verbringung oder Zurückhaltung ergibt, zu festigen und damit die Stellung des entführenden Elternteils zu stärken(66).

91.      Die Unverhältnismäßigkeit dieses Art. 3881 ist umso bemerkenswerter, als es im polnischen Recht eine andere Bestimmung gibt, die einen angemessenen Schutz des Kindes gegen jede „schwerwiegende Gefahr“ eines körperlichen oder seelischen Schadens im Fall der Rückgabe und gleichzeitig eine Abwägung aller in Rede stehenden Rechte und Interessen erlaubt. Art. 388 der Zivilprozessordnung ermöglicht es nämlich den zur Einlegung einer Kassationsbeschwerde gegen eine Rückgabeentscheidung befugten Stellen bereits, deren Aussetzung zu beantragen, wenn die Vollstreckung dieser Entscheidung bei dem Kind einen nicht wiedergutzumachenden Schaden verursachen könnte. Entscheidend ist, dass die vom Sąd Apelacyjny w Warszawie (Berufungsgericht Warschau) in dem Bereich vorgenommene gerichtliche Kontrolle gewährleistet, dass eine solche Aussetzung nur dann erwirkt werden kann, wenn das Kindeswohl sie tatsächlich erfordert.

92.      In diesem Zusammenhang ist meines Erachtens das Vorbringen der Mutter, des Generalstaatsanwalts und des Beauftragten für Kinderrechte, wonach der polnische Gesetzgeber einen Mechanismus der automatischen Aussetzung auf einfachen Antrag der betreffenden Stellen vorgesehen habe, gerade weil der Sąd Apelacyjny w Warszawie (Berufungsgericht Warschau) die meisten auf der Grundlage von Art. 388 der Zivilprozessordnung gestellten Anträge auf Aussetzung zurückgewiesen habe, in meinen Augen äußerst problematisch. Es gibt nämlich nur zwei Möglichkeiten: Entweder war sich der polnische Gesetzgeber vollkommen dessen bewusst, dass der neue Art. 3881 der Zivilprozessordnung es ermöglichen würde, unter Verstoß gegen die Verpflichtungen der Republik Polen aus dem Völkerrecht und dem Unionsrecht Rückgabeentscheidungen zu vereiteln, die das Kind im Fall der Rückgabe nicht wirklich einer „schwerwiegenden Gefahr“ aussetzen – andernfalls würde das genannte Gericht nämlich den entsprechenden Aussetzungsanträgen stattgeben –, oder er war der Auffassung, dass ein Mitglied der polnischen Exekutive und zwei Verwaltungsstellen besser als ein polnisches Gericht in der Lage seien, in jedem Einzelfall das Vorliegen einer solchen „Gefahr“ ohne jede Kontrolle zu beurteilen. In jedem Fall ist ein solches Argument in einem Rechtsstaat nicht zulässig.

4.      Zwischenergebnis

93.      Angesichts der vorstehenden Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, die Vorlagefrage dahin zu beantworten, dass zum einen Art. 11 Abs. 3 der Brüssel‑IIa-Verordnung in Verbindung mit den Art. 2 und 11 des Haager Übereinkommens von 1980 und zum anderen die Art. 7 und 47 der Charta einer nationalen Rechtsvorschrift entgegenstehen, die bewirkt, dass auf einen einfachen, nicht mit einer Begründung versehenen Antrag bestimmter dazu befugter öffentlicher Stellen die Vollstreckung einer nach zwei ordentlichen Instanzen ergangenen rechtskräftigen Rückgabeentscheidung von Rechts wegen ausgesetzt wird, und zwar für einen ersten Zeitraum von zwei Monaten, der es diesen Stellen ermöglichen soll, eine Kassationsbeschwerde einzulegen, und gegebenenfalls für die gesamte Dauer des Verfahrens über diese Beschwerde.

94.      Da das vorlegende Gericht den Gerichtshof zu diesem Punkt ausdrücklich befragt, weise ich noch darauf hin, dass dieses Gericht, wenn der Gerichtshof meinem Vorschlag folgen sollte, im Ausgangsverfahren die volle Wirksamkeit der einschlägigen Bestimmungen des Unionsrechts zu gewährleisten hat, indem es Art. 3881 der Zivilprozessordnung aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet lässt(67).

95.      Als Postskriptum ist ein letzter Punkt zu erörtern. Wie ich oben ausgeführt habe, ist seit dem 1. August 2022 auf Anträge auf Rückgabe die Brüssel‑IIb-Verordnung anwendbar. Diese neue Verordnung hat die in der Brüssel‑IIa-Verordnung vorgesehenen Lösungen bestätigt(68), sieht aber innovative Bestimmungen vor, mit denen die Wirksamkeit und die Schnelligkeit des Rückgabeverfahrens noch verstärkt werden sollen. Insbesondere sieht Art. 27 Abs. 6 der Brüssel‑IIb-Verordnung die Möglichkeit vor, eine Rückgabeentscheidung ungeachtet der Einlegung eines Rechtsbehelfs für vorläufig vollstreckbar zu erklären, wenn dies aus Gründen des Kindeswohls erforderlich ist. Außerdem heißt es in ihrem 42. Erwägungsgrund, dass die Mitgliedstaaten „in Erwägung ziehen [sollten], die Zahl der möglichen Rechtsbehelfe gegen eine [solche] Entscheidung … auf einen Rechtsbehelf zu begrenzen“. Der Umstand, dass der polnische Gesetzgeber nach dem Inkrafttreten dieser neuen Verordnung, aber vor ihrem Geltungsbeginn eine Bestimmung wie Art. 3881 der Zivilprozessordnung erlassen hat, wirft auch unter diesem Aspekt ernsthafte Fragen im Hinblick auf die loyale Zusammenarbeit auf(69).

VI.    Ergebnis

96.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die vom Sąd Apelacyjny w Warszawie (Berufungsgericht Warschau, Polen) vorgelegte Frage wie folgt zu beantworten:

Art. 11 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 in Verbindung mit den Art. 2 und 11 des am 25. Oktober 1980 in Den Haag geschlossenen Übereinkommens über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung sowie die Art. 7 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union

sind dahin auszulegen, dass

sie einer nationalen Rechtsvorschrift entgegenstehen, die bewirkt, dass auf einen einfachen, nicht mit einer Begründung versehenen Antrag bestimmter dazu befugter öffentlicher Stellen die Vollstreckung einer nach zwei ordentlichen Instanzen ergangenen rechtskräftigen Rückgabeentscheidung von Rechts wegen ausgesetzt wird, und zwar für einen ersten Zeitraum von zwei Monaten, der es diesen Stellen ermöglichen soll, eine Kassationsbeschwerde einzulegen, und gegebenenfalls für die gesamte Dauer des Verfahrens über diese Beschwerde.


1      Originalsprache: Französisch.


2      Verordnung des Rates vom 27. November 2003, zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 (ABl. 2003, L 338, S. 1). Diese Verordnung wurde ersetzt durch die Verordnung (EU) 2019/1111 des Rates vom 25. Juni 2019 über die Zuständigkeit, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und über internationale Kindesentführungen (ABl. 2019, L 178, S. 1, im Folgenden: Brüssel‑IIb-Verordnung). Auf das Ausgangsverfahren ist allerdings in zeitlicher Hinsicht die Brüssel‑IIa-Verordnung anwendbar (siehe Nr. 50 der vorliegenden Schlussanträge).


3      Die Europäische Union selbst ist keine Vertragspartei dieses Übereinkommens, da dieses den Beitritt von internationalen Organisationen nicht erlaubt.


4      Vgl. die entsprechenden Definitionen des Ausdrucks „widerrechtliches Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes“ in Art. 3 des Haager Übereinkommens von 1980 und in Art. 2 Nr. 11 der Brüssel‑IIa-Verordnung. Vgl. in diesem Sinne auch Art. 11 Abs. 1 dieser Verordnung.


5      Vgl. die Präambel des Haager Übereinkommens von 1980, die Erwägungsgründe 12 und 33 der Brüssel‑IIa-Verordnung sowie die Urteile vom 22. Dezember 2010, Aguirre Zarraga (C‑491/10 PPU, EU:C:2010:828, Rn. 44), und vom 8. Juni 2017, OL (C‑111/17 PPU, EU:C:2017:436, Rn. 61).


6      Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs stellen das Haager Übereinkommen von 1980 und die Brüssel‑II-Verordnungen eine „untrennbare Gesamtheit von Rechtsnormen“ (Gutachten 1/13 [Beitritt von Drittstaaten zum Haager Übereinkommen] vom 14. Oktober 2014 [EU:C:2014:2303, Rn. 78]) für die Verfahren zur Rückgabe innerhalb der Union widerrechtlich verbrachter Kinder dar.


7      Vgl. Art. 5182 § 1 der Zivilprozessordnung.


8      Siehe Nr. 45 der vorliegenden Schlussanträge.


9      Vgl. Art. 5191 § 21 der Zivilprozessordnung.


10      Vgl. Art. 5191 § 22 der Zivilprozessordnung.


11      Nach Art. 2 Abs. 1 des Gesetzes von 2022 findet diese Gesetzesänderung unmittelbar Anwendung auf Rückgabeverfahren, die zu diesem Zeitpunkt eingeleitet und noch nicht durch eine rechtskräftige Entscheidung abgeschlossen waren. Sie ist somit im Ausgangsverfahren auf das von dem Vater im November 2021 angestrengte Verfahren anwendbar.


12      Art. 3882 der Zivilprozessordnung stellt klar, dass diese neue Rechtsgrundlage für eine Aussetzung Art. 388 § 1 der Zivilprozessordnung nicht ersetzt, sondern zu diesem Artikel hinzutritt. Es gibt also zwei mögliche Wege, die Aussetzung der Vollstreckung einer Rückgabeentscheidung zu beantragen, wobei der eine automatisch zur Aussetzung führt und von keiner Voraussetzung abhängt, aber nur den zur Einlegung einer Kassationsbeschwerde in Rückgabeverfahren befugten Stellen offensteht, und der andere von der Gefahr eines nicht wiedergutzumachenden Schadens abhängig ist, der Beurteilung durch das Gericht unterliegt und auch den Parteien des Verfahrens – im Allgemeinen den Eltern – offensteht.


13      Vgl. Art. 3881 § 2 der Zivilprozessordnung.


14      Vgl. Art. 3881 § 3 der Zivilprozessordnung.


15      Vgl. zu diesem Erfordernis u. a. Urteil vom 6. Oktober 2021, W.Ż. (Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung) (C‑487/19, EU:C:2021:798, Rn. 84 und die dort angeführte Rechtsprechung), sowie Beschluss vom 5. März 1986, Greis Unterweger (318/85, EU:C:1986:106, Rn. 4).


16      Siehe Nr. 18 der vorliegenden Schlussanträge.


17      Siehe Nr. 21 der vorliegenden Schlussanträge.


18      Vgl. u. a. Urteil vom 21. November 2019, Procureur-Generaal bij de Hoge Raad der Nederlanden (C‑678/18, EU:C:2019:998, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).


19      Vgl. entsprechend Urteile vom 16. Juni 2016 Pebros Servizi (C‑511/14, EU:C:2016:448, Rn. 27 bis 29), vom 28. Februar 2019, Gradbeništvo Korana (C‑579/17, EU:C:2019:162, Rn. 39), und vom 4. September 2019, Salvoni (C‑347/18, EU:C:2019:661, Rn. 30).


20      Das Verfahren zur Bestätigung der Vollstreckbarkeit des Beschlusses, für das im Ausgangsverfahren das vorlegende Gericht zuständig ist, ist vom Vollstreckungsverfahren (d. h. den konkreten Maßnahmen zur Durchführung der Rückgabe) zu unterscheiden, für das offensichtlich ein anderes Gericht zuständig ist.


21      Vgl. Pawliczak, J., „Reformed Polish court proceedings for the return of a child under the 1980 Hague Convention in the light of the Brussels IIb Regulation“, Journal of Private International Law, Bd. 17, Nr. 3, S. 581. Art. 267 AEUV bezieht sich im Übrigen auf das vom nationalen Gericht zu erlassende „Urteil“, ohne besondere Regelungen für den etwaigen Fall vorzusehen, dass es sich um ein Feststellungsurteil handelt (vgl. Urteil vom 16. Dezember 1981, Foglia, 244/80, EU:C:1981:302, Rn. 33).


22      Vgl. u. a. Urteil vom 6. Oktober 2021, W.Ż. (Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung) (C‑487/19, EU:C:2021:798, Rn. 90).


23      Nach ihrem Art. 100 Abs. 1 gilt die Brüssel‑IIb-Verordnung u. a. für nach dem 1. August 2022 eingeleitete gerichtliche Verfahren. Außerdem gilt nach Abs. 2 dieses Artikels die Brüssel‑IIa-Verordnung weiter für Entscheidungen in vor diesem Datum eingeleiteten gerichtlichen Verfahren, die in den Anwendungsbereich der genannten Verordnung fallen. Ich erinnere daran, dass der Vater seinen Antrag auf Rückgabe der Kinder am 18. November 2021 gestellt hat (siehe Nr. 15 der vorliegenden Schlussanträge).


24      Siehe Nr. 95 der vorliegenden Schlussanträge.


25      Vgl. entsprechend Urteil vom 6. Oktober 2021, W.Ż. (Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung) (C‑487/19, EU:C:2021:798, Rn. 75).


26      Vgl. die Präambel und Art. 1 Buchst. a des Haager Übereinkommen von 1980.


27      Vgl. den 17. Erwägungsgrund der Brüssel‑IIa-Verordnung.


28      Aus diesem Grund sieht Art. 12 des Haager Übereinkommens von 1980 vor, dass die zuständige Stelle, wenn zum Zeitpunkt der Stellung des Rückgabeantrags eine Frist von weniger als einem Jahr seit dem Verbringen oder Zurückhalten des Kindes verstrichen ist, seine sofortige Rückgabe anordnen muss. Nach Ablauf eines Jahres muss die Rückgabe dagegen nicht angeordnet werden, wenn das Kind sich in seine neue Umgebung eingelebt hat.


29      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Juli 2008, Rinau (C‑195/08 PPU, EU:C:2008:406, Rn. 81).


30      Nach dem Haager Übereinkommen von 1980 ist diese Frist nicht verbindlich. Die einzige in seinem Art. 11 Abs. 2 vorgesehene Folge bei einer Überschreitung besteht darin, dass der Antragsteller oder die zentrale Behörde des ersuchten Staates von der betreffenden Verwaltungsbehörde oder dem betreffenden Gericht eine Darstellung der Gründe für die Verzögerung verlangen kann.


31      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Juli 2008, Rinau (C‑195/08 PPU, EU:C:2008:406, Rn. 82).


32      Nach dieser Bestimmung müssen die Vertragsstaaten – einschließlich ihrer Gesetzgebungsorgane – „alle geeigneten Maßnahmen“ treffen, um „die Ziele des Übereinkommens zu verwirklichen“.


33      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs verpflichtet der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit die Mitgliedstaaten – auch hier einschließlich ihrer Gesetzgebungsorgane –, alle geeigneten Maßnahmen zu treffen, um die Geltung und die Wirksamkeit des Unionsrechts zu gewährleisten (vgl. u. a. Urteil vom 19. Dezember 2019, Amoena (C‑677/18, EU:C:2019:1142, Rn. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung).


34      Ich möchte betonen, dass ein solches systemisches Problem umso schwerer wiegt, als es das Vertrauen in Frage stellt, dass die Mitgliedstaaten hinsichtlich der Umsetzung des Haager Übereinkommens von 1980 und der Brüssel‑IIa-Verordnung ineinander haben müssen.


35      Ich vereinfache die Dinge für die Zwecke der Prüfung. In Wirklichkeit beträgt die Frist für die Einlegung einer Kassationsbeschwerde vier Monate (vgl. Art. 5191 § 2² der Zivilprozessordnung). Wenn ein Antrag auf Aussetzung gestellt wurde, endet die Aussetzung jedoch von Rechts wegen, wenn nicht innerhalb von zwei Monaten eine Kassationsbeschwerde eingelegt wird (vgl. Art. 3881 § 2 der Zivilprozessordnung).


36      Ich möchte betonen, dass, auch wenn diese beiden Bestimmungen dies nicht ausdrücklich vorsehen, kein Zweifel daran besteht, dass diese Frist von sechs Wochen, wenn die Mitgliedstaaten mehrere Stellen für die Prüfung eines Rückgabeantrags vorsehen, für jede von ihnen gilt. Wenn nämlich ein erstinstanzliches Gericht verpflichtet wäre, innerhalb dieser Frist eine Entscheidung zu erlassen, sich dann aber die Berufungs- oder Kassationsgerichte „ihre Zeit nehmen“ könnten, um die Entscheidung zu überprüfen, würde diesen Bestimmungen die praktische Wirksamkeit genommen. Vgl. dazu EGMR, Urteil vom 12. März 2015, Adžić/Kroatien (CE:ECHR:2015:0312JUD002264314, § 97), und EGMR, Urteil vom 14. Januar 2020, Rinau/Litauen (CE:ECHR:2020:0114JUD001092609, § 194). Vgl. auch HCCH, „Conclusions and Recommendations of the Fourth Meeting of the Special Commission to Review the Operation of the Hague Convention of 25 October 1980 on the Civil Aspects of International Child Abduction (22–28 March 2001)“, Nrn. 3.3 und 3.4, abrufbar unter: https://assets.hcch.net/upload/concl28sc4_e.pdf.


37      Der Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) soll schlicht über einen Mechanismus der vorrangigen Behandlung verfügen, der es ihm lediglich erlaube, eine Rechtssache gegenüber anderen vorzuziehen, und der im Übrigen im Ermessen des mit der fraglichen Rechtssache betrauten Berichterstatters stehe – womit die Anwendung einer solchen Behandlung auf Rechtsbehelfe in Rückgabesachen nicht sichergestellt ist.


38      Vgl. Art. 3983 § 1 der Zivilprozessordnung.


39      Siehe dazu Nrn. 78 und 81 der vorliegenden Schlussanträge.


40      Vgl. Urteil vom 11. Juli 2008, Rinau (C‑195/08 PPU, EU:C:2008:406, Rn. 85).


41      Siehe Nr. 88 der vorliegenden Schlussanträge. Hierzu hat die polnische Regierung in der mündlichen Verhandlung auf die Fragen des Gerichtshofs erklärt, dass es einen Mechanismus zur Filterung der Rechtsbehelfe beim Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) gebe. Vor der Zulassung eines Rechtsbehelfs werde eine vorherige Prüfung durchgeführt, bei der u. a. geprüft werde, ob er ein relevantes bzw. wichtiges rechtliches Problem aufwerfe. Selbst wenn man jedoch davon ausginge, dass ein zu Verzögerungszwecken eingelegter Rechtsbehelf diese einleitende Prüfung nicht bestehen würde, kämen erstens die Frist für die Einlegung eines Rechtsbehelfs und zweitens die Zeit vor der Durchführung des Filterungsmechanismus und der Zurückweisung des Rechtsbehelfs hinzu, die es bereits ermöglichen würden, die Rückgabe des Kindes erheblich hinauszuzögern.


42      Zu diesem Punkt verweise ich auf meine Ausführungen in Fn. 34 der vorliegenden Schlussanträge.


43      Dz. U. 2021, Position 1904, in geänderter Fassung.


44      Vgl. Art. 3883 der Zivilprozessordnung, eingeführt durch das Gesetz von 2022.


45      Dieser Rechtsbehelf soll insbesondere gegen rechtskräftige Entscheidungen vorgesehen sein, die gegen die in der Verfassung der Republik Polen niedergelegten Grundsätze oder Rechte und Freiheiten der Menschen und Bürger verstoßen oder die offensichtlich gegen das Recht verstoßen, wenn die betreffende Entscheidung nicht mit anderen im nationalen Recht vorgesehenen außerordentlichen Rechtsbehelfen geändert oder aufgehoben werden kann.


46      Ich betone, dass die Charta in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens anwendbar ist. Da nämlich die Kindesentführung zwei Mitgliedstaaten betrifft, ist die Brüssel‑IIa-Verordnung auf den Rückgabeantrag anwendbar. Es liegt daher eine „Durchführung des Rechts der Union“ im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta vor.


47      Gemäß Art. 52 Abs. 3 der Charta.


48      Vgl. u. a. EGMR, Urteil vom 3. Juni 2014, López Guió/Slowakei (CE:ECHR:2014:0603JUD001028012, § 82).


49      Vgl. u. a. EGMR, Urteil vom 7. März 2013, Raw u. a./Frankreich (CE:ECHR:2013:0307JUD001013111, §§ 78 und 79 und die dort angeführte Rechtsprechung). Siehe auch Nr. 56 der vorliegenden Schlussanträge.


50      Vgl. u. a. EGMR, Urteil vom 13. Januar 2015, Hoholm/Slowakei (CE:ECHR:2015:0113JUD003563213, § 44), und EGMR, Urteil vom 14. Januar 2020, Rinau/Litauen (CE:ECHR:2020:0114JUD001092609, § 152).


51      Vgl. u. a. EGMR, Urteil vom 3. Juni 2014, López Guió/Slowakei, CE:ECHR:2014:0603JUD001028012, §§ 107 bis 109, und EGMR, Urteil vom 13. Januar 2015, Hoholm/Slowakei (CE:ECHR:2015:0113JUD003563213, §§ 49, 52 und 53). Vgl. entsprechend Urteil vom 11. Juli 2008, Rinau (C‑195/08 PPU, EU:C:2008:406, Rn. 87). Im Übrigen verweise ich auch hier auf meine Ausführungen in Fn. 34 der vorliegenden Schlussanträge.


52      Vgl. u. a. EGMR, Urteil vom 7. März 2013, Raw u. a./Frankreich (CE:ECHR:2013:0307JUD001013111, § 84 und die dort angeführte Rechtsprechung).


53      Vgl. entsprechend Urteil vom 19. Dezember 2019, Deutsche Umwelthilfe (C‑752/18, EU:C:2019:1114, Rn. 35 bis 37 und die dort angeführte Rechtsprechung), und EMRK, Urteil vom 6. September 2005, Săcăleanu/Rumänien (CE:ECHR:2005:0906JUD007397001, § 5).


54      Vgl. u. a. Urteil vom 23. Dezember 2009, Detiček (C‑403/09 PPU, EU:C:2009:810, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).


55      Siehe Nr. 29 der vorliegenden Schlussanträge.


56      Vgl. u. a. EGMR, Urteil vom 14. Januar 2020, Rinau/Litauen (CE:ECHR:2020:0114JUD001092609, § 194). Allerdings wird, wie die belgische Regierung und die Kommission geltend machen, mit dieser Frist von sechs Wochen theoretisch eine ausgewogene Abwägung zwischen dem Beschleunigungsgebot und der Notwendigkeit einer konkreten Prüfung der Umstände in jeder Rechtssache vorgenommen, was es rechtfertigt, dass sich die Gerichte im Allgemeinen danach richten. Wenn es für ein Gericht in einem besonderen Fall nicht möglich ist, den Anforderungen der EMRK innerhalb der genannten Frist zu genügen, so ist dies indessen meiner Ansicht nach den „außergewöhnlichen Umständen“ im Sinne von Art. 11 Abs. 3 Unterabs. 2 der Brüssel‑IIa-Verordnung zuzurechnen.


57      Vgl. u. a. EGMR, Urteil vom 26. November 2013, X/Lettland (CE:ECHR:2013:1126JUD002785309, §§ 106 und 107).


58      Vgl. zu dem Umstand, dass das Grundrecht auf einen wirksamen Rechtsbehelf nicht generell das Bestehen von mehreren gerichtlichen Instanzen gebietet, u. a. Urteil vom 26. September 2018, Belastingdienst/Toeslagen (Aufschiebende Wirkung des Rechtsmittels) (C‑175/17, EU:C:2018:776, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung), und EGMR, Urteil vom 5. April 2018, Zubac/Kroatien (CE:ECHR:2018:0405JUD004016012, § 82).


59      Vgl. EGMR, Urteil vom 26. November 2013, X/Lettland (CE:ECHR:2013:1126JUD002785309, §§ 112 bis 114), und EGMR, Urteil vom 14. Januar 2020, Rinau/Litauen (CE:ECHR:2020:0114JUD001092609, §§ 190 bis 195).


60      Vgl. u. a. EGMR, Urteil vom 26. November 2013, X/Lettland (CE:ECHR:2013:1126JUD002785309, § 107).


61      Vgl. entsprechend Urteil vom 26. September 2018, Belastingdienst/Toeslagen (Aufschiebende Wirkung des Rechtsmittels) (C‑175/17, EU:C:2018:776, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).


62      Typische Beispiele in dieser Hinsicht sind der Tod des Elternteils, der im Herkunftsmitgliedstaat für das Kind sorgen sollte, oder der Ausbruch eines bewaffneten Konflikts in diesem Staat.


63      Das Argument der polnischen Regierung, dass keine Begründung verlangt werde, um es den Stellen zu ermöglichen, schnellstmöglich zu reagieren und einen Aussetzungsantrag zu stellen, da sie oft keine genaue Kenntnis von den Umständen der Rückgabeverfahren hätten, da sie daran nicht beteiligt seien, überzeugt mich kaum. Es steht nämlich fest, dass sich zumindest der Generalstaatsanwalt und der Beauftragte für Kinderrechte an diesen Verfahren beteiligen können, und zwar bereits im ersten Rechtszug. Außerdem soll mit diesem Argument gerade hervorgehoben werden, dass der Mechanismus des Art. 3881 der Zivilprozessordnung von den fraglichen Stellen genutzt werden kann, noch bevor sie die Umstände einer Rechtssache zur Kenntnis genommen und somit geprüft haben, ob eine Aussetzung gerechtfertigt ist.


64      Wenn bei den fraglichen Stellen, wie die polnische Regierung geltend gemacht hat, davon ausgegangen wird, dass sie im Interesse des Rechts und des Kindes handeln, so weise ich darauf hin, dass eine von ihnen – der Generalstaatsanwalt – Teil der polnischen Exekutive ist. In diesem Zusammenhang darf die Gefahr, dass sich diese Exekutive in bestimmte laufende, besonders mediatisierte Rechtsbehelfsverfahren zu anderen Zwecken als dem strikten Interesse des Rechts einmischt, nicht außer Acht gelassen werden. Vgl. hierzu EGMR, Urteil vom 14. Januar 2020, Rinau/Litauen, CE:ECHR:2020:0114JUD001092609, §§ 195 bis 223).


65      Vgl. in diesem Sinne EGMR, Urteil vom 13. Januar 2015, Hoholm/Slowakei (CE:ECHR:2015:0113JUD003563213, §§ 45 bis 47).


66      Vgl. entsprechend Urteil vom 23. Dezember 2009, Detiček (C‑403/09 PPU, EU:C:2009:810, Rn. 49).


67      Vgl. u. a. Urteil vom 27. November 2007, C (C‑435/06, EU:C:2007:714, Rn. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung).


68      Insbesondere ist in Art. 24 der Brüssel‑IIb-Verordnung weiterhin eine Frist von sechs Wochen für die Prüfung von Rückgabeanträgen vorgesehen, wobei ausdrücklich bestätigt wird, dass diese Frist für jede befasste Instanz gilt.


69      Vgl. entsprechend Urteil vom 18. Dezember 1997, Inter-Environnement Wallonie (C‑129/96, EU:C:1997:628, Rn. 45).