Language of document : ECLI:EU:T:2018:269

Rechtssache T712/16

Deutsche Lufthansa AG

gegen

Europäische Kommission

„Wettbewerb – Zusammenschlüsse – Luftverkehrsmarkt – Beschluss, mit dem der Zusammenschluss vorbehaltlich der Einhaltung bestimmter Verpflichtungszusagen für mit dem Binnenmarkt vereinbar erklärt wird – Antrag auf teilweise Befreiung von den eingegangenen Verpflichtungen – Verhältnismäßigkeit – Berechtigtes Vertrauen – Grundsatz der guten Verwaltung – Ermessensmissbrauch“

Leitsätze – Urteil des Gerichts (Sechste Kammer) vom 16. Mai 2018

1.      Unternehmenszusammenschlüsse – Prüfung durch die Kommission – Verpflichtungszusagen der beteiligten Unternehmen, die geeignet sind, die Vereinbarkeit des angemeldeten Zusammenschlusses mit dem Binnenmarkt herzustellen – Überprüfungsklausel – Zweck

(Mitteilung 2008/C 267/01 der Kommission, Rn. 74)

2.      Unternehmenszusammenschlüsse – Prüfung durch die Kommission – Verpflichtungszusagen der beteiligten Unternehmen, die geeignet sind, die Vereinbarkeit des angemeldeten Zusammenschlusses mit dem Binnenmarkt herzustellen – Antrag auf teilweise Befreiung von den eingegangenen Verpflichtungen – Ermessen der Kommission – Gerichtliche Nachprüfung – Grenzen

(Verordnung Nr. 139/2004 des Rates)

3.      Unternehmenszusammenschlüsse – Prüfung durch die Kommission – Verpflichtungszusagen der beteiligten Unternehmen, die geeignet sind, die Vereinbarkeit des angemeldeten Zusammenschlusses mit dem Binnenmarkt herzustellen – Antrag auf teilweise Befreiung von den eingegangenen Verpflichtungen – Entscheidung der Kommission – Gegenstand

(Verordnung Nr. 139/2004 des Rates)

4.      Unternehmenszusammenschlüsse – Prüfung durch die Kommission – Verpflichtungszusagen der beteiligten Unternehmen, die geeignet sind, die Vereinbarkeit des angemeldeten Zusammenschlusses mit dem Binnenmarkt herzustellen – Überprüfungsklausel – Ausdruck des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit – Pflicht der Kommission, langfristige Verpflichtungszusagen von Amts wegen regelmäßig zu überprüfen – Fehlen

(Verordnung Nr. 139/2004 des Rates)

5.      Unternehmenszusammenschlüsse – Beurteilung der Vereinbarkeit mit dem Binnenmarkt – Prüfung durch die Kommission – Beachtlichkeit der früheren Entscheidungspraxis der Kommission – Fehlen

(Verordnung Nr. 139/2004 des Rates)

6.      Unternehmenszusammenschlüsse – Prüfung durch die Kommission – Verpflichtungszusagen der beteiligten Unternehmen, die geeignet sind, die Vereinbarkeit des angemeldeten Zusammenschlusses mit dem Binnenmarkt herzustellen – Antrag auf teilweise Befreiung von den eingegangenen Verpflichtungen – Beweislast – Pflichten der Kommission im Fall unzureichender Beweise

(Verordnung Nr. 139/2004 des Rates)

7.      Unternehmenszusammenschlüsse – Prüfung durch die Kommission – Verpflichtungszusagen der beteiligten Unternehmen, die geeignet sind, die Vereinbarkeit des angemeldeten Zusammenschlusses mit dem Binnenmarkt herzustellen – Rückgriff der Kommission auf tarifliche Verpflichtungszusagen – Zulässigkeit

(Verordnung Nr. 139/2004 des Rates; Mitteilung 2008/C 267/01 der Kommission)

8.      Unternehmenszusammenschlüsse – Prüfung durch die Kommission – Verpflichtungszusagen der beteiligten Unternehmen, die geeignet sind, die Vereinbarkeit des angemeldeten Zusammenschlusses mit dem Binnenmarkt herzustellen – Antrag auf teilweise Befreiung von den eingegangenen Verpflichtungen – Entscheidung der Kommission – Verpflichtungszusagen, die darauf abzielen, die ernsthaften Bedenken an der Vereinbarkeit eines Zusammenschlusses von Fluggesellschaften mit dem Binnenmarkt hinsichtlich bestimmter Linien auszuräumen – Versäumnis der Kommission, alle relevanten Daten zu berücksichtigen – Offensichtlicher Beurteilungsfehler

(Verordnung Nr. 139/2004 des Rates)

9.      Nichtigkeitsklage – Gründe – Ermessensmissbrauch – Begriff

(Art. 263 AEUV)

1.      Im Bereich des Wettbewerbsrechts enthalten die Verpflichtungen, die die Parteien eingehen, um ernsthafte Bedenken bezüglich eines Zusammenschlusses auszuräumen und dessen Vereinbarkeit mit dem Binnenmarkt herzustellen, gewöhnlich eine Überprüfungsklausel, in der die Voraussetzungen geregelt sind, unter denen die Kommission auf Antrag der Fusionseinheit eine Fristverlängerung gewähren oder diese Verpflichtungszusagen aufheben, abändern oder ersetzen kann. Wie aus Rn. 74 der Mitteilung der Kommission über nach der Verordnung Nr. 139/2004 und der Verordnung Nr. 802/2004 zulässige Abhilfemaßnahmen hervorgeht, ist die Aufhebung oder Abänderung von Verpflichtungszusagen besonders für Verhaltenszusagen von Bedeutung, die mitunter eine Laufzeit von mehreren Jahren haben und für die zum Zeitpunkt des Erlasses der Entscheidung über den Zusammenschluss, mit der sie für verbindlich erklärt werden, nicht alle Entwicklungen vorhergesehen werden können. Verpflichtungszusagen dienen nämlich dazu, die wettbewerbsrechtlichen Probleme zu beseitigen, die in der Entscheidung über die Genehmigung des Zusammenschlusses festgestellt wurden, so dass je nach Entwicklung der Marktverhältnisse ihr Inhalt einer Änderung bedürfen oder ihre Notwendigkeit entfallen kann.

(vgl. Rn. 31)

2.      Die Grundregeln der Verordnung Nr. 139/2004 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen räumen der Kommission ein gewisses Ermessen namentlich bei Beurteilungen wirtschaftlicher Art ein. Dies gilt nicht nur für die Beurteilung der Vereinbarkeit eines Zusammenschlusses mit dem Binnenmarkt, sondern auch für die Beurteilung, ob Zusagen einzuholen sind, um die gegen ein Zusammenschlussvorhaben bestehenden ernsthaften Bedenken zu zerstreuen.

Speziell bei einem Antrag auf Befreiung von Verpflichtungszusagen, die mit einer Entscheidung über die Vereinbarkeit eines Zusammenschlusses mit dem Binnenmarkt für verbindlich erklärt wurden, erfordert die Prüfung eines Zusammenschlusses zwar Prognosen über zukünftige Entwicklungen, die mit zunehmender Entfernung ihres zeitlichen Horizonts immer schwieriger und unsicherer werden, aber die Prüfung eines Antrags auf Befreiung von Verpflichtungszusagen wirft nicht unbedingt dieselben Schwierigkeiten einer vorausschauenden Betrachtung auf. Auch ist in keiner Vorschrift geregelt, innerhalb welcher Fristen das Prüfungsverfahren oder bestimmte Abschnitte dieses Verfahrens abzuschließen sind; überhaupt wird dieses Verfahren durch keinerlei Vorschrift geregelt oder organisiert. Dessen ungeachtet erfordert die Prüfung eines Antrags auf Befreiung von Verpflichtungszusagen, ebenso wie andere Entscheidungen im Bereich der Zusammenschlüsse, zuweilen komplexe wirtschaftliche Bewertungen, um insbesondere zu prüfen, ob sich die Marktsituation im weiteren Sinne maßgeblich und nachhaltig verändert hat, so dass die Verpflichtungszusagen nicht mehr notwendig sind, um die in der Entscheidung über den Zusammenschluss, mit der die Zusagen für verbindlich erklärt wurden, festgestellten wettbewerbsrechtlichen Probleme zu beseitigen.

Demnach verfügt die Kommission auch bei einer mit komplexen wirtschaftlichen Bewertungen verbundenen Prüfung eines Antrags auf Befreiung von Verpflichtungszusagen über ein gewisses Ermessen. Folglich muss die vom Unionsrichter vorzunehmende Kontrolle der Ausübung eines solchen Ermessens unter Berücksichtigung des Beurteilungsspielraums erfolgen, der den Bestimmungen wirtschaftlicher Art, die Teil der Regelung von Zusammenschlüssen sind, zugrunde liegt. Gleichwohl ist die Kommission verpflichtet, den Antrag auf Befreiung von Verpflichtungszusagen sorgfältig zu prüfen, bei Bedarf eine Untersuchung durchzuführen, die geeigneten Ermittlungsmaßnahmen zu ergreifen und ihre Schlussfolgerungen auf alle relevanten Daten zu stützen.

(vgl. Rn. 33-39, 41)

3.      Die Entscheidung über einen Antrag auf Befreiung von Verpflichtungszusagen setzt einen Widerruf der Fusionskontrollentscheidung, mit der die Zusagen für verbindlich erklärt wurden, nicht voraus und besteht auch nicht in einem solchen Widerruf. Ihr Gegenstand ist vielmehr die Prüfung, ob die in der Überprüfungsklausel, die in den Verpflichtungszusagen enthalten ist, vorgesehenen Voraussetzungen erfüllt sind, oder gegebenenfalls, ob sich die in der Entscheidung, mit der der Zusammenschluss unter Auflagen genehmigt wurde, festgestellten wettbewerbsrechtlichen Probleme erledigt haben.

(vgl. Rn. 42)

4.      Die Überprüfungsklauseln, die in den von den Parteien eines Zusammenschlusses angebotenen Verpflichtungszusagen enthalten sind, bringen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zum Ausdruck, indem sie es unter außergewöhnlichen Umständen zulassen, diese Verpflichtungszusagen aufzuheben, abzuändern oder zu ersetzen, wenn sie erwiesenermaßen nicht mehr notwendig oder verhältnismäßig sind, wobei der bloße Umstand, dass sie seit mehreren Jahren in Kraft sind, für sich genommen nicht belegt, dass die ihnen zugrunde liegenden ernsthaften Bedenken ausgeräumt und die Verpflichtungszusagen nicht mehr gerechtfertigt sind. Zudem ist die Kommission nicht verpflichtet, langfristige Verpflichtungszusagen von Amts wegen regelmäßig zu überprüfen, sondern es ist Sache der Parteien, die diesen Verpflichtungszusagen unterliegen, deren Aufhebung oder Abänderung zu beantragen und nachzuweisen, dass die Voraussetzungen dafür erfüllt sind.

(vgl. Rn. 53, 54)

5.      Wenn die Kommission über die Vereinbarkeit eines Zusammenschlusses mit dem Binnenmarkt anhand einer diesem Zusammenschluss eigenen Anmeldung und Aktenlage entscheidet, kann ein Kläger gegen die Feststellungen der Kommission nicht einwenden, dass sie von früher in einer anderen Sache anhand einer anderen Anmeldung und anderer Unterlagen getroffenen Feststellungen abweichen; dies gilt selbst dann, wenn die betreffenden Märkte in den beiden Fällen ähnlich oder sogar identisch sind. Weder die Kommission noch gar der Unionsrichter sind durch die Sachfeststellungen und wirtschaftlichen Beurteilungen in den früheren Entscheidungen gebunden.

(vgl. Rn. 83)

6.      Im Bereich des Wettbewerbsrechts obliegt es zwar dem fusionierten Unternehmen, das eine Befreiung von Verpflichtungszusagen beantragt, Beweise vorzulegen, die belegen können, dass die entsprechenden Voraussetzungen erfüllt sind, und die Kommission kann nicht gehalten sein, für jeden Befreiungsantrag eine neue Marktuntersuchung durchzuführen. Jedoch verfügt die Kommission über Untersuchungsbefugnisse und wirksame Ermittlungsinstrumente und muss, wenn sie der Auffassung ist, dass die von den Parteien vorgelegten Beweise nicht verlässlich oder aussagekräftig genug seien oder durch weitere Daten ergänzt werden müssten, genauere Informationen anfordern oder eine entsprechende Untersuchung durchführen. In diesem Zusammenhang darf sich die Kommission nicht darauf beschränken, zwingende Beweise zu verlangen – noch dazu, ohne zu erläutern, worin sie bestehen sollen –, sondern sie muss die Mangelhaftigkeit der von den Parteien vorgelegten Beweise feststellen, Ermittlungsmaßnahmen ergreifen oder, falls erforderlich, eine Untersuchung durchführen, um die Beweise zu vervollständigen oder deren Stichhaltigkeit zu widerlegen.

(vgl. Rn. 120, 123)

7.      Die Mitteilung der Kommission über nach der Verordnung Nr. 139/2004 und der Verordnung Nr. 802/2004 zulässige Abhilfemaßnahmen verbietet tarifliche Verpflichtungszusagen nicht, sondern sie hebt hervor, dass diese die auf horizontalen Überschneidungen beruhenden wettbewerbsrechtlichen Bedenken im Allgemeinen nicht beseitigen und dass diese Art von Abhilfemaßnahmen nur ausnahmsweise zugelassen werden kann, wenn sie von wirksamen Umsetzungs- und Kontrollmechanismen flankiert wird und nicht die Gefahr besteht, dass sie eine Verfälschung des Wettbewerbs bewirkt. Im Übrigen kann, da jeder Zusammenschluss individuell und anhand der jeweiligen tatsächlichen und rechtlichen Umstände geprüft wird, der Umstand, dass Verpflichtungszusagen in bestimmten – oder gar in den meisten – Verfahren abgelehnt wurden, nicht ausschließen, dass sie in einem Einzelfall doch angenommen werden, sofern sie es ermöglichen, die festgestellten wettbewerbsrechtlichen Probleme zu lösen.

(vgl. Rn. 130, 131)

8.      In Bezug auf eine der beiden Fluglinien, auf die sich der von den Parteien des Zusammenschlusses gestellte Antrag auf Befreiung von den Verpflichtungszusagen bezieht, nämlich Zürich-Stockholm, ist nicht nur auf das Fehlen einer angemessenen Prüfung bestimmter wesentlicher Gesichtspunkte und die Auflösung der Joint-Venture-Vereinbarung zwischen der Klägerin und der Fluggesellschaft SAS hinzuweisen, sondern auch darauf, dass die Kommission weder die Zusage der Klägerin, ihre bilaterale Allianzvereinbarung mit SAS aufzulösen, noch die Stellungnahme des Beauftragten, in der eine wesentliche Marktveränderung auf der fraglichen Linie festgestellt wurde, berücksichtigt hat und die Auswirkung der Code-Sharing-Vereinbarung auf den Wettbewerb zwischen den Fluggesellschaften Swiss und SAS nicht ausreichend geprüft hat. Infolgedessen ist festzustellen, dass die Kommission einen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen hat, indem sie nicht alle relevanten Daten berücksichtigt hat, und dass die im angefochtenen Beschluss dargelegten Gesichtspunkte hinsichtlich der fraglichen Linie nicht geeignet sind, die Ablehnung des Befreiungsantrags zu rechtfertigen.

(vgl. Rn. 138)

9.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 150)