Language of document : ECLI:EU:C:2017:935

Rechtssache C–600/14

Bundesrepublik Deutschland

gegen

Rat der Europäischen Union

„Nichtigkeitsklage – Auswärtiges Handeln der Europäischen Union – Art. 216 Abs. 1 AEUV – Art. 218 Abs. 9 AEUV – Festlegung des Standpunkts, der im Namen der Union in einem durch eine internationale Übereinkunft eingesetzten Gremium zu vertreten ist – Revisionsausschuss der Zwischenstaatlichen Organisation für den internationalen Eisenbahnverkehr (OTIF) – Änderung des Übereinkommens über den internationalen Eisenbahnverkehr (COTIF) und seiner Anhänge – Zwischen der Union und ihren Mitgliedstaaten geteilte Zuständigkeit – Außenkompetenz der Union in einem Bereich, in dem sie noch keine gemeinsamen Regeln erlassen hat – Gültigkeit des Beschlusses 2014/699/EU – Begründungspflicht – Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit“

Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 5. Dezember 2017

1.        Europäische Union – Begrenzte Ermächtigungen – Interne und externe Befugnisse – Einhaltung des Grundsatzes der begrenzten Einzelermächtigung

(Art. 5 Abs. 2 EUV)

2.        Völkerrechtliche Verträge – Abschluss – Zuständigkeit der Union – Ausdrückliche oder stillschweigende Verleihung – Ausschließliche oder geteilte Zuständigkeit

(Art. 3 Abs. 2 AEUV und 216 Abs. 1 AEUV)

3.        Völkerrechtliche Verträge – Abschluss – Zuständigkeit der Union – Zuständigkeit im Hinblick auf die Erforderlichkeit des Abschlusses der Übereinkunft zur Verwirklichung eines der in den Verträgen festgesetzten Ziele – Umfang – Änderung des Übereinkommens über den internationalen Eisenbahnverkehr – Einbeziehung – Zwischen der Union und den Mitgliedstaaten geteilte Zuständigkeit – Erforderlichkeit für die Union, vor einem Tätigwerden nach außen bereits ihre interne Rechtsetzungszuständigkeit ausgeübt zu haben – Fehlen

(Art. 5 Abs. 2 EUV; Art. 2 Abs. 2 AEUV, 4 Abs. 2 Buchst. g AEUV, 91 Abs. 1 AEUV und 216 Abs. 1 AEUV; Beschluss des Rates 2014/699)

4.        Handlungen der Organe – Angabe der Rechtsgrundlage – Verpflichtung – Umfang – Versäumnis, das keinen wesentlichen Mangel darstellt – Grenzen – Für die Ausübung der gerichtlichen Kontrolle unerlässliche ausdrückliche Bezugnahme

(Art. 296 AEUV)

5.        Völkerrechtliche Verträge – Abschluss – Zuständigkeit der Union – Zuständigkeit im Hinblick auf die Erforderlichkeit des Abschlusses der Übereinkunft zur Verwirklichung eines der in den Verträgen festgesetzten Ziele – Form- oder Verfahrenserfordernisse hinsichtlich des anzunehmenden Rechtsakts

(Art. 216 Abs. 1 AEUV und 352 AEUV)

1.      Der in Art. 5 Abs. 2 Satz 1 EUV genannte Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung ist sowohl bei internem als auch bei völkerrechtlichem Handeln der Union einzuhalten.

(vgl. Rn. 44)

2.      Eine Außenkompetenz der Union kann außerhalb der in Art. 3 Abs. 2 AEUV vorgesehenen Fälle bestehen. Die Zuständigkeit der Union für den Abschluss internationaler Übereinkünfte kann nämlich nicht nur aus einer ausdrücklichen Übertragung durch die Verträge resultieren, sondern sich auch implizit aus anderen Vertragsbestimmungen sowie aus Rechtsakten ergeben, die im Rahmen dieser Bestimmungen von den Unionsorganen erlassen wurden. Insbesondere verfügt die Union immer dann, wenn das Unionsrecht ihren Organen im Hinblick auf die Verwirklichung eines bestimmten Ziels interne Zuständigkeiten verleiht, über die Befugnis, die zur Erreichung dieses Ziels erforderlichen völkerrechtlichen Verpflichtungen einzugehen, auch wenn es insoweit an einer ausdrücklichen Bestimmung fehlt. Letzteres ist nunmehr in Art. 216 Abs. 1 AEUV geregelt.

Außerdem sind die Fragen zu trennen, ob eine Außenkompetenz der Union besteht und ob es sich gegebenenfalls dabei um eine ausschließliche oder eine geteilte Zuständigkeit handelt. Diese Unterscheidung kommt auch im AEU-Vertrag zum Ausdruck. Insoweit ergibt sich unmittelbar aus dem Wortlaut des Art. 216 Abs. 1 AEUV, der nicht danach unterscheidet, ob die Kompetenz der Union eine ausschließliche oder eine geteilte ist, dass die Union in vier Fällen über eine Außenkompetenz verfügt. Die Variante, dass der Abschluss einer Übereinkunft gemeinsame Vorschriften beeinträchtigen oder deren Anwendungsbereich ändern könnte, wobei es sich um einen Fall handelt, in dem die Zuständigkeit der Union nach Art. 3 Abs. 2 AEUV eine ausschließliche ist, ist nur einer dieser Fälle. Desgleichen ergibt sich aus einem Vergleich des Wortlauts von Art. 216 Abs. 1 AEUV mit dem von Art. 3 Abs. 2 AEUV, dass sich die Fälle, in denen die Union gemäß Art. 216 Abs. 1 AEUV über eine Außenkompetenz verfügt, nicht auf die verschiedenen Varianten des Art. 3 Abs. 2 AEUV beschränken, in denen die Union eine ausschließliche Außenkompetenz besitzt.

(vgl. Rn. 45-47, 49-51)

3.      Die Tagesordnungspunkte für die 25. Sitzung des Revisionsausschusses der Zwischenstaatlichen Organisation für den internationalen Eisenbahnverkehr, die die Anträge auf Änderung des Übereinkommens über den internationalen Eisenbahnverkehr vom 9. Mai 1980 betreffen und zu denen der Rat die im Namen der Union zu vertretenden Standpunkte festgelegt hat, fallen in die Außenkompetenz der Union. Somit hat der Rat nicht gegen den Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung gemäß Art. 5 Abs. 2 Satz 1 EUV verstoßen.

Die in Rede stehenden Änderungen betreffen nämlich das private Vertragsrecht im Bereich des internationalen Eisenbahnverkehrs, wobei es sich um ein Gebiet handelt, das unter eine Unionspolitik fällt, nämlich die gemeinsame Verkehrspolitik, die Gegenstand des Titels VI („Der Verkehr“) des Dritten Teils („Die internen Politiken und Maßnahmen der Union“) des AEU-Vertrags ist, und bei dem somit davon auszugehen ist, dass es mit einem der Ziele des AEU-Vertrags korrespondiert. Insoweit sollen mit den Bestimmungen des Übereinkommens über den internationalen Eisenbahnverkehr und seiner Anhänge, auf die sich diese Änderungen beziehen, harmonisierte Regeln auf internationaler Ebene geschaffen werden, auch für den internationalen Verkehr aus oder nach dem Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats oder für den Durchgangsverkehr durch das Hoheitsgebiet eines oder mehrerer Mitgliedstaaten, für die außerhalb des Unionsgebiets gelegenen Streckenteile und grundsätzlich auch für die im Unionsgebiet gelegenen Streckenteile. Deshalb ist davon auszugehen, dass es zur Verwirklichung der Ziele der gemeinsamen Verkehrspolitik im Rahmen der Zuständigkeit, die der Union nach Art. 91 Abs. 1 AEUV zugewiesen ist und die auch einen externen Aspekt umfasst, beiträgt, dass die Union einen Standpunkt zu den genannten Änderungen einnimmt. Diese Einnahme eines Standpunkts ist folglich im Sinne des Art. 216 Abs. 1 AEUV im Rahmen der Politik der Union zur Verwirklichung eines der in den Verträgen festgesetzten Ziele erforderlich.

Im Übrigen kann nicht mit Erfolg geltend gemacht werden, dass die Union, weil sie auf dem Gebiet des Verkehrs nach Art. 4 Abs. 2 Buchst. g AEUV die Zuständigkeit mit ihren Mitgliedstaaten teilt, vor einem Tätigwerden nach innen durch den Erlass gemeinsamer Regeln in den Bereichen, in denen völkerrechtliche Verpflichtungen eingegangen wurden, nach außen nicht handeln könne. Das Bestehen einer Außenkompetenz der Union hängt nämlich keinesfalls davon ab, dass die Union im Vorfeld ihre interne Rechtsetzungszuständigkeit in dem betreffenden Bereich ausgeübt hat. So hängt nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 AEUV, der die geteilten Zuständigkeiten betrifft, das Bestehen einer mit ihren Mitgliedstaaten geteilten Außenkompetenz der Union nicht davon ab, dass es in den Verträgen eine Bestimmung gibt, die der Union eine solche Außenkompetenz ausdrücklich verleiht.

(vgl. Rn. 56, 60, 62, 66, 67, 72)

4.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 80-84)

5.      Art. 216 Abs. 1 AEUV zählt zwar die verschiedenen Fälle auf, in denen die Union zum Abschluss einer internationalen Übereinkunft befugt ist, doch im Unterschied zu Art. 352 AEUV enthält er hierfür keine Form- oder Verfahrensvorschriften. Die Form der Handlung und das zu befolgende Verfahren sind daher anhand anderer Vorschriften der Verträge zu bestimmen.

(vgl. Rn. 89)