Language of document : ECLI:EU:C:2021:187

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

10. März 2021(*)

[Text berichtigt mit Beschluss vom 13. April 2021]

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Eilvorabentscheidungsverfahren – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Europäischer Haftbefehl – Rahmenbeschluss 2002/584/JI – Art. 8 Abs. 1 Buchst. c – Europäischer Haftbefehl, der von der Staatsanwaltschaft eines Mitgliedstaats in einem Strafverfahren auf der Grundlage einer von ihr angeordneten freiheitsentziehenden Maßnahme ausgestellt worden ist – Keine gerichtliche Kontrolle vor der Übergabe der gesuchten Person – Folgen – Wirksamer gerichtlicher Rechtsschutz – Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union“

In der Rechtssache C‑648/20 PPU

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Westminster Magistrates’ Court (Bezirksgericht Westminster, Vereinigtes Königreich) mit Entscheidung vom 26. November 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 1. Dezember 2020, in dem Verfahren wegen der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls gegen

PI

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J.‑C. Bonichot, der Vizepräsidentin des Gerichtshofs R. Silva de Lapuerta, des Richters L. Bay Larsen, der Richterin C. Toader (Berichterstatterin) und des Richters N. Jääskinen,

Generalanwalt: J. Richard de la Tour,

Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 27. Januar 2021,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von PI, vertreten durch H. Malcolm, QC, und J. Kern, Barrister, im Auftrag von S. Bisnauthsing, Solicitor,

–        der bulgarischen Regierung, vertreten durch L. Zaharieva und T. Tsingileva als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Wilderspin und S. Grünheid als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 11. Februar 2021

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 8 Abs. 1 Buchst. c des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2002, L 190, S. 1) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 (ABl. 2009, L 81, S. 24) geänderten Fassung (im Folgenden: Rahmenbeschluss 2002/584) im Lichte von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

2        Das Ersuchen ergeht im Rahmen der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls im Vereinigten Königreich, der von der Rayonna prokuratura Svichtov (Bezirksstaatsanwaltschaft Swischtow, Bulgarien) in einem gegen PI eingeleiteten Strafverfahren ausgestellt wurde.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        In den Erwägungsgründen 5, 6, 10 und 12 des Rahmenbeschlusses 2002/584 heißt es:

„(5)      Aus dem der Union gesetzten Ziel, sich zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu entwickeln, ergibt sich die Abschaffung der Auslieferung zwischen [den] Mitgliedstaaten und deren Ersetzung durch ein System der Übergabe zwischen Justizbehörden. Die Einführung eines neuen, vereinfachten Systems der Übergabe von Personen, die einer Straftat verdächtigt werden oder wegen einer Straftat verurteilt worden sind, für die Zwecke der strafrechtlichen Verfolgung oder der Vollstreckung strafrechtlicher Urteile ermöglicht zudem die Beseitigung der Komplexität und der Verzögerungsrisiken, die den derzeitigen Auslieferungsverfahren innewohnen. Die bislang von klassischer Kooperation geprägten Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten sind durch ein System des freien Verkehrs strafrechtlicher justizieller Entscheidungen – und zwar sowohl in der Phase vor der Urteilsverkündung als auch in der Phase danach – innerhalb des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu ersetzen.

(6)      Der Europäische Haftbefehl im Sinne des vorliegenden Rahmenbeschlusses stellt im strafrechtlichen Bereich die erste konkrete Verwirklichung des vom Europäischen Rat als ‚Eckstein‘ der justiziellen Zusammenarbeit qualifizierten Prinzips der gegenseitigen Anerkennung dar.

(10)      Grundlage für den Mechanismus des Europäischen Haftbefehls ist ein hohes Maß an Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten. Die Anwendung dieses Mechanismus darf nur ausgesetzt werden, wenn eine schwere und anhaltende Verletzung der in Artikel 6 Absatz 1 [EU] enthaltenen Grundsätze durch einen Mitgliedstaat vorliegt und diese vom Rat gemäß Artikel 7 Absatz 1 [EU] mit den Folgen von Artikel 7 Absatz 2 festgestellt wird.

(12)      Der vorliegende Rahmenbeschluss achtet die Grundrechte und wahrt die in Artikel 6 [EU] anerkannten Grundsätze, die auch in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, insbesondere in deren Kapitel VI, zum Ausdruck kommen. …“

4        Art. 1 („Definition des Europäischen Haftbefehls und Verpflichtung zu seiner Vollstreckung“) des Rahmenbeschlusses 2002/584 bestimmt:

„(1)      Bei dem Europäischen Haftbefehl handelt es sich um eine justizielle Entscheidung, die in einem Mitgliedstaat ergangen ist und die Festnahme und Übergabe einer gesuchten Person durch einen anderen Mitgliedstaat zur Strafverfolgung oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung bezweckt.

(2)      Die Mitgliedstaaten vollstrecken jeden Europäischen Haftbefehl nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und gemäß den Bestimmungen dieses Rahmenbeschlusses.

(3)      Dieser Rahmenbeschluss berührt nicht die Pflicht, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Artikel 6 [EU] niedergelegt sind, zu achten.“

5        Art. 2 („Anwendungsbereich des Europäischen Haftbefehls“) Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 sieht vor:

„Ein Europäischer Haftbefehl kann bei Handlungen erlassen werden, die nach den Rechtsvorschriften des Ausstellungsmitgliedstaats mit einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung im Höchstmaß von mindestens zwölf Monaten bedroht sind, oder im Falle einer Verurteilung zu einer Strafe oder der Anordnung einer Maßregel der Sicherung, deren Maß mindestens vier Monate beträgt.“

6        Art. 6 („Bestimmung der zuständigen Behörden“) des Rahmenbeschlusses 2002/584 lautet:

(1)      Ausstellende Justizbehörde ist die Justizbehörde des Ausstellungsmitgliedstaats, die nach dem Recht dieses Staats für die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls zuständig ist.

(2)      Vollstreckende Justizbehörde ist die Justizbehörde des Vollstreckungsmitgliedstaats, die nach dem Recht dieses Staats zuständig für die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls ist.

(3)      Jeder Mitgliedstaat unterrichtet das Generalsekretariat des Rates über die nach seinem Recht zuständige Justizbehörde.“

7        Art. 8 („Inhalt und Form des Europäischen Haftbefehls“) Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 bestimmt:

„Der Europäische Haftbefehl enthält entsprechend dem im Anhang beigefügten Formblatt folgende Informationen:

c)      die Angabe, ob ein vollstreckbares Urteil, ein Haftbefehl oder eine andere vollstreckbare justizielle Entscheidung mit gleicher Rechtswirkung nach den Artikeln 1 und 2 vorliegt;

…“

 Recht des Vereinigten Königreichs

8        Das Verfahren der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls wird vom Extradition Act 2003 (Auslieferungsgesetz von 2003) geregelt. Der erste Teil dieses Gesetzes legt die Hoheitsgebiete fest, in die das Vereinigte Königreich eine Auslieferung vornehmen darf. Die Republik Bulgarien gehört dazu. Nach dem Wortlaut von Section 2(7) dieses Gesetzes stellt die benannte Behörde eine Bescheinigung aus, wenn sie der Ansicht ist, dass der Haftbefehl von einer Anordnungsbehörde aus einem dieser Hoheitsgebiete ausgestellt wurde.

 Bulgarisches Recht

 ZEEZA

9        Mit dem Zakon za ekstraditsiata i evropeiskata zapoved za arest (Gesetz über die Auslieferung und den Europäischen Haftbefehl, DV Nr. 46 vom 3. Juni 2005) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: ZEEZA) wird der Rahmenbeschluss 2002/584 in bulgarisches Recht umgesetzt. Art. 37 ZEEZA enthält die Bestimmungen über die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls in nahezu demselben Wortlaut wie in Art. 8 des Rahmenbeschlusses.

10      Gemäß Art. 56 Abs. 1 Nr. 1 ZEEZA ist im strafprozessualen Vorverfahren der Staatsanwalt für die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls gegen den Beschuldigten zuständig.

 NPK

11      Nach Art. 14 Abs. 1 des Nakazatelno-protsesualen kodeks (Strafprozessordnung, DV Nr. 86 vom 28. Oktober 2005) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: NPK) trifft der Staatsanwalt seine Entscheidung nach seiner inneren Überzeugung auf der Grundlage einer objektiven, unparteiischen und umfassenden Prüfung sämtlicher Umstände des Falls und im Einklang mit dem geltenden Recht.

12      Im Rahmen des Strafverfahrens ist der Staatsanwalt die zuständige Behörde, die nach Art. 46 NPK die öffentliche Anklage erhebt, die Ermittlungen leitet und deren Rechtmäßigkeit und ordnungsgemäßen Ablauf kontrolliert.

13      Die Anordnung von Untersuchungshaft gegen eine strafrechtlich verfolgte Person richtet sich im strafprozessualen Vorverfahren nach Art. 64 NPK.

14      Art. 64 Abs. 1 NPK lautet: „Die Zwangsmaßnahme der Untersuchungshaft wird im Vorverfahren vom zuständigen erstinstanzlichen Gericht auf Antrag des Staatsanwalts angeordnet.“

15      Gemäß Art. 64 Abs. 2 NPK kann der Staatsanwalt die Inhaftierung des Beschuldigten für eine Dauer von höchstens 72 Stunden anordnen, um sein Erscheinen vor dem für die Anordnung von Untersuchungshaft zuständigen Gericht sicherzustellen.

16      Art. 64 Abs. 3 NPK bestimmt, dass „[das] Gericht … in der Besetzung mit einem Einzelrichter unverzüglich in öffentlicher Sitzung unter Beteiligung des Staatsanwalts, des Beschuldigten und seines Rechtsbeistands über die Sache [verhandelt]“.

17      Ferner ist nach Art. 64 Abs. 4 NPK das Gericht die Behörde, die für die Prüfung des Antrags auf Anordnung von Untersuchungshaft und die Entscheidung darüber zuständig ist, ob diese, eine mildere oder überhaupt keine verfahrensrechtliche Zwangsmaßnahme gegen den Beschuldigten verhängt werden soll.

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

18      Am 28. Januar 2020 stellte der Staatsanwalt der Bezirksstaatsanwaltschaft Swischtow im Rahmen eines gegen PI eingeleiteten Strafverfahrens einen Europäischen Haftbefehl aus (im Folgenden: in Rede stehender Europäischer Haftbefehl).

19      Wie aus der dem Gerichtshof vorliegenden Akte hervorgeht, wird PI verdächtigt, in Swischtow (Bulgarien) am 8. Dezember 2019 einen Diebstahl von Geld und Schmuckstücken im geschätzten Gesamtwert von 14 713,97 bulgarischen Leva (BGN) (etwa 7 500 Euro) begangen zu haben, der mit einer Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren bestraft wird.

20      Der in Rede stehende Europäische Haftbefehl stützt sich auf eine Entscheidung desselben Staatsanwalts vom 12. Dezember 2019, mit der die Inhaftierung von PI für eine Dauer von höchstens 72 Stunden angeordnet wurde.

21      PI wurde daher am 11. März 2020 auf der Grundlage des in Rede stehenden Europäischen Haftbefehls im Vereinigten Königreich festgenommen und inhaftiert.

22      Vor dem vorlegenden Gericht, dem Westminster Magistrates’ Court (Bezirksgericht Westminster, Vereinigtes Königreich), beanstandet PI die Gültigkeit des in Rede stehenden Europäischen Haftbefehls mit dem Vorbringen, dass das bulgarische Justizsystem nicht den Anforderungen des Rahmenbeschlusses 2002/584 entspreche, wie er in der Rechtsprechung des Gerichtshofs, insbesondere in den Urteilen vom 27. Mai 2019, OG und PI (Staatsanwaltschaften Lübeck und Zwickau) (C‑508/18 und C‑82/19 PPU, EU:C:2019:456) und PF (Generalstaatsanwalt von Litauen) (C‑509/18, EU:C:2019:457), ausgelegt werde.

23      Aus dem Vorabentscheidungsersuchen geht hervor, dass nach den Angaben des Staatsanwalts der Bezirksstaatsanwaltschaft Swischtow die mit einem Europäischen Haftbefehl gesuchte Person nach bulgarischem Recht durch einen Anwalt vertreten ist, so dass ihre Interessen vollumfänglich gewahrt seien. Da die Entscheidung über die Ausstellung eines Haftbefehls auf der Anordnung der Inhaftierung beruhe, die vorschreibe, die gesuchte Person nach ihrer Übergabe einem Gericht vorzuführen, das über ihre Freiheitsentziehung entscheide, entspreche das bulgarische Verfahrenssystem dem Rahmenbeschluss 2002/584, wie er in der Rechtsprechung des Gerichtshofs ausgelegt werde.

24      Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts unterliegen im bulgarischen Recht weder die Entscheidung des Staatsanwalts, die Inhaftierung der gesuchten Person anzuordnen, noch der von derselben Behörde infolge dieser Anordnung ausgestellte Europäische Haftbefehl der gerichtlichen Kontrolle vor der Übergabe der gesuchten Person. Daher unterscheide sich diese Situation von den Verfahrenssystemen, die in anderen Mitgliedstaaten bekannt seien und der die Rechtsprechung des Gerichtshofs in diesem Bereich zugrunde liege.

25      Das vorlegende Gericht hat seinem Vorabentscheidungsersuchen als Anlage die von der National Crime Agency (Nationale Agentur zur Bekämpfung der Kriminalität, Vereinigtes Königreich) gemäß Section 2(7) des Auslieferungsgesetzes von 2003 ausgestellte Bescheinigung beigefügt, die belegt, dass der in Rede stehende Europäische Haftbefehl von einer hierfür zuständigen Justizbehörde ausgestellt worden ist.

26      Das vorlegende Gericht möchte allerdings wissen, ob der zweistufige Schutz der Rechte, der der gesuchten Person zugutekommen müsse, wie er in der Rechtsprechung des Gerichtshofs u. a. in Rn. 56 des Urteils vom 1. Juni 2016, Bob-Dogi (C‑241/15, EU:C:2016:385), verlangt werde, im Rahmen der bei ihm anhängigen Rechtssache gewährleistet sei, da sowohl der in Rede stehende Europäische Haftbefehl als auch der nationale Haftbefehl oder die justizielle Entscheidung mit gleicher Wirkung wie der nationale Haftbefehl vom Staatsanwalt der Bezirksstaatsanwaltschaft Swischtow ausgestellt worden seien, ohne dass vor der Übergabe von PI durch das Vereinigte Königreich ein bulgarisches Gericht beteiligt gewesen sei.

27      Unter diesen Umständen hat der Westminster Magistrates’ Court (Bezirksgericht Westminster, Vereinigtes Königreich) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Wenn um die Übergabe einer gesuchten Person zur Strafverfolgung ersucht wird und die Entscheidungen, einen zugrunde liegenden nationalen Haftbefehl und einen Europäischen Haftbefehl auszustellen, beide von einem Staatsanwalt getroffen werden, ohne dass vor der Übergabe ein Gericht beteiligt wird, erhält die gesuchte Person dann den vom Gerichtshof im Urteil vom 1. Juni 2016, Bob-Dogi (C‑241/15, EU:C:2016:385), vorgesehenen zweistufigen Schutz, wenn

a)      die Wirkung des nationalen Haftbefehls darauf beschränkt ist, den Einzelnen für höchstens 72 Stunden festzuhalten, um ihn einem Gericht vorzuführen, und

b)      es nach der Übergabe allein Sache des Gerichts ist, im Licht aller Umstände des Falls die Freilassung anzuordnen oder die Haft fortzusetzen?

 Zum Eilverfahren

28      Das vorlegende Gericht hat beantragt, das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen dem Eilverfahren gemäß Art. 107 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs zu unterwerfen.

29      Insoweit ist erstens festzustellen, dass dieses Vorabentscheidungsersuchen die Auslegung des Rahmenbeschlusses 2002/584 betrifft, der zu den Bereichen gehört, die von dem den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts betreffenden Titel V des Dritten Teils des AEU‑Vertrags erfasst werden. Es kann daher dem in Art. 23a der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union und Art. 107 seiner Verfahrensordnung vorgesehenen Eilvorabentscheidungsverfahren unterworfen werden.

30      Zweitens ist hinsichtlich des Kriteriums der Dringlichkeit nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs der Umstand zu berücksichtigen, dass dem Betroffenen des Ausgangsverfahrens derzeit seine Freiheit entzogen ist und dass seine weitere Inhaftierung von der Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits abhängt (Beschluss vom 12. Februar 2019, RH, C‑8/19 PPU, EU:C:2019:110, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).

31      Wie sich aus den Rn. 18 bis 21 des vorliegenden Urteils ergibt, ist im vorliegenden Fall PI auf der Grundlage des in Rede stehenden Europäischen Haftbefehls im Vereinigten Königreich festgenommen und inhaftiert worden.

32      Folglich hängt die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft von PI von der Entscheidung des Gerichtshofs ab, da sich seine Antwort auf die Vorlagefrage des vorlegenden Gerichts unmittelbar auf die Vollstreckung des in Rede stehenden Europäischen Haftbefehls auswirken könnte und daher darauf, was mit der Untersuchungshaft von PI geschieht.

33      Unter diesen Umständen hat die Erste Kammer des Gerichtshofs am 17. Dezember 2020 auf Vorschlag der Berichterstatterin nach Anhörung des Generalanwalts entschieden, dem Antrag des vorlegenden Gerichts, das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen dem Eilvorabentscheidungsverfahren zu unterwerfen, stattzugeben.

 Zur Vorlagefrage

34      Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 8 Abs. 1 Buchst. c des Rahmenbeschlusses 2002/584 im Lichte von Art. 47 der Charta und der Rechtsprechung des Gerichtshofs dahin auszulegen ist, dass die Anforderungen an den wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz, der einer Person zugutekommen muss, gegen die ein Europäischer Haftbefehl zur Strafverfolgung besteht, erfüllt sind, wenn sowohl der Europäische Haftbefehl als auch die ihm zugrunde liegende justizielle Entscheidung von einem Staatsanwalt, der als „ausstellende Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses eingestuft werden kann, ausgestellt werden, beide aber vor der Übergabe der gesuchten Person durch den Vollstreckungsmitgliedstaat keiner gerichtlichen Kontrolle im Ausstellungsmitgliedstaat unterzogen werden können.

35      Hierzu ist zunächst darauf hinzuweisen, dass sowohl der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten als auch der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, der seinerseits auf dem gegenseitigen Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten beruht, im Unionsrecht fundamentale Bedeutung haben, da sie die Schaffung und Aufrechterhaltung eines Raums ohne Binnengrenzen ermöglichen. Konkret verlangt der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens, namentlich in Bezug auf den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, von jedem Mitgliedstaat, dass er, abgesehen von außergewöhnlichen Umständen, davon ausgeht, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten (Urteil vom 12. Dezember 2019, Openbaar Ministerie [Staatsanwaltschaft Schweden], C‑625/19 PPU, EU:C:2019:1078, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).

36      Allerdings beruhen die Wirksamkeit und Funktionstüchtigkeit des mit dem Rahmenbeschluss 2002/584 eingeführten vereinfachten Systems der Übergabe von Personen, die wegen einer Straftat verurteilt worden sind oder einer Straftat verdächtigt werden, auf der Einhaltung bestimmter von diesem Rahmenbeschluss festgelegter Anforderungen, deren Bedeutung von der Rechtsprechung des Gerichtshofs präzisiert worden ist.

37      Erstens ergibt sich aus der Vorlageentscheidung, dass der Staatsanwalt der Bezirksstaatsanwaltschaft Swischtow eine Behörde ist, die an der Strafrechtspflege mitwirkt und bei der Ausübung der mit der Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls verbundenen Aufgaben unabhängig ist; diese beiden Voraussetzungen ermöglichen es, diese Behörde als „ausstellende Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 einzustufen (vgl. entsprechend Urteil vom 12. Dezember 2019, Parquet général du Grand-Duché de Luxembourg und Openbaar Ministerie [Staatsanwaltschaften Lyon und Tours], C‑566/19 PPU und C‑626/19 PPU, EU:C:2019:1077, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung). Diese Einstufung wird im Übrigen von PI nicht beanstandet, wie sein Beistand in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof vorgetragen hat.

38      Zweitens stellt nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs das Bestehen einer gerichtlichen Kontrolle der von einer anderen Behörde als einem Gericht getroffenen Entscheidung, einen Europäischen Haftbefehl auszustellen, keine Voraussetzung dafür dar, dass diese Behörde als ausstellende Justizbehörde im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 angesehen werden kann, da diese Kontrolle nicht unter die Rechts- und Organisationsvorschriften dieser Behörde fällt, sondern das Verfahren der Ausstellung eines solchen Haftbefehls betrifft, das den Anforderungen an einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz genügen muss (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Januar 2021, MM, C‑414/20 PPU, EU:C:2021:4, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung). Somit hängt die Eigenschaft „ausstellende Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 nicht vom Vorhandensein einer gerichtlichen Kontrolle der Entscheidung, einen Europäischen Haftbefehl auszustellen, und der ihm zugrunde liegenden nationalen Entscheidung ab. Daher genügt der Umstand, dass die Einstufung des Staatsanwalts der Bezirksstaatsanwaltschaft Swischtow als „ausstellende Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 nicht beanstandet wird, nicht für die Annahme, dass das bulgarische Verfahren zur Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls durch einen Staatsanwalt den Anforderungen an den wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz entspricht.

39      Drittens ist den Ausführungen des Generalanwalts in den Nrn. 37 und 38 seiner Schlussanträge folgend festzustellen, dass die Entscheidung des Staatsanwalts, mit der die Inhaftierung der gesuchten Person für höchstens 72 Stunden angeordnet wird und die dem Europäischen Haftbefehl zugrunde liegt, gemäß Art. 8 Abs. 1 Buchst. c des Rahmenbeschlusses 2002/584 als „vollstreckbare justizielle Entscheidung mit gleicher Rechtswirkung“ wie ein nationaler Haftbefehl einzustufen ist.

40      Insoweit hat der Gerichtshof entschieden, dass sich der Begriff „[nationaler] Haftbefehl oder eine andere vollstreckbare justizielle Entscheidung mit gleicher Rechtswirkung“ im Sinne von Art. 8 Abs. 1 Buchst. c des Rahmenbeschlusses 2002/584 auf nationale Maßnahmen bezieht, die von einer Justizbehörde zur Suche und Festnahme einer strafrechtlich verfolgten Person mit dem Ziel ausgestellt werden, sie zwecks Vornahme strafverfahrensrechtlicher Handlungen einem Richter vorzuführen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Januar 2021, MM, C‑414/20 PPU, EU:C:2021:4, Rn. 57).

41      Folglich ist zu prüfen, ob ein strafverfahrensrechtliches System, nach dem sowohl der Europäische Haftbefehl als auch die ihm zugrunde liegende Entscheidung von der Staatsanwaltschaft ausgestellt werden und eine diesbezügliche gerichtliche Kontrolle erst nach der Übergabe der gesuchten Person stattfinden kann, den Anforderungen des Rahmenbeschlusses 2002/584 genügt, nämlich der Wahrung des zweistufigen Schutzes der Rechte, der dieser Person zugutekommen muss, wie er in der Rechtsprechung des Gerichtshofs ausgelegt wird.

42      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof in Rn. 56 des Urteils vom 1. Juni 2016, Bob-Dogi (C‑241/15, EU:C:2016:385), für Recht erkannt hat, dass das System des Europäischen Haftbefehls aufgrund des in Art. 8 Abs. 1 Buchst. c des Rahmenbeschlusses 2002/584 aufgestellten Erfordernisses einen zweistufigen Schutz der Verfahrens- und Grundrechte enthält, der der gesuchten Person zugutekommen muss, da zu dem gerichtlichen Schutz auf der ersten Stufe beim Erlass einer nationalen justiziellen Entscheidung wie eines nationalen Haftbefehls der Schutz hinzukommt, der auf der zweiten Stufe bei der Ausstellung des Europäischen Haftbefehls, zu der es gegebenenfalls kurze Zeit nach dem Erlass dieser nationalen justiziellen Entscheidung kommen kann, zu gewährleisten ist.

43      Dieser Schutz impliziert somit, dass zumindest auf einer seiner beiden Stufen eine Entscheidung erlassen wird, die den einem wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz innewohnenden Anforderungen genügt (Urteil vom 27. Mai 2019, OG und PI [Staatsanwaltschaften Lübeck und Zwickau], C‑508/18 und C‑82/19 PPU, EU:C:2019:456, Rn. 68).

44      Folglich muss, wenn nach dem Recht des Ausstellungsmitgliedstaats für die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls eine Behörde zuständig ist, die in diesem Mitgliedstaat an der Rechtspflege mitwirkt, aber kein Richter oder Gericht ist, die nationale justizielle Entscheidung – wie ein nationaler Haftbefehl –, auf die sich der Europäische Haftbefehl stützt, ihrerseits diese Anforderungen erfüllen (Urteil vom 27. Mai 2019, OG und PI [Staatsanwaltschaften Lübeck und Zwickau], C‑508/18 und C‑82/19 PPU, EU:C:2019:456, Rn. 69).

45      Die Erfüllung dieser Anforderungen ermöglicht es dabei, der vollstreckenden Justizbehörde zu garantieren, dass die Entscheidung, zum Zweck der Strafverfolgung einen Europäischen Haftbefehl zu erlassen, auf einem gerichtlicher Kontrolle unterworfenen nationalen Verfahren beruht und dass die Person, gegen die sich der nationale Haftbefehl richtet, über alle dem Erlass derartiger Entscheidungen eigene Garantien verfügte, insbesondere über diejenigen, die sich aus den in Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 genannten Grundrechten und allgemeinen Rechtsgrundsätzen ergeben (Urteil vom 27. Mai 2019, OG und PI [Staatsanwaltschaften Lübeck und Zwickau], C‑508/18 und C‑82/19 PPU, EU:C:2019:456, Rn. 70).

46      Außerdem müssen, wenn nach dem Recht des Ausstellungsmitgliedstaats für die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls eine Behörde zuständig ist, die in diesem Mitgliedstaat an der Rechtspflege mitwirkt, aber selbst kein Gericht ist, in dem Mitgliedstaat die Entscheidung über die Ausstellung eines solchen Haftbefehls und insbesondere ihre Verhältnismäßigkeit in einer Weise gerichtlich überprüfbar sein, die den Erfordernissen eines wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes voll und ganz genügt (Urteil vom 27. Mai 2019, OG und PI [Staatsanwaltschaften Lübeck und Zwickau], C‑508/18 und C‑82/19 PPU, EU:C:2019:456, Rn. 75).

47      Wie der Generalanwalt in Nr. 61 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ergibt sich aus der genannten Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass die Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl zur Strafverfolgung besteht, vor ihrer Übergabe an den Ausstellungsmitgliedstaat einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz in Anspruch nehmen können muss, und zwar zumindest auf einer der von der genannten Rechtsprechung verlangten beiden Schutzstufen.

48      Ein solcher Schutz setzt daher voraus, dass eine gerichtliche Kontrolle entweder in Bezug auf den Europäischen Haftbefehl oder in Bezug auf die ihm zugrunde liegende justizielle Entscheidung ausgeübt werden kann, bevor der Haftbefehl vollstreckt wird.

49      Aufgrund dieser Anforderung kann sich in dem durch den Rahmenbeschluss 2002/584 eingeführten System – das, wie in Rn. 35 des vorliegenden Urteils ausgeführt worden ist, auf das gegenseitige Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten gestützt ist – die vollstreckende Justizbehörde sicher sein, dass der Europäische Haftbefehl, um dessen Vollstreckung sie ersucht wird, im Anschluss an ein gerichtlicher Kontrolle unterworfenes nationales Verfahren ausgestellt worden ist, in dessen Rahmen die gesuchte Person über alle dem Erlass derartiger Entscheidungen eigene Garantien verfügen konnte, insbesondere über diejenigen, die sich aus den in Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 genannten Grundrechten und allgemeinen Rechtsgrundsätzen ergeben, wie aus Rn. 45 des vorliegenden Urteils hervorgeht.

50      Diese Erwägungen werden durch die Erkenntnis, die den Urteilen vom 12. Dezember 2019, Parquet général du Grand-Duché de Luxembourg und Openbaar Ministerie (Staatsanwaltschaften Lyon und Tours) (C‑566/19 PPU und C‑626/19 PPU, EU:C:2019:1077) und Openbaar Ministerie (Staatsanwaltschaft Schweden) (C‑625/19 PPU, EU:C:2019:1078) zu entnehmen ist, die in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof geltend gemacht worden sind, nicht in Frage gestellt.

51      In den Rn. 70 und 71 des ersten dieser beiden Urteile hat der Gerichtshof entschieden, dass das Bestehen von Verfahrensregeln in der Rechtsordnung des Ausstellungsmitgliedstaats, nach denen die Verhältnismäßigkeit der Entscheidung der Staatsanwaltschaft, einen Europäischen Haftbefehl auszustellen, vor oder nach der tatsächlichen Übergabe der gesuchten Person oder sogar fast zeitgleich zur Ausstellung des Haftbefehls und in jedem Fall nach seiner Ausstellung Gegenstand einer gerichtlichen Kontrolle sein kann, dem Erfordernis eines wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes genügt. In der diesem Urteil zugrunde liegenden Rechtssache ergab sich diese Feststellung – wie aus den Rn. 68 und 69 des Urteils hervorgeht – aus dem Vorliegen eines Komplexes von Verfahrensvorschriften, die ab der Ausstellung des nationalen Haftbefehls gegen die gesuchte Person und folglich vor ihrer Übergabe gewährleisten, dass ein Richter beteiligt ist.

52      Desgleichen beruhte in der Rechtssache, die dem Urteil vom 12. Dezember 2019, Openbaar Ministerie (Staatsanwaltschaft Schweden) (C‑625/19 PPU, EU:C:2019:1078), zugrunde liegt, der vom Staatsanwalt ausgestellte Europäische Haftbefehl auf einer justiziellen Entscheidung zur Anordnung der Untersuchungshaft.

53      Wie der Generalanwalt in den Nrn. 69 und 72 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, hat der Gerichtshof in den in Rn. 50 des vorliegenden Urteils angeführten Urteilen somit den Umstand berücksichtigt, dass die Voraussetzungen für die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls durch die Staatsanwaltschaft vor der Übergabe der gesuchten Person Gegenstand einer gerichtlichen Kontrolle sein konnten, da nach den nationalen Rechtsvorschriften, die in den diesen Urteilen zugrunde liegenden Rechtssachen in Rede standen, dem Europäischen Haftbefehl ein nationaler Haftbefehl zugrunde lag, den ein Richter ausgestellt hatte, der überdies die Voraussetzungen für die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls und insbesondere seine Verhältnismäßigkeit beurteilt hat.

54      Im Unterschied zu den diesen beiden Urteilen zugrunde liegenden Rechtssachen geht im vorliegenden Fall aus der Vorlageentscheidung hervor, dass das bulgarische Recht für die Entscheidung des Staatsanwalts, einen Europäischen Haftbefehl auszustellen, nur eine nachträgliche gerichtliche Kontrolle vorsieht, da diese Kontrolle erst nach der Übergabe der gesuchten Person stattfinden kann.

55      [Berichtigt mit Beschluss vom 13. April 2021] Hinsichtlich des Umstands, dass die bulgarische Regierung in ihrer schriftlichen Antwort auf die Fragen des Gerichtshofs vorträgt, dass die gesuchte Person nach ihrer Übergabe im Anschluss an die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls unverzüglich einem Gericht vorgeführt werde, das die Erforderlichkeit, ihr gegenüber eine freiheitsentziehende oder -einschränkende Maßnahme zu ergreifen, prüfen werde und somit auch die Verhältnismäßigkeit dieses Haftbefehls kontrollieren werde, ist jedoch festzustellen, dass sich mit dieser Praxis nicht sicherstellen lässt, dass das bulgarische Verfahrenssystem den Anforderungen des Rahmenbeschlusses 2002/584 entspricht.

56      [Berichtigt mit Beschluss vom 13. April 2021] Es ist nämlich festzustellen, dass sich der Gerichtshof mit dem Urteil vom 13. Januar 2021, MM (C‑414/20 PPU, EU:C:2021:4) – wie der Generalanwalt in den Nrn. 33 und 34 seiner Schlussanträge ausgeführt hat –, nicht unmittelbar zur Frage geäußert hat, ob das bulgarische Verfahren zur Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls im strafprozessualen Vorverfahren durch einen Staatsanwalt den Anforderungen an den wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz entspricht, sondern lediglich entschieden hat, dass das Unionsrecht bei Nichtvorliegen eines gesonderten Rechtsbehelfs im Recht des Ausstellungsmitgliedstaats einem Gericht dieses Mitgliedstaats die Befugnis verleiht, eine inzidente Kontrolle der Gültigkeit des Europäischen Haftbefehls vorzunehmen. Aus diesem Urteil lässt sich folglich nicht ableiten, dass der Gerichtshof entschieden hätte, dass das Bestehen dieser Möglichkeit einer nachträglichen gerichtlichen Kontrolle geeignet wäre, den Anforderungen an einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz der Rechte der gesuchten Person zu entsprechen.

57      Daher genügt das Bestehen einer gerichtlichen Kontrolle der Entscheidung eines Staatsanwalts, einen Europäischen Haftbefehl auszustellen, die erst nach der Übergabe der gesuchten Person stattfindet, nicht der Pflicht des Ausstellungsmitgliedstaats, Verfahrensvorschriften umzusetzen, die es einem zuständigen Gericht ermöglichen, vor dieser Übergabe eine Kontrolle der Rechtmäßigkeit des nationalen Haftbefehls oder der justiziellen Entscheidung mit gleicher Rechtswirkung, die ebenfalls von einem Staatsanwalt ausgestellt worden sind, oder des Europäischen Haftbefehls vorzunehmen.

58      Zwar behalten die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung des Rahmenbeschlusses 2002/584 entsprechend ihrer Verfahrensautonomie die Möglichkeit, Vorschriften zu erlassen, die von einem Mitgliedstaat zum anderen verschieden sein können. Gleichwohl müssen sie darauf achten, dass die sich aus diesem Rahmenbeschluss ergebenden Anforderungen, insbesondere hinsichtlich des ihm zugrunde liegenden und durch Art. 47 der Charta verbürgten gerichtlichen Rechtsschutzes, nicht vereitelt werden.

59      Daraus ergibt sich, dass das Ziel des Rahmenbeschlusses 2002/584, der darauf gerichtet ist, durch die Einführung eines neuen vereinfachten und wirksameren Systems der Übergabe von Personen, die wegen einer Straftat verurteilt worden sind oder einer Straftat verdächtigt werden, die justizielle Zusammenarbeit zwischen den Justizbehörden des Ausstellungsmitgliedstaats und denen des Mitgliedstaats der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls zu erleichtern und zu beschleunigen, nur durch die Achtung der Grundrechte und der allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Art. 6 EUV niedergelegt sind und in der Charta zum Ausdruck kommen, verwirklicht werden kann. Diese Pflicht gilt zudem für alle Mitgliedstaaten und insbesondere sowohl für den Ausstellungsmitgliedstaat als auch für den Vollstreckungsmitgliedstaat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Februar 2019, TC, C‑492/18 PPU, EU:C:2019:108, Rn. 41 und 54 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

60      Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 8 Abs. 1 Buchst. c des Rahmenbeschlusses 2002/584 im Lichte von Art. 47 der Charta und der Rechtsprechung des Gerichtshofs dahin auszulegen ist, dass die Anforderungen an den wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz, der einer Person zugutekommen muss, gegen die ein Europäischer Haftbefehl zur Strafverfolgung besteht, nicht erfüllt sind, wenn sowohl der Europäische Haftbefehl als auch die ihm zugrunde liegende justizielle Entscheidung von einem Staatsanwalt, der als „ausstellende Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses eingestuft werden kann, ausgestellt werden, beide aber vor der Übergabe der gesuchten Person durch den Vollstreckungsmitgliedstaat keiner gerichtlichen Kontrolle im Ausstellungsmitgliedstaat unterzogen werden können.

 Kosten

61      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

Art. 8 Abs. 1 Buchst. c des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung im Lichte von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist dahin auszulegen, dass die Anforderungen an den wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz, der einer Person zugutekommen muss, gegen die ein Europäischer Haftbefehl zur Strafverfolgung besteht, nicht erfüllt sind, wenn sowohl der Europäische Haftbefehl als auch die ihm zugrunde liegende justizielle Entscheidung von einem Staatsanwalt, der als „ausstellende Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses eingestuft werden kann, ausgestellt werden, beide aber vor der Übergabe der gesuchten Person durch den Vollstreckungsmitgliedstaat keiner gerichtlichen Kontrolle im Ausstellungsmitgliedstaat unterzogen werden können.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Englisch.