URTEIL DES GERICHTSHOFES (Sechste Kammer)
8. Juli 1999 (1)
„Rechtsmittel Antrag auf Wiederaufnahme Zulässigkeit“
In der Rechtssache C-5/93 P
DSM NV, Heerlen (Niederlande), Prozeßbevollmächtigter: Rechtsanwalt
I. G. F. Cath, Den Haag, Zustellungsanschrift: Kanzlei des Rechtsanwalts
L. Dupong, 14 A, rue des Bains, Luxemburg,
betreffend ein Rechtsmittel gegen den Beschluß des Gerichts erster Instanz der
Europäischen Gemeinschaften (Erste Kammer) vom 4. November 1992 in der
Rechtssache T-8/89 REV (DSM/Kommission, 1992, Slg. II-2399) wegen Aufhebung
dieses Beschlusses,
anderer Verfahrensbeteiligter:
Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch B. J. Drijber,
Juristischer Dienst, als Bevollmächtigten, Zustellungsbevollmächtigter: C. Gómez
de la Cruz, Juristischer Dienst, Centre Wagner, Luxemburg-Kirchberg,
Beklagte in der ersten Instanz,
erläßt
DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten P. J. G. Kapteyn sowie der Richter
G. Hirsch, G. F. Mancini (Berichterstatter), J. L. Murray und H. Ragnemalm,
Generalanwalt: G. Cosmas
Kanzler: H. von Holstein, Hilfskanzler, und
D. Louterman-Hubeau, Hauptverwaltungsrätin
aufgrund des Sitzungsberichts,
nach Anhörung der Beteiligten in der Sitzung vom 12. März 1997,
nach Anhörung der Schlußanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 15. Juli
1997,
folgendes
Urteil
- 1.
- Die DSM NV hat mit Rechtsmittelschrift, die am 7. Januar 1993 bei der Kanzlei
des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 49 der EG-Satzung des
Gerichtshofes ein Rechtsmittel gegen den Beschluß des Gerichts erster Instanz vom
4. November 1992 in der Rechtssache T-8/89 REV (DSM/Kommission, Slg. 1992,
II-2399; im folgenden: angefochtener Beschluß) eingelegt, mit dem ihr Antrag auf
Wiederaufnahme des mit Urteil des Gerichts vom 17. Dezember 1991 in der
Rechtssache T-8/89 (DSM/Kommission, Slg. 1991, II-1833) abgeschlossenen
Verfahrens als unzulässig zurückgewiesen worden war.
Sachverhalt und Verfahren vor dem Gericht
- 2.
- Dem Rechtsmittel liegt folgender Sachverhalt, wie er sich aus dem genannten
Urteil DSM/Kommission und dem angefochtenen Beschluß ergibt, zugrunde.
- 3.
- Mehrere in der europäischen Petrochemieindustrie tätige Unternehmen erhoben
beim Gericht Nichtigkeitsklage gegen die Entscheidung 86/398/EWG der
Kommission vom 23. April 1986 betreffend ein Verfahren nach Artikel 85 des
EWG-Vertrags (IV/31.149 Polypropylen) (ABl. L 230, S. 1; nachstehend:
Propylen-Entscheidung).
- 4.
- Gemäß den insoweit durch das Gericht bestätigten Feststellungen der Kommission
wurde der Polypropylenmarkt vor 1977 von zehn Herstellern beliefert, von denen
vier (Montedison SpA, Hoechst AG, Imperial Chemical Industries plc und Shell
International Chemical Company Ltd) zusammen 64 % des Marktes innehatten.
Nach dem Auslaufen der Hauptpatente der Montedison SpA traten 1977 auf dem
Markt neue Hersteller auf, was zu einem erheblichen Anwachsen der realen
Produktionskapazität führte, ohne daß es dadurch zu einem entsprechenden
Anstieg der Nachfrage kam. Dies hatte einen zwischen 1977 bei 60 % und 1983 bei
90 % liegenden Auslastungsgrad der Produktionskapazitäten zur Folge. Jeder der
damals in der Gemeinschaft niedergelassenen Hersteller verkaufte in die meisten,
wenn nicht in alle Mitgliedstaaten.
- 5.
- Die Rechtsmittelführerin gehört zu den Herstellern, die 1977 neu auf dem Markt
auftraten. Sie hatte am westeuropäischen Markt einen Anteil etwa zwischen 3,1 %
und 4,8 %.
- 6.
- Im Anschluß an gleichzeitig in mehreren Unternehmen des Wirtschaftszweigs
durchgeführte Nachprüfungen richtete die Kommission an mehrere
Polyropylenhersteller Auskunftsverlangen nach Artikel 11 der Verordnung Nr. 17
des Rates vom 6. Februar 1962, Erste Durchführungsverordnung zu den Artikeln
85 und 86 des Vertrages (ABl. 1962, Nr. 13, S. 204). Aus Randnummer 6 des
angefochtenen Urteils geht hervor, daß die Kommission anhand des im Rahmen
dieser Nachprüfungen und Auskunftsverlangen entdeckten Beweismaterials zu der
vorläufigen Auffassung gelangte, die Hersteller hätten von 1977 bis 1983 unter
Verstoß gegen Artikel 81 EG (früher Artikel 85) durch Preisinitiativen regelmäßig
Zielpreise festgesetzt und ein System jährlicher Mengenkontrolle entwickelt, um
den verfügbaren Markt nach vereinbarten Prozentsätzen oder Mengen unter sich
aufzuteilen. Die Kommission leitete deshalb ein Verfahren gemäß Artikel 3 Absatz
1 der Verordnung Nr. 17 ein und übermittelte mehreren Unternehmen, darunter
der Rechtsmittelführerin, die schriftliche Mitteilung der Beschwerdepunkte.
- 7.
- Am Ende des Verfahrens erließ die Kommission die Polypropylen-Entscheidung,
mit der sie feststellte, daß die Rechtsmittelführerin gegen Artikel 81 Absatz 1 EG
verstoßen habe, indem sie zusammen mit anderen Unternehmen von einem
Zeitpunkt zwischen 1977 und 1979 bis mindestens November 1983 an einer von
Mitte 1977 stammenden Vereinbarung und abgestimmten Verhaltensweise beteiligt
gewesen sei, durch die die Gemeinschaft mit Polypropylen beliefernden Hersteller
miteinander Verbindung gehabt und sich regelmäßig (von Anfang 1981 an
zweimal monatlich) in einer Reihe geheimer Sitzungen getroffen hätten, um
ihre Geschäftspolitik zu erörtern und festzulegen;
von Zeit zu Zeit für den Absatz ihrer Erzeugnisse in jedem Mitgliedstaat
der EWG Ziel- (oder Mindest-)Preise festgelegt hätten;
verschiedene Maßnahmen getroffen hätten, um die Durchsetzung dieser
Zielpreise zu erleichtern, (vor allem) u. a. durch vorübergehende
Absatzeinschränkungen, den Austausch von Einzelangaben über ihre
Verkäufe, die Veranstaltung lokaler Sitzungen und ab Ende 1982 ein System
der „Kundenführerschaft“ zwecks Durchsetzung der Preiserhöhungen
gegenüber Einzelkunden;
gleichzeitige Preiserhöhungen vorgenommen hätten, um die besagten Ziele
durchzusetzen;
den Markt aufgeteilt hätten, indem jedem Hersteller ein jährliches
Absatzziel bzw. eine Quote (1979, 1980 und zumindest für einen Teil des
Jahres 1983) zugeteilt worden sei oder, falls es zu keiner endgültigen
Vereinbarung für das ganze Jahr gekommen sei, die Hersteller aufgefordert
worden seien, ihre monatlichen Verkäufe unter Bezugnahme auf einen
vorausgegangenen Zeitraum (1981, 1982) einzuschränken (Artikel 1 der
Polypropylen-Entscheidung).
- 8.
- Sodann verpflichtete die Kommission die verschiedenen betroffenen Unternehmen,
die festgestellten Zuwiderhandlungen unverzüglich abzustellen und in Zukunft von
allen Vereinbarungen oder aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen, die
dasselbe oder ähnliches bezwecken oder bewirken, Abstand zu nehmen. Ferner
erlegte ihnen die Kommission auf, jedes Verfahren zum Austausch von
Informationen, die normalerweise dem Geschäftsgeheimnis unterliegen, abzustellen
und dafür Sorge zu tragen, daß Verfahren zum Austausch allgemeiner
Informationen (wie das Fides-System) unter Ausschluß sämtlicher Informationen
geführt werden, aus denen sich das Marktverhalten einzelner Hersteller ableiten
läßt (Artikel 2 der Polypropylen-Entscheidung).
- 9.
- Gegen die Rechtsmittelführerin wurde eine Geldbuße von 2 750 000 ECU bzw.
6 657 640 HFL festgesetzt (Artikel 3 der Polypropylen-Entscheidung).
- 10.
- Am 31. Juli 1986 erhob die Rechtsmittelführerin beim Gerichtshof Klage auf
Nichtigerklärung dieser Entscheidung. Mit Beschluß vom 15. November 1989
verwies der Gerichtshof die Rechtssache gemäß dem Beschluß 88/591/EGKS,
EWG, Euratom des Rates vom 24. Oktober 1988 zur Errichtung eines Gerichts
erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften (ABl. L 319, S. 1) an das Gericht.
- 11.
- Die Rechtsmittelführerin beantragte beim Gericht, die Polypropylen-Entscheidung
ganz oder teilweise für nichtig zu erklären, die festgesetzte Geldbuße aufzuheben
oder herabzusetzen, alle vom Gericht für zweckmäßig erachteten Verfügungen und
Maßnahmen zu treffen und der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
- 12.
- Die Kommission beantragte, die Klage abzuweisen und der Klägerin die Kosten
aufzuerlegen.
- 13.
- Mit dem oben angeführten Urteil DSM/Kommission wies das Gericht die Klage
zurück und erlegte der Rechtsmittelführerin die Kosten auf.
- 14.
- Nach Erlaß des Urteils des Gerichts vom 27. Februar 1992 in den Rechtssachen T-79/89, T-84/89, T-85/89, T-86/89, T-89/89, T-91/89, T-92/89, T-94/89, T-96/89, T-98/89, T-102/89 und T-104/89 (BASF u. a./Kommission, Slg. 1992, II-315; im
folgenden: PVC-Urteil) hat die Rechtsmittelführerin am 5. Mai 1992 bei der
Kommission beantragt, ihr entweder die von ihr an die Kommission gezahlte
Geldbuße sowie die mit der Bankbürgschaft, die sie in dem Verfahren in der
Rechtssache T-8/89 habe stellen müssen, verbundenen Kosten und Zinsen als zu
Unrecht gezahlt zurückzuzahlen, oder, falls die Kommission der Ansicht sei, daß
die Geldbuße nicht zu Unrecht gezahlt worden sei, ihr vor dem 19. Mai 1992 die
Gründe hierfür zu erläutern. Die Kommission ließ das Antragsschreiben
unbeantwortet.
- 15.
- Die Rechtsmittelführerin hat mit Schriftsatz, der am 26. Mai 1992 bei der Kanzlei
des Gerichts eingegangen ist, gemäß Artikel 41 des Protokolls über die EG-Satzung
des Gerichtshofes und Artikel 125 der Verfahrensordnung des Gerichts einen
Antrag auf Wiederaufnahme des mit dem Urteil DSM/Kommission
abgeschlossenen Verfahrens gestellt.
- 16.
- Die Rechtsmittelführerin hat beim Gericht beantragt, festzustellen, daß der
Wiederaufnahmeantrag fristgemäß gestellt wurde, eine Beweisaufnahme
anzuordnen, die insbesondere die in Artikel 64 § 3 Buchstaben c und d seiner
Verfahrensordnung genannten Maßnahmen umfaßt, das Urteil DSM/Kommission
in der Weise abzuändern, daß die Polypropylen-Entscheidung für inexistent oder
zumindest für nichtig erklärt wird, die gegen sie festgesetzte Geldbuße aufzuheben
oder zumindest herabzusetzen, der Kommission aufzugeben, die ihr aufgrund eines
inexistenten oder zumindest nichtigen Titels gezahlte Geldbuße einschließlich der
in ihrem Schreiben an die Kommission vom 5. Mai 1992 aufgeführten Zinsen und
Kosten unverzüglich zurückzuzahlen und der Kommission die Kosten des
Verfahrens einschließlich der Kosten des Verfahrens, das zum Urteil
DSM/Kommission geführt hat, aufzuerlegen. Aus Randnummer 6 des
angefochtenen Beschlusses geht hervor, daß nach Ansicht der Rechtsmittelführerin
Zweifel am Bestand der Polypropylen-Entscheidung bestehen, da diese mit
denselben Mängeln behaftet sein könne wie das PVC-Urteil.
- 17.
- Die Kommission hat beantragt, die Anträge für unzulässig zu erklären, hilfsweise,
die Anträge als unbegründet abzuweisen, und auf jeden Fall der
Rechtsmittelführerin die Kosten aufzuerlegen.
Der angefochtene Beschluß
- 18.
- Wie aus Randnummer 14 des angefochtenen Beschlusses hervorgeht, hat das
Gericht, nachdem es an den Inhalt von Artikel 41 Absatz 1 der EG-Satzung des
Gerichtshofes erinnert hatte, der gemäß Artikel 46 Absatz 1 dieser Satzung für das
Verfahren vor dem Gericht entsprechend gilt, festgestellt, aus dieser Bestimmung
ergebe sich, daß die Wiederaufnahme des Verfahrens kein Rechtsmittel sei,
sondern ein außerordentlicher Rechtsbehelf, der es erlaube, die Rechtskraft eines
verfahrensabschließenden Urteils aufgrund der tatsächlichen Feststellungen, auf die
sich das Gericht gestützt habe, in Frage zu stellen. Die Wiederaufnahme setze
voraus, daß vor dem Erlaß des Urteils liegende Umstände tatsächlicher Art
entdeckt würden, die dem Gericht, das dieses Urteil erlassen habe, und der die
Wiederaufnahme beantragenden Partei bis dahin unbekannt gewesen seien und die
das Gericht, wenn es sie hätte berücksichtigen können, zu einer anderen
Entscheidung des Rechtsstreits, als sie ergangen ist, hätten veranlassen können.
- 19.
- In Randnummer 15 hat das Gericht ausgeführt, die von ihm zu entscheidende
Frage gehe dahin, ob die Antragstellerin nachgewiesen habe, daß ihr die in ihrem
Wiederaufnahmeantrag vorgetragenen Tatsachen daß das Kommissionskollegium
nicht über den ihr mitgeteilten Wortlaut der Polypropylen-Entscheidung beraten
und nicht über die niederländische Fassung der Entscheidung verfügt habe, und die
anderen im PVC-Urteil aufgeführten Mängel erst nach der Verkündung des
Urteils DSM/Kommission bekanntgeworden seien. Insofern solle die „neue
Tatsache“, auf die die Rechtsmittelführerin ihren Wiederaufnahmeantrag stütze,
aus der Kombination verschiedener Tatsachen und Anhaltspunkte bestehen, die zu
verschiedenen Zeitpunkten eingetreten und bekanntgeworden seien. Daher sei, so
das Gericht in Randnummer 16, zu prüfen, ob der Rechtsmittelführerin in
Anbetracht dieser Tatsachen und Anhaltspunkte die von ihr angeführten Tatsachen
vor der Verkündung des Urteils DSM/Kommission bekannt gewesen seien.
- 20.
- In Randnummer 17 hat das Gericht ausgeführt, in bezug auf die angeblichensachlichen Änderungen und Ergänzungen des Textes der der Rechtsmittelführerin
mitgeteilten Polypropylen-Entscheidung sei festzustellen, daß die von der
Rechtsmittelführerin geltend gemachten typographischen Unterschiede im Text der
am 30. Mai 1986 mitgeteilten Polypropylen-Entscheidung enthalten gewesen und
ihr folglich seit diesem Zeitpunkt bekannt gewesen seien. Gleiches gelte für die
Tatsache, daß die Seiten der Polypropylen-Entscheidung nicht fortlaufend
numeriert gewesen seien, für die Angabe „Entscheidungsentwurf vom 23. Mai
1986“ auf dem Deckblatt der mitgeteilten Entscheidung und für die Länge der
zwischen dem Erlaß der Entscheidung und ihrer Übermittlung verstrichenen Zeit.
- 21.
- Randnummer 18 des Beschlusses des Gerichts lautet:
„Darüber hinaus ist die Tragweite der von der Antragstellerin angeführten
Änderungen und Ergänzungen in der mündlichen Verhandlung vom 10. Dezember
1991 in den PVC-Rechtssachen hinreichend geklärt worden, in der die
Bevollmächtigten der Kommission erklärt haben, daß das in diesen Rechtssachen
angewandte Verfahren einer ständigen Praxis entsprochen habe. Die Antragstellerin
hat an dieser Verhandlung teilgenommen und ist dort durch denselben
Rechtsanwalt vertreten worden wie in dem Verfahren, das zum Urteil vom 17.
Dezember 1991 geführt hat. Sie hätte folglich vor der Verkündung des Urteils
unter Berufung auf die in Randnummer 6 genannten Tatsachen einen Antrag auf
Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung stellen können. Die Antragstellerin
verfügte zwar im Gegensatz zu den Klägerinnen in den Rechtssachen T-9/89 bis T-15/89 (vgl. die Urteile vom 10. März 1992 in den Rechtssachen T-9/89,
Hüls/Kommission, Randnrn. 382 bis 385, T-10/89, Hoechst/Kommission, Randnrn.
372 bis 375, T-11/89, Shell/Kommission, Randnrn. 372 bis 374, T-12/89,
Solvay/Kommission, Randnrn. 345 bis 347, T-13/89, ICI/Kommission, Randnrn. 399
bis 401, T-14/89, Montedipe/Kommission, Randnrn. 389 bis 391, und T-15/89,
Linz/Kommission, Randnrn. 393 bis 395, Slg. 1992, II-499 ff.) noch nicht über die
vom Gericht im Urteil vom 27. Februar 1992 vorgenommene rechtliche Beurteilung
der PVC-Entscheidung. Dies ändert jedoch nichts an der Feststellung, daß die
Antragstellerin die fraglichen Tatsachen vor der Verkündung des Urteils gekannt
hat (vgl. Urteil des Gerichtshofes vom 19. März 1991 in der Rechtssache C-403/85
REV, Ferrandi/Kommission, Slg. 1991, I-1215, Randnr. 13).“
- 22.
- Daraus leitet das Gericht in Randnummer 19 ab, daß die verschiedenen von der
Rechtsmittelführerin erwähnten Änderungen und Ergänzungen sowie deren
Tragweite so offenkundig gewesen seien, daß die Rechtsmittelführerin die im
Wiederaufnahmeantrag genannten Tatsachen nach der Lektüre der ihr mitgeteilten
Entscheidung und jedenfalls während der mündlichen Verhandlung in den PVC-Rechtssachen vom 10. Dezember 1991 hätte zur Kenntnis nehmen können. Diese
Tatsachen könnten deshalb keinesfalls Tatsachen darstellen, die der
Rechtsmittelführerin vor der Verkündung des Urteils DSM/Kommission im Sinne
von Artikel 41 Absatz 1 der EG-Satzung des Gerichtshofes unbekannt gewesen
seien, so daß sie nicht zur Wiederaufnahme des mit diesem Urteil abgeschlossenen
Verfahrens führen könnten.
- 23.
- Überdies weist das Gericht in Randnummer 20 darauf hin, daß das PVC-Urteil als
solches sowie das der Kommission am 5. Mai 1992 von der Rechtsmittelführerin
übersandte Schreiben und die Tatsache, daß dieses unbeantwortet geblieben sei,
unerheblich seien. Die Rechtsmittelführerin habe nämlich durch keines dieser
Ereignisse von Tatsachen Kenntnis erlangt, die ihr bis dahin unbekannt gewesen
seien.
- 24.
- Schließlich stellte das Gericht in Randnummer 21 fest:
„Nach alledem können die von der Antragstellerin in ihrem Antrag vorgetragenen
Tatsachen weder für sich genommen noch insgesamt gesehen eine neue Tatsache
im Sinne von Artikel 41 der Satzung des Gerichtshofes darstellen, so daß der
Wiederaufnahmeantrag als unzulässig zurückzuweisen ist.“
Das Rechtsmittel
- 25.
- In ihrer Rechtsmittelschrift beantragt die Rechtsmittelführerin,
festzustellen, daß das Rechtsmittel fristgerecht eingelegt worden ist;
den angefochtenen Beschluß aufzuheben;
das oben angegebene Urteil DSM/Kommission aufzuheben;
die an sie gerichtete Polypropylen-Entscheidung für inexistent oder
jedenfalls für nichtig zu erklären sowie die von der Kommission gegen sie
verhängte Geldbuße aufzuheben oder jedenfalls herabzusetzen;
die Kommission zu verpflichten, die auf der Grundlage einer inexistenten
oder jedenfalls nichtigen Entscheidung und des Urteils DSM/Kommission
am 19. Februar 1992 von ihr gezahlte Geldbuße einschließlich Zinsen und
Kosten, wie in ihrem Schreiben an die Kommission näher beschrieben,
unverzüglich zurückzuzahlen;
hilfsweise, den angefochtenen Beschluß aufzuheben und die Sache zu dem
Zweck an das Gericht zurückzuverweisen, daß es gemäß der Entscheidung
des Gerichtshofes den von ihr erhobenen Wiederaufnahmeantrag in der
Sache prüft, insbesondere indem es Beweiserhebungen gemäß ihrem Antrag
oder gemäß dem, was dem Gerichtshof geboten erscheint, erhebt oder
jedenfalls Maßnahmen trifft, die der Gerichtshof oder das Gericht gemäß
der Entscheidung des Gerichtshofes für geboten hält;
der Kommission die Kosten aufzuerlegen einschließlich der im
Rechtsmittelverfahren angefallenen oder noch anfallenden Kosten und
insbesondere derjenigen des Verfahrens, das zum Erlaß des oben
angegebenen Urteils DSM/Kommission geführt hat.
- 26.
- Die Kommission beantragt,
das Rechtsmittel ganz oder jedenfalls hinsichtlich des fünften Antrags für
unzulässig zu erklären;
hilfsweise, das Rechtsmittel als unbegründet zurückzuweisen, und
der Rechtsmittelführerin auf jeden Fall die Kosten aufzuerlegen.
- 27.
- Zur Begründung ihres Rechtsmittels bringt die Rechtsmittelführerin zehn
Rechtsmittelgründe vor: erstens Verletzung des Gemeinschaftsrechts durch
unrichtige Auslegung von Artikel 41 der EG-Satzung des Gerichtshofes; zweitens
Verstoß gegen die Begründungspflicht, weil das Gericht die Tatsachen im Sinne von
Artikel 41 der EG-Satzung des Gerichtshofes nur hinsichtlich der in den
Randnummern 6 und 15 des angefochtenen Beschlusses angeführten Tatsachen
geprüft habe; drittens Verstoß gegen die Begründungspflicht, weil das Gericht die
Änderungen und Ergänzungen der zugestellten Fassung der
Polypropylen-Entscheidung gegenüber der von der Kommission angenommenen
Fassung als „neue Tatsachen“ bewertet habe; viertens Verstoß gegen die
Begründungspflicht, weil das Gericht unter Berufung auf die Ausführungen in der
mündlichen Verhandlung in den PVC-Sachen angenommen habe, daß die
nachträglichen Änderungen und Ergänzungen der Rechtsmittelführerin bekannt
gewesen seien; fünftens Verstoß gegen die Begründungspflicht, weil das Gericht die
von der Rechtsmittelführerin erwähnten Änderungen und Ergänzungen als „so
offenkundig“ und als rechtserhebliche „Tatsachen“ bewertet habe; sechstens
Verstoß gegen die Begründungspflicht, weil das Gericht das PVC-Urteil als solches
sowie ein Schreiben der Rechtsmittelführerin an die Kommission und dessen
Nichtbeantwortung als unerheblich angesehen habe; siebtens Verstoß gegen die
Begründungspflicht, weil das Gericht den Wiederaufnahmeantrag nicht in der Sache
geprüft habe; achtens Verletzung des Gleichheitssatzes, weil das Gericht anders als
in den PVC-Sachen den Wiederaufnahmeantrag nicht in der Sache geprüft habe;
neuntens Verletzung des Gleichheitssatzes, weil das Gericht die durch das
Polypropylenverfahren betroffenen Unternehmen je nach dem Zeitpunkt des
Urteilserlasses unterschiedlich behandelt habe; zehntens Verletzung des
Gemeinschaftsrechts, weil das Gericht nicht beachtet habe, daß jede Rüge
bezüglich der Inexistenz eines Rechtsakts eines Gemeinschaftsorgans zum Ordre
public gehöre.
- 28.
- Durch Entscheidung des Präsidenten des Gerichtshofes vom 28. Juli 1993 ist das
Verfahren ohne Widerspruch der Beteiligten zur Prüfung der Folgen, die sich aus
dem Urteil des Gerichtshofes vom 15. Juni 1994 in der Rechtssache C-137/92 P
(Kommission/BASF u. a., Slg. 1994, I-2555) ergeben, bis zum 15. September 1994
ausgesetzt worden.
Zur Zulässigkeit
- 29.
- Die Kommission trägt erstens vor, das Rechtsmittel sei unzulässig. Zum einen sei
es eine Tatsachenfrage, ob eine Tatsache oder eine neue Tatsache eingetreten sei;
somit beziehe sich das Rechtsmittel nicht, wie es Artikel 51 der EG-Satzung des
Gerichtshofes vorsehe, auf Rechtsfragen. Zum anderen sei ein
Wiederaufnahmeantrag, wenn schon mangels einer neuen Tatsache, so erst recht
dann für unzulässig zu erklären, wenn die Rechtsmittelführerin vortrage, daß sie
nicht einmal eine Tatsache habe ausfindig machen können.
- 30.
- Zum ersten Punkt ist zunächst zu bemerken, daß die Argumentation der
Kommission, wenn ihr zu folgen wäre, dazu führen würde, Rechtsmittel gegen
Entscheidungen auszuschließen, durch die das Gericht Wiederaufnahmeanträge
zurückweist. Dies würde offensichtlich Artikel 49 Absatz 1 der EG-Satzung des
Gerichtshofes zuwiderlaufen, wonach gegen die Endentscheidungen des Gerichts
ein Rechtsmittel beim Gerichtshof eingelegt werden kann.
- 31.
- Ferner handelt es sich jedenfalls bei der Auslegung der in Artikel 41 Absatz 1 der
EG-Satzung des Gerichtshofes enthaltenen Wendung „Tatsache von entscheidender
Bedeutung ..., die vor Verkündung des Urteils dem Gerichtshof und der die
Wiederaufnahme beantragenden Partei unbekannt war“, um eine Rechtsfrage, die
im Rechtsmittelverfahren geprüft werden kann.
- 32.
- Schließlich könnten sich einige der verschiedenen von der Rechtsmittelführerin
vorgebrachten Rechtsmittelgründe vorbehaltlich ihrer Einzelprüfung auch auf
andere, mit Verfahrensfehlern oder einer Verletzung des Gemeinschaftsrechts im
Sinne von Artikel 51 Absatz 1 der EG-Satzung des Gerichtshofes
zusammenhängende Rechtsfragen beziehen, die nach der genannten Vorschrift
Gegenstand eines Rechtsmittels sein können.
- 33.
- Die von der Kommission erhobene Einrede der Unzulässigkeit ist somit
zurückzuweisen, soweit sie sich auf das Rechtsmittel insgesamt bezieht.
- 34.
- Hilfsweise macht die Kommission geltend, jedenfalls der Antrag der
Rechtsmittelführerin, die Kommission zur Rückzahlung der Geldbuße zu
verpflichten, sei unzulässig, da weder der Gerichtshof noch das Gericht eine solche
Anordnung im Rahmen von Artikel 173 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel
230 EG) erlassen könnte.
- 35.
- Der genannte Antrag der Rechtsmittelführerin setzt voraus, daß der Gerichtshof
dem Rechtsmittel stattgibt, den angefochtenen Beschluß aufhebt, über die
Zulässigkeit des Antrags auf Wiederaufnahme des durch das oben genannte Urteil
DSM/Kommission abgeschlossenen Verfahrens entscheidet, diesen für zulässig
erklärt, ihn in der Sache prüft und ihm stattgibt sowie die in der ersten Instanz
erhobene Nichtigkeitsklage prüft. Insoweit würde der Gerichtshof nach Artikel 17
der Verordnung Nr. 17 über die Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung im Sinne
von Artikel 229 EG (früher Artikel 172) verfügen.
- 36.
- Nach ständiger Rechtsprechung sind die Gemeinschaftsgerichte im Rahmen der auf
Artikel 173 EG-Vertrag gestützten Rechtmäßigkeitskontrolle nicht befugt,
Anordnungen zu erlassen (siehe u. a. Beschluß vom 26. Oktober 1995 in den
Rechtssachen C-199/94 P und C-200/94 P, Slg. 1995, I-3709, Randnr. 24). Ebenso
verhält es sich, wenn ein Gemeinschaftsgericht die Befugnis zu unbeschränkter
Nachprüfung gemäß Artikel 229 EG hat.
- 37.
- Somit ist das Rechtsmittel unzulässig, soweit es darauf gerichtet ist, die Kommission
zur Rückzahlung der von der Rechtsmittelführerin gezahlten Geldbuße zu
verpflichten.
Zur Begründetheit
Zum ersten und zum zweiten Rechtsmittelgrund: Verletzung des Gemeinschaftsrechts
durch unrichtige Auslegung von Artikel 41 der EG-Satzung des Gerichtshofes und
Verstoß gegen die Begründungspflicht, weil das Gericht die Tatsachen im Sinne von
Artikel 41 der EG-Satzung des Gerichtshofes nur hinsichtlich der in den
Randnummern 6 und 15 des angefochtenen Beschlusses angeführten Tatsachen geprüft
habe
- 38.
- Mit ihrem ersten Rechtsmittelgrund macht die Rechtsmittelführerin geltend, die
Randnummern 14 und 15 des angefochtenen Beschlusses beruhten auf einer
unrichtigen Auslegung des Artikels 41 der EG-Satzung des Gerichtshofes, der nach
Artikel 46 dieser Satzung auch für das Wiederaufnahmeverfahren vor dem Gericht
gilt.
- 39.
- Dieser Rechtsmittelgrund ist in drei Teile untergliedert. Erstens ergebe sich die in
Randnummer 14 des angefochtenen Beschlusses erwähnte Voraussetzung der
Vorzeitigkeit der zu einem Wiederaufnahmeantrag berechtigenden Tatsachen nicht
aus Artikel 41 der EG-Satzung des Gerichtshofes; darin werde lediglich die
Voraussetzung aufgestellt, daß die angeführte Tatsache vor Verkündung des Urteils
dem Gericht und der die Wiederaufnahme beantragenden Partei unbekannt sein
müsse. Zweitens habe das Gericht seine Prüfung zu Unrecht auf die Voraussetzung
der Unbekanntheit beschränkt, ohne die vorgeschaltete Voraussetzung des
Bekanntwerdens einer neuen Tatsache zu prüfen. Drittens sei nicht dargetan, daß
die Tatsachen im Sinne des genannten Artikels 41 schon bekannt gewesen seien,d. h. daß sie für das Gericht und die Antragstellerin in Form einer Dokumentation
und von Informationen verfügbar gewesen seien. Ihr an die Kommission gerichteter
Antrag vom 5. Mai 1992 sei gerade dahin gegangen, eine solche Dokumentation
zu erlangen, und ihr im Rahmen des Wiederaufnahmeverfahrens gestellter Antrag,
Beweiserhebungen anzuordnen, habe im gleichen Zusammenhang gestanden. Das
Gericht habe dadurch, daß es keine dahin gehende Prüfung vorgenommen habe,
Artikel 41 der EG-Satzung des Gerichtshofes unrichtig ausgelegt.
- 40.
- Mit ihrem zweiten Rechtsmittelgrund macht die Rechtsmittelführerin geltend, das
Gericht habe dadurch gegen das Gemeinschaftsrecht und insbesondere die
Begründungspflicht verstoßen, daß es seine Prüfung auf die in den Randnummern
6 und 15 des angefochtenen Beschlusses angeführten „Tatsachen“ betreffend die
fehlende Beratung des Kommissionskollegiums über den Wortlaut der mitgeteilten
Polypropylen-Entscheidung und insbesondere über deren niederländische Fassung
sowie weitere im PVC-Urteil aufgeführte Mängel beschränkt und ferner außer
acht gelassen habe, daß im Wiederaufnahmeantrag verschiedene neue „Tatsachen“
genannt gewesen seien, die durch die beantragten Beweiserhebungen hätten geklärt
werden sollen.
- 41.
- Zum ersten Teil des ersten Rechtsmittelgrundes genügt es festzustellen, daß das
Gericht in Randnummer 14 des angefochtenen Beschlusses zwar die Voraussetzung
der Vorzeitigkeit der zu einem Wiederaufnahmeantrag berechtigenden Tatsachen
angesprochen, aber weder aus dieser Voraussetzung eine Konsequenz gezogen
noch auf sie die Ablehnung des Wiederaufnahmeantrags der Rechtsmittelführerin
gestützt hat. Daher ist diese Rüge unerheblich und nicht vom Gerichtshof zu
prüfen.
- 42.
- Was den zweiten Teil des ersten Rechtsmittelgrundes angeht, so ergibt sich aus
dem Wortlaut des Artikels 41 der EG-Satzung des Gerichtshofes gerade, daß ein
Wiederaufnahmeantrag nur zulässig sein kann, wenn die angeführte Tatsache der
die Wiederaufnahme beantragenden Partei bei Verkündung des Urteils unbekannt
war. Das Gericht hat daher zu Recht festgestellt, daß wegen Nichterfüllung dieser
Voraussetzung nicht geprüft zu werden brauchte, ob die angeführten Tatsachen neu
waren.
- 43.
- Schließlich ist zum dritten Teil des ersten Rechtsmittelgrundes und zum zweiten
Rechtsmittelgrund, die zweckmäßigerweise zusammen zu prüfen sind, darauf
hinzuweisen, daß nach Artikel 41 Absatz 1 der EG-Satzung des Gerichtshofes ein
Wiederaufnahmeantrag darauf gestützt sein muß, daß eine oder mehrere Tatsachen
bekannt geworden sind. Nach Absatz 2 dieser Bestimmung kann das angerufene
Gericht die Sache nur dann materiell prüfen, wenn es das Vorliegen der neuen
Tatsache feststellt, ihr die für die Eröffnung des Wiederaufnahmeverfahrens
erforderlichen Merkmale zuerkennt und deshalb den Antrag für zulässig erklärt.
- 44.
- Solange das Vorliegen einer neuen Tatsache nicht festgestellt worden ist, kann das
angerufene Gericht somit nicht mit Hilfe des Wiederaufnahmeverfahrens dazu
veranlaßt werden, neue Beweiserhebungen durchzuführen. Im übrigen hätte die
Rechtsmittelführerin im vorliegenden Fall schon im Hauptsacheverfahren die
Beweiserhebungen beantragen können, um die sie anläßlich der Wiederaufnahme
ersucht hat. Daher hat das Gericht Artikel 41 der EG-Satzung des Gerichtshofes
richtig angewandt, als es die Anordnung von Beweiserhebungen zur Entdeckung
neuer Tatsachen abgelehnt hat, deren Vorliegen die Rechtsmittelführerin in ihrem
Antrag nicht dargetan hatte; auch hat es seine Prüfung zu Recht auf die Tatsachen
beschränkt, die die Rechtsmittelführerin in ihrem Wiederaufnahmeantrag angeführt
hatte.
- 45.
- Somit sind der erste und der zweite Rechtsmittelgrund zurückzuweisen.
Zum dritten Rechtsmittelgrund: Verstoß gegen die Begründungspflicht, weil das Gericht
die Änderungen und Ergänzungen der zugestellten Fassung der
Polypropylen-Entscheidung gegenüber der von der Kommission angenommenen
Fassung als „neue Tatsachen“ bewertet habe
- 46.
- Die Rechtsmittelführerin weist darauf hin, daß sie in ihren Wiederaufnahmeantrag
eine eingehende Aufstellung der möglichen Änderungen am Wortlaut der
Polypropylen-Entscheidung aufgenommen habe, bei der sie sich auf Unterschiede
in den Schrifttypen gestützt habe, die in der zugestellten Fassung verwendet worden
seien. Sie habe nicht geltend gemacht, daß diese mutmaßlichen Änderungen und
Ergänzungen eine im Sinne des PVC-Urteils als besonders schwer und offenkundig
anzusehende Tatsache seien, denn diese neue Tatsache könnte nur anhand der
authentischen Fassung zutage gebracht werden, die von der Kommission zur
Verfügung gestellt werden müßte. Mangels einer solchen Feststellungsmöglichkeit
sei die Äußerung des Gerichts, daß die fraglichen Unterschiede in den Schrifttypen
der Rechtsmittelführerin von der Mitteilung der Entscheidung an bekannt gewesen
seien, irrelevant. Gleiches gelte für ihre anderen Hinweise, so z. B. für die
nichtfortlaufende Seitennumerierung, die Überschrift „Entscheidungsentwurf der
Kommission vom 23. Mai 1986“ auf dem Deckblatt und den mußmaßlichen
Zeitablauf zwischen dem Erlaß und der Übermittlung der
Polypropylen-Entscheidung. Auch handele es sich um Vermutungen, nicht um
nachgewiesene Tatsachen; deren Nachweis sei nur anhand der bei der Kommission
angeforderten Dokumentation möglich. Somit sei die Annahme des Gerichts
insoweit in tatsächlicher Hinsicht unzutreffend, da es sich um Tatsachen handele,
die bis heute dem Gericht und ihr selbst unbekannt seien.
- 47.
- Soweit dieser Rechtsmittelgrund die vom Gericht durchgeführte Prüfung der
Unterschiede in den Schrifttypen in der am 30. Mai 1986 mitgeteilten Fassung der
Polypropylen-Entscheidung betreffen sollte, ist lediglich festzustellen, daß diese
Tatsachen von der Rechtsmittelführerin in ihrem Antrag angeführt wurden und das
Gericht daher, wie es das getan hat, über sie zu entscheiden hatte.
- 48.
- Soweit die Rechtsmittelführerin rügt, das Gericht habe keine anderen als die im
Wiederaufnahmeantrag angeführten Tatsachen geprüft, deckt sich dieser
Rechtsmittelgrund mit dem dritten Teil des ersten Rechtsmittelgrundes und dem
zweiten Rechtsmittelgrund und ist aus denselben Gründen zurückzuweisen.
- 49.
- Somit ist der dritte Rechtsmittelgrund zurückzuweisen.
Zum vierten Rechtsmittelgrund: Verstoß gegen die Begründungspflicht, weil das Gericht
unter Berufung auf die Ausführungen in der mündlichen Verhandlung in den
PVC-Sachen angenommen habe, daß die nachträglichen Änderungen und
Ergänzungen der Rechtsmittelführerin bekannt gewesen seien
- 50.
- Mit dem ersten Teil dieses Rechtsmittelgrundes macht die Rechtsmittelführerin
geltend, die Erklärung des Vertreters der Kommission in der mündlichen
Verhandlung in den PVC-Sachen, daß Artikel 12 der Geschäftsordnung der
Kommission nicht angewandt worden sei, habe eine andere Sache betroffen und
sage nichts über die Möglichkeit aus, daß Änderungen an der
Polypropylen-Entscheidung vorgenommen worden seien. Die Ausführung des
Gerichts in Randnummer 18 des angefochtenen Beschlusses, daß die
Rechtsmittelführerin die von ihr angeführten Tatsachen vor Verkündung des
Urteils im Rahmen der Verhandlungen in den PVC-Sachen erfahren habe, sei
daher unerheblich und in tatsächlicher Hinsicht unzutreffend.
- 51.
- Mit dem zweiten Teil macht die Rechtsmittelführerin geltend, sie sei nicht
verpflichtet gewesen, die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung zu
beantragen, da das Gericht nach Artikel 62 seiner Verfahrensordnung eine solche
Wiedereröffnung von sich aus anordnen könne. Das Gericht sei im vorliegenden
Fall sogar gehalten gewesen, dies von Amts wegen zu prüfen. Überdies hätte ein
Wiedereröffnungsantrag keine praktischen Konsequenzen gehabt, da das Urteil,
dessen Verkündung auf den 17. Dezember 1991 festgesetzt gewesen sei, bis zum
10. Dezember 1991 dem Tag der mündlichen Verhandlung in den PVC-Sachen
unbestreitbar bereits eine endgültige Form angenommen habe.
- 52.
- Nach den Artikeln 225 EG (früher Artikel 168a) und 51 Absatz 1 der EG-Satzung
des Gerichtshofes kann ein Rechtsmittel nur auf die Verletzung von
Rechtsvorschriften durch das Gericht, nicht aber auf die Würdigung von Tatsachen
gestützt werden. Demnach hat die Kommission zu Recht darauf hingewiesen, daß
die Rechtsmittelführerin mit diesem Teil ihres vierten Rechtsmittelgrundes eine
Tatsachenfeststellung des Gerichts beanstandet und das Rechtsmittel daher insoweit
unzulässig ist.
- 53.
- Soweit mit dem zweiten Teil dieses Rechtsmittelgrundes gerügt wird, daß das
Gericht nicht von sich aus die mündliche Verhandlung wiedereröffnet habe, richtet
sich dies nicht gegen den angefochtenen Beschluß, sondern gegen das Urteil
DSM/Kommission, das nicht Gegenstand dieses Rechtsmittelverfahrens ist.
- 54.
- Der vierte Rechtsmittelgrund ist daher ebenfalls zurückzuweisen.
Zum fünften Rechtsmittelgrund: Verstoß gegen die Begründungspflicht, weil das Gericht
die von der Rechtsmittelführerin erwähnten Änderungen und Ergänzungen sowie deren
Tragweite als „so offenkundig“ und als rechtserhebliche „Tatsachen“ bewertet habe
- 55.
- Unter Hinweis auf Randnummer 19 des angefochtenen Beschlusses vertritt die
Rechtsmittelführerin die Ansicht, das Gericht habe dadurch gegen die
Begründungspflicht verstoßen, als es die von ihr erwähnten Änderungen und
Ergänzungen sowie deren Tragweite als „so offenkundig“ und als rechtserhebliche
Tatsachen bewertet habe. Die Bewertung der angeblichen Tatsachen als so
offenkundig sei rechtlich unerheblich und in tatsächlicher Hinsicht unzutreffend.
- 56.
- Soweit mit diesem Rechtsmittelgrund gerügt wird, daß das Gericht die von der
Rechtsmittelführerin erwähnten Änderungen und Ergänzungen als hinreichend
offenkundig beurteilt habe, bezieht sich diese Rüge auf Tatsachenfragen, die als
solche im Rechtsmittelverfahren nicht geprüft werden dürfen.
- 57.
- Soweit beanstandet wird, daß das Gericht die genannten Änderungen und
Ergänzungen als erheblich angesehen habe, genügt es festzustellen, daß die
Rechtsmittelführerin sich in ihrem Antrag auf sie berufen hatte, so daß dem
Gericht ihre Prüfung oblag.
- 58.
- Somit ist der fünfte Rechtsmittelgrund zurückzuweisen.
Zum sechsten Rechtsmittelgrund: Verstoß gegen die Begründungspflicht, weil das
Gericht das PVC-Urteil als solches sowie ein Schreiben der Rechtsmittelführerin an die
Kommission und dessen Nichtbeantwortung als unerheblich angesehen habe
- 59.
- Die Rechtsmittelführerin trägt vor, das Gericht habe dadurch gegen seine
Begründungspflicht verstoßen, daß es in Randnummer 20 des angefochtenen
Beschlusses die Ansicht vertreten habe, daß das PVC-Urteil als solches sowie das
der Kommission am 5. Mai 1992 übersandte Schreiben und dessen
Nichtbeantwortung unerheblich seien. Das Schreiben an die Kommission sei aber
insbesondere auf die Erlangung der Dokumentation gerichtet gewesen, durch die
sie von den ihr bis dahin unbekannten Tatsachen hätte Kenntnis erlangen können,
und sei daher erheblich. Die Parteien könnten die Wiederaufnahme eines
Verfahrens beantragen, wenn sie Grund zu der Annahme hätten, daß neue
Tatsachen von entscheidender Bedeutung für den Verfahrensausgang vorlägen.
- 60.
- Die in Randnummer 20 des angefochtenen Beschlusses geäußerte Ansicht, daß die
Rechtsmittelführerin durch das PVC-Urteil sowie das der Kommission am 5. Mai
1992 von ihr übersandte Schreiben und die Tatsache, daß dieses unbeantwortet
geblieben sei, nicht von Tatsachen Kenntnis erlangt habe, die ihr bis dahin
unbekannt gewesen seien, ist eine Tatsachenfeststellung, die der Zuständigkeit des
Gerichtshofes im Rechtsmittelverfahren entzogen ist.
- 61.
- Außerdem ergibt sich aus Artikel 41 der EG-Satzung des Gerichtshofes
ausdrücklich, daß ein Wiederaufnahmeantrag nur darauf gestützt werden kann, daß
eine Tatsache bekanntwird. Zu Recht hat das Gericht daher angenommen, daß
bloße Vermutungen, die noch im Rahmen einer Beweisaufnahme zu überprüfen
waren, im Rahmen eines Wiederaufnahmeverfahrens unerheblich seien.
- 62.
- Der sechste Rechtsmittelgrund ist daher zurückzuweisen.
Zum siebten und achten Rechtsmittelgrund: Verstoß gegen die Begründungspflicht und
Verletzung des Gleichheitssatzes, weil das Gericht anders als in den PVC-Sachen den
Wiederaufnahmeantrag nicht in der Sache geprüft habe
- 63.
- Mit ihrem siebten Rechtsmittelgrund macht die Rechtsmittelführerin geltend, das
Gericht habe gegen die Begründungspflicht verstoßen, weil es im Gegensatz zu
seiner Rechtsprechung auf diesem Gebiet den Wiederaufnahmeantrag nicht in der
Sache geprüft habe.
- 64.
- Mit ihrem achten Klagegrund macht die Rechtsmittelführerin geltend, das Gericht
habe den Gleichheitssatz verletzt, weil es im Unterschied zu seinem Vorgehen in
den PVC-Sachen den Wiederaufnahmeantrag nicht auf der Grundlage ihrer
Angaben in der Sache geprüft habe. Die vom Gericht in den PVC-Sachen
angeordneten Beweiserhebungen unterschieden sich nicht von ihren
Auskunftsersuchen.
- 65.
- Diese Rechtsmittelgründe, die zweckmäßigerweise zusammen zu prüfen sind,
beruhen auf einer unzutreffenden Analyse des Wiederaufnahmeverfahrens. Artikel
41 Absatz 2 der EG-Satzung des Gerichtshofes sieht nämlich ausdrücklich vor, daß
das Wiederaufnahmeverfahren durch eine Entscheidung eröffnet wird, die das
Vorliegen der neuen Tatsache ausdrücklich feststellt, ihr die für die Eröffnung des
Wiederaufnahmeverfahrens erforderlichen Merkmale zuerkennt und deshalb den
Antrag für zulässig erklärt. Nach Artikel 127 § 2 der Verfahrensordnung des
Gerichts entscheidet dieses „[a]ufgrund der schriftlichen Stellungnahmen der
Parteien ... über die Zulässigkeit des Antrags, ohne der Entscheidung in der
Hauptsache vorzugreifen“. Nach Artikel 127 § 3 tritt das Gericht nur dann in die
Prüfung der Hauptsache ein, wenn es dem Antrag stattgibt.
- 66.
- Diese Gliederung des Verfahrens in zwei Stadien, von denen das erste die
Zulässigkeit und das zweite die Sache betrifft, erklärt sich aus der Strenge der
Voraussetzungen für die Eröffnung des Wiederaufnahmeverfahrens, die ihrerseits
dadurch verständlich wird, daß die Wiederaufnahme die Rechtskraft eines Urteils
beseitigt (Urteil vom 10. Januar 1980 in der Rechtssache 116/78 rev., Bellintani
u. a./Kommission, Slg. 1980, 23, Randnr. 3).
- 67.
- Daher ist nicht zu beanstanden, daß das Gericht lediglich über die Zulässigkeit des
Antrags entschieden und kein Argument aus der Art und Weise seines Vorgehens
in den PVC-Sachen hergeleitet hat.
- 68.
- Der siebte und der achte Rechtsmittelgrund sind somit zurückzuweisen.
Zum neunten Rechtsmittelgrund: Verletzung des Gleichheitssatzes, weil das Gericht die
durch das Polypropylenverfahren betroffenen Unternehmen je nach dem Zeitpunkt des
Urteilserlasses unterschiedlich behandelt habe
- 69.
- Die Rechtsmittelführerin macht geltend, das Gericht habe den Gleichheitssatz
verletzt, weil es die durch das Polypropylenverfahren betroffenen Unternehmen je
nach dem Zeitpunkt des Urteilserlasses unterschiedlich behandelt habe. In drei
Fällen sei das Urteil am 24. Oktober 1991, in vier Fällen am 17. Dezember 1991
und in sieben Fällen am 10. März 1992 ergangen. Die letztgenannten Unternehmen
hätten so gestützt auf aus dem PVC-Urteil abgeleitete Gründe ein Rechtsmittel
einlegen können. Da es sich um verbundene Sachen gehandelt habe, sei dieser
Unterschied in der Behandlung um so wichtiger, als die Parteien keinen Einfluß auf
die Terminierung der Entscheidungen des Gerichts hätten nehmen können. In
Randnummer 18 des angefochtenen Beschlusses werde diese Ungleichheit
eingeräumt, doch werde aus ihr mit der Begründung, daß die Rechtsmittelführerin
die fraglichen Tatsachen schon vor der Verkündung des Urteils gekannt habe,
keine Konsequenz gezogen. Diese Beurteilung sei nicht nur rechtlich unerheblich
und in tatsächlicher Hinsicht falsch, sondern auch zur Rechtfertigung der
Ungleichbehandlung ungeeignet.
- 70.
- Die Rüge, daß das Gericht in zusammenhängenden Sachen nicht am selben Tag
seine Urteile verkündet habe, betrifft das mit dem Urteil DSM/Kommission
abgeschlossene Hauptsacheverfahren und nicht das Wiederaufnahmeverfahren, das
zu dem mit dem vorliegenden Rechtsmittel angefochtenen Beschluß geführt hat.
- 71.
- Soweit mit dieser Rüge aber die Feststellung des Gerichts beanstandet wird, daß
die Rechtsmittelführerin die zur Begründung des Wiederaufnahmeantrags
angeführten Tatsachen vor der Verkündung des Urteils in dem Verfahren gekannt
habe, dessen Wiederaufnahme beantragt wurde, bezieht sie sich auf
Tatsachenfragen und ist daher im Rechtsmittelverfahren nicht zulässig.
- 72.
- Somit ist der neunte Rechtsmittelgrund zurückzuweisen.
Zum zehnten Rechtsmittelgrund: Verletzung des Gemeinschaftsrechts, weil das Gericht
nicht beachtet habe, daß jede Rüge bezüglich der Inexistenz eines Rechtsakts eines
Gemeinschaftsorgans zum Ordre public gehöre
- 73.
- Die Rechtsmittelführerin macht geltend, das Gericht habe das Gemeinschaftsrecht
verletzt, weil es nicht beachtet habe, daß jede Rüge bezüglich der Inexistenz eines
Rechtsakts der Gemeinschaftsorgane zum Ordre public gehöre, daß die Parteien
sie ohne Bindung an eine Frist vorbringen könnten und daß das
Gemeinschaftsgericht sie von Amts wegen zu prüfen habe. Im PVC-Urteil habe das
Gericht die Ansicht vertreten, daß eine Rüge bezüglich der Inexistenz eines
Rechtsakts der Gemeinschaftsorgane zum Ordre public gehöre, daß die Parteien
sie ohne Fristbindung im Laufe des Verfahrens erheben könnten und daß das
Gemeinschaftsgericht sie von Amts wegen zu prüfen habe. Der Kläger könne diese
Rüge daher in jedem Verfahrensstadium und damit auch nach der Verkündung des
Urteils ohne Bindung an eine Frist vorbringen, und das Gericht habe sie in der
Sache zu prüfen. Soweit es dazu einer Beweisaufnahme bedürfe, habe das Gericht
sie vorzunehmen.
- 74.
- Es brauchen weder die im PVC-Urteil zugrunde gelegte Auslegung des Begriffes
der Inexistenz noch die Voraussetzungen geprüft zu werden, unter denen die
Inexistenz eines Rechtsakts im Rahmen eines Rechtsstreits wegen Nichtigerklärung
festgestellt werden kann. Es genügt festzustellen, daß das Gericht im angefochtenen
Beschluß nur über die Zulässigkeit des Antrags auf Wiederaufnahme des mit dem
Urteil DSM/Kommission abgeschlossenen Verfahrens zu entscheiden hatte und in
diesem Rahmen nicht über die Polypropylen-Entscheidung befinden mußte.
- 75.
- Der zehnte Rechtsmittelgrund ist zurückzuweisen.
- 76.
- Da nach alledem keiner der angeführten Rechtsmittelgründe durchgreift, ist das
Rechtsmittel insgesamt zurückzuweisen.
Kosten
- 77.
- Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung, der nach Artikel 118 auf das
Rechtsmittelverfahren anwendbar ist, ist die unterliegende Partei auf Antrag zur
Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Rechtsmittelführerin mit ihrem
Vorbringen unterlegen ist, sind ihr die Kosten des Rechtsmittelverfahrens
aufzuerlegen.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Das Rechtsmittel wird zurückgewiesen.
2. Die Rechtsmittelführerin trägt die Kosten.
Kapteyn Hirsch Mancini
Murray Ragnemalm
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Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 8. Juli 1999.
Der Kanzler
Der Präsident der Sechsten Kammer
R. Grass
P. J. G. Kapteyn