Language of document : ECLI:EU:C:2024:47

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

16. Januar 2024(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Gemeinsame Politik im Bereich Asyl – Richtlinie 2011/95/EU – Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft – Art. 2 Buchst. d – Verfolgungsgründe – ‚Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe‘ – Art. 10 Abs. 1 Buchst. d – Verfolgungshandlungen – Art. 9 Abs. 1 und 2 – Verknüpfung zwischen den Verfolgungsgründen und den Verfolgungshandlungen oder zwischen den Verfolgungsgründen und dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen – Art. 9 Abs. 3 – Nichtstaatliche Akteure – Art. 6 Buchst. c – Voraussetzungen für subsidiären Schutz – Art. 2 Buchst. f – ‚Ernsthafter Schaden‘ – Art. 15 Buchst. a und b – Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz im Hinblick auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder des subsidiären Schutzstatus – Art. 4 – Geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen – Häusliche Gewalt – Drohung mit einem ‚Ehrenverbrechen‘“

In der Rechtssache C‑621/21

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Administrativen sad Sofia-grad (Verwaltungsgericht Sofia-Stadt, Bulgarien) mit Entscheidung vom 29. September 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 6. Oktober 2021, in dem Verfahren

WS

gegen

Intervyuirasht organ na Darzhavna agentsia za bezhantsite pri Ministerskia savet,

Beteiligter:

Predstavitelstvo na Varhovnia komisar na Organizatsiyata na obedinenite natsii za bezhantsite v Bulgaria,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen, der Kammerpräsidentin K. Jürimäe, der Kammerpräsidenten C. Lycourgos, E. Regan, F. Biltgen und N. Piçarra (Berichterstatter), der Richter M. Safjan, S. Rodin und P. G. Xuereb, der Richterin I. Ziemele, der Richter J. Passer und D. Gratsias, der Richterin M. L. Arastey Sahún und des Richters M. Gavalec,

Generalanwalt: J. Richard de la Tour,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von WS, vertreten durch V. B. Ilareva, Advokat,

–        des Predstavitelstvo na Varhovnia komisar na Organizatsiyata na obedinenite natsii za bezhantsite v Bulgaria (Vertretung des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge in Bulgarien), vertreten durch M. Demetriou, J. MacLeod, BL, und C. F. Kroes, Advocaat,

–        der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und R. Kanitz als Bevollmächtigte,

–        der französischen Regierung, vertreten durch A.‑L. Desjonquères und J. Illouz als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Azéma und I. Zaloguin als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 20. April 2023

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des 17. Erwägungsgrundes sowie von Art. 6 Buchst. c, Art. 9 Abs. 2 Buchst. a und f, Art. 9 Abs. 3, Art. 10 Abs. 1 Buchst. d und Art. 15 Buchst. a und b der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9, berichtigt in ABl. 2017, L 167, S. 58).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen WS und dem Intervyuirasht organ na Darzhavna agentsia za bezhantsite pri Ministerskia savet (Anhörungsstelle der staatlichen Agentur für Flüchtlinge beim Ministerrat) (im Folgenden: DAB) wegen einer Entscheidung, mit der die Einleitung eines Verfahrens zur Gewährung internationalen Schutzes auf einen Folgeantrag von WS hin abgelehnt wurde.

 Rechtlicher Rahmen

 Völkerrecht

 Genfer Flüchtlingskonvention

3        Art. 1 Abschnitt A Ziff. 2 des am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichneten Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (United Nations Treaty Series, Bd. 189, S. 150, Nr. 2545 [1954]), das am 22. April 1954 in Kraft getreten ist und durch das am 31. Januar 1967 in New York abgeschlossene und am 4. Oktober 1967 in Kraft getretene Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge ergänzt wurde (im Folgenden: Genfer Flüchtlingskonvention), bestimmt, dass „[i]m Sinne dieses Abkommens … der Ausdruck ‚Flüchtling‘ auf jede Person Anwendung [findet,] … die … aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will“.

 CEDAW

4        Laut Art. 1 des Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (im Folgenden: CEDAW), das von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 18. Dezember 1979 verabschiedet wurde, am 3. September 1981 in Kraft trat (United Nations Treaty Series, Bd. 1249, Nr. I‑20378, S. 13) und dem alle Mitgliedstaaten beigetreten sind, „bezeichnet [in diesem Übereinkommen] der Ausdruck ‚Diskriminierung der Frau‘ jede mit dem Geschlecht begründete Unterscheidung, Ausschließung oder Beschränkung, die zur Folge oder zum Ziel hat, dass die auf die Gleichberechtigung von Mann und Frau gegründete Anerkennung, Inanspruchnahme oder Ausübung der Menschenrechte und Grundfreiheiten durch die Frau – ungeachtet ihres Familienstands – im politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen, staatsbürgerlichen oder jedem sonstigen Bereich beeinträchtigt oder vereitelt wird“.

 Übereinkommen von Istanbul

5        Art. 2 des Übereinkommens des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, das am 11. Mai 2011 in Istanbul geschlossen, am 13. Juni 2017 von der Europäischen Union unterzeichnet, in deren Namen mit dem Beschluss (EU) 2023/1076 des Rates vom 1. Juni 2023 (ABl. 2023, L 143 I, S. 4) genehmigt wurde (im Folgenden: Übereinkommen von Istanbul) und, was die Union betrifft, am 1. Oktober 2023 in Kraft trat, sieht vor:

„1      Dieses Übereinkommen findet Anwendung auf alle Formen von Gewalt gegen Frauen, einschließlich der häuslichen Gewalt, die Frauen unverhältnismäßig stark betrifft.

2      Die Vertragsparteien werden ermutigt, dieses Übereinkommen auf alle Opfer häuslicher Gewalt anzuwenden. Die Vertragsparteien richten bei der Durchführung dieses Übereinkommens ein besonderes Augenmerk auf Frauen, die Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt geworden sind.

…“

6        In Art. 60 („Asylanträge aufgrund des Geschlechts“) des Übereinkommens von Istanbul heißt es:

„1      Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass Gewalt gegen Frauen aufgrund des Geschlechts als eine Form der Verfolgung im Sinne des Artikels 1 Abschnitt A Ziffer 2 [der Genfer Flüchtlingskonvention] und als eine Form schweren Schadens anerkannt wird, die einen ergänzenden/subsidiären Schutz begründet.

2      Die Vertragsparteien stellen sicher, dass alle im Abkommen aufgeführten Gründe geschlechtersensibel ausgelegt werden und dass in Fällen, in denen festgestellt wird, dass die Verfolgung aus einem oder mehreren dieser Gründe befürchtet wird, den Antragstellerinnen und Antragstellern der Flüchtlingsstatus entsprechend den einschlägigen anwendbaren Übereinkünften gewährt wird.

…“

 Unionsrecht

7        In den Erwägungsgründen 4, 10, 12, 17, 29, 30 und 34 der Richtlinie 2011/95 heißt es:

„(4)      Die Genfer Flüchtlingskonvention und das Protokoll stellen einen wesentlichen Bestandteil des internationalen Rechtsrahmens für den Schutz von Flüchtlingen dar.

(10)      … [Es] empfiehlt … sich in dieser Phase, die der Richtlinie 2004/83/EG [des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2004, L 304, S. 12)] zugrunde liegenden Prinzipien zu bestätigen sowie eine stärkere Angleichung der Vorschriften zur Zuerkennung und zum Inhalt des internationalen Schutzes auf der Grundlage höherer Standards anzustreben.

(12)      Das wesentliche Ziel dieser Richtlinie besteht darin, einerseits zu gewährleisten, dass die Mitgliedstaaten gemeinsame Kriterien zur Bestimmung der Personen anwenden, die tatsächlich Schutz benötigen, und andererseits sicherzustellen, dass diesen Personen in allen Mitgliedstaaten ein Mindestniveau von Leistungen geboten wird.

(17)      In Bezug auf die Behandlung von Personen, die unter diese Richtlinie fallen, sind die Mitgliedstaaten an ihre Verpflichtungen aus den völkerrechtlichen Instrumenten gebunden, denen sie beigetreten sind, einschließlich insbesondere derjenigen, nach denen eine Diskriminierung verboten ist.

(29)      Eine der Voraussetzungen für die Flüchtlingseigenschaft im Sinne von Artikel 1 Abschnitt A der Genfer Flüchtlingskonvention ist das Bestehen eines Kausalzusammenhangs zwischen den Gründen der Verfolgung, nämlich Rasse, Religion, Nationalität, politische Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, und den Verfolgungshandlungen oder dem fehlenden Schutz vor solchen Handlungen.

(30)      Es ist ebenso notwendig, einen gemeinsamen Ansatz für den Verfolgungsgrund ‚Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe‘ zu entwickeln. Bei der Definition einer bestimmten sozialen Gruppe sind die Aspekte im Zusammenhang mit dem Geschlecht des Antragstellers, einschließlich seiner geschlechtlichen Identität und sexuellen Orientierung, die mit bestimmten Rechtstraditionen und Bräuchen im Zusammenhang stehen können, wie z. B. Genitalverstümmelungen, Zwangssterilisationen oder erzwungene Schwangerschaftsabbrüche, angemessen zu berücksichtigen, soweit sie in Verbindung mit der begründeten Furcht des Antragstellers vor Verfolgung stehen.

(34)      Es müssen gemeinsame Kriterien eingeführt werden, die als Grundlage für die Anerkennung von Personen, die internationalen Schutz beantragen, als Anspruchsberechtigte auf subsidiären Schutz dienen. Diese Kriterien sollten völkerrechtlichen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten aus Rechtsakten im Bereich der Menschenrechte und bestehenden Praktiken in den Mitgliedstaaten entsprechen.“

8        In Art. 2 Buchst. a, d bis i und n der Richtlinie 2011/95 heißt es:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

a)      ‚internationaler Schutz‘ die Flüchtlingseigenschaft und den subsidiären Schutzstatus im Sinne der Buchstaben e und g;

d)      ‚Flüchtling‘ einen Drittstaatsangehörigen, der aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will …

e)      ‚Flüchtlingseigenschaft‘ die Anerkennung eines Drittstaatsangehörigen oder eines Staatenlosen als Flüchtling durch einen Mitgliedstaat;

f)      ‚Person mit Anspruch auf subsidiären Schutz‘ einen Drittstaatsangehörigen oder einen Staatenlosen, der die Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling nicht erfüllt, der aber stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass er bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland oder, bei einem Staatenlosen, in das Land seines vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts tatsächlich Gefahr liefe, einen ernsthaften Schaden im Sinne des Artikel[s] 15 zu erleiden, und auf den Artikel 17 Absätze 1 und 2 keine Anwendung findet und der den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Gefahr nicht in Anspruch nehmen will;

g)      ‚subsidiärer Schutzstatus‘ die Anerkennung eines Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen durch einen Mitgliedstaat als Person, die Anspruch auf subsidiären Schutz hat;

h)      ‚Antrag auf internationalen Schutz‘ das Ersuchen eines Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen um Schutz durch einen Mitgliedstaat, wenn davon ausgegangen werden kann, dass der Antragsteller die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder die Gewährung des subsidiären Schutzstatus anstrebt, und wenn er nicht ausdrücklich um eine andere, gesondert zu beantragende Form des Schutzes außerhalb des Anwendungsbereichs dieser Richtlinie ersucht;

i)      ‚Antragsteller‘ einen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen, der einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, über den noch keine rechtskräftige Entscheidung ergangen ist;

n)      ‚Herkunftsland‘ das Land oder die Länder der Staatsangehörigkeit oder – bei Staatenlosen – des früheren gewöhnlichen Aufenthalts.“

9        Art. 4 („Prüfung der Tatsachen und Umstände“) in Kapitel II („Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz“) der Richtlinie 2011/95 sieht in den Abs. 3 und 4 vor:

„(3)      Die Anträge auf internationalen Schutz sind individuell zu prüfen, wobei Folgendes zu berücksichtigen ist:

a)      alle mit dem Herkunftsland verbundenen Tatsachen, die zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag relevant sind, einschließlich der Rechts- und Verwaltungsvorschriften des Herkunftslandes und der Weise, in der sie angewandt werden;

b)      die maßgeblichen Angaben des Antragstellers und die von ihm vorgelegten Unterlagen, einschließlich Informationen zu der Frage, ob er verfolgt worden ist bzw. verfolgt werden könnte oder einen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. erleiden könnte;

c)      die individuelle Lage und die persönlichen Umstände des Antragstellers, einschließlich solcher Faktoren wie familiärer und sozialer Hintergrund, Geschlecht und Alter, um bewerten zu können, ob in Anbetracht seiner persönlichen Umstände die Handlungen, denen er ausgesetzt war oder ausgesetzt sein könnte, einer Verfolgung oder einem sonstigen ernsthaften Schaden gleichzusetzen sind;

(4)      Die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ist ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird.“

10      Art. 6 („Akteure, von denen die Verfolgung oder ein ernsthafter Schaden ausgehen kann“) der Richtlinie 2011/95 bestimmt:

„Die Verfolgung bzw. der ernsthafte Schaden kann ausgehen von

a)      dem Staat;

b)      Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen;

c)      nichtstaatlichen Akteuren, sofern die unter den Buchstaben a und b genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung bzw. ernsthaftem Schaden im Sinne des Artikels 7 zu bieten.“

11      In Art. 7 („Akteure, die Schutz bieten können“) der Richtlinie 2011/95 heißt es:

„(1)      Der Schutz vor Verfolgung oder ernsthaftem Schaden kann nur geboten werden

a)      vom Staat oder

b)      von Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen,

sofern sie willens und in der Lage sind, Schutz gemäß Absatz 2 zu bieten.

(2)      Der Schutz vor Verfolgung oder ernsthaftem Schaden muss wirksam und darf nicht nur vorübergehender Art sein. Ein solcher Schutz ist generell gewährleistet, wenn die unter Absatz 1 Buchstaben a und b genannten Akteure geeignete Schritte einleiten, um die Verfolgung oder den ernsthaften Schaden zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung oder einen ernsthaften Schaden darstellen, und wenn der Antragsteller Zugang zu diesem Schutz hat.

…“

12      Art. 9 („Verfolgungshandlungen“) der Richtlinie 2011/95 sieht vor:

„(1)      Um als Verfolgung im Sinne des Artikels 1 Abschnitt A der Genfer Flüchtlingskonvention zu gelten, muss eine Handlung

a)      aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sein, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellt, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Artikel 15 Absatz 2 der [am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten] Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten [(im Folgenden: EMRK)] keine Abweichung zulässig ist, oder

b)      in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der unter Buchstabe a beschriebenen Weise betroffen ist.

(2)      Als Verfolgung im Sinne von Absatz 1 können unter anderem die folgenden Handlungen gelten:

a)      Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt,

f)      Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen …

(3)      Gemäß Artikel 2 Buchstabe d muss eine Verknüpfung zwischen den in Artikel 10 genannten Gründen und den in Absatz 1 des vorliegenden Artikels als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen bestehen.“

13      In Art. 10 („Verfolgungsgründe“) der Richtlinie 2011/95 heißt es:

„(1)      Bei der Prüfung der Verfolgungsgründe berücksichtigen die Mitgliedstaaten Folgendes:

d)      eine Gruppe gilt insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn

–        die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und

–        die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird.

Je nach den Gegebenheiten im Herkunftsland kann als eine bestimmte soziale Gruppe auch eine Gruppe gelten, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Orientierung gründet. Als sexuelle Orientierung dürfen keine Handlungen verstanden werden, die nach dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten als strafbar gelten. Geschlechtsbezogene Aspekte, einschließlich der geschlechtlichen Identität, werden zum Zweck der Bestimmung der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der Ermittlung eines Merkmals einer solchen Gruppe angemessen berücksichtigt;

(2)      Bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, ist es unerheblich, ob der Antragsteller tatsächlich die … sozialen … Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden.“

14      Art. 13 („Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft“) der Richtlinie 2011/95 bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten erkennen einem Drittstaatsangehörigen oder einem Staatenlosen, der die Voraussetzungen der Kapitel II und III erfüllt, die Flüchtlingseigenschaft zu.“

15      Art. 15 („Ernsthafter Schaden“) der Richtlinie 2011/95 sieht vor:

„Als ernsthafter Schaden gilt

a)      die Todesstrafe oder Hinrichtung oder

b)      Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung eines Antragstellers im Herkunftsland …

…“

16      Art. 18 („Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus“) der Richtlinie 2011/95 lautet:

„Die Mitgliedstaaten erkennen einem Drittstaatsangehörigen oder einem Staatenlosen, der die Voraussetzungen der Kapitel II und V erfüllt, den subsidiären Schutzstatus zu.“

 Bulgarisches Recht

17      Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass Art. 8 Abs. 1, 3 bis 5 und 7 des Zakon za ubezhishteto i bezhantsite (Asyl- und Flüchtlingsgesetz, im Folgenden: ZUB) Art. 2 Buchst. d sowie die Art. 6, 7 und 9 der Richtlinie 2011/95 in die bulgarische Rechtsordnung umsetzt und dass Art. 9 Abs. 1 dieses Gesetzes Art. 15 dieser Richtlinie umsetzt.

18      In § 1 Nr. 5 der Zusatzbestimmungen zum ZUB in der seit dem 16. Oktober 2015 geltenden Fassung (DV Nr. 80 von 2015) heißt es, dass die Begriffe „‚Rasse, Religion, Nationalität, eine bestimmte soziale Gruppe und politische Meinung oder Überzeugung‘ … im Sinne der [Genfer Flüchtlingskonvention] und von Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie [2011/95]“ zu verstehen sind.

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

19      WS ist eine türkische Staatsangehörige, die zur ethnischen Gruppe der Kurden gehört und bei der es sich um eine geschiedene sunnitische Muslimin handelt. Im Juni 2018 reiste sie rechtmäßig nach Bulgarien ein. Anschließend zog sie zu einer Familienangehörigen nach Berlin (Deutschland), wo sie einen Antrag auf internationalen Schutz stellte. Mit einer auf Antrag der deutschen Behörden ergangenen Entscheidung der DAB vom 28. Februar 2019 wurde WS von den bulgarischen Behörden zum Zweck der Prüfung ihres Antrags auf internationalen Schutz wieder aufgenommen.

20      Bei drei Befragungen der DAB im Oktober 2019 gab WS an, im Alter von 16 Jahren zwangsverheiratet worden zu sein und drei Töchter geboren zu haben. Ihr Ehemann soll sie während ihrer Ehe geschlagen haben, ohne dass ihre leibliche Familie, die von dieser Situation gewusst habe, ihr geholfen hätte. Sie sei im September 2016 aus ihrer ehelichen Wohnung geflohen, habe im Laufe des Jahres 2017 eine religiöse Ehe geschlossen und im Mai 2018 einen Sohn aus dieser Ehe geboren. Nachdem sie die Türkei verlassen habe, sei sie trotz der Einwände ihres ersten Ehemanns im September 2018 offiziell von ihm geschieden worden. Aus diesen Gründen gab sie an, dass sie fürchte, von ihrer Familie getötet zu werden, sollte sie in die Türkei zurückkehren.

21      Vor der DAB legte WS die rechtskräftige Entscheidung des türkischen Zivilgerichts, das ihre Scheidung ausgesprochen hat, sowie die Strafanzeige vor, die sie im Januar 2017 bei der Generalstaatsanwaltschaft Torbali (Türkei) gegen ihren Ehemann, ihre leibliche Familie und ihre Schwiegerfamilie erstattet hat und in deren Protokoll vom 9. Januar 2017 auf telefonische Drohmitteilungen hingewiesen wird, die ihr Ehemann an sie gesandt haben soll. Sie legte auch eine Entscheidung eines türkischen Gerichts vom 30. Juni 2017 vor, mit der sie in einem Frauenhaus für Opfer von Gewalt untergebracht wurde, in dem sie sich nicht sicher gefühlt habe.

22      Mit Bescheid vom 21. Mai 2020 lehnte der Leiter der DAB den Antrag von WS auf internationalen Schutz ab, da er zum einen der Ansicht war, dass die von WS angeführten Gründe für ihre Ausreise aus der Türkei, insbesondere häusliche Gewalt oder Todesdrohungen seitens ihres Ehemanns und ihrer leiblichen Familienangehörigen, für die Gewährung dieses Status nicht relevant seien, da sie keinem der in Art. 8 Abs. 1 ZUB genannten Verfolgungsgründe zugeordnet werden könnten. Außerdem habe WS nicht erklärt, Opfer von Verfolgungshandlungen aufgrund ihres Geschlechts zu sein.

23      Zum anderen lehnte es der Leiter der DAB ab, WS den subsidiären Schutzstatus zu gewähren. Er war der Ansicht, dass sie die erforderlichen Voraussetzungen hierfür nicht erfülle, da „weder die offiziellen Behörden noch bestimmte Gruppen gegen die Antragstellerin Maßnahmen ergriffen haben, die der Staat nicht kontrollieren kann“, und sie „kriminellen Gewalttaten ausgesetzt gewesen sein soll, über die sie nicht einmal die Polizei informiert und wegen deren sie keine Anzeige erstattet hat, und … die Türkei legal verlassen hat“.

24      Mit Urteil vom 15. Oktober 2020, das am 9. März 2021 vom Varhoven administrativen sad (Oberstes Verwaltungsgericht, Bulgarien) bestätigt und rechtskräftig wurde, wies der Administrativen sad Sofia-grad (Verwaltungsgericht Sofia-Stadt, Bulgarien) die von WS gegen den in Rn. 22 des vorliegenden Urteils angeführten Bescheid erhobene Klage ab.

25      Am 13. April 2021 stellte WS auf der Grundlage neuer Beweise einen Folgeantrag auf internationalen Schutz unter Berufung auf begründete Furcht vor Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer „bestimmten sozialen Gruppe“, nämlich der Gruppe von Frauen, die Opfer häuslicher Gewalt geworden seien, und von Frauen, die Opfer von „Ehrenverbrechen“ werden könnten. Sie führte aus, der türkische Staat sei nicht in der Lage, sie gegenüber diesen nichtstaatlichen Akteuren zu verteidigen, und machte geltend, dass ihre Zurückweisung in die Türkei sie einem „Ehrenverbrechen“ oder einer Zwangsehe und damit einem Verstoß gegen die Art. 2 und 3 EMRK aussetzen würde.

26      Zur Stützung dieses Antrags legte WS als neuen Beweis eine Entscheidung eines türkischen Strafgerichts vor, mit der ihr früherer Ehemann wegen einer gegen sie im September 2016 begangenen Straftat der gefährlichen Drohung zu einer Freiheitsstrafe von fünf Monaten verurteilt wurde. Diese Strafe wurde unter Berücksichtigung des Nichtvorliegens früherer Verurteilungen, persönlicher Besonderheiten und der Annahme dieser Strafe auf fünf Jahre zur Bewährung ausgesetzt. Sie fügte dem Antrag Artikel der Deutschen Welle aus dem Jahr 2021 bei, in denen über brutale Tötungen von Frauen in der Türkei berichtet wurde. Außerdem benennt WS als neuen Umstand den Austritt der Republik Türkei aus dem Übereinkommen von Istanbul im März 2021.

27      Mit Bescheid vom 5. Mai 2021 lehnte die DAB die Wiederaufnahme des Verfahrens über die Gewährung internationalen Schutzes auf den Folgeantrag von WS hin mit der Begründung ab, dass WS keine wichtigen neuen Tatsachen in Bezug auf ihre persönliche Lage oder ihren Herkunftsstaat vorgetragen habe. Die DAB wies darauf hin, dass die türkischen Behörden sie mehrfach unterstützt hätten und erklärt hätten, dass sie bereit seien, ihr mit allen rechtlichen Mitteln zu helfen.

28      Das vorlegende Gericht weist zunächst darauf hin, dass, auch wenn der von WS gestellte Folgeantrag auf internationalen Schutz als unzulässig abgelehnt worden sei, gleichwohl eine Auslegung der materiell-rechtlichen Voraussetzungen für die Gewährung internationalen Schutzes erforderlich sei, damit es feststellen könne, ob WS neue Umstände oder Tatsachen vorgebracht habe, die die Gewährung eines solchen Schutzes rechtfertigten.

29      Der Gerichtshof habe nie über die in der vorliegenden Rechtssache aufgeworfenen Fragen befunden, „die sich auf geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen in Form von häuslicher Gewalt und Drohung mit Ehrenverbrechen als Grund für die Gewährung internationalen Schutzes beziehen“. Das vorlegende Gericht fragt sich, ob für die Feststellung, dass eine Frau, die Opfer solcher Gewalt geworden ist, einer bestimmten sozialen Gruppe angehört und damit der Verfolgungsgrund im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95 erfüllt ist, das biologische oder soziale Geschlecht ausreicht und ob die Verfolgungshandlungen, einschließlich häuslicher Gewalt, maßgeblich für die Feststellung der Sichtbarkeit dieser Gruppe in der Gesellschaft sein können.

30      In diesem Zusammenhang möchte das vorlegende Gericht zunächst wissen, ob bei der Auslegung dieser Bestimmung unter Berücksichtigung des 17. Erwägungsgrundes der Richtlinie 2011/95 das CEDAW und das Übereinkommen von Istanbul zu berücksichtigen sind, obwohl die Republik Bulgarien nicht Vertragspartei des letztgenannten Übereinkommens ist.

31      Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass die in den Art. 34 bis 40 des Übereinkommens von Istanbul aufgezählten Handlungen, nämlich u. a. körperliche oder sexuelle Gewalt, Zwangsheiraten oder Nachstellung, zu den Formen geschlechtsspezifischer Gewalt gegen Frauen gehörten, die im 30. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95 nicht abschließend aufgeführt seien und als „Verfolgungshandlungen“ im Sinne von Art. 9 Abs. 2 Buchst. a und f dieser Richtlinie eingestuft werden könnten.

32      Sodann fragt sich das vorlegende Gericht nach der Auslegung von Art. 9 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 in den Fällen, in denen die geschlechtsspezifischen Verfolgungshandlungen in Form von häuslicher Gewalt von nichtstaatlichen Akteuren im Sinne von Art. 6 Buchst. c dieser Richtlinie ausgehen. Es möchte insbesondere wissen, ob die in diesem Art. 9 Abs. 3 geforderte „Verknüpfung“ voraussetzt, dass die nichtstaatlichen Akteure eingestehen, dass für die von ihnen begangenen Verfolgungshandlungen das biologische oder soziale Geschlecht der Opfer dieser Handlungen den Ausschlag gibt.

33      Schließlich unterstreicht das vorlegende Gericht – für den Fall, dass die Zugehörigkeit einer Frau, die Opfer häuslicher Gewalt ist und Opfer eines Ehrenverbrechens werden kann, zu „einer bestimmten sozialen Gruppe“ im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95 nicht nachgewiesen sein sollte –, dass WS nur dann in ihr Herkunftsland zurückgewiesen werden könnte, wenn festgestellt worden sei, dass diese Zurückweisung sie nicht der tatsächlichen Gefahr aussetzen würde, einen „ernsthaften Schaden“ im Sinne von Art. 2 Buchst. f dieser Richtlinie zu erleiden. In diesem Rahmen möchte es insbesondere wissen, ob die Androhung eines „Ehrenverbrechens“ eine tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens im Sinne von Art. 15 Buchst. a dieser Richtlinie in Verbindung mit Art. 2 EMRK oder im Sinne von Art. 15 Buchst. b der Richtlinie in Verbindung mit Art. 3 EMRK darstellt.

34      Unter diesen Umständen hat der Administrativen sad Sofia-grad (Verwaltungsgericht Sofia-Stadt) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Kommen gemäß dem 17. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95 die Definitionen und Begriffsbestimmungen des CEDAW und des Übereinkommens von Istanbul für die Zwecke der Einstufung von geschlechtsspezifischer Gewalt gegen Frauen als Grund für die Gewährung internationalen Schutzes nach der Genfer Flüchtlingskonvention und nach der Richtlinie 2011/95 zur Anwendung oder hat die geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen als Grund für die Gewährung internationalen Schutzes nach der Richtlinie 2011/95 eine autonome Bedeutung, die sich von jener in den genannten völkerrechtlichen Instrumenten unterscheidet?

2.      Kommt es im Fall, dass die Ausübung geschlechtsspezifischer Gewalt gegen Frauen geltend gemacht wird, für die Feststellung der Zugehörigkeit zu einer bestimmen sozialen Gruppe als Verfolgungsgrund nach Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95 ausschließlich auf das biologische oder soziale Geschlecht des Verfolgungsopfers (Gewalt gegen eine Frau, nur weil sie eine Frau ist) an, können die konkreten Formen/Akte/Handlungen der Verfolgung wie in der nicht abschließenden Aufzählung im 30. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95 entscheidend sein für die „Sichtbarkeit der Gruppe in der Gesellschaft“, d. h. ihr Unterscheidungsmerkmal, je nach den Gegebenheiten im Herkunftsland, oder können sich diese Akte nur auf die Verfolgungshandlungen nach Art. 9 Abs. 2 Buchst. a und f der Richtlinie 2011/95 beziehen?

3.      Stellt das biologische oder soziale Geschlecht im Fall, dass die Person, die Schutz beantragt, geschlechtsspezifische Gewalt in Form von häuslicher Gewalt geltend macht, einen ausreichenden Grund für die Feststellung der Zugehörigkeit zu einer bestimmen sozialen Gruppe nach Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95 dar oder ist ein zusätzliches Unterscheidungsmerkmal festzustellen, wenn Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95 buchstabengetreu, dem Wortlaut nach ausgelegt wird, wonach die Voraussetzungen kumulativ und die Aspekte des Geschlechts alternativ vorliegen müssen?

4.      Ist Art. 9 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 im Fall, dass die antragstellende Person die Ausübung geschlechtsspezifischer Gewalt in Form von häuslicher Gewalt durch einen nichtstaatlichen Akteur, von dem die Verfolgung ausgeht, im Sinne von Art. 6 Buchst. c der Richtlinie 2011/95 geltend macht, dahin auszulegen, dass es für den Kausalzusammenhang hinreicht, wenn ein Zusammenhang zwischen den in Art. 10 dieser Richtlinie angeführten Verfolgungsgründen und den Verfolgungshandlungen im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der genannten Richtlinie festgestellt wird, oder ist zwingend das Fehlen von Schutz vor der geltend gemachten Verfolgung festzustellen bzw. besteht der Zusammenhang in jenen Fällen, in denen die nichtstaatlichen Akteure, von denen die Verfolgung ausgeht, die einzelnen Verfolgungs-/Gewaltakte als solche nicht als geschlechtsspezifisch wahrnehmen?

5.      Kann die tatsächliche Androhung eines [Ehrenverbrechens] für den Fall einer etwaigen Rückkehr in das Herkunftsland bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen hierfür die Gewährung subsidiären Schutzes nach Art. 15 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 in Verbindung mit Art. 2 EMRK … begründen oder ist diese als Schaden nach Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 in Verbindung mit Art. 3 EMRK einzustufen, wie dies in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte unter Gesamtbeurteilung der Gefahr von weiteren geschlechtsspezifischen Gewaltakten ausgelegt wird, bzw. reicht es für die Gewährung dieses Schutzes aus, dass die antragstellende Person subjektiv den Schutz des Herkunftslands nicht in Anspruch nehmen will?

 Zu den Vorlagefragen

 Zu den Fragen 1 bis 3

35      Mit seinen ersten drei Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass je nach den im Herkunftsland herrschenden Verhältnissen die Frauen dieses Landes insgesamt als „einer bestimmten sozialen Gruppe“ zugehörig angesehen werden können, im Sinne eines „Verfolgungsgrundes“, der zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft führen kann, oder ob die betreffenden Frauen ein zusätzliches gemeinsames Merkmal teilen müssen, um einer solchen Gruppe angehören zu können.

36      Einleitend geht aus den Erwägungsgründen 4 und 12 der Richtlinie 2011/95 hervor, dass die Genfer Flüchtlingskonvention einen wesentlichen Bestandteil des internationalen Rechtsrahmens für den Schutz von Flüchtlingen darstellt und dass diese Richtlinie u. a. erlassen wurde, damit alle Mitgliedstaaten gemeinsame Kriterien zur Bestimmung der Personen anwenden, die tatsächlich Schutz benötigen (Urteil vom 19. November 2020, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Militärdienst und Asyl], C‑238/19, EU:C:2020:945, Rn. 19).

37      Die Bestimmungen der Richtlinie 2011/95 sind daher nicht nur im Licht der allgemeinen Systematik und des Zwecks dieser Richtlinie, sondern auch unter Beachtung der Genfer Flüchtlingskonvention und der übrigen in Art. 78 Abs. 1 AEUV angeführten einschlägigen Verträge auszulegen. Zu diesen Verträgen gehören, wie sich aus dem 17. Erwägungsgrund dieser Richtlinie ergibt, diejenigen, nach denen eine Diskriminierung in Bezug auf die Behandlung von Personen, die unter diese Richtlinie fallen, verboten ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 26. Februar 2015, Shepherd, C‑472/13, EU:C:2015:117, Rn. 23, und vom 19. November 2020, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Militärdienst und Asyl], C‑238/19, EU:C:2020:945, Rn. 20).

38      In diesem Zusammenhang sind die vom Amt des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR) herausgegebenen Dokumente angesichts der ihm durch die Genfer Flüchtlingskonvention übertragenen Rolle besonders relevant (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 23. Mai 2019, Bilali, C‑720/17, EU:C:2019:448, Rn. 57, und vom 12. Januar 2023, Migracijos departamentas [Auf der politischen Überzeugung beruhende Verfolgungsgründe], C‑280/21, EU:C:2023:13, Rn. 27).

39      Nach Art. 2 Buchst. d der Richtlinie 2011/95, der Art. 1 Abschnitt A Ziff. 2 der Genfer Flüchtlingskonvention übernimmt, bezeichnet der Ausdruck „Flüchtling“ insbesondere einen Drittstaatsangehörigen, der aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Art. 10 Abs. 1 dieser Richtlinie zählt für jeden dieser fünf Verfolgungsgründe, die zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft führen können, Gesichtspunkte auf, die die Mitgliedstaaten berücksichtigen müssen.

40      Was insbesondere den Grund der „Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe“ betrifft, ergibt sich aus Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Abs. 1, dass eine Gruppe als „bestimmte soziale Gruppe“ gilt, wenn zwei Voraussetzungen kumulativ erfüllt sind. Erstens müssen die Mitglieder der betreffenden Gruppe zumindest eines der folgenden drei Identifizierungsmerkmale teilen, nämlich „angeborene Merkmale“ oder „einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann“, oder „Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung …, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten“. Zweitens muss diese Gruppe im Herkunftsland eine „deutlich abgegrenzte Identität“ haben, „da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird“.

41      Zudem wird in Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Abs. 2 u. a. erläutert, dass „[g]eschlechtsbezogene Aspekte, einschließlich der geschlechtlichen Identität, … zum Zweck der Bestimmung der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der Ermittlung eines Merkmals einer solchen Gruppe angemessen berücksichtigt [werden]“. Diese Bestimmung ist im Licht des 30. Erwägungsgrundes der Richtlinie 2011/95 zu lesen, wonach die geschlechtliche Identität mit bestimmten Rechtstraditionen und Bräuchen im Zusammenhang stehen kann, wie z. B. Genitalverstümmelungen, Zwangssterilisationen oder erzwungenen Schwangerschaftsabbrüchen.

42      Im Übrigen wird in Rn. 30 der Richtlinien des UNHCR zum internationalen Schutz Nr. 1 betreffend geschlechtsspezifische Verfolgung im Zusammenhang mit Art. 1 Abschnitt A Ziff. 2 der Genfer Flüchtlingskonvention zum Begriff „soziale Gruppe“ im Sinne dieser Konvention, der in Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95 definiert wird, erläutert, dass „das Geschlecht durchaus in die Kategorie der bestimmten sozialen Gruppe fallen kann, da Frauen ein deutliches Beispiel für eine durch angeborene und unveränderliche Charakteristika definierte Untergruppe der Gesellschaft sind und oft anders als Männer behandelt werden. … Ihre Merkmale identifizieren sie auch als eine Gruppe innerhalb der Gesellschaft, für die in manchen Ländern eine andere Behandlung und andere Normen gelten“.

43      Die Fragen des vorlegenden Gerichts sind unter Berücksichtigung dieser einleitenden Erläuterungen zu beantworten.

44      Erstens ist in Anbetracht der von diesem Gericht geäußerten Zweifel an der Relevanz des CEDAW und des Übereinkommens von Istanbul für die Auslegung von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95 zum einen darauf hinzuweisen, dass die Union zwar nicht Vertragspartei des ersten Übereinkommens ist, dass aber alle Mitgliedstaaten dieses Übereinkommen ratifiziert haben. Das CEDAW zählt somit zu den einschlägigen Verträgen, auf die Art. 78 Abs. 1 AEUV Bezug nimmt und unter deren Beachtung die genannte Richtlinie, insbesondere ihr Art. 10 Abs. 1 Buchst. d, auszulegen ist.

45      Zudem sind die Mitgliedstaaten nach dem 17. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95 in Bezug auf die Behandlung von Personen, die unter diese Richtlinie fallen, an ihre Verpflichtungen aus den völkerrechtlichen Instrumenten gebunden, denen sie beigetreten sind, einschließlich insbesondere derjenigen, nach denen eine Diskriminierung verboten ist, zu denen das CEDAW gehört. Der Ausschuss für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau, der für die Überwachung der Einhaltung des CEDAW zuständig ist, hat präzisiert, dass dieses Übereinkommen die internationale Regelung gesetzlichen Schutzes für Frauen und Mädchen, auch im Zusammenhang mit Flüchtlingen, verstärkt und ergänzt.

46      Zum anderen ist in Bezug auf das Übereinkommen von Istanbul, das die Union seit dem 1. Oktober 2023 bindet, hervorzuheben, dass dieses Übereinkommen Verpflichtungen enthält, die in den Anwendungsbereich von Art. 78 Abs. 2 AEUV fallen, der den Unionsgesetzgeber ermächtigt, Maßnahmen in Bezug auf ein gemeinsames europäisches Asylsystem wie die Richtlinie 2011/95 zu erlassen (vgl. in diesem Sinne Gutachten 1/19 [Übereinkommen von Istanbul] vom 6. Oktober 2021, EU:C:2021:832, Rn. 294, 302 und 303). Somit gehört dieses Übereinkommen, da es einen Zusammenhang mit Asyl und dem Verbot der Zurückweisung aufweist, ebenfalls zu den einschlägigen Verträgen, auf die Art. 78 Abs. 1 AEUV Bezug nimmt.

47      Unter diesen Umständen sind die Bestimmungen dieser Richtlinie, insbesondere ihr Art. 10 Abs. 1 Buchst. d, unter Beachtung des Übereinkommens von Istanbul auszulegen, obwohl dieses Übereinkommen von einigen Mitgliedstaaten, darunter der Republik Bulgarien, nicht ratifiziert worden ist.

48      Insoweit ist zum einen darauf hinzuweisen, dass nach Art. 60 Abs. 1 des Übereinkommens von Istanbul Gewalt gegen Frauen aufgrund des Geschlechts als eine Form der Verfolgung im Sinne von Art. 1 Abschnitt A Ziff. 2 der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt werden muss. Zum anderen verlangt Art. 60 Abs. 2 dieses Übereinkommens von den Vertragsparteien, sicherzustellen, dass alle in der Genfer Flüchtlingskonvention vorgesehenen Verfolgungsgründe geschlechtersensibel ausgelegt werden und dass in Fällen, in denen festgestellt wird, dass die Verfolgung aus einem oder mehreren dieser Gründe befürchtet wird, den Antragstellerinnen und Antragstellern der Flüchtlingsstatus zuerkannt wird.

49      Was zweitens die in Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Abs. 1 der Richtlinie 2011/95 vorgesehene und in Rn. 40 des vorliegenden Urteils wiedergegebene erste Voraussetzung für die Identifizierung einer „bestimmten sozialen Gruppe“ betrifft, nämlich mindestens eines der drei in dieser Bestimmung genannten Identifizierungsmerkmale zu teilen, ist festzustellen, dass die Tatsache, weiblichen Geschlechts zu sein, ein angeborenes Merkmal darstellt und daher ausreicht, um diese Voraussetzung zu erfüllen.

50      Das schließt es nicht aus, dass Frauen, die ein zusätzliches gemeinsames Merkmal teilen, wie z. B. ein anderes angeborenes Merkmal oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, wie eine besondere familiäre Situation oder aber Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass diese Frauen nicht gezwungen werden sollten, auf sie zu verzichten, ebenfalls zu einer „bestimmten sozialen Gruppe“ im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95 gehören können.

51      In Anbetracht der Angaben in der Vorlageentscheidung ist insbesondere darauf hinzuweisen, dass der Umstand, dass Frauen sich einer Zwangsehe entzogen haben oder verheiratete Frauen ihre Haushalte verlassen haben, als „gemeinsamer Hintergrund, der nicht verändert werden kann“, angesehen werden kann.

52      Was drittens die zweite Voraussetzung für die Identifizierung einer „bestimmten sozialen Gruppe“ angeht, die sich auf die „deutlich abgegrenzte Identität“ der Gruppe im Herkunftsland bezieht, ist festzustellen, dass Frauen von der sie umgebenden Gesellschaft anders wahrgenommen werden können und in dieser Gesellschaft eine deutlich abgegrenzte Identität insbesondere aufgrund in ihrem Herkunftsland geltender sozialer, moralischer oder rechtlicher Normen zuerkannt bekommen können.

53      Diese zweite Voraussetzung für die Identifizierung wird auch von Frauen erfüllt, die ein zusätzliches gemeinsames Merkmal teilen, wie eines der in den Rn. 50 und 51 des vorliegenden Urteils genannten, wenn die in ihrem Herkunftsland geltenden sozialen, moralischen oder rechtlichen Normen dazu führen, dass diese Frauen aufgrund dieses gemeinsamen Merkmals von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet werden.

54      In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass es Sache des betreffenden Mitgliedstaats ist, zu bestimmen, welche umgebende Gesellschaft für die Beurteilung des Vorliegens dieser sozialen Gruppe relevant ist. Diese Gesellschaft kann mit dem gesamten Herkunftsdrittland der Person, die internationalen Schutz beantragt hat, zusammenfallen oder enger eingegrenzt sein, z. B. auf einen Teil des Hoheitsgebiets oder der Bevölkerung dieses Drittlands.

55      Viertens ist, soweit das vorlegende Gericht den Gerichtshof fragt, ob Handlungen wie die im 30. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95 genannten bei der Bestimmung der deutlich abgegrenzten Identität einer „sozialen Gruppe“ im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d dieser Richtlinie berücksichtigt werden können, klarzustellen, dass die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe unabhängig von den Verfolgungshandlungen im Sinne von Art. 9 der Richtlinie festgestellt werden muss, denen die Mitglieder dieser Gruppe im Herkunftsland ausgesetzt sein können.

56      Gleichwohl kann eine Diskriminierung oder eine Verfolgung von Personen, die ein gemeinsames Merkmal teilen, einen relevanten Faktor darstellen, wenn für die Prüfung, ob die zweite in Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95 vorgesehene Voraussetzung für die Identifizierung einer sozialen Gruppe erfüllt ist, zu beurteilen ist, ob es sich bei der in Rede stehenden Gruppe im Hinblick auf die sozialen, moralischen oder rechtlichen Normen des betreffenden Herkunftslands offensichtlich um eine gesonderte Gruppe handelt. Diese Auslegung wird durch Rn. 14 der Richtlinien des UNHCR zum internationalen Schutz Nr. 2 betreffend die „Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe“ im Zusammenhang mit Art. 1 Abschnitt A Ziff. 2 der Genfer Flüchtlingskonvention bestätigt.

57      Folglich können Frauen insgesamt als einer „bestimmten sozialen Gruppe“ im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95 zugehörig angesehen werden, wenn feststeht, dass sie in ihrem Herkunftsland aufgrund ihres Geschlechts physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt und häuslicher Gewalt, ausgesetzt sind.

58      Wie der Generalanwalt in Nr. 79 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, können Frauen, die eine Zwangsehe ablehnen, in einer Gesellschaft, in der eine solche Praxis als eine soziale Norm angesehen werden kann, oder Frauen, die eine solche Norm brechen, indem sie diese Ehe beenden, als Teil einer sozialen Gruppe mit deutlich abgegrenzter Identität in ihrem Herkunftsland angesehen werden, wenn sie aufgrund solcher Verhaltensweisen stigmatisiert werden und der Missbilligung durch die sie umgebende Gesellschaft ausgesetzt sind, was zu ihrem sozialen Ausschluss oder zu Gewaltakten führt.

59      Fünftens hat der betreffende Mitgliedstaat bei der Beurteilung eines auf die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe gestützten Antrags auf internationalen Schutz zu prüfen, ob die Person, die sich auf diesen Verfolgungsgrund beruft, im Sinne von Art. 2 Buchst. d der Richtlinie 2011/95 in ihrem Herkunftsland wegen der Zugehörigkeit zu dieser Gruppe „begründete Furcht“ vor Verfolgung hat.

60      Insoweit muss die Prüfung der Frage, ob die Furcht der antragstellenden Person vor Verfolgung begründet ist, gemäß Art. 4 Abs. 3 dieser Richtlinie individuell sein und von Fall zu Fall mit Wachsamkeit und Vorsicht vorgenommen werden, wobei ausschließlich eine konkrete Prüfung der Tatsachen und Umstände im Einklang mit den in Art. 4 Abs. 3, aber auch in Art. 4 Abs. 4 enthaltenen Regeln zugrunde zu legen ist, um zu ermitteln, ob die festgestellten Tatsachen und Umstände eine solche Bedrohung darstellen, dass die betroffene Person in Anbetracht ihrer individuellen Lage begründete Furcht haben kann, tatsächlich Verfolgungshandlungen zu erleiden, sollte sie in ihr Herkunftsland zurückkehren müssen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. September 2023, Staatssecretaris van Veiligheid en Justitie [Politische Überzeugung im Aufnahmemitgliedstaat], C‑151/22, EU:C:2023:688, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).

61      Zu diesem Zweck sollten, wie in Rn. 36 Ziff. x der Richtlinien des UNHCR zum internationalen Schutz Nr. 1 ausgeführt wird, Informationen über das Herkunftsland eingeholt werden, die für Anträge von Frauen auf Zuerkennung des Flüchtlingsstatus von Bedeutung sind, zum Beispiel über die Rechtsstellung der Frau, ihre politischen Rechte, ihre bürgerlichen und wirtschaftlichen Rechte, die kulturellen und sozialen Sitten und Gebräuche des Landes und die Folgen, wenn sich eine Frau darüber hinwegsetzt, das Vorhandensein grausamer traditioneller Praktiken, Häufigkeit und Formen von Gewalt gegen Frauen und wie Frauen davor geschützt werden, die für solche Gewalttäter vorgesehenen Strafen und welche Risiken eine Frau möglicherweise erwarten, wenn sie in ihr Land zurückkehrt, nachdem sie einen solchen Antrag gestellt hat.

62      Nach alledem ist auf die ersten drei Fragen zu antworten, dass Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass je nach den im Herkunftsland herrschenden Verhältnissen sowohl die Frauen dieses Landes insgesamt als auch enger eingegrenzte Gruppen von Frauen, die ein zusätzliches gemeinsames Merkmal teilen, als „einer bestimmten sozialen Gruppe“ zugehörig angesehen werden können, im Sinne eines „Verfolgungsgrundes“, der zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft führen kann.

 Zur vierten Frage

63      Mit seiner vierten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 9 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass er, wenn eine antragstellende Person angibt, in ihrem Herkunftsland Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure zu befürchten, verlangt, dass in jedem Fall eine Verknüpfung zwischen den Verfolgungshandlungen und mindestens einem der in Art. 10 Abs. 1 dieser Richtlinie genannten Verfolgungsgründe festgestellt wird.

64      Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 6 Buchst. c der Richtlinie 2011/95, damit nichtstaatliche Akteure als „Akteure, von denen die Verfolgung oder ein ernsthafter Schaden ausgehen kann“, eingestuft werden können, nachgewiesen werden muss, dass die in Art. 7 dieser Richtlinie angeführten Akteure, die Schutz bieten können, darunter insbesondere der Staat, nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor diesen Handlungen zu bieten. Wie der Generalanwalt in Nr. 87 seiner Schlussanträge betont hat, ergibt sich aus Abs. 1 dieses Art. 7, dass die Akteure, die Schutz bieten können, nicht nur die Fähigkeit, sondern auch den Willen haben müssen, die betroffene antragstellende Person vor dieser Verfolgung bzw. diesem ernsthaften Schaden, denen sie ausgesetzt ist, zu schützen.

65      Dieser Schutz muss nach diesem Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 wirksam sein und darf nicht nur vorübergehender Art sein. Dies ist im Allgemeinen der Fall, wenn die in Art. 7 Abs. 1 genannten Akteure, die Schutz bieten können, geeignete Schritte einleiten, um diese Verfolgung oder diesen ernsthaften Schaden zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von solchen Handlungen, und wenn die antragstellende Person Zugang zu diesem Schutz hat.

66      Nach Art. 9 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 in Verbindung mit deren Art. 6 Buchst. c und Art. 7 Abs. 1 und im Licht des 29. Erwägungsgrundes dieser Richtlinie setzt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft voraus, dass eine Verknüpfung entweder zwischen den in Art. 10 Abs. 1 dieser Richtlinie genannten Verfolgungsgründen und den Verfolgungshandlungen im Sinne von Art. 9 Abs. 1 und 2 der Richtlinie oder zwischen diesen Verfolgungsgründen und dem Fehlen von Schutz durch die „Akteure, die Schutz bieten können“, vor solchen Verfolgungshandlungen durch „nichtstaatliche Akteure“ festgestellt wird.

67      Somit ist im Fall einer von einem nichtstaatlichen Akteur begangenen Verfolgungshandlung die in Art. 9 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 aufgestellte Voraussetzung erfüllt, wenn diese Handlung auf einem der in Art. 10 Abs. 1 dieser Richtlinie genannten Verfolgungsgründe beruht, auch wenn das Fehlen von Schutz nicht auf diesen Gründen beruhen sollte. Diese Voraussetzung ist auch dann als erfüllt anzusehen, wenn das Fehlen von Schutz auf einem der in der letztgenannten Bestimmung genannten Verfolgungsgründe beruht, auch wenn die von einem nichtstaatlichen Akteur begangene Verfolgungshandlung nicht auf diesen Gründen beruhen sollte.

68      Diese Auslegung steht im Einklang mit den in den Erwägungsgründen 10 und 12 der Richtlinie 2011/95 genannten Zielen, die darin bestehen, ein hohes Schutzniveau für Flüchtlinge sicherzustellen und alle Personen zu bestimmen, die tatsächlich internationalen Schutz benötigen.

69      Eine solche Auslegung wird auch durch Rn. 21 der Richtlinien des UNHCR zum internationalen Schutz Nr. 1 bestätigt, in der es heißt: „Wenn die Gefahr der Verfolgung, die mit einem der [Gründe nach der Genfer Flüchtlingskonvention] in Beziehung steht, von einem nichtstaatlichen Akteur ausgeht (z. B. dem Ehemann, dem Partner oder einem anderen nichtstaatlichen Akteur), ist der kausale Zusammenhang gegeben, gleichgültig, ob das Fehlen von staatlichem Schutz mit [der Genfer Flüchtlingskonvention] in Verbindung gebracht werden kann oder nicht. Umgekehrt ist der kausale Zusammenhang auch dann hergestellt, wenn das Verfolgungsrisiko durch einen nichtstaatlichen Akteur in keiner Beziehung zu einem Konventionsgrund steht, aber die Unfähigkeit oder mangelnde Bereitschaft des Staates, Schutz zu bieten, auf einem Konventionsgrund beruht.“

70      Nach alledem ist auf die vierte Frage zu antworten, dass Art. 9 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass es, wenn eine antragstellende Person angibt, in ihrem Herkunftsland Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure zu befürchten, nicht erforderlich ist, eine Verknüpfung zwischen einem der in Art. 10 Abs. 1 dieser Richtlinie genannten Verfolgungsgründe und solchen Verfolgungshandlungen festzustellen, wenn eine solche Verknüpfung zwischen einem dieser Verfolgungsgründe und dem Fehlen von Schutz vor diesen Handlungen durch die in Art. 7 Abs. 1 dieser Richtlinie genannten Akteure, die Schutz bieten können, festgestellt werden kann.

 Zur fünften Frage

71      Mit seiner fünften Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 15 Buchst. a und b der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass der Begriff „ernsthafter Schaden“ die tatsächliche Drohung gegenüber der antragstellenden Person umfasst, durch einen Angehörigen ihrer Familie oder ihrer Gemeinschaft wegen eines angenommenen Verstoßes gegen kulturelle, religiöse oder traditionelle Normen getötet zu werden oder andere Gewalttaten zu erleiden, und dieser Begriff daher zur Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus im Sinne von Art. 2 Buchst. g dieser Richtlinie führen kann.

72      Einleitend ist festzustellen, dass diese Frage für die Zwecke des Ausgangsrechtsstreits nur dann erheblich ist, wenn das vorlegende Gericht zu dem Ergebnis gelangen sollte, dass WS die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht erfüllt. Da nämlich die Mitgliedstaaten nach Art. 13 der Richtlinie 2011/95 verpflichtet sind, der antragstellenden Person, die die nach dieser Richtlinie erforderlichen Voraussetzungen erfüllt, diese Eigenschaft zuzuerkennen, ohne in dieser Hinsicht über ein Ermessen zu verfügen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 24. Juni 2015, T., C‑373/13, EU:C:2015:413, Rn. 63, und vom 14. Mai 2019, M u. a. [Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft], C‑391/16, C‑77/17 und C‑78/17, EU:C:2019:403, Rn. 89), wäre nur in einem solchen Fall noch zu prüfen, ob WS der subsidiäre Schutzstatus zuzuerkennen ist.

73      Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2011/95 sieht vor, dass auf subsidiären Schutz ein Drittstaatsangehöriger Anspruch hat, der die Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling nicht erfüllt, der aber stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass er bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland tatsächlich Gefahr liefe, einen ernsthaften Schaden im Sinne von Art. 15 dieser Richtlinie zu erleiden, und der den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Gefahr nicht in Anspruch nehmen will.

74      Art. 15 Buchst. a und b der Richtlinie 2011/95 in Verbindung mit ihrem 34. Erwägungsgrund stuft als „ernsthaften Schaden“ „die Todesstrafe oder Hinrichtung“ und „Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung eines Antragstellers im Herkunftsland“ ein.

75      Art. 15 Buchst. a nimmt Bezug auf Schäden, die den Tod des Opfers zur Folge haben, während sich Art. 15 Buchst. b auf Folterhandlungen bezieht, unabhängig davon, ob diese Handlungen den Tod des Opfers zur Folge haben oder nicht. Dagegen unterscheiden diese Bestimmungen nicht danach, ob der Schaden auf einen staatlichen oder einen nichtstaatlichen Akteur zurückgeht.

76      Außerdem kann in Anbetracht des Ziels von Art. 15 Buchst. a der Richtlinie 2011/95, Personen zu schützen, deren Recht auf Leben bei einer Rückkehr in ihr Herkunftsland gefährdet wäre, der darin enthaltene Begriff „Hinrichtung“ nicht dahin ausgelegt werden, dass er Angriffe auf das Leben allein deshalb ausschließt, weil sie von nichtstaatlichen Akteuren begangen werden. Wenn also eine Frau tatsächlich Gefahr läuft, wegen eines angenommenen Verstoßes gegen kulturelle, religiöse oder traditionelle Normen von einem Angehörigen ihrer Familie oder ihrer Gemeinschaft getötet zu werden, ist ein solcher ernsthafter Schaden als „Hinrichtung“ im Sinne dieser Bestimmung einzustufen.

77      Hingegen sind Gewalttaten, denen eine Frau wegen eines angenommenen Verstoßes gegen kulturelle, religiöse oder traditionelle Normen ausgesetzt zu sein droht, wenn sie nicht ihren Tod zur wahrscheinlichen Folge haben, als „Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung“ im Sinne von Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 einzustufen.

78      Was im Übrigen die Anerkennung des subsidiären Schutzstatus im Sinne von Art. 2 Buchst. g der Richtlinie 2011/95 betrifft, verpflichtet Art. 18 dieser Richtlinie die Mitgliedstaaten, nach einer Prüfung des Antrags auf subsidiären Schutz nach den Bestimmungen des Kapitels II dieser Richtlinie einem Drittstaatsangehörigen oder einem Staatenlosen, der die Voraussetzungen des Kapitels V dieser Richtlinie erfüllt, diesen Status zuzuerkennen.

79      Da für die Prüfung eines Antrags auf subsidiären Schutz dieselben in Kapitel II enthaltenen Regeln gelten wie für die Prüfung eines Antrags auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, ist auf die Auslegung dieser Regeln in den Rn. 60 und 61 des vorliegenden Urteils zu verweisen.

80      Nach alledem ist auf die fünfte Frage zu antworten, dass Art. 15 Buchst. a und b der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass der Begriff „ernsthafter Schaden“ die tatsächliche Drohung gegenüber der antragstellenden Person umfasst, durch einen Angehörigen ihrer Familie oder ihrer Gemeinschaft wegen eines angenommenen Verstoßes gegen kulturelle, religiöse oder traditionelle Normen getötet zu werden oder andere Gewalttaten zu erleiden, und dieser Begriff daher zur Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus im Sinne von Art. 2 Buchst. g dieser Richtlinie führen kann.

 Kosten

81      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

1.      Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes

ist dahin auszulegen, dass

je nach den im Herkunftsland herrschenden Verhältnissen sowohl die Frauen dieses Landes insgesamt als auch enger eingegrenzte Gruppen von Frauen, die ein zusätzliches gemeinsames Merkmal teilen, als „einer bestimmten sozialen Gruppe“ zugehörig angesehen werden können, im Sinne eines „Verfolgungsgrundes“, der zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft führen kann.

2.      Art. 9 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95

ist dahin auszulegen, dass

es, wenn eine antragstellende Person angibt, in ihrem Herkunftsland Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure zu befürchten, nicht erforderlich ist, eine Verknüpfung zwischen einem der in Art. 10 Abs. 1 dieser Richtlinie genannten Verfolgungsgründe und solchen Verfolgungshandlungen festzustellen, wenn eine solche Verknüpfung zwischen einem dieser Verfolgungsgründe und dem Fehlen von Schutz vor diesen Handlungen durch die in Art. 7 Abs. 1 dieser Richtlinie genannten Akteure, die Schutz bieten können, festgestellt werden kann.

3.      Art. 15 Buchst. a und b der Richtlinie 2011/95

ist dahin auszulegen, dass

der Begriff „ernsthafter Schaden“ die tatsächliche Drohung gegenüber der antragstellenden Person umfasst, durch einen Angehörigen ihrer Familie oder ihrer Gemeinschaft wegen eines angenommenen Verstoßes gegen kulturelle, religiöse oder traditionelle Normen getötet zu werden oder andere Gewalttaten zu erleiden, und dieser Begriff daher zur Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus im Sinne von Art. 2 Buchst. g dieser Richtlinie führen kann.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Bulgarisch.