Language of document : ECLI:EU:T:2021:846

URTEIL DES GERICHTS (Fünfte Kammer)

1. Dezember 2021(*)

„Öffentliche Dienstleistungsaufträge – Ausschreibungsverfahren – Dienstleistungen in den Bereichen Spezifikation, Entwicklung, Wartung und Unterstützung von IT‑Plattformen für die GD ‚Steuern und Zollunion‘ – Ablehnung des Angebots eines Bieters und Vergabe des Auftrags an einen anderen Bieter – Begründungspflicht – Ungewöhnlich niedriges Angebot“

In der Rechtssache T‑546/20,

Sopra Steria Benelux mit Sitz in Ixelles (Belgien),

Unisys Belgium mit Sitz in Machelen (Belgien),

Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte L. Masson und G. Tilman,

Klägerinnen,

gegen

Europäische Kommission, vertreten durch L. André und M. Ilkova als Bevollmächtigte,

Beklagte,

betreffend eine Klage nach Art. 263 AEUV auf Nichtigerklärung der Entscheidung der Kommission vom 2. Juli 2020 über die Ablehnung des von Sopra Steria Benelux und Unisys Belgium im Rahmen des Ausschreibungsverfahrens TAXUD/2019/OP/0006 abgegebenen gemeinsamen Angebots für das Los A betreffend Dienstleistungen in den Bereichen Spezifikation, Entwicklung, Wartung und 3.‑Ebene-Unterstützung von IT‑Plattformen der Generaldirektion „Steuern und Zollunion“ sowie über die Vergabe des Auftrags an das andere Konsortium, das ein Angebot abgegeben hatte,

erlässt

DAS GERICHT (Fünfte Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten D. Spielmann sowie der Richter U. Öberg und R. Mastroianni (Berichterstatter),

Kanzler: H. Eriksson, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 5. Oktober 2021

folgendes

Urteil

 Vorgeschichte des Rechtsstreits

1        Am 6. Dezember 2019 veröffentlichte die Europäische Kommission in der Beilage zum Amtsblatt der Europäischen Union (ABl. 2019/S 236-577462) eine Bekanntmachung über die Vergabe eines öffentlichen Auftrags mit der Referenznummer TAXUD/2019/OP/0006 für Dienstleistungen in den Bereichen Spezifikation, Entwicklung, Wartung und 3.‑Ebene-Unterstützung von IT‑Plattformen der Generaldirektion „Steuern und Zollunion“ der Kommission. Dieser Auftrag bestand aus zwei Losen, nämlich Los A, „Evolution Services für die CCN/CSI-Plattform“, und Los B, „Evolution Services für die CCN2(ng), SPEED2(ng), CDCO/TSOAP und SSV-Plattformen“, und sah als Zuschlagskriterium das beste Preis-Leistungs-Verhältnis vor, wobei die technische Qualität bei der Bewertung der Angebote 70 % ausmachen sollte und der Preis 30 %. Für jedes der beiden Lose war zwischen der Kommission und dem Bieter, dessen Angebot das beste Preis-Leistungs-Verhältnis aufwies, ein Rahmenvertrag mit einer Laufzeit von 36 Monaten abzuschließen, verlängerbar dreimal um jeweils zwölf Monate, sofern der Bieter hinsichtlich der Teilnahmefähigkeit, des Nichtausschlusses, der Leistungsfähigkeit und der Ordnungsmäßigkeit des Angebots bestimmte Mindestkriterien erfüllt.

2        Am 27. Februar 2020 gaben die Klägerinnen, Sopra Steria Benelux (im Folgenden: Sopra) und Unisys Belgium, in der Form eines Konsortiums unter der Leitung von Sopra ein gemeinsames Angebot ab. Das einzige andere Angebot, das innerhalb der Frist für das Los A abgegeben wurde, stammte vom Konsortium ARHS‑IBM, das sich aus der ARHS Developments SA und der International Business Machines of Belgium SA zusammensetzte.

3        Mit Schreiben vom 2. Juli 2020 teilte die Kommission den Klägerinnen mit, dass ihr Angebot für das Los A abgelehnt worden sei, weil es sich nicht um das wirtschaftlich günstigste handele, und dass der Auftrag an einen anderen Bieter vergeben worden sei (im Folgenden zusammen: angefochtene Entscheidung). Sie fügte einen Auszug aus dem Bewertungsbericht zum Angebot der Klägerinnen bei, der die vergebenen Punkte samt Erläuterungen enthielt, und teilte ihnen mit, dass ihnen die Merkmale und relativen Vorteile des ausgewählten Angebots, der Auftragswert und der Name des Zuschlagsempfängers auf schriftlichen Antrag übermittelt würden. Die Klägerinnen stellten am selben Tag einen entsprechenden Antrag.

4        Aus dem übermittelten Auszug aus dem Bewertungsbericht geht hervor, dass das Angebot der Klägerinnen insgesamt mit 90,81 Punkten bewertet wurde, die sich wie folgt zusammensetzten:

Bieter

Preis

Punktzahl Qualität des Angebots

Punktzahl finanzielles Angebot

Gesamtpunktzahl

Konsortium Sopra und Unisys Belgium

21 699 281,86 Euro

70,00

20,81

90,81


5        Mit Schreiben vom 3. Juli 2020 teilte die Kommission den Klägerinnen mit, dass der Auftrag an das Konsortium ARHS‑IBM vergeben worden sei, und übermittelte ihnen einen Auszug aus dem Bewertungsbericht zu dem entsprechenden Angebot, einschließlich der vergebenen Punkte und mit Erläuterungen.

6        Aus diesem Auszug aus dem Bewertungsbericht geht hervor, dass das Angebot des Zuschlagsempfängers insgesamt 98,53 Punkte erhielt, die sich wie folgt zusammensetzten:

Bieter

Preis

Punktzahl Qualität des Angebots

Punktzahl finanzielles Angebot

Gesamtpunktzahl

Konsortium ARHS‑IBM

15 054 925,60 Euro

68,53

30,00

98,53


7        Mit Schreiben vom 10. Juli 2020 beanstandeten die Klägerinnen das Ergebnis des Ausschreibungsverfahrens und äußerten hinsichtlich des im ausgewählten Angebot angegebenen Preises Zweifel in Bezug auf den Umstand, dass ein deutlich niedrigerer Preis als der von ihnen angebotene, der ihrer Ansicht nach angemessen ist und den Marktbedingungen entspricht, ohne Gefahr von „Sozialdumping“ rentabel sein könne. Daher forderten sie den öffentlichen Auftraggeber insbesondere auf, zu bestätigen, dass er geprüft habe, dass das Angebot des Zuschlagsempfängers keine derartige Gefahr darstelle.

8        Mit Schreiben vom 20. Juli 2020 antwortete die Kommission u. a., dass eine eingehende Prüfung des finanziellen Aspekts des ausgewählten Angebots ergeben habe, dass es den Marktbedingungen der Länder entspreche, von denen aus die Vertragspartner und ihre Unterauftragnehmer die in Auftrag gegebenen Dienstleistungen erbringen würden.

 Verfahren und Anträge der Parteien

9        Mit Klageschrift, die am 2. September 2020 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, haben die Klägerinnen die vorliegende Klage erhoben.

10      Am 4. Dezember 2020 hat die Kommission bei der Kanzlei des Gerichts die Klagebeantwortung eingereicht.

11      Am 21. Dezember 2020 hat das Gericht gemäß Art. 83 Abs. 1 seiner Verfahrensordnung entschieden, dass ein zweiter Schriftsatzwechsel nicht erforderlich ist.

12      Am 15. Januar 2021 ist das schriftliche Verfahren abgeschlossen worden.

13      Mit Schriftsatz, der am 9. Februar 2021 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, haben die Klägerinnen die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragt.

14      Am 15. Juni 2021 haben die Klägerinnen gemäß Art. 85 Abs. 3 der Verfahrensordnung ein neues Beweisangebot vorgelegt.

15      Am 2. Juli 2021 hat die Kommission zu diesem Beweisangebot Stellung genommen.

16      In der Sitzung vom 5. Oktober 2021 haben die Parteien mündlich verhandelt und die mündlichen Fragen des Gerichts beantwortet.

17      Die Klägerinnen beantragen im Wesentlichen,

–        die angefochtene Entscheidung für nichtig zu erklären;

–        der Kommission die Kosten aufzuerlegen.

18      Die Kommission beantragt,

–        die Klage abzuweisen;

–        den Klägerinnen die Kosten aufzuerlegen.

 Rechtliche Würdigung

19      Die Klage wird auf zwei Gründe gestützt. Mit dem ersten Klagegrund werden ein Verstoß gegen Nr. 23 des Anhangs I der Verordnung (EU, Euratom) 2018/1046 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Juli 2018 über die Haushaltsordnung für den Gesamthaushaltsplan der Union, zur Änderung der Verordnungen (EU) Nr. 1296/2013, (EU) Nr. 1301/2013, (EU) Nr. 1303/2013, (EU) Nr. 1304/2013, (EU) Nr. 1309/2013, (EU) Nr. 1316/2013, (EU) Nr. 223/2014, (EU) Nr. 283/2014 und des Beschlusses Nr. 541/2014/EU sowie zur Aufhebung der Verordnung (EU, Euratom) Nr. 966/2012 (ABl. 2018, L 193, S. 1, im Folgenden: Haushaltsordnung) sowie ein offensichtlicher Beurteilungsfehler geltend gemacht. Der zweite Klagegrund richtet sich gegen einen Begründungsmangel.

20      Mit dem zweiten Klagegrund, der zuerst zu prüfen ist, machen die Klägerinnen im Wesentlichen geltend, dass der öffentliche Auftraggeber den erheblichen Unterschied zwischen dem Preis ihres Angebots und dem Preis des Angebots des Zuschlagsempfängers nicht berücksichtigt habe, obwohl dieser als Hinweis hätte angesehen werden müssen, der einen Verdacht auf ein ungewöhnlich niedriges Angebot wecken könne. Sie bringen außerdem vor, dass er seine Schlussfolgerung, dass das ausgewählte Angebot nicht ungewöhnlich niedrig sei, nicht hinreichend begründet habe.

21      Insbesondere sei die angefochtene Entscheidung, zusammen mit den Auszügen aus dem Bewertungsbericht, hinsichtlich der Frage, ob das für das Los A des in Rede stehenden Auftrags ausgewählte Angebot außergewöhnlich niedrig gewesen sei, mit einem Begründungsmangel behaftet.

22      Das Schreiben der Kommission vom 2. Juli 2020 enthalte keine Rechtfertigung der vom öffentlichen Auftraggeber getroffenen Entscheidungen. Auch das Schreiben der Kommission vom 3. Juli 2020 enthalte weder nähere Erklärungen noch eine Begründung der Entscheidungen des öffentlichen Auftraggebers im Rahmen der Auftragsvergabe. Hinsichtlich des Schreibens vom 20. Juli 2020, das auf ausdrückliche Nachfrage der Klägerinnen übermittelt wurde, machen diese schließlich geltend, die Kommission habe sich darin auf den Hinweis beschränkt, dass eine eingehende Prüfung des finanziellen Aspekts des ausgewählten Angebots ergeben habe, dass es den Marktbedingungen der Länder entspreche, von denen aus die Vertragspartner und ihre Unterauftragnehmer ihre Dienstleistungen erbringen würden. Diese Aussage zeige, dass die Kommission prima facie Zweifel gehabt habe, ob der vom Konsortium ARHS‑IBM angebotene Preis normal sei, was im Widerspruch zur knappen Begründung der Entscheidung stehe, mit der das Angebot angenommen worden sei.

23      Die Klägerinnen werfen der Kommission somit vor, sie habe nicht erläutert, weshalb sie den Preis des ausgewählten Angebots als normal angesehen habe, und erstens nicht dargelegt, aufgrund welcher Überlegungen sie zu dem Ergebnis gelangt sei, dass dieses Angebot in Anbetracht hauptsächlich seiner finanziellen Merkmale insbesondere die Rechtsvorschriften im Bereich der Vergütung des Personals, der Sozialversicherungsbeiträge und der Einhaltung der Bestimmungen über die Sicherheit und den Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz der Länder beachte, in denen die Dienstleistungen erbracht werden sollten, und zweitens nicht ausgeführt, ob sie geprüft habe, ob der angebotene Preis alle mit den technischen Aspekten des ausgewählten Angebots einhergehenden Kosten umfasse.

24      Die Kommission habe daher ihre Beurteilung der möglichen Auswirkungen eines ungewöhnlich niedrigen Angebots, die die Klägerinnen in ihrem Schreiben vom 10. Juli 2020 ausdrücklich angeführt hätten, nämlich die Gefahr von Sozialdumping und ein Risiko für die Kontinuität der Erbringung der Dienstleistungen, nicht ordnungsgemäß begründet.

25      Die Kommission tritt dem Vorbringen der Klägerinnen entgegen.

26      Die speziellen Vorschriften über die Begründungspflicht bei ungewöhnlich niedrigen Angeboten finden nach Ansicht der Kommission nur Anwendung, wenn Zweifel daran bestünden, dass es sich bei einem angebotenen Preis um einen normalen Preis handele. Das sei hier nicht der Fall gewesen, so dass nur die allgemeine Begründungspflicht zum Tragen komme.

27      Im vorliegenden Fall macht die Kommission geltend, sie habe den Klägerinnen in ihrem Schreiben vom 3. Juli 2020 die beantragten Informationen übermittelt. Der Bewertungsbericht enthalte keinen Hinweis darauf, dass das ausgewählte Angebot ungewöhnlich niedrig sei, da im Rahmen der Prüfung des Angebots kein solcher Hinweis entdeckt worden sei.

28      Sie weist darauf hin, dass sie mit Schreiben vom 20. Juli 2020 die Fragen der Klägerinnen, die sich u. a. auf die Gefahr von Sozialdumping bezogen hätten, beantwortet habe, indem sie erläutert habe, dass jedes Angebot genau geprüft worden sei und prima facie zutage getreten sei, dass die Angebote den Marktbedingungen der Länder entsprächen, von denen aus die Dienstleistungen erbracht werden sollten.

29      Die Kommission macht dazu geltend, dass der Umstand, dass sie dargelegt habe, dass eine „eingehende Prüfung“ durchgeführt worden sei, entgegen dem Vorbringen der Klägerinnen keineswegs darauf hindeute, dass sie prima facie Zweifel gehabt habe, ob es sich bei dem vom Konsortium ARHS‑IBM angebotenen Preis um einen normalen Preis handele. Jedes Angebot werde nämlich gründlich bewertet, und der öffentliche Auftraggeber habe prima facie die Gesichtspunkte zu prüfen, die darauf hindeuten könnten, dass ein Angebot nicht mit den Marktbedingungen vereinbar sei. Die im Schreiben vom 20. Juli 2020 ausgeführte Begründung sei aus diesem Blickwinkel zu betrachten.

30      Nach Auffassung der Kommission ist sie ihrer allgemeinen Begründungspflicht nachgekommen, da die von den Klägerinnen angeführten speziellen Verpflichtungen nur dann zum Tragen kämen, wenn Zweifel bestünden, ob es sich um einen normalen Angebotspreis handele, was hier nicht der Fall gewesen sei.

31      Zunächst ist festzustellen, dass die Klägerinnen mit dem vorliegenden Klagegrund, mit dem ein Begründungsmangel gerügt wird, im Wesentlichen eine unzureichende Begründung der angefochtenen Entscheidung in Bezug auf die Frage geltend machen, ob das ausgewählte Angebot ungewöhnlich niedrig sei. Dies ergibt sich sowohl aus der Klageschrift als auch aus den mündlichen Ausführungen der Klägerinnen.

32      Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass die Kommission bei der Beurteilung der Umstände, die bei der Entscheidung über die Vergabe eines Auftrags im Wege der Ausschreibung zu berücksichtigen sind, über einen weiten Spielraum verfügt. Die gerichtliche Kontrolle hinsichtlich der Wahrnehmung dieses Beurteilungsspielraums ist daher auf die Prüfung beschränkt, ob die Verfahrens- und Begründungsvorschriften eingehalten worden sind, sowie auf die Prüfung, ob der Sachverhalt zutrifft und kein offensichtlicher Beurteilungsfehler oder Ermessensmissbrauch vorliegt (vgl. Urteil vom 2. Februar 2017, European Dynamics Luxembourg und Evropaïki Dynamiki/Kommission, T‑74/15, nicht veröffentlicht, EU:T:2017:55, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).

33      Soweit die Kommission über einen weiten Beurteilungsspielraum verfügt, kommt nach ständiger Rechtsprechung eine umso größere Bedeutung der Beachtung der Garantien zu, die die Rechtsordnung der Europäischen Union in Verwaltungsverfahren gewährt. Zu diesen Garantien gehört insbesondere die Verpflichtung des zuständigen Organs, seine Entscheidungen ausreichend zu begründen. Nur so kann der Unionsrichter überprüfen, ob die für die Wahrnehmung des Beurteilungsspielraums maßgeblichen sachlichen und rechtlichen Umstände vorgelegen haben (Urteile vom 21. November 1991, Technische Universität München, C‑269/90, EU:C:1991:438, Rn. 14, vom 10. September 2008, Evropaïki Dynamiki/Kommission, T‑465/04, nicht veröffentlicht, EU:T:2008:324, Rn. 54, und vom 2. Februar 2017, European Dynamics Luxembourg und Evropaïki Dynamiki/Kommission, T‑74/15, nicht veröffentlicht, EU:T:2017:55, Rn. 36).

34      Nach Art. 41 Abs. 2 Buchst. c der Charta der Grundrechte der Europäischen Union hat die Verwaltung die Verpflichtung, ihre Entscheidungen zu begründen. Diese Begründungspflicht beinhaltet, dass nach Art. 296 Abs. 2 AEUV der Urheber eines Rechtsakts die diesem Rechtsakt zugrunde liegenden Überlegungen so klar und eindeutig zum Ausdruck bringen muss, dass zum einen die Betroffenen die Gründe für die erlassene Maßnahme erkennen können, um ihre Rechte geltend zu machen, und dass zum anderen der Unionsrichter seine Kontrolle ausüben kann (Urteile vom 25. Februar 2003, Strabag Benelux/Rat, T‑183/00, EU:T:2003:36, Rn. 55, vom 24. April 2013, Evropaïki Dynamiki/Kommission, T‑32/08, nicht veröffentlicht, EU:T:2013:213, Rn. 37, und vom 16. Mai 2019, Transtec/Kommission, T‑228/18, EU:T:2019:336, Rn. 91).

35      Somit ist die Verpflichtung der Verwaltung, ihre Entscheidungen zu begründen, nicht nur allgemein Ausdruck der Transparenz des Verwaltungshandelns, sondern soll auch den Einzelnen in die Lage versetzen, in Kenntnis aller Umstände zu entscheiden, ob es für ihn von Nutzen ist, vor Gericht zu gehen. Es besteht also ein enger Zusammenhang zwischen zum einen der Begründungspflicht und zum anderen dem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz und dem Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf nach Art. 47 der Charta der Grundrechte. Anders ausgedrückt trägt die Begründungspflicht zur Gewährleistung eines effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes bei (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 10. Oktober 2012, Sviluppo Globale/Kommission, T‑183/10, nicht veröffentlicht, EU:T:2012:534, Rn. 40, und vom 4. Juli 2017, European Dynamics Luxembourg u. a./Eisenbahnagentur der Europäischen Union, T‑392/15, EU:T:2017:462, Rn. 73 und die dort angeführte Rechtsprechung).

36      Daraus folgt, dass die Frage, ob die Begründungspflicht beachtet wurde, grundsätzlich unter Berücksichtigung der Informationen zu beurteilen ist, die die Klägerinnen spätestens bei der Klageerhebung besaßen. Somit kann die Begründung nicht zum ersten Mal und nachträglich vor dem Unionsrichter erfolgen, und nur außergewöhnliche Umstände können die Berücksichtigung von während des Verfahrens vorgebrachten Umständen rechtfertigen (vgl. Urteil vom 4. Juli 2017, European Dynamics Luxembourg u. a./Eisenbahnagentur der Europäischen Union, T‑392/15, EU:T:2017:462, Rn. 74 und die dort angeführte Rechtsprechung).

37      Des Weiteren ist das Begründungserfordernis nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach dem Inhalt des Rechtsakts, der Art der angeführten Gründe und dem Interesse zu beurteilen, das die Adressaten des Rechtsakts oder andere unmittelbar und individuell davon betroffene Personen an Erläuterungen haben können. In der Begründung brauchen nicht alle tatsächlich oder rechtlich einschlägigen Gesichtspunkte genannt zu werden, da die Frage, ob die Begründung eines Rechtsakts den Erfordernissen des Art. 296 AEUV genügt, nicht nur anhand seines Wortlauts zu beurteilen ist, sondern auch anhand seines Kontexts sowie sämtlicher Rechtsvorschriften auf dem betreffenden Gebiet (vgl. Urteile vom 11. Juli 2013, Ziegler/Kommission, C‑439/11 P, EU:C:2013:513, Rn. 116 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 4. Juli 2017, European Dynamics Luxembourg u. a./Eisenbahnagentur der Europäischen Union, T‑392/15, EU:T:2017:462, Rn. 75 und die dort angeführte Rechtsprechung).

38      Die in der Haushaltsordnung und deren Anhang I enthaltenen Vorschriften über öffentliche Aufträge der Union präzisieren die Begründungspflicht des öffentlichen Auftraggebers. Insbesondere sehen Art. 170 der Haushaltsordnung und Nr. 31 ihres Anhangs I gegenüber abgelehnten Bietern eine Begründung in zwei Schritten vor.

39      Zunächst teilt der öffentliche Auftraggeber allen abgelehnten Bietern mit, dass ihr Angebot abgelehnt wurde, und unterrichtet sie über die Gründe für diese Ablehnung. Wenn ein abgelehnter Bieter, für den keine Ausschlusssituation vorliegt und der die Auswahlkriterien erfüllt, dies schriftlich beantragt, teilt der öffentliche Auftraggeber ihm sodann nach Art. 170 Abs. 3 der Haushaltsordnung und Nr. 31.2 ihres Anhangs I so schnell wie möglich und auf jeden Fall innerhalb von 15 Tagen nach Eingang des schriftlichen Antrags die Merkmale und relativen Vorteile des erfolgreichen Angebots, den Preis bzw. den Vertragswert und den Namen des Zuschlagsempfängers mit.

40      Diese Unterrichtung in zwei Schritten ist mit dem Ziel der Begründungspflicht vereinbar, das – wie oben in den Rn. 34 und 35 dargelegt – darin besteht, zum einen den Betroffenen die Gründe für die erlassene Maßnahme zur Kenntnis zu bringen, damit sie ihre Rechte geltend machen können, und zum anderen dem Unionsrichter die Ausübung seiner Kontrolle zu ermöglichen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Juli 2017, European Dynamics Luxembourg u. a./Eisenbahnagentur der Europäischen Union, T‑392/15, EU:T:2017:462, Rn. 79 und die dort angeführte Rechtsprechung).

41      Da die Pflicht zur Begründung eines Rechtsakts, wie oben in Rn. 37 ausgeführt, vom tatsächlichen und rechtlichen Kontext abhängt, in dem er erlassen wurde, ist im vorliegenden Fall auch der Rechtsrahmen für ungewöhnlich niedrige Angebote zu berücksichtigen.

42      In diesem Zusammenhang bestimmt Anhang I Nr. 23.1 der Haushaltsordnung: „Scheinen die bei einem bestimmten Vertrag im Angebot vorgeschlagenen Preise oder Kosten ungewöhnlich niedrig zu sein, so verlangt der öffentliche Auftraggeber schriftlich Aufklärung über die wesentlichen Bestandteile der Preise oder Kosten, die er für relevant hält, und gibt dem [betreffenden] Bieter Gelegenheit zur Stellungnahme.“

43      Gemäß Anhang I Nr. 23.2 der Haushaltsordnung „lehnt [der öffentliche Auftraggeber] das Angebot nur dann ab, wenn die beigebrachten Nachweise das niedrige Niveau des vorgeschlagenen Preises beziehungsweise der vorgeschlagenen Kosten nicht zufriedenstellend erklären“. Außerdem „lehnt [er] das Angebot ab, wenn er feststellt, dass das Angebot ungewöhnlich niedrig ist, weil es den geltenden umwelt‑, sozial- und arbeitsrechtlichen Verpflichtungen nicht genügt“.

44      Der Begriff „ungewöhnlich niedriges Angebot“ wird in der Haushaltsordnung nicht definiert. Nach der Rechtsprechung ist jedoch die Frage, ob ein Angebot ungewöhnlich niedrig ist, im Verhältnis zu seinen Einzelposten und zur betreffenden Leistung zu beurteilen (vgl. Urteil vom 4. Juli 2017, European Dynamics Luxembourg u. a./Eisenbahnagentur der Europäischen Union, T‑392/15, EU:T:2017:462, Rn. 83 und die dort angeführte Rechtsprechung).

45      Eine Pflicht des öffentlichen Auftraggebers, die Seriosität eines Angebots zu prüfen, ergibt sich dann, wenn zuvor Zweifel an seiner Verlässlichkeit bestanden, da Anhang I Nr. 23.1 der Haushaltsordnung hauptsächlich verhindern soll, dass ein Bieter vom Vergabeverfahren ausgeschlossen wird, ohne dass er die Möglichkeit gehabt hätte, den Inhalt seines ungewöhnlich niedrig erscheinenden Angebots zu begründen. Daher ist der Bewertungsausschuss nur bei Vorliegen solcher Zweifel verpflichtet, die angezeigten Aufklärungen über die Einzelposten des Angebots zu verlangen, bevor er es gegebenenfalls nach Nr. 23.2 des genannten Anhangs ablehnt. Hingegen ist Nr. 23.1 dann, wenn ein Angebot nicht ungewöhnlich niedrig im Sinne dieser Bestimmung erscheint, nicht anwendbar (vgl. in diesem Sinne entsprechend Urteile vom 6. Juli 2005, TQ3 Travel Solutions Belgium/Kommission, T‑148/04, EU:T:2005:274, Rn. 49 und 50, vom 5. November 2014, Computer Resources International [Luxembourg]/Kommission, T‑422/11, EU:T:2014:927, Rn. 57, und vom 4. Juli 2017, European Dynamics Luxembourg u. a./Eisenbahnagentur der Europäischen Union, T‑392/15, EU:T:2017:462, Rn. 85).

46      Nach der Rechtsprechung können solche Zweifel insbesondere vorliegen, wenn es ungewiss erscheint, ob zum einen ein Angebot die Rechtsvorschriften im Bereich der Vergütung des Personals, der Sozialversicherungsbeiträge, der Einhaltung der Bestimmungen über die Sicherheit und den Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz und des Verkaufs unter Selbstkosten des Landes beachtet, in dem die Dienstleistungen erbracht werden müssten, und ob zum anderen der angebotene Preis alle mit den technischen Aspekten des Angebots einhergehenden Kosten umfasst (vgl. Urteil vom 4. Juli 2017, European Dynamics Luxembourg u. a./Eisenbahnagentur der Europäischen Union, T‑392/15, EU:T:2017:462, Rn. 86 und die dort angeführte Rechtsprechung).

47      Nach alledem wird die Frage, ob ungewöhnlich niedrige Angebote vorliegen, vom öffentlichen Auftraggeber in zwei Schritten geprüft.

48      In einem ersten Schritt prüft der öffentliche Auftraggeber, ob der Preis oder die Kosten des Angebots ungewöhnlich niedrig zu sein „scheinen“. Die Verwendung des Verbs „scheinen“ in Anhang I Nr. 23.1 der Haushaltsordnung bedeutet, dass der öffentliche Auftraggeber eine Prima-facie-Prüfung der Frage vornimmt, ob ein Angebot ungewöhnlich niedrig ist, nicht aber, dass er von Amts wegen die Einzelpositionen jedes Angebots eingehend prüft, um festzustellen, ob es nicht ungewöhnlich niedrig ist. Somit muss der öffentliche Auftraggeber in dieser ersten Phase nur feststellen, ob die eingereichten Angebote einen Hinweis enthalten, der den Verdacht erwecken kann, dass sie ungewöhnlich niedrig sein könnten. Dies ist insbesondere der Fall, wenn der in einem Angebot angeführte Preis erheblich niedriger ist als derjenige der anderen Angebote oder als der übliche Marktpreis. Enthalten die eingereichten Angebote keinen solchen Hinweis und erscheinen sie daher nicht ungewöhnlich niedrig, kann der öffentliche Auftraggeber ihre Bewertung und das Vergabeverfahren fortsetzen (vgl. in diesem Sinne entsprechend Urteil vom 4. Juli 2017, European Dynamics Luxembourg u. a./Eisenbahnagentur der Europäischen Union, T‑392/15, EU:T:2017:462, Rn. 88).

49      In einem zweiten Schritt hat der öffentliche Auftraggeber hingegen, wenn Hinweise vorliegen, die den Verdacht erwecken können, dass ein Angebot ungewöhnlich niedrig sein könnte, die Einzelpositionen des Angebots zu prüfen, um sich zu vergewissern, dass es nicht ungewöhnlich niedrig ist. Wenn er diese Prüfung vornimmt, ist der öffentliche Auftraggeber verpflichtet, dem betreffenden Bieter die Möglichkeit zu geben, die Gründe darzulegen, aus denen er der Ansicht ist, dass sein Angebot nicht ungewöhnlich niedrig ist. Er hat sodann die gegebenen Erläuterungen zu beurteilen und festzustellen, ob das in Rede stehende Angebot ungewöhnlich niedrig ist. Ist dies der Fall, so ist er zu dessen Ablehnung verpflichtet (Urteil vom 4. Juli 2017, European Dynamics Luxembourg u. a./Eisenbahnagentur der Europäischen Union, T‑392/15, EU:T:2017:462, Rn. 89).

50      Das Gericht hat sich bereits zur Begründungspflicht des öffentlichen Auftraggebers gegenüber dem unterlegenen Bieter geäußert, wenn er in der Phase der Bewertung der Angebote Zweifel hatte, ob ein eingereichtes Angebot ungewöhnlich niedrig war, und nach Stellungnahme des betreffenden Bieters und eingehenderer Prüfung dieses Angebot nicht als ungewöhnlich niedrig erachtete. Insbesondere hat es entschieden, dass der öffentliche Auftraggeber, um hinreichend zu begründen, dass das ausgewählte Angebot nach eingehender Prüfung nicht ungewöhnlich niedrig war, die Überlegungen darlegen musste, aufgrund deren er zum einen zu dem Ergebnis gelangt war, dass dieses Angebot in Anbetracht hauptsächlich seiner finanziellen Merkmale insbesondere die Rechtsvorschriften im Bereich der Vergütung des Personals, der Sozialversicherungsbeiträge und der Einhaltung der Bestimmungen über die Sicherheit und den Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz des Landes beachtete, in dem die Dienstleistungen erbracht werden sollten, und zum anderen festgestellt hatte, dass die angebotenen Preise alle mit den technischen Aspekten des genannten Angebots einhergehenden Kosten umfassten (vgl. Urteil vom 4. Juli 2017, European Dynamics Luxembourg u. a./Eisenbahnagentur der Europäischen Union, T‑392/15, EU:T:2017:462, Rn. 91 und die dort angeführte Rechtsprechung).

51      Zum Umfang der Begründungspflicht, die dem öffentlichen Auftraggeber obliegt, wenn er der Ansicht ist, dass das ausgewählte Angebot nicht ungewöhnlich niedrig erscheint, ergibt sich aus den oben in den Rn. 42 bis 45 angeführten Regeln betreffend ungewöhnlich niedrige Angebote und insbesondere aus dem Umstand, dass der öffentliche Auftraggeber zunächst nur eine Prima-facie-Prüfung der Frage vornimmt, ob ein Angebot ungewöhnlich niedrig ist, dass diese Begründungspflicht begrenzt ist. Den öffentlichen Auftraggeber dazu zu zwingen, im Einzelnen die Gründe darzulegen, aus denen ihm ein Angebot nicht ungewöhnlich niedrig erscheint, würde nämlich darauf hinauslaufen, der Unterscheidung zwischen den beiden Schritten der in Anhang I Nr. 23 der Haushaltsordnung vorgesehenen Prüfung nicht Rechnung zu tragen (vgl. in diesem Sinne entsprechend Urteil vom 4. Juli 2017, European Dynamics Luxembourg u. a./Eisenbahnagentur der Europäischen Union, T‑392/15, EU:T:2017:462, Rn. 92).

52      Insbesondere ist ein öffentlicher Auftraggeber, wenn er ein Angebot auswählt, nicht gehalten, ausdrücklich auf jedes Begründungsersuchen hin, das nach Art. 170 Abs. 3 der Haushaltsordnung an ihn gerichtet wird, die Gründe anzugeben, aus denen ihm das Angebot, das er ausgewählt hat, nicht ungewöhnlich niedrig erschien. Wenn nämlich dieses Angebot vom öffentlichen Auftraggeber ausgewählt wird, folgt daraus implizit, aber notwendig, dass er davon ausging, dass keine Hinweise dafür vorlagen, dass dieses Angebot ungewöhnlich niedrig war. Hingegen müssen einem abgelehnten Bieter, der ausdrücklich darum ersucht, solche Gründe mitgeteilt werden (vgl. in diesem Sinne entsprechend Urteil vom 4. Juli 2017, European Dynamics Luxembourg u. a./Eisenbahnagentur der Europäischen Union, T‑392/15, EU:T:2017:462, Rn. 93).

53      Von einem öffentlichen Auftraggeber zu verlangen, dass er auf Antrag des abgelehnten Bieters darlegt, dass das ausgewählte Angebot nicht ungewöhnlich niedrig ist, erlaubt es nämlich, die Bestimmungen von Art. 170 Abs. 3 der Haushaltsordnung und von Nr. 31.2 ihres Anhangs I einzuhalten, da der abgelehnte Bieter durch eine entsprechende Begründung über einen wichtigen Aspekt der Merkmale und relativen Vorteile des ausgewählten Angebots unterrichtet wird (vgl. in diesem Sinne entsprechend Urteile vom 15. Oktober 2013, European Dynamics Belgium u. a./EMA, T‑638/11, nicht veröffentlicht, EU:T:2013:530, Rn. 66, und vom 2. Februar 2017, European Dynamics Luxembourg und Evropaïki Dynamiki/Kommission, T‑74/15, nicht veröffentlicht, EU:T:2017:55, Rn. 51).

54      Im Übrigen reicht es nach der Rechtsprechung weder aus, dass sich der öffentliche Auftraggeber auf die bloße Feststellung beschränkt, dass das im Rahmen des Vergabeverfahrens ausgewählte Angebot nicht ungewöhnlich niedrig ist, noch, dass er lediglich dartut, dass davon ausgegangen worden sei, dass das in Rede stehende Angebot nicht ungewöhnlich niedrig sei (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. Februar 2017, European Dynamics Luxembourg und Evropaïki Dynamiki/Kommission, T‑74/15, nicht veröffentlicht, EU:T:2017:55, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung).

55      Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass sich die Kommission mit ihren Schreiben vom 2. und 3. Juli 2020 (siehe oben, Rn. 3 und 5) gemäß Art. 170 der Haushaltsordnung und Nr. 31 ihres Anhangs I in einem ersten Schritt darauf beschränkt hat, den Klägerinnen mitzuteilen, dass ihr Angebot abgelehnt worden sei, und ihnen einen Auszug aus dem Bericht des Bewertungsausschusses zu ihrem Angebot zu übermitteln, und in einem zweiten Schritt darauf, den Klägerinnen auf deren schriftlichen Antrag hin den Namen des Zuschlagsempfängers mitzuteilen und ihnen einen weiteren Auszug aus dem Bericht des Bewertungsausschusses zu übermitteln, aus dem die Merkmale und relativen Vorteile des ausgewählten Angebots hervorgehen sollten. Aus dem letztgenannten Auszug ergibt sich, dass die Einzelheiten des ausgewählten Angebots, die den Klägerinnen neben seinem Preis, seiner Punktzahl für das finanzielle Angebot und seinem Preis-Leistungs-Verhältnis, das durch die Gesamtpunktzahl zum Ausdruck kommt, mitgeteilt wurden, nur technische Aspekte dieses Angebots umfassten. Insbesondere betrafen die zu diesem Zeitpunkt übermittelten Details nicht die Prüfung des Preises des ausgewählten Angebots im Hinblick darauf, ob dieser möglicherweise ungewöhnlich niedrig war.

56      Mit Schreiben vom 10. Juli 2020 (siehe oben, Rn. 7) forderten die Klägerinnen die Kommission auf, u. a. zu bestätigen, dass sie geprüft habe, dass das ausgewählte Angebot im Hinblick auf seinen Preis keine Gefahr von „Sozialdumping“ mit sich bringe, wobei sie den realistischen und wettbewerbsfähigen Preis ihres eigenen Angebots unter Berücksichtigung der Marktbedingungen, ihre Erfahrung als Vertragspartnerinnen der Kommission und die Risiken in Bezug auf die Erfüllung des Vertrags hervorhoben, die mit einem Angebot verbunden seien, dessen Preis erheblich unter dem ihren liege.

57      Es trifft zu, dass sich die Klägerinnen nicht ausdrücklich auf den Begriff „ungewöhnlich niedriges Angebot“ gestützt haben. Gleichwohl haben sie, wie in der Klageschrift geltend gemacht, ohne dass die Kommission ihnen insoweit in der Klagebeantwortung oder bei der Beantwortung einer Frage des Gerichts in der mündlichen Verhandlung widersprochen hätte, klar auf die möglichen Folgen hingewiesen, die sich aus der Abgabe eines ungewöhnlich niedrigen Angebots ergäben, nämlich die Gefahr von Sozialdumping – da bei einem solchen Angebot die Rechtsvorschriften im Bereich der Vergütung des Personals, der Sozialversicherungsbeiträge und der Einhaltung der Bestimmungen über die Sicherheit und den Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz der Länder, in denen die Dienstleistungen erbracht werden sollten, möglicherweise nicht eingehalten würden – und ein Risiko für die Kontinuität der Erbringung dieser Dienstleistungen.

58      Hierzu ist festzustellen, dass sich die Kommission in ihrem Schreiben vom 20. Juli 2020 darauf beschränkt hat, zu antworten, dass eine eingehende Prüfung des Angebots des Zuschlagsempfängers in finanzieller Hinsicht ergeben habe, dass es den Marktbedingungen der Länder entspreche, von denen aus die Auftragnehmer und ihre Unterauftragnehmer die in Auftrag gegebenen Dienstleistungen erbringen würden.

59      Aus dem Schreiben der Kommission vom 2. Juli 2020 ergibt sich indessen, dass das gemeinsame Angebot des von den Klägerinnen gebildeten Konsortiums für das Los A nicht ausgewählt wurde, da es sich dabei aus der Sicht der Kommission nicht um das wirtschaftlich günstigste Angebot handelte. Aus den beiden von der Kommission an die Klägerinnen übermittelten Auszügen aus dem Bericht des Bewertungsausschusses (siehe oben, Rn. 4 und 6) geht hervor, dass der Unterschied zwischen der Gesamtpunktzahl des ausgewählten und der des abgelehnten Angebots weniger als 7,72 Punkte betrug. Zudem ergibt sich aus den Auszügen, dass dieser Unterschied zur Gänze auf der signifikanten Differenz von 6 644 356,26 Euro zwischen dem von den Klägerinnen und dem vom Zuschlagsempfänger angebotenen Preis zurückzuführen ist, was eine Differenz von 9,19 Punkten zu Ungunsten der Klägerinnen bei der Punktzahl für das finanzielle Angebot ergab, wohingegen ihr Angebot bei der Punktzahl für die Qualität des Angebots jene des ausgewählten Angebots um 1,47 Punkte überstieg.

60      Unter diesen Umständen konnte sich die Kommission angesichts der Tatsache, dass die einzigen Angebote für das Los A von dem aus den Klägerinnen bestehenden Konsortium und vom Zuschlagsempfänger stammten und es daher nur eine Vergleichsgröße – nämlich den Preis des Angebots der Klägerinnen – für die Prüfung gab, ob ein Anhaltspunkt dafür vorlag, dass der Preis des ausgewählten Angebots als ungewöhnlich niedrig angesehen werden konnte, nicht auf die Feststellung beschränken, dass das ausgewählte Angebot den Marktbedingungen der Länder entspreche, in denen die in Rede stehenden Dienstleistungen von den Auftragnehmern und deren Unterauftragnehmern erbracht werden würden. Da nämlich das Kriterium des Preises für die Einstufung der Angebote entscheidend war und der Preis des ausgewählten Angebots seinen einzigen relativen Vorteil darstellte, hätte die Kommission, um dem Antrag der Klägerinnen angemessen zu entsprechen, zumindest Informationen über den Anteil des Auftrags übermitteln müssen, der von Subunternehmern ausgeführt werden sollte, sowie Informationen zu den Ländern, von denen aus die in Rede stehenden Dienstleistungen erbracht werden sollten, wie sie es in der Klagebeantwortung und in der mündlichen Verhandlung getan hat. Auf diese Weise hätten die Klägerinnen die Gründe für den Preisunterschied zwischen den beiden Angeboten besser nachvollziehen können. Mit diesen Informationen hätten ihnen auch genügend Hinweise vorgelegen, um die Gründe zu verstehen, aus denen die Kommission davon ausgegangen war, dass das ausgewählte Angebot nicht ungewöhnlich niedrig erschien, und sie hätten dann gegebenenfalls die Richtigkeit dieser Beurteilung in Frage stellen können.

61      Da sich die Kommission in ihrem Schreiben vom 20. Juli 2020 auf die bloße Behauptung beschränkt hat, dass der Preis des ausgewählten Angebots nicht ungewöhnlich niedrig sei, ist sie der ihr unter den Umständen des vorliegenden Falls obliegenden Begründungspflicht nicht nachgekommen.

62      Diese Schlussfolgerung kann erstens nicht durch das Argument der Kommission in Frage gestellt werden, es gebe besondere Regeln für den Umfang der Begründung hinsichtlich des etwaigen Vorliegens ungewöhnlich niedriger Angebote, die ausschließlich im Fall von Zweifeln an der Normalität des Preises des ausgewählten Angebots zum Tragen kämen, was hier nicht der Fall gewesen sei.

63      Dieses Argument beruht auf einem falschen Verständnis von Rn. 49 des Urteils vom 10. September 2019, Trasys International und Axianseu – Digital Solutions/EASA (T‑741/17, EU:T:2019:572), auf die die Kommission Bezug nimmt. In dieser Randnummer heißt es, dass, wenn Hinweise vorliegen, die den Verdacht erwecken können, dass ein Angebot ungewöhnlich niedrig sein könnte, der öffentliche Auftraggeber verpflichtet ist, einem abgelehnten Bieter, der ausdrücklich darum ersucht, die Gründe mitzuteilen, aus denen ihm das Angebot, das er ausgewählt hat, nicht ungewöhnlich niedrig erschien.

64      Diese Randnummer des Urteils vom 10. September 2019, Trasys International und Axianseu – Digital Solutions/EASA (T‑741/17, EU:T:2019:572), stellt eine in der jenem Urteil zugrunde liegenden Rechtssache vorgenommene Anwendung der vom Gericht in Rn. 93 des Urteils vom 4. Juli 2017, European Dynamics Luxembourg u. a./Eisenbahnagentur der Europäischen Union (T‑392/15, EU:T:2017:462), entwickelten Lehre dar, auf die ausdrücklich Bezug genommen wird. Sie besagt, dass die Gründe, die den öffentlichen Auftraggeber zu der Annahme veranlasst haben, dass ein Angebot nicht ungewöhnlich niedrig erscheint, einem abgelehnten Bieter, der ausdrücklich darum ersucht, mitgeteilt werden müssen (vgl. in diesem Sinne auch Urteil vom 2. Februar 2017, European Dynamics Luxembourg und Evropaïki Dynamiki/Kommission, T‑74/15, nicht veröffentlicht, EU:T:2017:55, Rn. 49).

65      Somit ist festzustellen, dass die vom Gericht insbesondere in Rn. 49 des Urteils vom 10. September 2019, Trasys International und Axianseu – Digital Solutions/EASA (T‑741/17, EU:T:2019:572), angeblich vorgenommene Präzisierung entgegen dem Vorbringen der Kommission im spezifischen Kontext der Rechtssache zu sehen ist, in der jenes Urteil ergangen ist und in der Zweifel an den von mehreren Bietern angebotenen Preisen bestanden (vgl. insbesondere Rn. 47 jenes Urteils), und nicht den Grundsatz in Frage stellen kann, dass die Gründe, die den öffentlichen Auftraggeber zu der Annahme veranlasst haben, dass das ausgewählte Angebot nicht ungewöhnlich niedrig erscheine, Teil der Beurteilung in Bezug auf die jeweiligen Merkmale und relativen Vorteile des Angebots sind und dem abgelehnten Bieter, der ausdrücklich darum ersucht, mitzuteilen sind (siehe oben, Rn. 52 und 53).

66      In Anbetracht der oben in den Rn. 56 und 57 dargelegten Erwägungen steht fest, dass die Klägerinnen einen entsprechenden Antrag gestellt haben.

67      Zweitens trägt die Kommission im Wesentlichen vor, die Haushaltsordnung sehe keine Verpflichtung des öffentlichen Auftraggebers vor, dem abgelehnten Bieter, der darum ersuche, mitzuteilen, aus welchen Gründen er das ausgewählte Angebot nicht als ungewöhnlich niedrig angesehen habe, zumal nach Nr. 23.1 ihres Anhangs I eine entsprechende Prüfung nur vorgenommen werde, wenn ein Angebot ungewöhnlich niedrig erscheine.

68      Es kann jedoch nicht zugelassen werden, dass ein öffentlicher Auftraggeber sich dadurch, dass er sich auf diese Bestimmung beruft, der in Art. 170 Abs. 3 der Haushaltsordnung vorgesehenen Verpflichtung entzieht, dem abgelehnten Bieter, der schriftlich darum ersucht, die Merkmale und Vorteile des ausgewählten Angebots mitzuteilen, zu denen unbestreitbar auch die Gründe gehören, aus denen dieses Angebot nicht ungewöhnlich niedrig erschien. Die Kommission durfte sich daher nicht auf die Feststellung beschränken, dass sie das ausgewählte Angebot nicht als ungewöhnlich niedrig angesehen habe, ohne den Klägerinnen, die dies ausdrücklich beantragt hatten, die Gründe für diese Schlussfolgerung mitzuteilen. Dies ergibt sich aus der oben in Rn. 53 angeführten Rechtsprechung.

69      Die Kommission hat zwar im Laufe des Verfahrens einige Erläuterungen abgegeben, wonach im Wesentlichen ein großer Teil der im ausgewählten Angebot vorgesehenen Leistungen an Unterauftragnehmer vergeben werde, von denen der Großteil in Griechenland und Rumänien ansässig sei, so dass der erhebliche Preisunterschied zwischen den eingereichten Angeboten durch die Lohnunterschiede an den Orten der Leistungserbringung erklärt werden könne. Unabhängig von jeder Erwägung in Bezug auf ihre Stichhaltigkeit können diese Erläuterungen jedoch nicht berücksichtigt werden. Aus der oben in Rn. 36 angeführten Rechtsprechung ergibt sich nämlich, dass nur Informationen berücksichtigt werden können, die die Klägerinnen vor der Erhebung der vorliegenden Klage erhalten haben, da die Begründung grundsätzlich nicht zum ersten Mal und nachträglich vor dem Unionsrichter erfolgen kann.

70      Angesichts der von der Kommission in ihrem Schreiben vom 20. Juli 2020 ausgeführten Begründung sowie der Angaben in ihren vorangegangenen Schreiben und in den Auszügen aus dem Bericht des Bewertungsausschusses, die diesen Schreiben beigefügt waren, kann indessen nicht davon ausgegangen werden, dass die Klägerinnen von allen Informationen über die Einzelposten des Angebots des Konsortiums ARHS‑IBM Kenntnis haben konnten, die es der Kommission ermöglichten, davon auszugehen, dass dieses Angebot nicht ungewöhnlich niedrig erschien.

71      Nach alledem ist dem Klagegrund, mit dem im Wesentlichen eine unzureichende Begründung in Bezug auf die Gründe geltend gemacht wird, die den öffentlichen Auftraggeber zu der Annahme veranlasst haben, dass das Angebot des Zuschlagsempfängers nicht ungewöhnlich niedrig erschien, stattzugeben, und die angefochtene Entscheidung ist folglich für nichtig zu erklären, ohne dass es erforderlich wäre, den ersten Klagegrund zur materiellen Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung zu prüfen, mit dem vorgebracht wird, der öffentliche Auftraggeber sei im Wesentlichen zu Unrecht davon ausgegangen, dass das in Rede stehende Angebot nicht ungewöhnlich niedrig gewesen sei (vgl. in diesem Sinne entsprechend Urteile vom 10. Oktober 2012, Sviluppo Globale/Kommission, T‑183/10, nicht veröffentlicht, EU:T:2012:534, Rn. 46, und vom 10. September 2019, Trasys International und Axianseu – Digital Solutions/EASA, T‑741/17, EU:T:2019:572, Rn. 88 und die dort angeführte Rechtsprechung), oder sich zum Beweisangebot der Klägerinnen und zu dessen – von der Kommission bestrittenen – Zulässigkeit zu äußern.

 Kosten

72      Nach Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kommission unterlegen ist, sind ihr entsprechend dem Antrag der Klägerinnen ihre eigenen Kosten und die Kosten der Klägerinnen aufzuerlegen.

Aus diesen Gründen hat

DAS GERICHT (Fünfte Kammer)

für Recht erkannt und entschieden:

1.      Die Entscheidung der Europäischen Kommission vom 2. Juli 2020 über die Ablehnung des von Sopra Steria Benelux und Unisys Belgium im Rahmen des Ausschreibungsverfahrens TAXUD/2019/OP/0006 abgegebenen gemeinsamen Angebots für Dienstleistungen in den Bereichen Spezifikation, Entwicklung, Wartung und 3.Ebene-Unterstützung von ITPlattformen der Generaldirektion „Steuern und Zollunion“ sowie über die Vergabe des Auftrags an das andere Konsortium, das ein Angebot eingereicht hatte, wird in Bezug auf das Los A für nichtig erklärt.

2.      Die Kommission trägt ihre eigenen Kosten sowie die Kosten von Sopra Steria Benelux und Unisys Belgium.

Spielmann

Öberg

Mastroianni

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 1. Dezember 2021.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Französisch.