Language of document : ECLI:EU:T:2012:164

Rechtssache T‑123/09

Ryanair Ltd

gegen

Europäische Kommission

„Staatliche Beihilfen – Einer Fluggesellschaft gewährtes Darlehen, das ihrem Eigenkapital zuzuordnen ist – Entscheidung, mit der die Beihilfe für mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar erklärt wird – Verkauf von Aktiva einer Fluggesellschaft – Entscheidung, mit der in der Vorprüfungsphase das Nichtvorliegen einer Beihilfe festgestellt wird – Nichtigkeitsklage – Klagebefugnis – Beteiligter – Zulässigkeit – Ernste Schwierigkeiten – Zuständigkeit – Begründungspflicht“

Leitsätze des Urteils

1.      Nichtigkeitsklage – Natürliche oder juristische Personen – Handlungen, die sie unmittelbar und individuell betreffen – Entscheidung der Kommission, mit der ohne Einleitung des förmlichen Prüfverfahrens die Vereinbarkeit einer staatlichen Beihilfe mit dem Gemeinsamen Markt festgestellt wird – Klage von Beteiligten im Sinne von Art. 88 Abs. 2 EG – Zulässigkeit

(Art. 88 Abs. 2 EG und Art. 230 Abs. 4 EG; Verordnung Nr. 659/1999 des Rates, Art. 1, Buchst. h., Art. 4 Abs. 3 und Art. 6 Abs. 1)

2.      Nichtigkeitsklage – Natürliche oder juristische Personen – Handlungen, die sie unmittelbar und individuell betreffen – Entscheidung der Kommission, mit der ohne Einleitung des förmlichen Prüfverfahrens die Vereinbarkeit einer staatlichen Beihilfe mit dem Gemeinsamen Markt festgestellt wird – Klage von Beteiligten im Sinne von Art. 88 Abs. 2 EG – Feststellung des Gegenstands der Klage – Klage, durch die die Verfahrensrechte der Beteiligten gewahrt werden sollen – Klagegründe, die geltend gemacht werden können

(Art. 88 Abs. 2 EG und Art. 230 Abs. 4 EG; Verordnung Nr. 659/1999 des Rates, Art. 6 Abs. 1)

3.      Nichtigkeitsklage – Natürliche oder juristische Personen – Handlungen, die sie unmittelbar und individuell betreffen – Klage von Beteiligten im Sinne von Art. 88 Abs. 2 EG – Recht zur Geltendmachung aller in Art. 230 Abs. 2 EG angeführter Rechtswidrigkeitsgründe – Klagegründe, die auf die Erwirkung einer Entscheidung abzielen, mit der über das Bestehen oder die Vereinbarkeit einer staatlichen Beihilfe mit dem Gemeinsamen Markt entschieden wird – Unzulässigkeit

(Art. 88 Abs. 2 EG und Art. 230 Abs. 2 EG)

4.      Staatliche Beihilfen – Begriff – Rechtsbegriff – Auslegung anhand objektiver Kriterien – Gerichtliche Nachprüfung – Umfang

(Art. 87 Abs. 1 EG und Art. 88 Abs. 2 und 3 EG; Verordnung Nr. 659/1999 des Rates, Art. 4 Abs. 4 und Art. 13 Abs. 1)

5.      Staatliche Beihilfen – Prüfung durch die Kommission – Vorprüfungsphase und kontradiktorische Prüfungsphase – Vereinbarkeit einer Beihilfe mit dem Gemeinsamen Markt – Beurteilungsschwierigkeiten – Verpflichtung der Kommission, das kontradiktorische Verfahren einzuleiten – Ernsthafte Schwierigkeiten – Begriff – Objektiver Charakter

(Art. 87 Abs. 1 EG und Art. 88 Abs. 2 und 3 EG)

6.      Staatliche Beihilfen – Prüfung durch die Kommission – Zuständigkeit – Erlass einer Entscheidung durch die Kommission, mit der sie das Nichtvorliegen einer staatlichen Beihilfe feststellt und zugleich die vom Mitgliedstaat eingegangenen Verpflichtungen zur Kenntnis nimmt

(Art. 88 Abs. 2 EG; Verordnung Nr. 659/1999 des Rates, Art. 4 Abs. 2)

7.      Staatliche Beihilfen – Entscheidung der Kommission – Beurteilung der Rechtmäßigkeit anhand der bei Erlass der Entscheidung verfügbaren Informationen

8.      Staatliche Beihilfen – Rückforderung einer rechtswidrigen Beihilfe – Bestimmung des Schuldners im Fall der Übertragung von Aktiva – Kriterium der sogenannten „wirtschaftlichen Kontinuität“ des Unternehmens – Verpflichtung, alle möglicherweise in Betracht kommenden Umstände zu berücksichtigen – Ausschluss

(Art. 88 Abs. 2 EG)

9.      Staatliche Beihilfen – Entscheidung der Kommission, mit der das Vorliegen einer staatlichen Beihilfe verneint wird – Begründungspflicht – Umfang

(Art. 87 Abs. 1 EG, Art. 88 Abs. 2 und 3 EG und Art. 253 EG)

10.    Nichtigkeitsklage – Natürliche oder juristische Personen – Handlungen, die sie unmittelbar und individuell betreffen – Entscheidung der Kommission, mit der ein Verfahren betreffend Beihilfen eingestellt wird – Mit dem durch die Beihilfe begünstigten Unternehmen konkurrierendes Unternehmen – Recht zur Einlegung eines Rechtsbehelfs – Voraussetzungen

(Art. 88 Abs. 2 EG und Art. 230 Abs. 4 EG)

1.      Im Bereich der Kontrolle staatlicher Beihilfen hängt die Rechtmäßigkeit einer auf Art. 4 Abs. 3 der Verordnung Nr. 659/1999 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel 88 EG gestützten Entscheidung, keine Einwände zu erheben, davon ab, ob Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit der Beihilfe mit dem Gemeinsamen Markt bestehen. Da solche Bedenken in die Einleitung eines förmlichen Prüfverfahrens münden müssen, an dem die Beteiligten im Sinne von Art. 1 Buchst. h der Verordnung Nr. 659/1999 teilnehmen können, ist davon auszugehen, dass jeder Beteiligte im Sinne dieser Bestimmung von einer solchen Entscheidung unmittelbar und individuell betroffen ist. Die Personen, denen die Verfahrensgarantien des Art. 88 Abs. 2 EG und Art. 6 Abs. 1 der Verordnung Nr. 659/1999 zugutekommen, können deren Beachtung nämlich nur durchsetzen, wenn sie die Möglichkeit haben, die Entscheidung, keine Einwände zu erheben, vor dem Unionsrichter anzufechten.

Mithin genügt die an den spezifischen Klagegegenstand geknüpfte besondere Eigenschaft eines Beteiligten im Sinne von Art. 1 Buchst. h der Verordnung Nr. 659/1999, um nach Art. 230 Abs. 4 EG den Kläger zu individualisieren, der eine Entscheidung, keine Einwände zu erheben, anficht. Nach dieser Bestimmung sind Beteiligte nämlich u. a. Personen, Unternehmen oder Unternehmensvereinigungen, deren Interessen aufgrund der Gewährung einer Beihilfe beeinträchtigt sein können, d. h. insbesondere Unternehmen, die mit dem Empfänger dieser Beihilfe in Wettbewerb stehen. Es handelt sich mit anderen Worten um eine unbestimmte Vielzahl von Adressaten.

(vgl. Randnrn. 63-65)

2.      Im Bereich der Kontrolle staatlicher Beihilfen gilt, dass ein Kläger, wenn er die Nichtigerklärung einer Entscheidung, keine Einwände zu erheben, beantragt, im Wesentlichen rügt, dass die Entscheidung über die Beihilfe getroffen worden sei, ohne dass die Kommission das förmliche Prüfverfahren eingeleitet habe, und dass diese dadurch seine Verfahrensrechte verletzt habe. Um mit seiner Klage durchzudringen, kann der Kläger jeden Klagegrund anführen, der geeignet ist, zu zeigen, dass die Beurteilung der Informationen und Angaben, über die die Kommission in der Phase der Vorprüfung der angemeldeten Maßnahme verfügt, Anlass zu Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit der fraglichen Maßnahme mit dem Gemeinsamen Markt hätte geben müssen. Durch den Vortrag solcher Argumente können aber weder der Gegenstand der Klage noch die Voraussetzungen ihrer Zulässigkeit geändert werden. Vielmehr liegt im Bestehen von Bedenken hinsichtlich dieser Vereinbarkeit gerade der Nachweis, der zu erbringen ist, um zu zeigen, dass die Kommission verpflichtet war, das förmliche Prüfverfahren nach Art. 88 Abs. 2 EG und Art. 6 Abs. 1 der Verordnung Nr. 659/1999 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel 88 EG einzuleiten.

(vgl. Randnr. 66)

3.      Möchte ein Kläger die ihm nach Art. 88 Abs. 2 EG zustehenden Verfahrensrechte gewahrt haben, kann er sich auf jeden der in Art. 230 Abs. 2 EG aufgezählten Gründe berufen, soweit sie sich auf die Nichtigerklärung der angefochtenen Entscheidung und letztlich die Einleitung des Verfahrens nach Art. 88 Abs. 2 EG durch die Kommission beziehen. Dagegen ist das Gericht hinsichtlich dieser Phase des Verfahrens der Prüfung einer Beihilfe durch die Kommission nicht befugt, über das Bestehen einer Beihilfe oder ihre Vereinbarkeit mit dem Gemeinsamen Markt zu entscheiden.

(vgl. Randnr. 74)

4.      Der Begriff der staatlichen Beihilfe, wie er im Vertrag definiert ist, ist ein Rechtsbegriff und anhand objektiver Kriterien auszulegen. Deshalb hat der Unionsrichter die Frage, ob eine Maßnahme in den Anwendungsbereich von Art. 87 Abs. 1 EG fällt, grundsätzlich unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des bei ihm anhängigen Rechtsstreits sowie des technischen Charakters oder der Komplexität der von der Kommission vorgenommenen Beurteilungen umfassend zu prüfen. Dies gilt umso mehr, als die Kommission dann, wenn sie nach einer ersten Prüfung im Verfahren des Art. 88 Abs. 3 EG nicht die Überzeugung gewinnen kann, dass die in Rede stehende staatliche Maßnahme keine „Beihilfe“ im Sinne von Art. 87 Abs. 1 EG darstellt oder dass sie, wenn sie als Beihilfe eingestuft wird, mit dem Vertrag vereinbar ist, oder wenn dieses Verfahren es ihr nicht erlaubt hat, alle Schwierigkeiten hinsichtlich der Beurteilung der Vertragskonformität der betroffenen Maßnahme auszuräumen, verpflichtet ist, das Verfahren des Art. 88 Abs. 2 EG einzuleiten, „ohne hierbei über einen Ermessensspielraum zu verfügen“. Diese Verpflichtung findet im Übrigen ausdrückliche Bestätigung in Art. 4 Abs. 4 in Verbindung mit Art. 13 Abs. 1 der Verordnung Nr. 659/1999 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel 88 EG.

(vgl. Randnrn. 75-76)

5.      Im Rahmen der Fragestellung, ob die Kommission verpflichtet ist, das förmliche Verfahren der Prüfung einer staatlichen Beihilfe einzuleiten, ist der Begriff der ernsten Schwierigkeiten seinem Wesen nach ein objektiver. Ob solche Schwierigkeiten vorliegen, ist anhand der Umstände des Erlasses des angefochtenen Rechtsakts sowie seines Inhalts in objektiver Weise zu beurteilen, wobei die Gründe der Entscheidung zu den Angaben in Beziehung zu setzen sind, über die die Kommission verfügte, als sie sich zur Vereinbarkeit der streitigen Beihilfen mit dem Gemeinsamen Markt äußerte. Der Kläger trägt die Beweislast dafür, dass ernste Schwierigkeiten vorlagen, und er kann diesen Beweis durch ein Bündel übereinstimmender Anhaltspunkte erbringen, die sich zum einen aus den Umständen und der Dauer der Vorprüfungsphase und zum anderen aus dem Inhalt der angefochtenen Entscheidung ergeben.

Zwar verfügt die Kommission hinsichtlich der Entscheidung über die Einleitung des förmlichen Prüfverfahrens über keinerlei Ermessen, wenn sie ernste Schwierigkeiten feststellt, doch hat sie einen gewissen Spielraum bei der Ermittlung und Prüfung der Umstände des Einzelfalls, um festzustellen, ob diese ernste Schwierigkeiten begründen. Im Einklang mit dem Zweck des Art. 88 Abs. 3 EG und ihrer Verpflichtung zur ordnungsmäßigen Verwaltung kann die Kommission insbesondere einen Dialog mit dem anmeldenden Staat oder mit Dritten führen, um etwaige Schwierigkeiten während der Vorprüfungsphase zu überwinden. Aufgrund dieser Befugnis muss es der Kommission jedoch auch möglich sein, ihren Standpunkt den Ergebnissen des Dialogs anzupassen, ohne dass diese Anpassung von vornherein als Beleg für ernste Schwierigkeiten zu verstehen ist. Es stellt einen Anhaltspunkt für das Bestehen ernster Schwierigkeiten dar, wenn die Prüfung durch die Kommission in der Vorprüfungsphase unzureichend oder unvollständig war

(vgl. Randnrn. 77-79)

6.      Im Bereich der Kontrolle staatlicher Beihilfen ist die Kommission befugt, auf der Grundlage von Art. 4 Abs. 2 der Verordnung Nr. 659/1999 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel 88 EG eine Entscheidung zu erlassen, mit der sie feststellt, dass keine staatliche Beihilfe vorliegt, und zugleich die vom Mitgliedstaat eingegangenen Verpflichtungen zur Kenntnis nimmt.

(vgl. Randnr. 96)

7.      Der Unionsrichter hat die Rechtmäßigkeit einer Entscheidung im Bereich staatlicher Beihilfen aufgrund der Informationen zu beurteilen, über die die Kommission bei Erlass der Entscheidung verfügte. Die Kommission ist nicht verpflichtet, von Amts wegen näherungsweise zu prüfen, welche Gesichtspunkte ihr gegenüber im Verwaltungsverfahren hätten vorgetragen werden können.

(vgl. Randnrn. 103-104)

8.      Im Bereich der Kontrolle staatlicher Beihilfen kann die Verpflichtung zur Rückforderung der Beihilfe, die einer in Schwierigkeiten geratenen Gesellschaft gewährt wurde, dann auf eine neue Gesellschaft, auf die ein Teil der Vermögenswerte übertragen wurde, erstreckt werden, wenn diese Übertragung die Feststellung einer wirtschaftlichen Kontinuität zwischen den beiden Gesellschaften erlaubt. Folgende Umstände können für den Schluss auf eine wirtschaftliche Kontinuität berücksichtigt werden: der Gegenstand der Übertragung (Aktiva und Passiva, Fortbestand der Belegschaft, gebündelte Aktiva), der Übertragungspreis, die Identität der Aktionäre oder Eigentümer des erwerbenden und des ursprünglichen Unternehmens, der Zeitpunkt der Übertragung (nach Beginn der Untersuchung, der Verfahrenseinleitung oder der abschließenden Entscheidung) oder schließlich die ökonomische Folgerichtigkeit der Transaktion; dabei ist die Kommission nicht zur Berücksichtigung aller vorstehend genannten Gesichtspunkte verpflichtet.

(vgl. Randnrn. 155-156)

9.      Bei einer Entscheidung, mit der sie verneint, dass es sich bei einer von einem Beschwerdeführer gerügten Maßnahme um eine staatliche Beihilfe handelt, hat die Kommission im Rahmen ihrer Begründungspflicht dem Beschwerdeführer in hinreichender Weise die Gründe darzulegen, aus denen die in der Beschwerde angeführten tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte zum Nachweis des Vorliegens einer staatlichen Beihilfe nicht ausreichten. Die Kommission braucht jedoch nicht zu Gesichtspunkten Stellung zu nehmen, die offensichtlich neben der Sache liegen oder keine oder eindeutig untergeordnete Bedeutung haben. Eine solche Entscheidung, die am Ende der durch Art. 88 Abs. 3 EG für Beihilfen eingeführten Vorprüfungsphase ergeht, die nur dazu dient, der Kommission eine erste Meinungsbildung über die teilweise oder völlige Vereinbarkeit der fraglichen Beihilfe zu ermöglichen, ohne das in Abs. 2 dieses Artikels vorgesehene förmliche Prüfverfahren zu eröffnen, und die innerhalb kurzer Frist zu treffen ist, muss nämlich nur die Gründe enthalten, aus denen die Kommission keine ernsten Schwierigkeiten bei der Beurteilung der Frage der Vereinbarkeit der betreffenden Beihilfe mit dem Gemeinsamen Markt sieht.

Damit gebietet es die Begründungspflicht der Kommission nicht, in ihrer Entscheidung andere Gesichtspunkte als die Tatsachen und rechtlichen Erwägungen anzuführen, denen in der Systematik der Entscheidung wesentliche Bedeutung zukommt. Eine solche Begründung genügt für die Möglichkeit des Klägers, die Gründe für die angefochtene Entscheidung zu erkennen, und für die Möglichkeit des Gerichts, deren Rechtmäßigkeit nach Art. 253 EG zu überprüfen.

(vgl. Randnrn. 180-182, 185)

10.    Im Bereich der Kontrolle staatlicher Beihilfen betrifft eine Entscheidung, mit der ein Verfahren gemäß Art. 88 Abs. 2 EG abgeschlossen wird, Unternehmen dann individuell, wenn sie die Beschwerde veranlasst haben, die zur Einleitung dieses Verfahrens geführt hat, und wenn sie durch ihre Stellungnahmen den Verfahrensablauf bestimmt haben, sofern ihre Marktstellung durch die Beihilfe, die Gegenstand der angefochtenen Entscheidung ist, erheblich beeinträchtigt wird. Daraus ergibt sich jedoch nicht, dass ein Unternehmen nicht auch in anderer Weise, durch Darlegung besonderer Umstände, die es in ähnlicher Weise individualisieren wie den Adressaten, den Nachweis erbringen könnte, dass es individuell betroffen ist.

(vgl. Randnr. 194)