Language of document : ECLI:EU:T:2017:129

Rechtssache T-193/16

NG

gegen

Europäischer Rat

„Nichtigkeitsklage – Erklärung EU–Türkei vom 18. März 2016 – Pressemitteilung – Begriff ‚internationale Übereinkunft‘ – Ermittlung des Urhebers der Handlung – Tragweite der Handlung – Tagung des Europäischen Rates – Treffen der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten der Europäischen Union in den Räumlichkeiten des Rates der Europäischen Union – Eigenschaft der Vertreter der Mitgliedstaaten der Union bei einer Zusammenkunft mit dem Vertreter eines Drittstaats – Art. 263 Abs. 1 AEUV – Unzuständigkeit“

Leitsätze – Beschluss des Gerichts (Erste erweiterte Kammer) vom 28. Februar 2017

1.      Nichtigkeitsklage – Anfechtbare Handlungen – Handlungen des Europäischen Rates – Einbeziehung – Grenzen

(Art. 15 EUV; Art. 263 AEUV)

2.      Nichtigkeitsklage – Anfechtbare Handlungen – Begriff – Handlungen eines Organs, einer Einrichtung oder einer sonstigen Stelle der Union mit verbindlichen Rechtswirkungen – Auf der Website des Rates in Form einer Pressemitteilung veröffentlichte Erklärung über die Ergebnisse eines Treffens zwischen den Staatschefs der Mitgliedstaaten und dem türkischen Ministerpräsidenten – Ausschluss

(Art. 263 AEUV; Satzung des Gerichtshofs, Art. 21 Abs. 1)

1.      Der Europäische Rat gehört nach dem Vertrag von Lissabon zu den Unionsorganen. Entgegen der früheren Rechtsprechung der Unionsgerichte sind daher die Handlungen dieses Organs, das nach Art. 15 EUV nicht gesetzgeberisch tätig wird und sich aus den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten sowie seinem Präsidenten und dem Präsidenten der Kommission zusammensetzt, nicht mehr von der in Art. 263 AEUV vorgesehenen Rechtmäßigkeitskontrolle ausgenommen.

Allerdings sind die Handlungen von Vertretern der Mitgliedstaaten, die physisch in den Räumlichkeiten eines der Unionsorgane zusammengekommen sind und nicht in ihrer Eigenschaft als Mitglieder des Rates oder des Europäischen Rates tätig werden, sondern in ihrer Eigenschaft als Staats- oder Regierungschef der Mitgliedstaaten der Union, nicht der Rechtmäßigkeitskontrolle durch die Unionsgerichte unterworfen. Insoweit geht aus Art. 263 AEUV hervor, dass die Unionsgerichte im Allgemeinen nicht dafür zuständig sind, über die Rechtmäßigkeit von Handlungen einer nationalen Behörde oder einer Handlung von Vertretern nationaler Behörden mehrerer Mitgliedstaaten zu entscheiden, die im Rahmen eines in einer Verordnung der Union vorgesehenen Ausschusses tätig werden. Es genügt jedoch nicht, dass eine Handlung von einem beklagten Organ als „Entscheidung der Mitgliedstaaten“ der Union bezeichnet wird, damit sie der durch Art. 263 AEUV geschaffenen Rechtsmäßigkeitskontrolle von, im konkreten Fall, Handlungen des Europäischen Rates entzogen ist. Vielmehr ist noch zu prüfen, ob die fragliche Handlung angesichts ihres Inhalts und der gesamten Umstände ihres Erlasses nicht in Wirklichkeit eine Entscheidung des Europäischen Rates darstellt.

(vgl. Rn. 44-46)

2.      Die am 18. März 2016 auf der Website des Rates in Form einer Pressemitteilung veröffentlichte Erklärung zur Darstellung der Ergebnisse eines Treffens zwischen den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten der Union und dem türkischen Ministerpräsidenten zur Vertiefung der Beziehungen zwischen der Türkei und der EU und zur Bewältigung der Migrationskrise kann nicht als Handlung angesehen werden, die Gegenstand einer Klage nach Art. 263 AEUV sein kann. Eine solche Handlung kann weder als eine vom Europäischen Rat oder von einem anderen Organ, einer Einrichtung oder einer sonstigen Stelle der Union vorgenommene Handlung noch als Anhaltspunkt für das Vorliegen einer solchen Handlung angesehen werden, die einer am 18. März 2016 geschlossenen Übereinkunft zwischen dem Europäischen Rat und der Republik Türkei entspräche.

Da für die Zwecke von Art. 21 Abs. 1 der Satzung des Gerichtshofs die Pressemitteilung als materielle Ausprägung der angefochtenen Handlung vorgelegt wurde, sind der Kontext, in dem die mittels dieser Pressemitteilung verbreitete Erklärung EU–Türkei abgegeben wurde, sowie der Inhalt der Erklärung zu beurteilen, um zu klären, ob sie eine dem Europäischen Rat zuzurechnende Handlung darstellen oder auf die Existenz einer solchen Handlung hindeuten kann und damit der in Art. 263 AEUV vorgesehenen Rechtmäßigkeitskontrolle unterliegt. Die den Mitgliedstaaten der Union und der Republik Türkei offiziell übermittelten Dokumente in Bezug auf das Treffen EU–Türkei belegen, dass die Vertreter der Mitgliedstaaten, ungeachtet des bedauerlicherweise mehrdeutigen Wortlauts der mittels der Pressemitteilung verbreiteten Erklärung EU–Türkei, in ihrer Eigenschaft als Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten in den gemeinsamen Räumlichkeiten des Europäischen Rates und des Rates mit dem türkischen Ministerpräsidenten zusammenkamen. In diesem Zusammenhang lässt der Umstand, dass bei diesem Treffen auch die nicht förmlich eingeladenen Präsidenten des Europäischen Rates und der Kommission zugegen waren, nicht den Schluss zu, dass aufgrund der Anwesenheit aller dieser Mitglieder des Europäischen Rates das genannte Treffen zwischen dem Europäischen Rat und dem türkischen Ministerpräsidenten stattfand.

Selbst wenn bei dem streitigen Treffen informell eine internationale Übereinkunft geschlossen worden sein sollte, würde es sich dabei um eine von den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten der Union und dem türkischen Ministerpräsidenten geschlossene Übereinkunft handeln. Im Rahmen einer Klage nach Art. 263 AEUV ist das Gericht aber nicht befugt, über die Rechtmäßigkeit einer von den Mitgliedstaaten geschlossenen internationalen Übereinkunft zu entscheiden.

(vgl. Rn. 49, 67, 68, 72-74)