Language of document : ECLI:EU:T:2021:607

Rechtssache T425/18

Altice Europe NV

gegen

Europäische Kommission

 Urteil des Gerichts (Sechste Kammer) vom 22. September 2021

„Wettbewerb – Zusammenschlüsse – Telekommunikationssektor – Beschluss zur Verhängung von Geldbußen wegen des Vollzugs eines Zusammenschlusses vor dessen Anmeldung und Genehmigung – Art. 4 Abs. 1, Art. 7 Abs. 1 und Art. 14 der Verordnung (EG) Nr. 139/2004 – Rechtssicherheit – Vertrauensschutz – Grundsatz der Rechtmäßigkeit – Unschuldsvermutung – Verhältnismäßigkeit – Schwere der Zuwiderhandlungen – Durchführung der Zuwiderhandlungen – Austausch von Informationen – Höhe der Geldbußen – Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung“

1.      Unternehmenszusammenschlüsse – Prüfung durch die Kommission – Anmelde- und Aussetzungspflichten – Verstoß – Folgen

(Verordnung Nr. 139/2004 des Rates, Art. 4 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1)

(vgl. Rn. 54, 55)

2.      Unternehmenszusammenschlüsse – Prüfung durch die Kommission – Anmelde- und Aussetzungspflichten – Art und Ziele – Eigenständige Ziele – Verstoß gegen beide Pflichten – Verhängung mehrerer Sanktionen wegen ein und derselben Tat – Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und gegen das Verbot der Doppelbestrafung – Fehlen

(Verordnung Nr. 139/2004 des Rates, Art. 4 Abs. 1, Art. 7 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 2 Buchst. a und b)

(vgl. Rn. 56-67, 264, 265, 269-275)

3.      Unternehmenszusammenschlüsse – Prüfung durch die Kommission – Anmelde- und Aussetzungspflichten – Zusammenschluss – Begriff – Vollzug des Zusammenschlusses – Vorvertragliche Nebenabreden, mit denen eine dauerhafte Veränderung der Kontrolle über das Zielunternehmen verwirklicht wird – Nebenabreden, die vor dem Vollzug des Zusammenschlusses die Ausübung eines bestimmenden Einflusses auf die Geschäftstätigkeit des Zielunternehmens ermöglichen – Einbeziehung – Für einen bestimmten Zeitraum vereinbarter Vorgang oder Komplex von Vorgängen – Keine Auswirkung

(Verordnung Nr. 139/2004 des Rates, Art. 3, Art. 4 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1; Mitteilung der Kommission 2008/C 95/08, Nr. 28)

(vgl. Rn. 76-84, 94-97, 256, 257)

4.      Unternehmenszusammenschlüsse – Prüfung durch die Kommission – Anmelde- und Aussetzungspflichten – Zusammenschluss – Begriff – Vollzug des Zusammenschlusses – Vorvertragliche Nebenabreden, die vor dem Vollzug des Zusammenschlusses Vetorechte in Bezug auf die Geschäftstätigkeit des Zielunternehmens einräumen – Nebenabreden, die über das hinausgehen, was erforderlich ist, um bis zum Vollzug des Zusammenschlusses den Wert des Zielunternehmens zu erhalten – Eingriffe in die laufende Geschäftsführung des Zielunternehmens – Austausch sensibler Informationen – Einbeziehung

(Verordnung Nr. 139/2004 des Rates, Art. 3, Art. 4 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1; Mitteilung der Kommission 2008/C 95/08, Nr. 54)

(vgl. Rn. 108-121, 130, 131, 180-217, 221-241, 245, 246)

5.      Unternehmenszusammenschlüsse – Prüfung durch die Kommission – Anmelde- und Aussetzungspflichten – Zusammenschluss, der vollzogen wird, bevor er für mit dem Binnenmarkt vereinbar erklärt worden ist – Beachtlichkeit der früheren Entscheidungspraxis der Kommission – Fehlen – Verstoß gegen die Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit – Fehlen

(Verordnung Nr. 139/2004 des Rates, Art. 4 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1)

(vgl. Rn. 137-143, 147-156)

6.      Recht der Europäischen Union – Grundsätze – Grundrechte – Unschuldsvermutung – Verfahren bei Zusammenschlüssen – Anwendbarkeit – Gerichtliche Nachprüfung – Umfang

(Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 48 Abs. 1; Verordnung Nr. 139/2004 des Rates, Art. 3, Art. 4 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1)

(vgl. Rn. 248-251)

7.      Unternehmenszusammenschlüsse – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Ermessen der Kommission – Vorsätzlich oder fahrlässig begangene Verstöße – Unternehmen, das sich über die Wettbewerbswidrigkeit seines Verhaltens nicht im Unklaren sein kann – Bei Irrtum des Unternehmens über die Rechtmäßigkeit seines Verhaltens bestehende Möglichkeit, einer Geldbuße zu entgehen – Fehlen

(Verordnung Nr. 139/2004 des Rates, Art. 3, Art. 4 Abs. 1, Art. 7 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 2)

(vgl. Rn. 281-283, 286-296, 347)

8.      Unternehmenszusammenschlüsse – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Kriterien – Fehlen von Leitlinien – Pflicht zur Begründung eines Beschlusses, mit dem eine Geldbuße verhängt wird – Umfang

(Art. 296 Abs. 2 AEUV; Verordnung Nr. 139/2004 des Rates, Art. 14)

(vgl. Rn. 314-324)

9.      Wettbewerb – Geldbußen – Beschluss der Kommission, mit dem mehrere Sanktionen wegen ein und derselben Tat verhängt werden – Für das Zusammentreffen mehrerer Zuwiderhandlungen geltende Grundsätze – Verstoß – Fehlen

(Verordnung Nr. 139/2004 des Rates, Art. 14 Abs. 2)

(vgl. Rn. 328, 329)

10.    Unternehmenszusammenschlüsse – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit – Umfang

(Verordnung Nr. 139/2004 des Rates, Art. 14)

(vgl. Rn. 332)

11.    Unternehmenszusammenschlüsse – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Gerichtliche Nachprüfung – Befugnis des Unionsrichters zu unbeschränkter Nachprüfung – Umfang – Berücksichtigung von Umständen, die für die Schwere der Zuwiderhandlung von Bedeutung sind

(Verordnung Nr. 139/2004 des Rates, Art. 16)

(vgl. Rn. 352-356, 362-369)

Zusammenfassung

Das Gericht weist die Klage von Altice Europe gegen den Beschluss der Kommission ab, mit dem im Rahmen des Erwerbs von PT Portugal zwei Geldbußen in Höhe von insgesamt 124,5 Millionen Euro gegen sie verhängt wurden. Jedoch ermäßigt es die Geldbuße wegen Verstoßes gegen die Pflicht zur Anmeldung des Zusammenschlusses bei der Kommission um 6,22 Millionen Euro.

Die Altice Europe NV (im Folgenden: Altice) ist ein multinationales Kabel- und Telekommunikationsunternehmen. Die PT Portugal SGPS SA (im Folgenden: PT Portugal) ist ein Telekommunikations- und Multimediabetreiber mit Tätigkeiten in sämtlichen Telekommunikationssparten Portugals.

Am 9. Dezember 2014 schloss Altice einen Aktienkaufvertrag (Share Purchase Agreement, SPA), um über ihre Tochtergesellschaft Altice Portugal SA die alleinige Kontrolle an PT Portugal zu erlangen. Da dieser Erwerb nach der Fusionskontrollverordnung(1) einer Genehmigung der Kommission bedurfte, enthielt der SPA eine Reihe von Vorschriften zur Verwaltung der Geschäftstätigkeit von PT Portugal zwischen der Unterzeichnung dieses Vertrags und der Vollendung des Zusammenschlusses nach der Genehmigung durch die Kommission (im Folgenden: vorvertragliche Nebenabreden).

Mit Beschluss vom 20. April 2015 erklärte die Kommission den Erwerb vorbehaltlich der Einhaltung bestimmter Verpflichtungen für mit dem Binnenmarkt vereinbar.

Im März 2016 leitete die Kommission aufgrund von Informationen aus der Presse eine Untersuchung ein, um zu prüfen, ob Altice gegen die Bestimmungen der Fusionskontrollverordnung verstoßen hatte, die zum einen die Pflicht vorsehen, den Zusammenschluss vor seinem Vollzug bei der Kommission anzumelden(2), und zum anderen, seinen Vollzug vor seiner Anmeldung und bevor er für mit dem Binnenmarkt vereinbar erklärt worden ist, verbieten(3).

Im Anschluss an ihre Untersuchung kam die Kommission zu dem Ergebnis, dass Altice die Möglichkeit gehabt habe, einen bestimmenden Einfluss auf PT Portugal auszuüben bzw. diesen Betreiber vor dem Erlass ihrer Entscheidung über die Genehmigung und in bestimmten Fällen auch schon vor der Anmeldung des Zusammenschlusses kontrolliert habe. Insoweit stellte sie als Erstes fest, dass einige vorvertragliche Nebenabreden Altice ein Vetorecht bei der Bestellung der höheren Führungskräfte von PT Portugal, in Bezug auf die Preispolitik, die mit ihren Kunden vereinbarten Geschäftsbedingungen sowie den Abschluss, die Auflösung oder die Änderung einer Vielzahl von Verträgen eingeräumt hätten. Als Zweites wies die Kommission darauf hin, dass diese Nebenabreden mehrfach umgesetzt worden seien, was einen Eingriff von Altice in den täglichen Geschäftsbetrieb von PT Portugal impliziere. Als Drittes wies sie auf den Austausch sensibler Informationen über PT Portugal ab der Unterzeichnung des SPA hin.

Daher verhängte die Kommission mit Beschluss vom 24. April 2018 gegen Altice eine Geldbuße von 62 250 000 Euro wegen Verstoßes gegen die Pflicht zur Anmeldung des Zusammenschlusses und eine Geldbuße von 62 250 000 Euro wegen Nichteinhaltung des Verbots, den Zusammenschluss vor seiner Anmeldung bei der Kommission und vor seiner Genehmigung durch diese(4) zu vollziehen.

Altice hat Klage auf Nichtigerklärung dieses Beschlusses erhoben, die das Gericht teilweise abweist. In seinem Urteil erläutert es die Auslegung und die Anwendung der durch die Fusionskontrollverordnung vorgesehenen Pflichten zur Anmeldung und zum Aufschub des Vollzugs von Zusammenschlüssen von europäischer Bedeutung.

Würdigung durch das Gericht

Das Gericht weist zunächst die von Altice erhobene Einrede der Rechtswidrigkeit zurück, wonach die Pflicht zur Anmeldung des Zusammenschlusses (nach Art. 4 Abs. 1 der Fusionskontrollverordnung) und die bei Nichterfüllung dieser Pflicht anwendbare Geldbuße (nach Art. 14 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung) im Verhältnis zur Pflicht, den Zusammenschluss vor seiner Anmeldung und Genehmigung nicht zu vollziehen (nach Art. 7 Abs. 1 der Verordnung), und zu der bei Verstoß gegen diese Pflicht anwendbaren Geldbuße (nach Art. 14 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung) redundant seien. In diesem Kontext hat Altice außerdem einen Verstoß gegen die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und des Verbots der Doppelbestrafung geltend gemacht, da die genannten Bestimmungen es der Kommission ermöglichten, wegen desselben Sachverhalts eine zweite Geldbuße gegen dieselbe Person zu verhängen.

Insoweit stellt das Gericht als Erstes fest, dass Art. 4 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 der Fusionskontrollverordnung eigenständige Ziele verfolgen. Art. 4 soll die Unternehmen verpflichten, einen Zusammenschluss vor seinem Vollzug anzumelden, während Art. 7 das Ziel hat, die Unternehmen daran zu hindern, diesen Zusammenschluss zu vollziehen, bevor die Kommission ihn für mit dem Binnenmarkt vereinbar erklärt hat. Außerdem normiert Art. 4 Abs. 1 eine Handlungspflicht, Art. 7 Abs. 1 dagegen eine Unterlassungspflicht. Schließlich ist der Verstoß gegen die erste Bestimmung eine einmalige Zuwiderhandlung, der Verstoß gegen die zweite Bestimmung aber eine fortgesetzte Zuwiderhandlung.

In Anbetracht dieser Erwägungen gelangt das Gericht zu dem Schluss, dass Art. 4 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 2 Buchst. a der Fusionskontrollverordnung im Hinblick auf Art. 7 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 2 Buchst. b nicht redundant sind und weder gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit noch gegen das Verbot der Doppelbestrafung verstoßen. Im Übrigen liefe die Erklärung dieser Bestimmungen für rechtswidrig nicht nur dem Ziel der Verordnung zuwider, eine wirksame Kontrolle von Zusammenschlüssen sicherzustellen, sondern nähme der Kommission auch die Möglichkeit, durch von ihr verhängte Geldbußen zu unterscheiden zwischen der Situation, in der das Unternehmen die Anmeldepflicht einhält, aber gegen die Stillhaltepflicht verstößt, und jener, in der das Unternehmen gegen beide Pflichten verstößt.

Was sodann das Vorbringen von Altice angeht, die Nebenabreden des SPA ermöglichten ihr nicht, die Annahme strategischer Entscheidungen zu blockieren, und könnten daher nicht als Vetorechte angesehen werden, die ihr die Kontrolle über PT Portugal verliehen, befasst sich das Gericht zunächst mit der Klausel, die es Altice ermöglicht, die höheren Führungskräfte von PT Portugal zu bestellen und zu entlassen oder ihre Verträge abzuändern. Das Gericht stellt insoweit fest, dass das Recht, die Zusammensetzung der Unternehmensleitung mitzubestimmen, normalerweise dessen Inhaber einen bestimmenden Einfluss auf die Geschäftspolitik des Unternehmens sichert.

Zudem bewirkte die Klausel, die es Altice ermöglichte, die Preispolitik von PT Portugal zu beeinflussen, dass diese eine schriftliche Zustimmung von Altice zu jeder Preisänderung und jeder Änderung ihrer Geschäftsbedingungen einzuholen hatte.

Zu den Nebenabreden, die es Altice ferner ermöglichten, eine Vielzahl von Verträgen von PT Portugal abzuschließen, aufzulösen oder abzuändern, stellt das Gericht fest, dass diese Nebenabreden, verbunden mit einem Entschädigungsanspruch im Fall eines Verstoßes, PT Portugal verpflichteten, die vorherige Zustimmung von Altice zu allen wichtigen Verträgen zu verlangen, gleichgültig, ob diese zum normalen Geschäftsverlauf gehörten oder nicht, und unabhängig von ihrer wirtschaftlichen Bedeutung.

Insoweit hat Altice im Übrigen keine Belege dafür vorgelegt, dass die betreffenden vorvertraglichen Nebenabreden erforderlich gewesen wären, um den Erhalt des Werts des veräußerten Unternehmens sicherzustellen oder die Beeinträchtigung seiner geschäftlichen Integrität zu verhindern.

Nach alledem kommt das Gericht zu dem Ergebnis, dass die vorvertraglichen Nebenabreden Altice die Möglichkeit einräumten, Kontrolle über PT Portugal auszuüben, indem sie ihr die Möglichkeit verliehen, einen bestimmenden Einfluss auf deren Geschäftstätigkeit auszuüben. Außerdem ergibt sich dem Gericht zufolge aus verschiedenen in den Akten befindlichen Schriftstücken, dass Altice mehrfach in den täglichen Geschäftsbetrieb von PT Portugal tatsächlich eingegriffen hat und dass sensible Informationen zwischen Altice und PT Portugal ausgetauscht worden sind.

Schließlich bestätigt das Gericht, unter Berücksichtigung der Tatsache, dass das Inkrafttreten der vorvertraglichen Nebenabreden zum SPA, bestimmte Eingriffe und der Austausch bestimmter sensibler Informationen vor der Anmeldung des Zusammenschlusses stattgefunden haben, dass Altice bestimmenden Einfluss auf PT Portugal ausgeübt hat und dadurch sowohl gegen ihre Anmeldepflicht nach Art. 4 Abs. 1 der Fusionskontrollverordnung als auch gegen ihre Stillhaltepflicht nach Art. 7 Abs. 1 dieser Verordnung verstoßen hat.

Allerdings ist das Gericht in Ausübung seiner Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung der Auffassung, dass die Höhe der wegen Verstoßes gegen die Anmeldepflicht nach Art. 4 Abs. 1 der Fusionskontrollverordnung verhängten Geldbuße um 10 % herabzusetzen ist, um dem Umstand Rechnung zu tragen, dass Altice vor der Unterzeichnung des SPA die Kommission von dem bevorstehenden Zusammenschluss in Kenntnis gesetzt hatte und dass sie bei der Kommission unmittelbar nach dieser Unterzeichnung einen Antrag auf Bestellung eines mit der Bearbeitung ihrer Akte betrauten Teams gestellt hatte.


1      Verordnung (EG) Nr. 139/2004 des Rates vom 20. Januar 2004 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen (ABl. 2004, L 24, S. 1, im Folgenden: Fusionskontrollverordnung).


2      Art. 4 Abs. 1 der Fusionskontrollverordnung.


3      Art. 7 Abs. 1 der Fusionskontrollverordnung.


4      Beschluss C(2018) 2418 final zur Verhängung von Geldbußen wegen des Vollzugs eines Zusammenschlusses unter Verstoß gegen Art. 4 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 der Fusionskontrollverordnung (Sache M.7993 – Altice/PT Portugal).