Language of document : ECLI:EU:C:2023:817

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

TAMARA ĆAPETA

vom 26. Oktober 2023(1)

Rechtssache C670/22

Staatsanwaltschaft Berlin

gegen

M. N.

(Vorabentscheidungsersuchen des Landgerichts Berlin [Deutschland])

„Vorabentscheidungsersuchen – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Richtlinie 2014/41/EU – Europäische Ermittlungsanordnung – Art. 6 Abs. 1 – Bedingungen für den Erlass einer Europäischen Ermittlungsanordnung – Übermittlung von Beweismitteln, die sich bereits im Besitz eines anderen Mitgliedstaats befinden – Begriff der Anordnungsbehörde – Art. 2 Buchst. c Ziff. i – Zulässigkeit von Beweismitteln“






I.      Einführung

1.        Eine Europäische Ermittlungsanordnung (im Folgenden: EEA) ist ein Instrument der Union, das grenzüberschreitende Zusammenarbeit bei strafrechtlichen Ermittlungen ermöglicht. Sie ist in der EEA-Richtlinie(2) geregelt. Mit dem vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen wird der Gerichtshof erstmals aufgefordert, diese Richtlinie in einer Situation auszulegen, in der eine EEA zur Übermittlung von Beweismitteln erlassen wurde, die sich bereits im Besitz eines anderen Staats befinden.

2.        Für die Zwecke strafrechtlicher Ermittlungen in Deutschland erließ die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main (Deutschland) mehrere EEAs, mit denen um die Übermittlung von Beweismitteln ersucht wurde, die im Zuge gemeinsamer französisch-niederländischer strafrechtlicher Ermittlungen gegen EncroChat-Nutzer erhoben worden waren. EncroChat war ein verschlüsseltes Telekommunikationsnetz, das seinen Nutzern nahezu vollständige Anonymität bot.(3)

3.        Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen geht auf eines der Strafverfahren zurück, das vor dem Landgericht Berlin (Deutschland), basierend auf abgeschöpften Telekommunikationsdaten, die auf Grundlage der oben genannten EEAs übermittelt wurden, gegen Herrn N. M. eingeleitet wurde. Die Frage, die vor dem vorlegenden Gericht aufkam, ist, ob die EEAs unter Verstoß gegen die EEA-Richtlinie erlassen wurden und, wenn ja, welche Folgen sich daraus für die Verwendung solcher Beweismittel im Strafverfahren ergeben können.

II.    Sachverhalt, Vorlagefragen und Verfahren vor dem Gerichtshof

4.        Ausgangspunkt des im Ausgangsverfahren gegenständlichen Strafverfahrens ist eine strafrechtliche Ermittlung, die in Frankreich eingeleitet und als Kooperation zwischen Frankreich und den Niederlanden fortgeführt wurde, bei der die Standort‑, Verkehrs- und Kommunikationsdaten, einschließlich der in laufenden Chats der Nutzer des EncroChat-Netzwerks übermittelten Texte und Bilder, abgeschöpft wurden.

5.        Im Rahmen dieser Kooperation wurde eine Trojaner-Software entwickelt, die im Frühjahr 2020 auf einen Server in Roubaix (Frankreich) aufgespielt und von dort aus über ein simuliertes Update auf den Endgeräten installiert wurde. Das Tribunal correctionnel de Lille (Strafgericht Lille, Frankreich) genehmigte die Maßnahme zur Erhebung von Kommunikationsdaten. EncroChat-Nutzer in 122 Ländern waren von dieser Überwachung betroffen, darunter ca. 4 600 Nutzer in Deutschland.

6.        In einer Videokonferenz am 9. März 2020 informierte die Agentur der Europäischen Union für justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen (Eurojust) andere Länder über die von der französischen Polizei geplanten Überwachungsmaßnahmen und die beabsichtigte Datenübermittlung. Die Vertreter des Bundeskriminalamts (Deutschland) und der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt signalisierten ihr Interesse an den Daten der deutschen Nutzer.

7.        Am 20. März 2020 leitete die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt ein Ermittlungsverfahren gegen Unbekannt ein. Ab dem 3. April 2020 wurden die von der französisch-niederländischen Ermittlungsgruppe gesammelten Daten u. a. den deutschen Behörden über einen Server der Agentur der Europäischen Union für die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Strafverfolgung (Europol) zur Verfügung gestellt.

8.        Am 2. Juni 2020 ersuchte die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt im Rahmen des deutschen Ermittlungsverfahrens gegen Unbekannt die französischen Behörden mittels einer EEA um die Genehmigung, die EncroChat-Daten in Strafverfahren verwenden zu dürfen. Dieses Ersuchen war auf den Verdacht des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge durch bisher nicht identifizierte Personen gestützt. Diese wurden verdächtigt, einer organisierten kriminellen Vereinigung in Deutschland anzugehören, die EncroChat-Telefone verwendete. Das Strafgericht Lille genehmigte die EEA, mit der um die Übermittlung und die gerichtliche Verwendung der EncroChat-Daten der deutschen Nutzer ersucht wurde. Auf der Grundlage zweier ergänzender EEAs vom 9. September 2020 und 2. Juli 2021 wurden in der Folge zusätzliche Daten übermittelt.

9.        Beruhend auf den erhaltenen Beweismitteln trennte die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt Ermittlungen, die gegen individualisierte EncroChat-Nutzer geführt werden sollten, ab. Sie wurden an lokale Staatsanwaltschaften abgegeben. Darauffolgend legte die Staatsanwaltschaft Berlin (Deutschland) dem Angeklagten des Ausgangsverfahrens mehrere Fälle des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge und des unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Deutschland zur Last.

10.      Dieses Strafverfahren ist derzeit beim vorlegenden Gericht anhängig. Auch wenn dies im Vorlagebeschluss nicht klar dargelegt wird, scheint es, dass in diesem Verfahren die Frage aufkam, ob die von der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt erlassenen EEAs unter Verstoß gegen die EEA-Richtlinie erlassen wurden und, wenn ja, ob sie als Beweismittel vom Strafverfahren gegen den Angeklagten auszuschließen sind.

11.      Vor diesem Hintergrund hat das vorlegende Gericht dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.      Zur Auslegung des Merkmals „Anordnungsbehörde“ nach Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 2 Buchst. c der EEA-Richtlinie:

a)      Muss eine EEA zur Erlangung von Beweismitteln, die sich bereits im Vollstreckungsstaat (hier: Frankreich) befinden, von einem Richter erlassen werden, wenn nach dem Recht des Anordnungsstaats (hier: Deutschland) in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall die zugrunde liegende Beweiserhebung durch den Richter hätte angeordnet werden müssen?

b)      Gilt dies hilfsweise zumindest dann, wenn der Vollstreckungsstaat die zugrunde liegende Maßnahme auf dem Hoheitsgebiet des Anordnungsstaats durchgeführt hat mit dem Ziel, die abgeschöpften Daten anschließend den an den Daten interessierten Ermittlungsbehörden im Anordnungsstaat zum Zweck der Strafverfolgung zur Verfügung zu stellen?

c)      Muss eine EEA zur Erlangung von Beweismitteln unabhängig von den nationalen Zuständigkeitsregelungen des Anordnungsstaats immer dann von einem Richter (bzw. einer unabhängigen, nicht mit strafrechtlichen Ermittlungen befassten Stelle) erlassen werden, wenn die Maßnahme schwerwiegende Eingriffe in hochrangige Grundrechte betrifft?

2.      Zur Auslegung von Art. 6 Abs. 1 Buchst. a der EEA-Richtlinie:

a)      Steht Art. 6 Abs. 1 Buchst. a der EEA-Richtlinie einer EEA zur Übermittlung von im Vollstreckungsstaat (hier: Frankreich) schon vorhandenen Daten aus einer Telekommunikationsüberwachung – insbesondere Verkehrs- und Standortdaten sowie Aufzeichnungen von Kommunikationsinhalten – entgegen, wenn die vom Vollstreckungsstaat durchgeführte Überwachung sich auf sämtliche Anschlussnutzer eines Kommunikationsdienstes erstreckte, mit der EEA die Übermittlung der Daten sämtlicher auf dem Hoheitsgebiet des Anordnungsstaats genutzten Anschlüsse begehrt wird und weder bei der Anordnung und Durchführung der Überwachungsmaßnahme noch bei Erlass der EEA konkrete Anhaltspunkte für die Begehung von schweren Straftaten durch diese individuellen Nutzer bestanden?

b)      Steht Art. 6 Abs. 1 Buchst. a der EEA-Richtlinie einer solchen EEA entgegen, wenn die Integrität der durch die Überwachungsmaßnahme abgeschöpften Daten wegen umfassender Geheimhaltung durch die Behörden im Vollstreckungsstaat nicht überprüft werden kann?

3.      Zur Auslegung von Art. 6 Abs. 1 Buchst. b der EEA-Richtlinie:

a)      Steht Art. 6 Abs. 1 Buchst. b der EEA-Richtlinie einer EEA zur Übermittlung von im Vollstreckungsstaat (hier: Frankreich) schon vorhandenen Telekommunikationsdaten entgegen, wenn die der Datenerhebung zugrunde liegende Überwachungsmaßnahme des Vollstreckungsstaats nach dem Recht des Anordnungsstaats (hier: Deutschland) in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall unzulässig gewesen wäre?

b)      Hilfsweise: Gilt dies jedenfalls dann, wenn der Vollstreckungsstaat die Überwachung auf dem Hoheitsgebiet des Anordnungsstaats und in dessen Interesse durchgeführt hat?

4.      Zur Auslegung von Art. 31 Abs. 1, Abs. 3 der EEA-Richtlinie:

a)      Handelt es sich bei einer mit der Infiltration von Endgeräten verbundenen Maßnahme zur Abschöpfung von Verkehrs‑, Standort- und Kommunikationsdaten eines internetbasierten Kommunikationsdienstes um eine Überwachung des Telekommunikationsverkehrs im Sinne von Art. 31 der EEA-Richtlinie?

b)      Muss die Unterrichtung nach Art. 31 Abs. 1 der EEA-Richtlinie stets an einen Richter gerichtet werden oder gilt dies zumindest dann, wenn die vom überwachenden Staat (hier: Frankreich) geplante Maßnahme nach dem Recht des unterrichteten Staates (hier: Deutschland) in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall nur durch einen Richter angeordnet werden könnte?

c)      Soweit Art. 31 der EEA-Richtlinie auch dem Individualschutz der betroffenen Telekommunikationsnutzer dient, erstreckt sich dieser auch auf die Verwendung der Daten zur Strafverfolgung im unterrichteten Staat (hier: Deutschland) und ist gegebenenfalls dieser Zweck gleichwertig mit dem weiteren Zweck, die Souveränität des unterrichteten Mitgliedstaats zu schützen?

5.      Rechtsfolgen einer unionsrechtswidrigen Beweiserlangung:

a)      Kann sich bei einer Beweismittelerlangung durch eine unionsrechtswidrige EEA unmittelbar aus dem unionsrechtlichen Effektivitätsgrundsatz ein Beweisverwertungsverbot ergeben?

b)      Führt bei einer Beweismittelerlangung durch eine unionsrechtswidrige EEA der unionsrechtliche Äquivalenzgrundsatz zu einem Beweisverwertungsverbot, wenn die der Beweisgewinnung im Vollstreckungsstaat zugrunde liegende Maßnahme in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall im Anordnungsstaat nicht hätte angeordnet werden dürfen und die durch eine solche rechtswidrige innerstaatliche Maßnahme gewonnenen Beweise nach dem Recht des Anordnungsstaats nicht verwertbar wären?

c)      Verstößt es gegen Unionsrecht, insbesondere den Grundsatz der Effektivität, wenn die strafprozessuale Verwertung von Beweismitteln, deren Erlangung gerade wegen eines fehlenden Tatverdachts unionsrechtswidrig war, im Rahmen einer Interessenabwägung mit der Schwere der erstmals durch die Auswertung der Beweismittel bekannt gewordenen Taten gerechtfertigt wird?

d)      Hilfsweise: Ergibt sich aus dem Unionsrecht, insbesondere dem Grundsatz der Effektivität, dass Unionsrechtsverstöße bei der Beweismittelerlangung in einem nationalen Strafverfahren auch bei schweren Straftaten nicht vollständig ohne Folge bleiben dürfen und daher zumindest auf der Ebene der Beweiswürdigung oder der Strafzumessung zugunsten des Beschuldigten berücksichtigt werden müssen?

12.      Die Staatsanwaltschaft Berlin, die deutsche, die estnische, die französische, die niederländische, die polnische und die schwedische Regierung, Irland sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht.

13.      Am 4. Juli 2023 hat eine mündliche Verhandlung stattgefunden, in der Herr M. N., die Staatsanwaltschaft Berlin, die tschechische, die deutsche, die spanische, die französische, die ungarische, die niederländische und die schwedische Regierung, Irland sowie die Kommission mündliche Erklärungen abgegeben haben.

III. Würdigung

A.      Vorbemerkungen

14.      Beanstandungen strafrechtlicher Verurteilungen, die als Folge der abgeschöpften EncroChat-Daten ergangen sind, schlagen quer durch europäische Höchstgerichte Wellen,(4) wobei der Gerichtshof keine Ausnahme darstellt.

15.      In den meisten dieser Fälle werden die von Frankreich durchgeführten Überwachungsmaßnahmen beanstandet. Auch wenn eine solche Frage in den Strafverfahren, die auf Grundlage der durch eine solche Überwachung erhobenen Beweismittel eingeleitet wurden, offensichtlich von Bedeutung ist, gilt es klarzustellen, dass das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen nicht die Gültigkeit der französischen Überwachungsmaßnahmen betrifft.

16.      Im vorliegenden Fall geht es vielmehr um die mögliche Unvereinbarkeit der von der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt erlassenen EEAs mit der EEA-Richtlinie und um die Folgen einer solchen Feststellung. Diese EEAs waren nicht der Auslöser der französischen Überwachung des Telekommunikationsverkehrs zwischen EncroChat-Nutzern. Die Überwachungen erfolgten unabhängig von den in Rede stehenden EEAs. Die gerichtliche Beanstandung dieser Überwachungsmaßnahmen hat vor den zuständigen französischen Gerichten zu erfolgen.

17.      Mit den im vorliegenden Fall in Rede stehenden EEAs wurde nicht um die Erhebung von Daten in Frankreich durch die Überwachung des Telekommunikationsverkehrs ersucht, sondern bloß um die Übermittlung der bereits zuvor durch die Überwachung in Frankreich erhobenen Beweismittel.

18.      Diesen Sachverhalt gilt es ordnungsgemäß nach der EEA-Richtlinie zu beurteilen. Diesbezüglich besagt Art. 1 Abs. 1 der EEA-Richtlinie, dass eine EEA erstens „zur Durchführung einer oder mehrerer spezifischer Ermittlungsmaßnahme(n) in einem anderen Mitgliedstaat“ und zweitens „in Bezug auf die Erlangung von Beweismitteln, die sich bereits im Besitz der zuständigen Behörden des Vollstreckungsstaats befinden“, erlassen werden kann.(5)

19.      Einfach ausgedrückt kann eine EEA entweder zur Erhebung neuer oder zur Übermittlung vorhandener Beweismittel erlassen werden. Diese Terminologie werde ich verwenden, um auf die verschiedenen Arten von EEAs Bezug zu nehmen.

20.      Im Ausgangsverfahren wurden die EEAs zum letzteren Zweck erlassen: Die Staatsanwaltschaft Berlin ersuchte um die Übermittlung von Beweismitteln, die sich bereits im Besitz Frankreichs befanden.

21.      Aus dem Vorlagebeschluss geht jedoch klar hervor, dass das vorlegende Gericht erstens der Auffassung ist, dass, ungeachtet der Unterscheidung zwischen den beiden Arten von EEAs in Art. 1 Abs. 1 der EEA-Richtlinie, eine EEA zur Übermittlung vorhandener Beweismittel nicht erlassen werden könne, ohne dass berücksichtigt werde, wie diese Beweismittel ursprünglich erhoben worden seien. Zweitens zweifelt das vorlegende Gericht an der Verhältnismäßigkeit, und folglich an der Rechtmäßigkeit, der ursprünglichen Maßnahmen zur Erhebung der Beweismittel, die später nach Deutschland übermittelt wurden, in Frankreich. Schließlich ist das vorlegende Gericht anderer Ansicht als der deutsche Bundesgerichtshof,(6) der feststellte, dass die abgeschöpften EncroChat-Daten in Deutschland als Beweismittel verwendet werden könnten.(7)

22.      Vor diesem Hintergrund hat der Gerichtshof zu klären, ob die Bedingungen für den Erlass einer EEA zur Übermittlung vorhandener Beweismittel eine Bewertung der zugrunde liegenden Maßnahmen der Erhebung von Beweismitteln im Vollstreckungsstaat erfordern. Ich möchte von Beginn an klarstellen und dies später noch genauer erörtern, dass die Anordnungsbehörde in einem solchen Szenario die Rechtmäßigkeit der Maßnahmen, mit denen der Vollstreckungsstaat Beweismittel erhoben hat, nicht in Frage stellen kann. Die Verhältnismäßigkeit der französischen Maßnahme, mit der die Überwachung der EncroChat-Telefone angeordnet wurde, ist daher nicht, worum es im vorliegenden Fall geht.

B.      Neuanordnung der Fragen des vorlegenden Gerichts und Struktur dieser Schlussanträge

23.      Das vorlegende Gericht ist der Auffassung, dass die EEAs entgegen der EEA-Richtlinie erlassen worden seien, da sie (i) gegen die in Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie aufgeführten Bedingungen verstießen und (ii) von einem Staatsanwalt und nicht von einem Gericht erlassen worden seien. Außerdem hätten die französischen Behörden gemäß Art. 31 der EEA-Richtlinie das zuständige deutsche Gericht von den Überwachungsmaßnahmen unterrichten müssen. Schließlich ist dieses Gericht der Ansicht, dass das Unionsrecht, genauer gesagt die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität, dahin auszulegen seien, dass sie der Verwendung von unter Verstoß gegen die EEA-Richtlinie erhobenen Beweismitteln in diesem Strafverfahren entgegenstünden.

24.      Das vorlegende Gericht möchte also im Wesentlichen wissen, ob sein Verständnis der EEA-Richtlinie und die Folgen, die sich daraus ergeben, zutreffend sind. Es hat seine Fragen in fünf Gruppen eingeteilt, die ich für die Zwecke meiner Analyse wie folgt neu angeordnet habe.

25.      Die ersten drei Fragengruppen beziehen sich auf die Auslegung des Begriffs der zuständigen Anordnungsbehörde für eine EEA zur Übermittlung vorhandener Beweismittel und auf die Bedingungen, die für den Erlass einer solchen EEA gelten. Dabei sind die Fragen zu den in Art. 6 Abs. 1 Buchst. a und b der EEA-Richtlinie aufgeführten Bedingungen mit denjenigen zur zuständigen Anordnungsbehörde verflochten. Ich werde sie daher gemeinsam unter Abschnitt C behandeln.

26.      Die vierte Fragengruppe, mit der um Auslegung von Art. 31 Abs. 1 und 3 der EEA-Richtlinie ersucht wird, kann davon getrennt geprüft werden, was ich unter Abschnitt D tun werde.

27.      Schließlich werde ich die letzte Fragengruppe, die die Folgen eines möglichen Verstoßes gegen die EEA-Richtlinie betrifft, unter Abschnitt E analysieren. Diese Fragen können als hypothetisch eingestuft werden, falls sich aus den Antworten auf die vorangehenden Fragen kein Verstoß gegen die EEA-Richtlinie ergeben sollte. Da diese Schlussfolgerung jedoch von der Auslegung des einschlägigen nationalen Rechts abhängt, die Sache des vorlegenden Gerichts ist, schlage ich dem Gerichtshof vor, auch diese Fragen zu beantworten.

C.      Bedingungen für den Erlass einer EEA zur Übermittlung vorhandener Beweismittel und zuständige Anordnungsbehörde

28.      Die Bedingungen, die die Anordnungsbehörde für den Erlass einer EEA zu prüfen hat,(8) sind in Art. 6 Abs. 1 der EEA-Richtlinie aufgeführt. Diese Bestimmung lautet:

„Die Anordnungsbehörde darf nur dann eine EEA erlassen, wenn die die folgenden Bedingungen erfüllt sind:

a)      Der Erlass der EEA ist für die Zwecke der Verfahren nach Artikel 4 unter Berücksichtigung der Rechte der verdächtigen oder beschuldigten Person notwendig und verhältnismäßig und

b)      die in der EEA angegebene(n) Ermittlungsmaßnahme(n) hätte(n) in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall unter denselben Bedingungen angeordnet werden können.“

29.      Die EEA-Richtlinie schreibt somit zwei Bedingungen für den Erlass einer EEA vor. Diese sollen gewährleisten, dass die EEA nicht unter Verstoß gegen das Recht des Anordnungsstaats erlassen wird.(9) Da die strafrechtlichen Ermittlungen oder das anschließende Strafverfahren im Anordnungsstaat stattfinden, zielen die beiden Bedingungen letztlich darauf ab, die Rechte der verdächtigen oder beschuldigten Personen zu schützen. Ihre Nichteinhaltung kann nach Art. 14 Abs. 2 der EEA-Richtlinie nur im Anordnungsstaat beanstandet werden.

30.      Um diese Ziele zu erreichen, verlangt Art. 6 Abs. 1 der EEA-Richtlinie von der Anordnungsbehörde eine abstrakte und eine konkrete Beurteilung.

31.      Die abstrakte Beurteilung ist in Art. 6 Abs. 1 Buchst. b der EEA-Richtlinie vorgesehen und erfordert eine Feststellung der Anordnungsbehörde dahin, ob die Ermittlungsmaßnahme, die Gegenstand einer EEA sein soll, nach ihrem nationalen Recht existiert und unter welchen Bedingungen sie angeordnet werden darf.

32.      Die konkrete Beurteilung nach Art. 6 Abs. 1 Buchst. a der EEA-Richtlinie verpflichtet die Anordnungsbehörde, zu prüfen, ob eine bestimmte EEA für die Zwecke eines konkreten Strafverfahrens notwendig und verhältnismäßig ist.

33.      Erst nachdem die Anordnungsbehörde nach Art. 6 Abs. 1 Buchst. b der EEA-Richtlinie festgestellt hat, dass das nationale Recht eine bestimmte Ermittlungsmaßnahme grundsätzlich zulässt, kann sie sich dem konkreten Fall zuwenden, mit dem sie befasst ist, und die Prüfung der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit nach Art. 6 Abs. 1 Buchst. a der EEA-Richtlinie vornehmen. Es erscheint mir daher logischer, in umgekehrter Reihenfolge näher auf diese Bedingungen einzugehen.

34.      Sowohl die abstrakten als auch die konkreten Bedingungen hängen mit der Frage zusammen, wie festgestellt wird, welche Behörde in einem konkreten Fall für den Erlass einer EEA zuständig ist. Das vorlegende Gericht ist der Auffassung, dass die Staatsanwaltschaft unter den Umständen des vorliegenden Falls nicht die zuständige Behörde für den Erlass der EEAs zur Übermittlung der Beweismittel in Form abgeschöpfter Telekommunikationsdaten aus Frankreich gewesen sei.

35.      Art. 2 Buchst. c der EEA-Richtlinie legt fest, welche Behörden eine EEA erlassen können. Die maßgebliche Bestimmung lautet:

„[Der Ausdruck] ‚Anordnungsbehörde‘ [bezeichnet]

i)      einen Richter, ein Gericht, einen Ermittlungsrichter oder einen Staatsanwalt, der/das in dem betreffenden Fall zuständig ist“.(10)

36.      Art. 2 Buchst. c Ziff. i der EEA-Richtlinie zählt also Behörden auf, die eine EEA eigenständig, ohne zusätzliche Genehmigung, erlassen können. Anders als der Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl(11) zählt die EEA-Richtlinie unter diesen Behörden ausdrücklich auch Staatsanwälte auf.(12) So hat der Gerichtshof in der Rechtssache Staatsanwaltschaft Wien (Gefälschte Überweisungsaufträge) entschieden, dass, im Gegensatz zur Rechtslage nach dem Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl, ein Staatsanwalt eine Anordnungsbehörde für den Erlass einer EEA sein kann, auch wenn er nicht gänzlich unabhängig von der Exekutive ist.(13)

37.      Diese grundsätzliche Ermächtigung von Staatsanwälten bedeutet jedoch nicht, dass sie in jedem Fall die zuständige Anordnungsbehörde darstellen. Dies hängt vielmehr von den Umständen des Einzelfalls ab und steht im Zusammenhang mit den Bedingungen des Art. 6 Abs. 1 der EEA-Richtlinie. Ich werde daher nicht nur prüfen, welche Anforderungen diese Bedingungen an eine Anordnungsbehörde stellen, sondern auch, welchen Einfluss sie darauf haben, welche Behörde dies sein kann.

1.      Art. 6 Abs. 1 Buchst. b der EEA-Richtlinie und ein vergleichbarer innerstaatlicher Fall

38.      Art. 6 Abs. 1 Buchst. b der EEA-Richtlinie erfordert, dass eine EEA nur unter der Bedingung erlassen wird, dass die Ermittlungsmaßnahme in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall unter denselben Bedingungen zur Verfügung steht.

39.      Es ist daher durch Auslegung zu ermitteln, was ein vergleichbarer innerstaatlicher Fall ist, wenn eine EEA zur Übermittlung vorhandener Beweismittel erlassen wird.

40.      Vor der Auslegung der Wendung „ein vergleichbarer innerstaatlicher Fall“ ist eine Vorbemerkung angebracht. Die dies betreffende Frage ist aufgrund des Standpunkts des Bundesgerichtshofs(14) aufgekommen, demzufolge Art. 6 Abs. 1 Buchst. b der EEA-Richtlinie auf eine EEA zur Übermittlung vorhandener Beweismittel überhaupt keine Anwendung finde, und sie ist deswegen von Beteiligten des vorliegenden Verfahrens erörtert worden. Diesem Gericht zufolge stellt die Übermittlung von Beweismitteln keine Ermittlungsmaßnahme als solche dar und fällt daher nicht in den Anwendungsbereich dieser Bestimmung.

41.      Ich teile diese Auffassung nicht: Art. 6 Abs. 1 Buchst. b der EEA-Richtlinie legt die Bedingungen für den Erlass einer EEA fest, ohne zwischen den beiden in Art. 1 der Richtlinie genannten Arten von Maßnahmen zu unterscheiden. Seinem Wortlaut nach sind Ermittlungsmaßnahmen, mit denen um die Übermittlung schon vorhandener Beweismittel ersucht wird, nicht von seinem Anwendungsbereich ausgeschlossen. Art. 6 Abs. 1 Buchst. b der EEA-Richtlinie ist daher auch auf eine EEA anwendbar, die, wie im vorliegenden Fall, zum Zweck der Übermittlung vorhandener Beweismittel erlassen wurde.(15)

42.      Hinsichtlich eines vergleichbaren innerstaatlichen Falls, der für die Beurteilung relevant ist, ob eine EEA erlassen werden darf, ist je nachdem zu differenzieren, ob eine EEA zur Erhebung neuer oder zur Übermittlung schon vorhandener Beweismittel erlassen wird. Folglich handelt es sich, wie von der Kommission, der Staatsanwaltschaft Berlin und der deutschen Regierung vorgebracht wurde, bei einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall um einen Fall, in dem Beweismittel innerhalb Deutschlands von einem Strafverfahren in ein anderes übermittelt werden (z. B. von der Staatsanwaltschaft München zu ihren Berliner Amtskollegen).

43.      Eine solche Auslegung wird vom Wortlaut des Art. 6 Abs. 1 Buchst. b der EEA-Richtlinie bestätigt, der besagt, dass „die in der EEA angegebene(n) Ermittlungsmaßnahme(n)“(16) diejenigen sind, die die Behörde innerstaatlich anordnen können muss. Im vorliegenden Fall ist die in den EEAs angegebene Ermittlungsmaßnahme die Übermittlung von Beweismitteln, die sich bereits im Besitz der französischen Behörden befinden.

44.      Ob es möglich ist, Beweismittel in Form abgeschöpfter Telekommunikationsdaten, die im Rahmen eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens erhoben wurden, in ein anderes solches Verfahren zu übermitteln, ist nach deutschem Recht zu beurteilen. Dies ist keine Frage, die von der EEA-Richtlinie selbst geregelt wird. Vielmehr verweist die Richtlinie diesbezüglich auf das Recht des Anordnungsstaats.

45.      Spielen die zugrunde liegenden Maßnahmen, mit denen die Beweismittel in Frankreich erhoben wurden, irgendeine Rolle bei dieser Beurteilung?

46.      Soweit das nationale Recht Bedingungen für die Übermittlung von Beweismitteln zwischen Strafverfahren aufstellt, kann die zugrunde liegende Maßnahme eine Bedeutung erhalten. Wenn das deutsche Recht z. B. eine innerstaatliche Übermittlung abgeschöpfter Telekommunikationsdaten von einem Strafverfahren in ein anderes verbieten würde, wäre es der Anordnungsbehörde ebenfalls verwehrt, eine solche grenzüberschreitende Übermittlung anzuordnen.

47.      Dies scheint im vorliegenden Verfahren jedoch nicht der Fall zu sein. In der mündlichen Verhandlung hat die deutsche Regierung bestätigt, dass die Übermittlung von Beweismitteln zwischen zwei Strafverfahren nach deutschem Recht möglich sei, was durch die Überwachung des Telekommunikationsverkehrs erhobene Beweismittel einschließe. Die Bedingungen für eine solche Übermittlung seien in der deutschen Strafprozessordnung (im Folgenden: StPO) geregelt. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, eine Auslegung des deutschen Rechts vorzunehmen, um festzustellen, ob dies tatsächlich der Fall ist.(17)

48.      Die Anordnungsbehörde ist nach der EEA-Richtlinie jedoch nicht gehalten, vielmehr es ist ihr sogar verboten, zu beurteilen, ob die zugrunde liegenden Maßnahmen, mit denen die Beweise erhoben wurden, im Vollstreckungsmitgliedstaat rechtmäßig vorgenommen wurden. Beim Erlass einer EEO zur Übermittlung vorhandener Beweismittel ist die Anordnungsbehörde an den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gebunden, der die Grundlage für die Zusammenarbeit in Strafsachen in der Europäischen Union darstellt. Sofern nicht in einem gerichtlichen Verfahren in Frankreich, das die betroffene Person einleiten können muss,(18) die Unrechtmäßigkeit der zugrunde liegenden Maßnahmen festgestellt wird, kann die Anordnungsbehörde ihre Rechtmäßigkeit nicht in Frage stellen.

49.      Herr M. N. hat vorgebracht, dass eine Unterscheidung zwischen der Übermittlung von Beweismitteln und den Maßnahmen, mit denen diese erhoben worden seien, die Umgehung des Schutzes ermögliche, den das Recht des Anordnungsstaats verdächtigen oder beschuldigten Personen zuerkenne. Seiner Ansicht nach wandten sich die deutschen Behörden an ihre französischen Amtskollegen, um unter Verstoß gegen das deutsche Recht Beweismittel zu erlangen.

50.      Die Umstände des vorliegenden Falls legen nicht den Verdacht nahe, dass grenzüberschreitende Ermittlungsverfahren missbraucht werden sollten. Frankreich erlangte die in Rede stehenden Beweismittel im Rahmen seiner eigenen strafrechtlichen Ermittlungen. Selbst wenn diese Beweismittel auch für Deutschland von Interesse waren, begann Frankreich nicht zum Zweck der deutschen strafrechtlichen Ermittlungen mit ihrer Erhebung. Auch wenn es also zuträfe, dass ein deutscher Richter eine solche Überwachung nicht genehmigen würde, wenn sie in Deutschland durchgeführt werden sollte, führten die französischen Behörden solche Maßnahmen im Einklang mit dem französischen Recht und mit der Genehmigung des zuständigen französischen Gerichts durch.

51.      Obwohl die Strafrechtssysteme der Mitgliedstaaten erheblich voneinander abweichen,(19) bedeutet dies nicht, dass ein System die Grundrechte verdächtiger und beschuldigter Personen schützt, während ein anderes diese Rechte verletzt. Vielmehr beruht die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen in der Union auf der Vermutung, dass alle Mitgliedstaaten die Grundrechte achten. Während diese Vermutung im Einzelfall vor dem hierfür zuständigen Gericht widerlegt werden kann, kann dies nicht den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens in Frage stellen, der der EEA und anderen Instrumenten der Zusammenarbeit in Strafsachen zugrunde liegt.

52.      Folglich hat die Anordnungsbehörde nach Art. 6 Abs. 1 Buchst. b der EEA-Richtlinie zu prüfen, ob durch die Überwachung des Telekommunikationsverkehrs für die Zwecke eines Strafverfahrens erhobene Daten innerhalb Deutschlands in ein anderes Strafverfahren übermittelt werden dürfen. Ist dies der Fall, darf sie eine EEA zur Übermittlung der durch die Überwachung des Telekommunikationsverkehrs in einem anderen Mitgliedstaat erhobenen Beweismittel erlassen. Beim Erlass einer solchen EEA darf die Anordnungsbehörde die Rechtmäßigkeit der Maßnahmen, mit denen die Beweismittel im Vollstreckungsmitgliedstaat erhoben wurden, nicht in Frage stellen.

53.      Schließlich möchte das vorlegende Gericht mit seiner hilfsweise gestellten Frage 3b wissen, ob es von Bedeutung sei, dass die vom Vollstreckungsstaat durchgeführte Überwachung Daten auf Mobiltelefonen von Nutzern in Deutschland eingeschlossen habe, oder der Umstand relevant sei, dass diese Überwachung im Interesse der Strafverfolgung in Deutschland gelegen habe. Ich bin der Ansicht, dass diesen Umständen, selbst wenn sie zutreffen, keine Bedeutung für die Auslegung von Art. 6 Abs. 1 Buchst. b der EEA-Richtlinie zukommt.

54.      Erstens hat der Umstand, dass die Überwachung in Bezug auf Nutzer von Mobiltelefonen auf deutschem Hoheitsgebiet stattfand, keine Auswirkungen auf die Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 Buchst. b der EEA-Richtlinie: Unabhängig davon, wo die Beweismittel erhoben wurden, müssen, wenn sie im Wege einer EEA von Frankreich nach Deutschland übermittelt werden sollen, die deutschen Rechtsvorschriften eingehalten werden, die auf einen vergleichbaren innerstaatlichen Fall anwendbar sind.

55.      Zweitens ist die Vermutung, dass die französischen Behörden den Telekommunikationsverkehr im Interesse Deutschlands überwacht hätten, eine Tatsachenannahme, die im Vorlagebeschluss nicht substantiiert wird und über die der Gerichtshof nicht befinden kann. Noch wichtiger erscheint, dass nichts in Art. 6 Abs. 1 Buchst. b der EEA-Richtlinie die Schlussfolgerung nahelegt, dass dem Interesse des Anordnungsstaats bei seiner Auslegung eine Bedeutung zukäme.

 Zwischenergebnis

56.      Wenn eine EEA zur Übermittlung von Beweismitteln erlassen wird, die sich bereits im Besitz eines anderen Staats befinden, erfordert es der Verweis auf einen vergleichbaren innerstaatlichen Fall in Art. 6 Abs. 1 Buchst. b der EEA-Richtlinie, dass die Anordnungsbehörde feststellt, ob und unter welchen Bedingungen das einschlägige nationale Recht die innerstaatliche Übermittlung von Beweismitteln zwischen Strafverfahren zulässt, die durch die Überwachung des Telekommunikationsverkehrs erhoben wurden.

57.      Bei der Entscheidung, ob sie eine EEA zur Übermittlung vorhandener Beweismittel erlassen darf, darf die Anordnungsbehörde die Rechtsmäßigkeit der zugrunde liegenden Erhebung der Beweismittel, deren Übermittlung sie mittels EEA anordnet, im Vollstreckungsstaat nicht überprüfen.

58.      Der Umstand, dass die zugrunde liegenden Maßnahmen im Hoheitsgebiet des Anordnungsstaats durchgeführt wurden oder in seinem Interesse lagen, hat keinen Einfluss auf die vorstehende Antwort.

2.      Art. 6 Abs. 1 Buchst. b der EEA-Richtlinie und die zuständige Anordnungsbehörde

59.      Das vorlegende Gericht ist der Auffassung, dass die EEAs im vorliegenden Fall durch ein Gericht und nicht von einem Staatsanwalt hätten erlassen werden müssen. Diesbezüglich möchte es erstens wissen, ob eine solche Schlussfolgerung aus Art. 2 Buchst. c Ziff. i in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 Buchst. b der EEA-Richtlinie folge und, zweitens, ob der Umstand, dass die französischen Behörden Mobiltelefone auf deutschem Hoheitsgebiet überwacht hätten, sich auf die Beantwortung dieser Frage auswirke.

60.      Der Gerichtshof hat bereits ausgeführt, dass Art. 6 Abs. 1 Buchst. b der EEA-Richtlinie in der Tat eine Bedeutung für die Bestimmung der zuständigen Anordnungsbehörde in einem konkreten Fall zukommt. In der Rechtssache Spetsializirana Prokuratura (Verkehrs- und Standortdaten) verknüpfte der Gerichtshof Art. 2 Buchst. c Ziff. i der EEA-Richtlinie mit ihrem Art. 6 Abs. 1 Buchst. b.(20) Er führte aus, dass eine EEA von einem Gericht zu erlassen ist, wenn das Recht des Anordnungsmitgliedstaats dies für die gleiche Maßnahme in einem innerstaatlichen Kontext erfordert.(21) In einem solchen Fall ist ein Gericht die zuständige Anordnungsbehörde, auch wenn Staatsanwälte in Art. 2 Buchst. c Ziff. i der EEA-Richtlinie genannt werden.(22)

61.      Kurz gefasst kann ein Staatsanwalt grundsätzlich eine Anordnungsbehörde sein, wer in einem konkreten Fall die zuständige Anordnungsbehörde ist, richtet sich jedoch nach dem auf einen vergleichbaren innerstaatlichen Fall anwendbaren Recht.

62.      Unter Einbeziehung meiner bisherigen Analyse der Frage, was nach Art. 6 Abs. 1 Buchst. b der EEA-Richtlinie als vergleichbarer innerstaatlicher Fall zu verstehen ist, wenn eine EEA zur Übermittlung vorhandener Beweismittel erlassen wird, hätte die EEA von einem Gericht erlassen werden müssen, wenn das deutsche Recht dies im Fall einer innerstaatlichen Übermittlung abgeschöpfter Telekommunikationsdaten erfordert.

63.      Somit ist es für die Bestimmung der zuständigen Anordnungsbehörde irrelevant, ob nach deutschem Recht ein Gericht die Überwachungsmaßnahmen genehmigen müsste. Es stellt sich nur die Frage, ob ein Gericht eine vergleichbare innerstaatliche Übermittlung genehmigen müsste. Dies scheint nach deutschem Recht nicht der Fall zu sein.

64.      Dies vorausgeschickt, verbleiben in Bezug auf einen Punkt Bedenken. Wäre die Übermittlung vorhandener Beweismittel innerstaatlich, von einem Staatsanwalt an einen anderen erfolgt (z. B. von München nach Berlin), wäre die zugrunde liegende Maßnahme der Überwachung des Telekommunikationsverkehrs nach deutschem Recht von einem Gericht angeordnet worden. Somit wäre die Verhältnismäßigkeit des Grundrechtseingriffs gerichtlich überprüft worden. Dadurch ist es unter dem Gesichtspunkt des Schutzes der Rechte verdächtiger und beschuldigter Personen hinnehmbar, die Verwendung dieser Beweismittel in einem anderen Strafverfahren ohne weitere Mitwirkung eines Gerichts zu erlauben.

65.      Wenn die zugrunde liegende Maßnahme jedoch einem anderen Rechtssystem unterliegt, wirkt eine Vorschrift, wonach keine gerichtliche Überprüfung der Übermittlung vorhandener Beweismittel erforderlich ist, in einem anderen, unvertrauten Kontext.(23)

66.      Ungeachtet dessen wurde die Überwachung des Telekommunikationsverkehrs im vorliegenden Fall durch französische Gerichte genehmigt.(24) Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, auf dem das System der EEA beruht, verlangt, dass die deutschen Behörden diesem Verfahrensschritt denselben Stellenwert beimessen, den sie ihm innerstaatlich beimessen würden. Dies ist auch dann der Fall, wenn ein deutsches Gericht in einem konkreten Verfahren anders entscheiden würde.

67.      Was aber wäre, wenn das französische Recht keine richterliche Genehmigung für die Überwachungsmaßnahmen verlangen würde? In der mündlichen Verhandlung hat die Kommission vorgebracht, dass die Situation in einem solchen Fall anders gelagert wäre, und in diesem Zusammenhang geltend gemacht, dass die EEA, mit der um die Übermittlung vorhandener Beweismittel ersucht wurde, als unionsrechtswidrig angesehen werden könnte, hätten die französischen Gerichte die zugrunde liegende Maßnahme nicht genehmigt. Dies würde bedeuten, dass Art. 6 Abs. 1 Buchst. b der EEA-Richtlinie gegenüber der zugrunde liegenden Maßnahme nicht gänzlich neutral ist, wenn eine EEA zur Übermittlung vorhandener Beweismittel erlassen wird.

68.      Wenn das nationale Recht einen Staatsanwalt auf der Grundlage dazu ermächtigt, um die Übermittlung von Beweismitteln zu ersuchen, dass die ursprüngliche Erhebung dieser Beweismittel durch ein Gericht genehmigt wurde, kommt diese nationale Regel im Rahmen von Art. 6 Abs. 1 Buchst. b der EEA-Richtlinie zum Tragen. Dies bedeutet, dass die Anordnungsbehörde zu prüfen hat, ob die zugrunde liegende Maßnahme richterlich genehmigt wurde, wie es das nationale Recht erfordert. Die Anordnungsbehörde könnte die Qualität einer solchen Genehmigung jedoch nicht in Frage stellen, sondern wäre vielmehr verpflichtet, die richterliche Genehmigung im Vollstreckungsstaat in gleicher Weise zu akzeptieren wie eine innerstaatliche richterliche Genehmigung.

69.      Wenn der Vollstreckungsstaat jedoch kein Gericht in die Genehmigung der zugrunde liegenden Maßnahme einbezogen hat, während der Anordnungsstaat dies in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall verlangen würde, kann der letztere Staat eine richterliche Genehmigung für den Erlass einer EEA zur Übermittlung vorhandener Beweismittel verlangen. Dies gilt auch dann, wenn er für die interne Übermittlung von Beweismitteln keine solche Genehmigung verlangt.

70.      Im vorliegenden Fall wurden alle Schritte zur Erhebung der Daten über den EncroChat-Server in Frankreich von den zuständigen französischen Gerichten genehmigt.(25) Ich sehe daher keinen Grund, weshalb ein deutscher Staatsanwalt nicht in der Lage sein sollte, eine EEA zur Übermittlung dieser Beweismittel zu erlassen.

71.      Das vorlegende Gericht hat hilfsweise die Frage 1b gestellt, die auf der Annahme beruht, dass die deutschen Behörden die Erhebung der Daten, die auf deutschem Staatsgebiet stattgefunden habe,(26) durch Frankreich im Interesse Deutschlands veranlasst hätten.

72.      Diese Frage ist zum Teil hypothetisch, da es sich bei der Beweiserhebung um eine französische Initiative handelte, die für Frankreichs eigene Ermittlungen durchgeführt wurde. Die Ausforschung der deutschen EncroChat-Nutzer war die Folge der Überwachung des Telekommunikationsverkehrs und nicht der Grund dafür.

73.      Der Umstand, dass sich einige EncroChat-Nutzer auf deutschem Hoheitsgebiet befanden, ist meines Erachtens für den Begriff der Anordnungsbehörde ohne Bedeutung. Da eine EEA nur in Bezug auf Maßnahmen erlassen werden kann, die in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall zur Verfügung stehen, gelten dieselben nationalen Regeln in Bezug auf die Anordnungsbehörde unabhängig davon, wo und von wem die Ermittlungsmaßnahme durchgeführt wurde. Der einzige Unterschied besteht darin, ob eine EEA oder eine nationale Ermittlungsanordnung verwendet wird.(27)

 Zwischenergebnis

74.      Wenn eine zugrunde liegende Maßnahme im Vollstreckungsstaat durch einen Richter genehmigt wurde, muss eine EEA zur Übermittlung solcher Beweismittel nicht auch noch von einem Richter erlassen werden, selbst wenn die zugrunde liegende Maßnahme der Beweiserhebung nach dem Recht des Anordnungsstaats von einem Richter genehmigt werden müsste.

75.      Der Umstand, dass die Überwachung im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats durchgeführt wurde, spielt für die Bestimmung der Anordnungsbehörde keine Rolle.

3.      Art. 6 Abs. 1 Buchst. a der EEA-Richtlinie und die Verhältnismäßigkeit

76.      Gemäß Art. 6 Abs. 1 Buchst. a der EEA-Richtlinie muss eine EEA unter Berücksichtigung der Rechte der verdächtigen oder beschuldigten Person für die Zwecke des Strafverfahrens notwendig und verhältnismäßig sein.(28)

77.      Diese Verhältnismäßigkeitsprüfung orientiert sich sowohl am Unionsrecht als auch am Recht des Anordnungsstaats.(29)

78.      Die Anordnungsbehörde muss im Lichte der Umstände zum Zeitpunkt des Erlasses der EEA von ihrer Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit überzeugt sein. In dieser Hinsicht macht Herr M. N. zu Recht geltend, dass es für die Prüfung der Verhältnismäßigkeit einer EEA sicherlich unerheblich sein müsse, ob die strafrechtliche Ermittlung sehr erfolgreich gewesen sei und zu zahlreichen Verurteilungen wegen schwerer Straftaten geführt habe.

79.      Die entscheidende Frage ist vielmehr, ob das Ausmaß des Eingriffs in das Privatleben, der mit dem Zugang der Staatsanwaltschaft zu den übermittelten Beweismitteln einhergeht, durch die Bedeutung des öffentlichen Interesses an den betreffenden strafrechtlichen Ermittlungen oder Strafverfahren und unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls gerechtfertigt sein kann.

80.      Diesbezüglich stellte der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung zur Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation(30) fest, dass der Zugang von Behörden zu Verkehrs- und Standortdaten in jedem Fall einen schwerwiegenden Eingriff in das Privatleben der betroffenen Personen darstellt.(31)

81.      Während die Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation als solche nicht auf den vorliegenden Fall anwendbar ist,(32) sind die Feststellungen zum schwerwiegenden Eingriff in Grundrechte durch das Zugänglichmachen von Verkehrs- und Standortdaten auch für den hier in Rede stehenden Fall relevant: Der Zugang der deutschen Behörden zu den aus Frankreich übermittelten Telekommunikationsdaten kann als schwerwiegender Grundrechtseingriff eingestuft werden. Jedoch kann selbst ein schwerwiegender Eingriff durch ein ebenso wichtiges öffentliches Interesse gerechtfertigt werden.(33)

82.      Dieses Interesse darf nur von der Anordnungsbehörde (oder vom überprüfenden nationalen Gericht nach Art. 14 Abs. 2 der EEA-Richtlinie) im Lichte aller Umstände des Falls beurteilt werden, der in erster Linie dem nationalen Recht unterliegt.(34) Wie ich bereits erörtert habe, ist das einschlägige nationale Recht dasjenige, das die Übermittlung von Beweismitteln von einem Strafverfahren in ein anderes regelt.

83.      Der Gerichtshof kann bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit einer konkreten EEA nicht an die Stelle der Anordnungsbehörde oder des überprüfenden nationalen Gerichts treten. Dem Gerichtshof fehlt hierfür nicht nur die Zuständigkeit, er hat auch keine volle Kenntnis aller relevanten rechtlichen und tatsächlichen Gesichtspunkte, die mit strafrechtlichen Ermittlungen im Einzelfall zusammenhängen. Es ist daher nicht Sache des Gerichtshofs zu entscheiden, ob es unverhältnismäßig ist, die Übermittlung der Daten aller EncroChat-Nutzer in Deutschland anzuordnen, wenn keine konkreten Anhaltspunkte für die begangenen Straftaten vorlagen.

84.      Mit seiner Frage 2b möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Geheimhaltung der Methode der Datenüberwachung bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu berücksichtigen sei, wenn die Integrität der abgeschöpften Daten durch die Behörden im Anordnungsstaat nicht überprüft werden könne.

85.      Meines Erachtens könnte sich die Geheimhaltung tatsächlich auf die Verteidigungsmöglichkeiten der verdächtigen oder beschuldigten Personen auswirken. Dies betrifft jedoch die Zulässigkeit von Beweismitteln, die mit der fünften Fragengruppe des vorlegenden Gerichts angesprochen wird.

 Zwischenergebnis

86.      Die Prüfung der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit einer EEA, mit der um die Übermittlung vorhandener Beweismittel ersucht wird, ist Sache der Anordnungsbehörde, wobei eine Überprüfung durch das zuständige nationale Gericht möglich ist. Bei einer solchen Prüfung ist zu berücksichtigen, dass der Zugang der nationalen Behörde zu den abgeschöpften Daten einen schwerwiegenden Eingriff in das Privatleben der betroffenen Personen darstellt. Dieser Eingriff muss durch ein gewichtiges öffentliches Interesse an der Aufklärung und Verfolgung von Straftaten aufgewogen werden.

4.      Erfordert es das Unionsrecht, dass die Verhältnismäßigkeit in Fällen schwerwiegender Grundrechtseingriffe von einem Gericht geprüft wird?

87.      Mit seiner Frage 1c möchte das vorlegende Gericht wissen, ob es das Unionsrecht unabhängig vom anwendbaren nationalen Recht erfordere, dass ein Gericht den Zugang eines Staatsanwalts zu durch die Überwachung des Telekommunikationsverkehrs erlangten Daten genehmige.

88.      Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts erfordert eine EEA zur Übermittlung von Beweismitteln in Form abgeschöpfter Telekommunikationsdaten immer eine richterliche Genehmigung. Das vorlegende Gericht hat diesbezüglich auf das Urteil in der Rechtssache Prokuratuur verwiesen.

89.      In diesem Urteil stellte der Gerichtshof fest, dass der Zugang der Behörden zu von Betreibern elektronischer Kommunikationsdienste auf Vorrat gespeicherten Daten der vorherigen Genehmigung durch ein Gericht oder eine andere unparteiische Stelle bedarf.(35) Er stützte sich dabei auf die überzeugende Argumentation seines Generalanwalts,(36) wonach die Staatsanwaltschaft als Partei des Strafverfahrens nicht als unparteiisch angesehen werden könne. Aus diesem Grund ist fraglich, ob eine solche Stelle in der Lage ist, die Verhältnismäßigkeitsprüfung durchzuführen, ohne die Interessen der Anklage über die Interessen der Privatsphäre und des Datenschutzes verdächtiger und beschuldigter Personen zu stellen.

90.      Da auch Art. 6 Abs. 1 Buchst. a der EEA-Richtlinie verlangt, dass eine EEA verhältnismäßig sein muss, könnte man sich die Frage stellen, ob ein Staatsanwalt nach der Logik des Urteils in der Rechtssache Prokuratuur jemals mit der Durchführung einer solchen Verhältnismäßigkeitsprüfung betraut werden dürfte.

91.      Die EEA-Richtlinie überlässt die Wertungsfrage, ob ein Staatsanwalt eine EEA erlassen darf, den nationalen Rechtsordnungen. Dies ist angesichts der Unterschiede bei der Organisation der Strafrechtsordnungen der Mitgliedstaaten sinnvoll. Die Vornahme dieser Wertung durch nationale Rechtsordnungen bringt die Frage mit sich, ob ein Staatsanwalt eine unparteiische Verhältnismäßigkeitsprüfung durchführen kann. Wenn es aufgrund seiner Parteistellung im Strafverfahren unangemessen wäre, dass ein Staatsanwalt eine EEA erlässt, würde Art. 2 Buchst. c Ziff. i jeglicher Bedeutung beraubt.

92.      Demgegenüber hat das vorlegende Gericht vorgeschlagen, dass das Unionsrecht nur dann eingreifen und eine richterliche Genehmigung erfordern sollte, wenn die Maßnahmen einen schwerwiegenden Eingriff in Grundrechte mit sich bringen. Tatsächlich war dies in der Rechtssache Prokuratuur und in anderen Fällen, die die Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation zum Gegenstand hatten, der Fall.

93.      Die knappe Antwort lautet, dass die Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation und die betreffende Rechtsprechung in der vorliegenden Situation nicht anwendbar sind. Sie sind nur dann einschlägig, wenn Betreiber elektronischer Kommunikationsdienste nach nationalem Recht verpflichtet sind, mit dem Telekommunikationsverkehr verbundene Verkehrs- und Standortdaten zu speichern und wenn Behörden Zugang zu den so auf Vorrat gespeicherten Daten verlangen. Wird die Überwachung unmittelbar durch die Mitgliedstaaten durchgeführt, ohne dass Betreibern elektronischer Kommunikationsdienste irgendwelche Verpflichtungen auferlegt werden, ist nicht die Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation anwendbar, sondern allein das nationale Recht.(37)

94.      Wenn wir jedoch, wie vom vorlegenden Gericht vorgeschlagen, tiefer in die Logik des Urteils in der Rechtssache Prokuratuur eindringen, können wir uns gleichwohl fragen, warum der Gerichtshof festgestellt hat, dass ein Staatsanwalt aufgrund der Natur seiner Aufgaben nicht in der Lage ist, eine unparteiische Verhältnismäßigkeitsprüfung durchzuführen, wenn er Telekommunikationsdaten von Netzbetreibern anfordert.

95.      Im Kontext der Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation handelt es sich bei den Daten, auf die ein Staatsanwalt zugreift, immer um solche, die sich im Besitz von Betreibern elektronischer Kommunikationsdienste befinden, die nach nationalem Recht verpflichtet sind, Verkehrs- und Standortdaten der Allgemeinbevölkerung auf Vorrat zu speichern. Bei den so auf Vorrat gespeicherten Daten geht es also nicht um einen spezifischen Fall, sondern vielmehr um Massenüberwachung. Der Antrag eines Staatsanwalts auf Zugang für konkrete strafrechtliche Ermittlungen ist die erste Gelegenheit, bei der individuelle Umstände berücksichtigt werden können. Es war daher gerechtfertigt, zu verlangen, dass ein Gericht die Verhältnismäßigkeit der Gewährung dieses Zugangs prüft. Die Mitwirkung eines Gerichts ist notwendig, um einen Missbrauch des Zugriffs auf massenhaft und allgemein auf Vorrat gespeicherte Daten zu verhindern.

96.      Dies unterscheidet die im Urteil in der Rechtssache Prokuratuur getroffenen Feststellungen von der Situation im vorliegenden Fall. Vorliegend wurden die zu übermittelnden Daten nicht unterschiedslos von der gesamten Bevölkerung erhoben, sondern für die Zwecke konkreter strafrechtlicher Ermittlungen in Frankreich. Auf dieser ersten Stufe, auf der diese Daten verfügbar gemacht wurden, unterlag ihre Erhebung der Kontrolle eines Gerichts.

97.      Die Intensität des Eingriffs in die Grundrechte auf Achtung der Privatsphäre und auf Datenschutz, die zum Urteil in der Rechtssache Prokuratuur führten, ist im Rahmen des vorliegenden Falls nicht dieselbe. Die Daten, um deren Übermittlung mit den drei von der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt erlassenen EEAs ersucht wurde, waren in einem Kontext, in dem der Verdacht bestand, dass EncroChat vorwiegend zur Begehung von Straftaten verwendet werde, allein auf Nutzer dieses Dienstes in Deutschland beschränkt.

98.      Das soll nicht heißen, dass der Eingriff in das Privatleben dieser Personen unerheblich ist. Er ist aber dennoch nicht mit der Massenüberwachung der Allgemeinbevölkerung vergleichbar.

99.      Neben der Verpflichtung der Anordnungsbehörde, eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vorzunehmen und diese zu erläutern, sind in der EEA-Richtlinie weitere Garantien verankert. Für den Fall, dass Staatsanwälte Grundrechte verletzen, verlangt Art. 14 Abs. 1 der EEA-Richtlinie von den Mitgliedstaaten, dafür zu sorgen, dass Rechtsbehelfe eingelegt werden können, die den Rechtsbehelfen gleichwertig sind, die in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall zur Verfügung stehen. Die verdächtige oder beschuldigte Person muss daher in der Lage sein, die beim Erlass einer EEA zur Übermittlung von Beweismitteln vom Staatsanwalt durchgeführte Verhältnismäßigkeitsprüfung zu beanstanden.(38) Im Kontext der Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation ist dies nicht der Fall.

100. Schließlich möchte ich noch kurz auf die Bedeutung der Richtlinie zum Datenschutz bei der Strafverfolgung(39) für die Bestimmung der Anordnungsbehörde eingehen. Die dies betreffende Frage stellt sich, weil der Gerichtshof in seinem Urteil in der Rechtssache La Quadrature du Net ausgeführt hat, dass die Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation auf die unmittelbare Abschöpfung von Daten nicht anwendbar ist. Vielmehr ist „vorbehaltlich der Anwendung der [Richtlinie zum Datenschutz bei der Strafverfolgung]“ allein nationales Recht anwendbar.(40) Daher stellt sich die Frage, ob aus der Richtlinie zum Datenschutz bei der Strafverfolgung eine Verpflichtung folgt, dass eine EEA zur Übermittlung vorhandener Beweismittel von einem Gericht zu erlassen ist, wenn die Beweismittel aus abgeschöpften Daten bestehen.

101. Tatsächlich kann die Richtlinie zum Datenschutz bei der Strafverfolgung, mit der personenbezogene Daten im Rahmen strafrechtlicher Ermittlungen geschützt werden, auf die Umstände des vorliegenden Falls angewendet werden.(41) Allerdings enthält diese Richtlinie meines Erachtens keine Vorschrift, die dem Gerichtshof die Schlussfolgerung erlauben würde, dass das Unionsrecht den Mitgliedstaaten die Verpflichtung auferlege, für eine vorherige richterliche Genehmigung zu sorgen, wenn einem Staatsanwalt unmittelbarer Zugang zu Daten gewährt wird, die durch die Überwachung des Telekommunikationsverkehrs erlangt wurden.

102. Diese Richtlinie regelt die Pflichten von Behörden, die als Verantwortliche für Datenverarbeitungen agieren und die u. a. dazu verpflichtet werden, eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durchzuführen,(42) legt aber nicht fest, welche Behörden dies sein können.

 Zwischenergebnis

103. Das Unionsrecht verlangt nicht, dass eine EEA zur Übermittlung vorhandener, durch die Überwachung des Telekommunikationsverkehrs erhobener Beweismittel durch ein Gericht zu erlassen ist, wenn das nationale Recht vorsieht, dass in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall ein Staatsanwalt eine solche Übermittlung anordnen kann.

D.      Art. 31 der EEA-Richtlinie und das Erfordernis der Unterrichtung

104. Mit seiner vierten Fragengruppe möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die durch die französischen Behörden durchgeführte Überwachung des Telekommunikationsverkehrs der Unterrichtungspflicht gemäß Art. 31 der EEA-Richtlinie hätte unterliegen müssen. Für den Fall, dass dies zu bejahen ist, fragt es auch, ob eine solche Unterrichtung an einen Richter hätte gerichtet werden müssen, da nach deutschem Recht nur ein Richter die Überwachung des Telekommunikationsverkehrs hätte genehmigen können.

105. Die einschlägigen Passagen von Art. 31 der EEA-Richtlinie sehen vor:

„(1)      Wenn zum Zwecke der Durchführung einer Ermittlungsmaßnahme die Überwachung des Telekommunikationsverkehrs von der zuständigen Behörde eines Mitgliedstaats (‚überwachender Mitgliedstaat‘) genehmigt wurde und der in der Überwachungsanordnung bezeichnete Kommunikationsanschluss der Zielperson der Überwachung im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats (‚unterrichteter Mitgliedstaat‘) genutzt wird, von dem für die Durchführung der Überwachung keine technische Hilfe benötigt wird, so hat der überwachende Mitgliedstaat die zuständige Behörde des unterrichteten Mitgliedstaats von der Überwachung wie folgt zu unterrichten:

a)      vor der Überwachung in Fällen, in denen die zuständige Behörde des überwachenden Mitgliedstaats bereits zum Zeitpunkt der Anordnung der Überwachung davon Kenntnis hat, dass sich die Zielperson der Überwachung im Hoheitsgebiet des unterrichteten Mitgliedstaats befindet oder befinden wird;

b)      während oder nach der Überwachung, und zwar unmittelbar nachdem sie davon Kenntnis erhält, dass sich die Zielperson der Überwachung während der Überwachung im Hoheitsgebiet des unterrichteten Mitgliedstaats befindet oder befunden hat.

(2)      Für die Unterrichtung gemäß Absatz 1 wird das in Anhang C festgelegte Formblatt verwendet.“

106. Art. 31 der EEA-Richtlinie betrifft Situationen, in denen ein Mitgliedstaat die Überwachung des Telekommunikationsverkehrs im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats durchführt, ohne dass technische Hilfe des letzteren Staats erforderlich ist.(43)

107. Diese Bestimmung verfolgt einen doppelten Zweck. Erstens besteht die Rolle der Unterrichtungspflicht, als Fortsetzung der völkerrechtlichen Courtoisie aus früheren Vereinbarungen der gegenseitigen Rechtshilfe,(44) darin, das gegenseitige Vertrauen unter den am Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts beteiligten Mitgliedstaaten zu stärken.(45) Zweitens soll die Unterrichtungspflicht es dem unterrichteten Mitgliedstaat ermöglichen, die Grundrechte Einzelner in seinem Hoheitsgebiet zu schützen.(46)

108. Art. 31 der EEA-Richtlinie ist auf eine Situation anwendbar, in der eine grenzüberschreitende Maßnahme in Gang ist, jedoch ohne eine EEA, da sie einseitig von einem Mitgliedstaat durchgeführt wird.(47)

109. Diese Auslegung ergibt sich aus dem Wortlaut von Art. 31 der EEA-Richtlinie, der, anders als ihr Art. 30, den Erlass einer EEA gar nicht erwähnt. Art. 31 der EEA-Richtlinie verwendet auch nicht die Begriffe „Anordnungs-“ und „Vollstreckungs-“, sondern vielmehr „überwachender“ und „unterrichteter“ Mitgliedstaat.(48)

110. Meines Erachtens zielt diese Bestimmung gerade auf Situationen wie die Abschöpfung von Telekommunikationsdaten auf Mobiltelefonen in Deutschland durch Frankreich im Rahmen der französischen strafrechtlichen Ermittlungen ab. Daher hätte Frankreich die deutschen Behörden unterrichten müssen, sobald es erkannt hatte, dass ein Teil der abgeschöpften Daten von Mobiltelefonen in Deutschland stammte.(49)

111. Aber welche deutsche Behörde hätte Frankreich unterrichten müssen? Anders als in einigen anderen Fällen,(50) verpflichtet die EEA-Richtlinie die Mitgliedstaaten nicht dazu, die für die Entgegennahme solcher Unterrichtungen zuständige Behörde zu benennen. Folglich kann der überwachende Staat nicht wissen, welche Stelle im unterrichteten Mitgliedstaat dafür zuständig ist, eine solche Unterrichtung entgegenzunehmen.

112. Frankreich war also nicht dazu verpflichtet, ein zuständiges deutsches Gericht zu unterrichten, sondern hätte z. B. auch einen Staatsanwalt unterrichten können. Es obliegt den unterrichteten Mitgliedstaaten, solche Unterrichtungen entgegenzunehmen und an die nach nationalem Recht zuständige Behörde weiterzuleiten.

 Zwischenergebnis

113. Ein Mitgliedstaat, der im Zuge seiner einseitigen strafrechtlichen Ermittlungen oder Verfahren den Telekommunikationsverkehr im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats überwacht, hat diesen anderen Staat von der Überwachung zu unterrichten.

114. Diese Unterrichtung kann an jede Behörde gerichtet werden, die der überwachende Mitgliedstaat für geeignet hält, da er nicht wissen kann, welche Behörde in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall zuständig ist.

115. Art. 31 der EEA-Richtlinie soll sowohl einzelne betroffene Telekommunikationsnutzer als auch die Souveränität des unterrichteten Mitgliedstaats schützen.

E.      Zulässigkeit von Beweismitteln

116. Mit seiner fünften Fragengruppe möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob aus der Feststellung, dass eine EEA unter Verstoß gegen die Anforderungen der EEA-Richtlinie erlassen wurde, die Unzulässigkeit dieser Beweismittel im Strafverfahren im Anordnungsmitgliedstaat folgt. Es stützt sich dabei auf die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität. Der letztere Grundsatz wird in dem Sinne ins Treffen geführt, dass es die Effektivität der EEA-Richtlinie beeinträchtigen würde, wenn die unter Verstoß gegen diese Richtlinie erlangten Beweismittel im Anordnungsstaat dennoch verwendet würden.

117. Die Beantwortung dieser Fragengruppe kann kurz ausfallen: Das Unionsrecht regelt die Zulässigkeit von Beweismitteln in Strafverfahren nicht.

118. Obwohl die Europäische Union nach Art. 82 Abs. 2 Buchst. a AEUV ermächtigt ist, eine Mindestharmonisierung der gegenseitigen Zulassung von Beweismitteln einzuführen, ist dies bisher nicht erfolgt.(51)

119. Die einzige Erwähnung der Bewertung der mittels einer EEA erlangten Beweismittel findet sich in Art. 14 Abs. 7 Satz 2 der EEA-Richtlinie. „Unbeschadet der nationalen Verfahrensvorschriften stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass in einem Strafverfahren im Anordnungsstaat bei der Bewertung der mittels einer EEA erlangten Beweismittel die Verteidigungsrechte gewahrt und ein faires Verfahren gewährleistet werden.“(52)

120. In der mündlichen Verhandlung hat die Kommission auf die Frage, ob diese Bestimmung irgendwelche Auswirkungen auf die Zulässigkeit von Beweismitteln in den Mitgliedstaaten habe, geantwortet, dass eine solche Schlussfolgerung zu weit ginge. Sie erklärte, dass mit diesem Satz nur daran erinnert werde, dass die durch die Art. 47 und 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) geschützten Rechte zu gewährleisten sind. Ich bin geneigt, einer solchen Auslegung, die anerkennt, dass im politischen Prozess auf Unionsebene derzeit keine Fortschritte bei der Regulierung der Zulässigkeit von Beweismitteln gemacht werden, zuzustimmen.

121. Meines Wissens ist das Unionsrecht einer Regulierung der Zulässigkeit von Beweismitteln mit Art. 37 Abs. 1 der EUStA-Verordnung(53) noch am nächsten gekommen: „Die von den Staatsanwälten der EUStA oder von dem Angeklagten vor einem Gericht beigebrachten Beweismittel dürfen nicht allein deshalb als unzulässig abgelehnt werden, weil sie in einem anderen Mitgliedstaat oder nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats erhoben wurden.“

122. Aus dieser Bestimmung erfahren wir jedoch nur, dass Beweismittel nicht als unzulässig abgelehnt werden dürfen, weil sie im Ausland oder nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats erhoben wurden. Sie enthält keine weiteren Vorgaben für nationale Richter, wie sie die Zulässigkeit von Beweismitteln zu beurteilen haben.

123. Der gleiche Ansatz findet sich in der Rechtsprechung des EGMR. Dieses Gericht stellte eindeutig fest, dass die Zulässigkeit von Beweismitteln Sache des nationalen Rechts ist,(54) während bei der Beurteilung einer möglichen Verletzung von Art. 6 EMRK „der Gerichtshof … das Verfahren unter Berücksichtigung der Verteidigungsrechte, aber auch der Interessen der Allgemeinheit und der Opfer an der ordnungsgemäßen Verfolgung der Straftat sowie gegebenenfalls der Rechte der Zeugen in seiner Gesamtheit betrachten [wird]“.(55)

124. Auch wenn ein solcher Maßstab in der Literatur als unzureichend kritisiert wird, insbesondere angesichts der Unterschiede im Verfahrensrecht zwischen den Mitgliedstaaten,(56) ändert dies nichts daran, dass die Zulässigkeit von Beweismitteln auf Unionsebene gegenwärtig nicht geregelt ist.

125. Zusammengefasst unterliegt die Frage, ob Beweismittel, die unter Verstoß gegen innerstaatliches Recht oder Unionsrecht erlangt wurden, zulässig sind, beim gegenwärtigen Entwicklungsstand des Unionsrechts den Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten.

126. Die Folgen einer möglichen Nichteinhaltung der Bedingungen für den Erlass einer EEA sind in der EEA-Richtlinie dünn gesät. Nach Art. 6 Abs. 3 der EEA-Richtlinie kann die Vollstreckungsbehörde, wenn sie Grund zu der Annahme hat, dass Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie nicht eingehalten worden sei, die Anordnungsbehörde zu der Frage konsultieren, wie wichtig die Vollstreckung der EEA ist, und nach dieser Konsultation kann die Anordnungsbehörde entscheiden, die EEA zurückzuziehen.

127. Im Ergebnis ist die Frage der Zulässigkeit von Beweismitteln gegenwärtig noch Sache des nationalen Rechts. In Angelegenheiten, die in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen, dürfen die einschlägigen Regelungen jedoch nicht die Art. 47 und 48 der Charta verletzen.(57)

128. Die Verfahrensgrundsätze der Äquivalenz und der Effektivität kommen in Situationen zur Anwendung, in denen das Unionsrecht dem Einzelnen Rechte ohne Rechtsbehelfe gewährt. Die Mitgliedstaaten haben zu gewährleisten, dass ein aus dem Unionsrecht erwachsendes Recht unter den gleichen Bedingungen wie ein vergleichbares innerstaatlich zustehendes Recht durchgesetzt werden kann und die anwendbaren Verfahrensvorschriften die Durchsetzung solcher Rechte nicht praktisch unmöglich machen.(58)

129. Es besteht auf der Grundlage des Unionsrechts jedoch kein Recht, das dem Einzelnen in Bezug auf die (Un‑)Zulässigkeit von Beweismitteln erwachsen würde. Die Grundsätze der Äquivalenz und Effektivität kommen nicht zur Anwendung.

130. Selbst wenn es den effet utile des Unionsrechts (wohl) stärken würde, wenn aus einem Verstoß gegen die EEA-Richtlinie die Unzulässigkeit von Beweismitteln folgte, ermächtigt dies den Gerichtshof nicht dazu, eine solche Regel aufzustellen.

 Zwischenergebnis

131. Das Unionsrecht regelt bei seinem gegenwärtigen Entwicklungsstand die Zulässigkeit von Beweismitteln, die mittels einer unter Verstoß gegen die Anforderungen der EEA-Richtlinie erlassenen EEA erhoben wurden, nicht. Die Zulässigkeit von Beweismitteln ist Sache des nationalen Rechts, das jedoch den Anforderungen der Verteidigungsrechte nach den Art. 47 und 48 der Charta zu genügen hat.

IV.    Ergebnis

132. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die vom Landgericht Berlin (Deutschland) zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen wie folgt zu antworten:

1.      In Bezug auf die erste Gruppe von Vorlagefragen:

Wenn eine zugrunde liegende Maßnahme im Vollstreckungsstaat durch einen Richter genehmigt wurde, muss eine Europäische Ermittlungsanordnung (EEA) zur Übermittlung solcher Beweismittel nicht auch noch von einem Richter erlassen werden, selbst wenn die zugrunde liegende Maßnahme der Beweiserhebung nach dem Recht des Anordnungsstaats von einem Richter genehmigt werden müsste.

Der Umstand, dass die Überwachung im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats durchgeführt wurde, spielt für die Bestimmung der Anordnungsbehörde keine Rolle.

Das Unionsrecht verlangt nicht, dass eine EEA zur Übermittlung vorhandener, durch die Überwachung des Telekommunikationsverkehrs erhobener Beweismittel durch ein Gericht zu erlassen ist, wenn das nationale Recht vorsieht, dass in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall ein Staatsanwalt eine solche Übermittlung anordnen kann.

2.      In Bezug auf die zweite Gruppe von Vorlagefragen:

Die Prüfung der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit einer EEA, mit der um die Übermittlung vorhandener Beweismittel ersucht wird, ist Sache der Anordnungsbehörde, wobei eine Überprüfung durch das zuständige nationale Gericht möglich ist. Bei einer solchen Prüfung ist zu berücksichtigen, dass der Zugang der nationalen Behörde zu den abgeschöpften Daten einen schwerwiegenden Eingriff in das Privatleben der betroffenen Personen darstellt. Dieser Eingriff muss durch ein gewichtiges öffentliches Interesse an der Aufklärung und Verfolgung von Straftaten aufgewogen werden.

3.      In Bezug auf die dritte Gruppe von Vorlagefragen:

Wenn eine EEA zur Übermittlung von Beweismitteln erlassen wird, die sich bereits im Besitz eines anderen Staats befinden, erfordert es der Verweis auf einen vergleichbaren innerstaatlichen Fall in Art. 6 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2014/41/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen, dass die Anordnungsbehörde feststellt, ob und unter welchen Bedingungen das einschlägige nationale Recht die innerstaatliche Übermittlung von Beweismitteln zwischen Strafverfahren zulässt, die durch die Überwachung des Telekommunikationsverkehrs erhoben wurden.

Bei der Entscheidung, ob sie eine EEA zur Übermittlung vorhandener Beweismittel erlassen darf, darf die Anordnungsbehörde die Rechtmäßigkeit der zugrunde liegenden Erhebung der Beweismittel, deren Übermittlung sie mittels EEA anordnet, im Vollstreckungsstaat nicht überprüfen.

Der Umstand, dass die zugrunde liegenden Maßnahmen im Hoheitsgebiet des Anordnungsstaats durchgeführt wurden oder in seinem Interesse lagen, hat keinen Einfluss auf die vorstehende Antwort.

4.      In Bezug auf die vierte Gruppe von Vorlagefragen:

Ein Mitgliedstaat, der im Zuge seiner einseitigen strafrechtlichen Ermittlungen oder Verfahren den Telekommunikationsverkehr im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats überwacht, hat diesen anderen Staat von der Überwachung zu unterrichten.

Diese Unterrichtung kann an jede Behörde gerichtet werden, die der überwachende Mitgliedstaat für geeignet hält, da er nicht wissen kann, welche Behörde in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall zuständig ist.

Art. 31 der Richtlinie 2014/41 soll sowohl einzelne betroffene Telekommunikationsnutzer als auch die Souveränität des unterrichteten Mitgliedstaats schützen.

5.      In Bezug auf die fünfte Fragengruppe:

Das Unionsrecht regelt bei seinem gegenwärtigen Entwicklungsstand die Zulässigkeit von Beweismitteln, die mittels einer unter Verstoß gegen die Anforderungen der Richtlinie 2014/41 erlassenen EEA erhoben wurden, nicht. Die Zulässigkeit von Beweismitteln ist Sache des nationalen Rechts, das jedoch den Anforderungen der Verteidigungsrechte nach den Art. 47 und 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union zu genügen hat.


1      Originalsprache: Englisch.


2      Richtlinie 2014/41/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen (ABl. 2014, L 130, S. 1) (im Folgenden: EEA-Richtlinie).


3      Dazu gehörte ein duales Betriebssystem (mit einer nicht nachweisbaren, verschlüsselten Schnittstelle), wobei das Gerät über keine Kamera, kein Mikrofon, kein GPS und keinen USB-Anschluss verfügte. Nachrichten konnten automatisch gelöscht werden. Nutzer waren nach der Verwendung eines speziellen PIN-Codes oder der wiederholten Eingabe eines falschen Passworts in der Lage, sofort alle Daten auf dem Gerät zu löschen. Schließlich konnte auch ein Helpdesk oder Vertriebshändler aus der Entfernung alle Daten auf dem Gerät löschen, falls nötig. Für weitere Informationen siehe <https://www.europol.europa.eu/media-press/newsroom/news/dismantling-of-encrypted-network-sends-shockwaves-through-organised-crime-groups-across-europe>.


4      Beispielsweise stellte der französische Conseil constitutionnel (Verfassungsgerichtshof) in seiner Entscheidung Nr. 2022-987 QPC vom 8. April 2022 fest, dass die französischen Rechtsvorschriften, auf deren Grundlage die diesem Fall zugrunde liegende Maßnahme der Überwachung des Telekommunikationsverkehrs angeordnet wurde, mit der französischen Verfassung vereinbar seien; der deutsche Bundesgerichtshof sprach in seinem Urteil 5 StR 457/21 vom 2. März 2022 aus, dass die Überwachung nach deutschem Recht rechtmäßig gewesen sei; schließlich ist eine Beanstandung der Verwendung von EncroChat-Daten aus Frankreich vor Gerichten des Vereinigten Königreichs derzeit in den Rechtssachen A.L./Frankreich, Beschwerde Nr. 44715/20, und E.J./Frankreich, Beschwerde Nr. 47930/21, vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR) anhängig. Am 3. Januar 2022 richtete der EGMR Fragen an die Parteien, mit denen er u. a. wissen wollte, ob diesen eine (ungenutzte) Möglichkeit zugekommen sei, die Überwachungsmaßnahmen vor den zuständigen französischen Gerichten zu beanstanden.


5      Vor Inkrafttreten der EEA-Richtlinie war die Übermittlung von Beweismitteln, die sich bereits im Besitz eines anderen Mitgliedstaats befanden, im Rahmenbeschluss 2008/978/JI des Rates vom 18. Dezember 2008 über die Europäische Beweisanordnung zur Erlangung von Sachen, Schriftstücken und Daten zur Verwendung in Strafsachen (ABl. 2008, L 350, S. 72) geregelt. Den Erwägungsgründen 4 bis 7 der EEA-Richtlinie zufolge war das vorherige System zu fragmentiert und zu kompliziert, weshalb die EEA als einheitliches Instrument zur Erlangung neuer sowie schon vorhandener Beweismittel konzipiert wurde.


6      Siehe die in Fn. 4 aufgeführte Entscheidung dieses Gerichts.


7      Dieses Vorabentscheidungsersuchen stellt somit ein Beispiel für das klassische Narrativ dar, demzufolge das Vorabentscheidungsverfahren zu einer richterlichen Stärkung gewöhnlicher nationaler Gerichte gegenüber ihren oberinstanzlichen Amtskollegen geführt habe, dessen bekannteste Ausformulierung sich findet in Alter, K. J., „The European Court’s Political Power“, West European Politics, Bd. 19(3), 1996, S. 452. Für den empirischen Nachweis der umgekehrten Dynamik, bei der die oberinstanzlichen innerstaatlichen Gerichte dem Gerichtshof Fragen vorlegen, um ihren unterinstanzlichen Amtskollegen zuvorzukommen, siehe Pavone, T., und Kelemen, D. R., „The Evolving Judicial Politics of European Integration: The European Court of Justice and national courts revisited“, European Law Journal, Bd. 25(4), 2019, S. 352.


8      Siehe Art. 6 Abs. 2 der EEA-Richtlinie.


9      Siehe in diesem Zusammenhang das Urteil vom 16. Dezember 2021, Spetsializirana prokuratura (Verkehrs- und Standortdaten) (C‑724/19, EU:C:2021:1020, Rn. 44). Vgl. auch Csúri, A., „Towards an Inconsistent European Regime of Cross-Border Evidence: The EPPO and the European Investigation Order“, in Geelhoed, W., u. a., Shifting Perspectives on the European Public Prosecutor’s Office, T.M.C. Asser Press, Den Haag, 2018, S. 146.


10      Nach Art. 2 Buchst. c Ziff. ii der EEA-Richtlinie kann auch eine andere nach nationalem Recht zuständige Behörde eine EEA erlassen, wenn eine solche EEA anschließend von einer der in Art. 2 Buchst. c Ziff. i der Richtlinie aufgeführten Behörden validiert wird.


11      Rahmenbeschluss des Rates 2002/584/JI vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2002 L 190, S. 1) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 zur Änderung der Rahmenbeschlüsse 2002/584/JI, 2005/214/JI, 2006/783/JI, 2008/909/JI und 2008/947/JI, zur Stärkung der Verfahrensrechte von Personen und zur Förderung der Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Entscheidungen, die im Anschluss an eine Verhandlung ergangen sind, zu der die betroffene Person nicht erschienen ist (ABl. 2009, L 81, S. 24) geänderten Fassung (im Folgenden: Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl).


12      Im Urteil vom 2. März 2023, Staatsanwaltschaft Graz (Finanzamt Düsseldorf für Steuerstrafsachen) (C‑16/22, EU:C:2023:148, Rn. 33 bis 36) stellte der Gerichtshof fest, dass die Ziff. i und ii des Art. 2 Buchst. c der EEA-Richtlinie einander ausschließen.


13      Urteil vom 8. Dezember 2020, Staatsanwaltschaft Wien (Gefälschte Überweisungsaufträge) (C‑584/19, EU:C:2020:1002, Rn. 57 bis 63). Dagegen hat der Gerichtshof im Urteil vom 27. Mai 2019, OG und PI (Staatsanwaltschaften Lübeck und Zwickau) (C‑508/18 und C‑82/19 PPU, EU:C:2019:456, Rn. 88 bis 90) festgestellt, dass die deutschen Staatsanwaltschaften das Erfordernis der Unabhängigkeit, das für die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls notwendig ist, nicht erfüllen. Daraus würde sich ergeben, dass ein Staatsanwalt, der nicht gänzlich unabhängig von der Exekutive ist, keinen Europäischen Haftbefehl ausstellen, aber ungeachtet dessen eine EEA erlassen kann. Es ist hervorzuheben, dass in diesen beiden Urteilen ein Rechtsbehelf gegen die Staatsanwaltschaft im Kontext des Erlasses einer EEA als ausreichend für den Schutz der Grundrechte angesehen wurde, im Kontext der Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls jedoch als hierfür unzureichend.


14      Siehe die in Fn. 4 aufgeführte Entscheidung des Bundesgerichtshofs.


15      Es sollte hinzugefügt werden, dass in der mündlichen Verhandlung die Frage aufgekommen ist, ob der Umstand, dass Deutschland (zumindest ab dem 3. April 2020) über Europol Zugang in Echtzeit zu den abgeschöpften Telekommunikationsdaten gewährt wurde, zur Folge haben sollte, dass Deutschland eine EEA mit dem Ersuchen, diese Daten zu erheben, hätte erlassen müssen. Wie die Staatsanwaltschaft Berlin und die deutsche Regierung erläutert haben, sei dieser direkte Zugang nicht für die Zwecke der Strafverfolgung, sondern bloß zu präventivpolizeilichen Zwecken ermöglicht worden. Sie machten geltend, dass die EEAs nachfolgend für die Verwendung dieser Beweismittel im deutschen Strafverfahren notwendig gewesen seien. Dagegen sei eine EEA zur Erhebung der in Echtzeit über Europol zur Verfügung gestellten Daten nicht notwendig (und auch nicht möglich) gewesen, da dieser Datenzugang nicht in Bezug auf eines der in Art. 4 der EEA-Richtlinie aufgezählten Verfahren gewährt worden sei. Diese Richtlinie sei daher auf den Zugang der Polizei zu Echtzeitdaten nicht anwendbar gewesen.


16      Hervorhebung nur hier.


17      Nach meiner eigenen, zwangsläufig oberflächlichen Recherche sieht § 477 Abs. 2 StPO eine Übermittlung personenbezogener Daten von einem Strafverfahren in ein anderes von Amts wegen vor; § 480 Abs. 1 StPO legt fest, dass hierüber in vorbereitenden Verfahren und nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens eine Staatsanwaltschaft, im Übrigen der Vorsitzende des mit der Sache befassten Gerichts, entscheidet. Eine Verpflichtung zur Übermittlung von Beweismitteln kann aus dem in § 152 Abs. 2 StPO verankerten Legalitätsgrundsatz abgeleitet werden. Grundsätzlich ist eine Übermittlung nur möglich, wenn die betreffenden Beweismittel eine Straftat betreffen, zu deren Verfolgung eine solche Maßnahme angeordnet hätte werden können, andernfalls ist die Einwilligung der betroffenen Person erforderlich. Vogel, B., Köppen, P., und Wahl, T., „Access to Telecommunication Data in Criminal Justice: Germany“, in Sieber, U., und von zur Mühlen, N., (Hrsg.), Access to Telecommunication Data in Criminal Justice. A Comparative Analysis of European Legal Orders, Duncker & Humboldt, Berlin, 2016, S. 518; Gieg, G., in Barthe, C., Gericke, J., (Hrsg.), Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, § 477 (zu Abs. 1); § 479 (zu Abs. 3), C.H. Beck, München, 2023.


18      Die Frage, ob die von den EncroChat-Überwachungen betroffenen Personen diese in Frankreich beanstanden konnten, ist derzeit beim EGMR anhängig. Siehe oben, Fn. 4.


19      Die nationalen Strafverfahren unterscheiden sich erheblich zwischen den Mitgliedstaaten, nicht nur in Bezug auf die zur Verfügung stehenden Ermittlungsmaßnahmen (Armada, I., „The European Investigation Order and the Lack of European Standards for Gathering Evidence: Is a Fundamental Rights-Based Refusal the Solution?“, New Journal of European Criminal Law, Bd. 6(1), 2015, S. 9), sondern auch hinsichtlich der Bedingungen, unter denen sie herangezogen werden können (Bachmaier, L., „Mutual Recognition and Cross-Border Interception of Communications: The Way Ahead for the European Investigation Order“, in Brière, C., und Weyembergh, A., (Hrsg.), The Needed Balances in EU Criminal Law: Past, Present and Future, Hart Publishing, Oxford, 2018, S. 317). Was beispielsweise die Überwachung des Telekommunikationsverkehrs angeht, sehen einige Mitgliedstaaten eine Liste von Straftaten vor, für deren Aufklärung eine solche Maßnahme vorgeschrieben werden darf (z. B. Deutschland); in anderen ist hierfür das Erfordernis einer Mindeststrafe maßgeblich (z. B. in Frankreich); wieder andere verwenden vor eine Mischung aus beiden Ansätzen. Darüber hinaus erlauben verschiedene nationale Rechtsvorschriften eine solche Ermittlungsmaßnahme unter der Bedingung des Vorliegens eines bestimmten Verdachtsgrads oder einer zwingenden Prüfung der Notwendigkeit (dahin, ob mit einer weniger einschneidenden Maßnahme das gleiche Ergebnis erzielt werden könnte). Schließlich verfolgen die Mitgliedstaaten unterschiedliche Ansätze hinsichtlich der Höchstdauer der Überwachungsanordnung und der Möglichkeit ihrer Verlängerung (siehe Tropina, T., „Comparative Analysis“, in Sieber, U., und von zur Mühlen, N. (Hrsg.), Access to Telecommunication Data in Criminal Justice. A Comparative Analysis of European Legal Orders, Duncker & Humboldt, Berlin, 2016, S. 67-72, 77-79).


20      Urteil vom 16. Dezember 2021, Spetsializirana prokuratura (Verkehrs- und Standortdaten) (C‑724/19, EU:C:2021:1020, Rn. 35 und 44). Vgl. auch Urteil vom 8. Dezember 2020, Staatsanwaltschaft Wien (Gefälschte Überweisungsaufträge) (C‑584/19, EU:C:2020:1002, Rn. 52).


21      Urteil vom 16 Dezember 2021, Spetsializirana prokuratura (Verkehrs- und Standortdaten) (C‑724/19, EU:C:2021:1020, Rn. 35 und 45).


22      Dies ist auch für die Vermeidung von „forum shopping“ sinnvoll: Wenn das nationale Recht innerstaatlich die Mitwirkung eines Gerichts erfordert, sollte die Verwendung einer EEA nichts an diesem Erfordernis ändern. Mangiaracina, A., „A New and Controversial Scenario in the Gathering of Evidence at the European Level: The Proposal for a Directive on the European Investigation Order“, Utrecht Law Review, Bd. 10(1), 2014, S. 126.


23      Es ist jedoch festzustellen, dass die Anstrengungen, die unternommen wurden, um eine Mindestharmonisierung im Bereich des Strafverfahrensrechts zu gewährleisten, eine wichtige Rolle dabei spielen, die verschiedenen Rechtssysteme der Mitgliedstaaten „miteinander vertraut zu machen“. Ich denke an Instrumente wie die Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren (ABl. 2016, L 65, S. 1) oder die Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren (ABl. 2012, L 142, S. 1).


24      In diesem Zusammenhang habe ich bereits erwähnt, dass der französische Conseil constitutionnel (Verfassungsgerichtshof) im April 2022 feststellte, dass die französischen Rechtsvorschriften, auf deren Grundlage die EncroChat-Überwachung angeordnet wurde, mit der französischen Verfassung vereinbar seien. Siehe oben, Fn. 4.


25      Aus dem Vorlagebeschluss geht hervor, dass diese vom Strafgericht Lille genehmigt wurden.


26      Dies aus dem Grund, dass sich die Mobiltelefone deutscher Nutzer, auf denen Daten gespeichert waren, in Deutschland befunden hätten.


27      Die Relevanz des Umstands, dass die Überwachung im Hoheitsgebiet des Anordnungsstaats durchgeführt worden sei, wird noch im Rahmen der vierten Fragengruppe erörtert werden, die die Auslegung von Art. 31 der EEA-Richtlinie betrifft. Siehe unten, Abschnitt D.


28      Im elften Erwägungsgrund der EEA-Richtlinie wird diese Bestimmung dahin präzisiert, dass „sich die Anordnungsbehörde [daher] vergewissern [sollte], ob das erbetene Beweismittel für den Zweck des Verfahrens notwendig ist und in angemessenem Verhältnis zu diesem Zweck steht, ob die gewählte Ermittlungsmaßnahme für die Erhebung des betreffenden Beweismittels notwendig ist und in angemessenem Verhältnis dazu steht und ob durch den Erlass einer EEA ein anderer Mitgliedstaat an der Erhebung dieses Beweismittels beteiligt werden sollte“. Wie aus seinem Wortlaut hervorgeht, bezieht sich dieser Erwägungsgrund hauptsächlich auf die erste Art von EEAs, d. h. solche zur Erhebung neuer Beweismittel.


29      Das Formblatt, mit dem eine EEA erlassen wird, bietet Raum für die Anordnungsbehörde, im Detail zu erläutern, warum die EEA unter den Umständen eines konkreten Falls notwendig ist (Anhang A, Abschnitt G der EEA-Richtlinie). Zur Bedeutung dieses Formblatts für die Verhältnismäßigkeitsprüfung siehe Bachmaier Winter, L., „The Role of the Proportionality Principle in Cross-Border Investigations Involving Fundamental Rights“, in Ruggeri, S. (Hrsg.), Transnational Inquiries and the Protection of Fundamental Rights in Criminal Proceedings. A Study in Memory of Vittorio Grevi and Giovanni Tranchina, Springer, Berlin, 2013, S. 318.


30      Richtlinie 2002/58/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Juli 2002 über die Verarbeitung personenbezogener Daten und den Schutz der Privatsphäre in der elektronischen Kommunikation (Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation) (ABl. 2002, L 201, S. 37) (auch: ePrivacy-Richtlinie; im Folgenden: Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation).


31      Vgl. z. B. Urteile vom 2. März 2021, Prokuratuur (Voraussetzungen für den Zugang zu Daten über die elektronische Kommunikation) (C‑746/18, EU:C:2021:152, Rn. 39), und vom 5. April 2022, Commissioner of An Garda Síochána u. a. (C‑140/20, EU:C:2022:258, Rn. 44).


32      Diese Richtlinie findet nur in Fällen Anwendung, in denen staatliche Stellen auf die durch Betreiber elektronischer Kommunikationsdienste auf Vorrat gespeicherten Verkehrs- und Standortdaten zugreifen. Wenn diese Stellen dagegen unmittelbar Telekommunikationsdaten überwachen, ist sie nicht anwendbar. Vgl. in diesem Zusammenhang Urteil vom 6. Oktober 2020, La Quadrature du Net u. a. (C‑511/18, C‑512/18 und C‑520/18, EU:C:2020:791, Rn. 103).


33      Vgl. entsprechend Urteil vom 21. Juni 2022, Ligue des droits humains (C‑817/19, EU:C:2022:491, Rn. 122).


34      Beispielsweise in Bezug auf den zur Anordnung einer bestimmten Ermittlungsmaßnahme notwendigen Verdachtsgrad.


35      Urteil vom 2. März 2021, Prokuratuur (Voraussetzungen für den Zugang zu Daten über die elektronische Kommunikation) (C‑746/18, EU:C:2021:152, Rn. 51, 53 und 54).


36      Schlussanträge des Generalanwalts Pitruzzella in der Rechtssache Prokuratuur (Voraussetzungen für den Zugang zu Daten über die elektronische Kommunikation) (C‑746/18, EU:C:2020:18, Nrn. 103 bis 123).


37      Urteil vom 6. Oktober 2020, La Quadrature du Net u. a. (C‑511/18, C‑512/18 und C‑520/18, EU:C:2020:791, Rn. 103).


38      In der vom EGMR entwickelten Rechtsprechung zu Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), der ein Recht auf Privatsphäre gewährleistet, wurden Grundrechtsverletzungen festgestellt, wenn die maßgeblichen Rechtsvorschriften keine Verhältnismäßigkeitsprüfung verlangten und keine gerichtliche Überprüfung vorsahen. Siehe z. B. EGMR, Urteil vom 12. Januar 2016 in der Rechtssache Szabó und Vissy/Ungarn (CE:ECHR:2016:0112JUD003713814), Beschwerde Nr. 37138/14, § 89.


39      Richtlinie (EU) 2016/680 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden zum Zwecke der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung sowie zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung des Rahmenbeschlusses 2008/977/JI des Rates (ABl. 2016, L 119, S. 89) (im Folgenden: Richtlinie zum Datenschutz bei der Strafverfolgung).


40      Urteil vom 6. Oktober 2020, La Quadrature du Net u. a. (C‑511/18, C‑512/18 und C‑520/18, EU:C:2020:791, Rn. 103).


41      Würde der vorliegende Fall im Lichte der Richtlinie zum Datenschutz bei der Strafverfolgung bewertet, könnte er mit zwei Vorgängen der Verarbeitung personenbezogener Daten beschrieben werden: Als Erstes waren die französischen Behörden die Verantwortlichen, als sie elektronische Kommunikationsdaten zum Zweck von Festnahmen sowie der Vorbeugung, Aufklärung und Verfolgung von Straftaten überwachten und sammelten. Als Zweites wurde die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt, die für die Zwecke strafrechtlicher Ermittlungen in Deutschland mit den EEAs um diese Daten ersuchte, durch ihre Übermittlung zur Verantwortlichen.


42      Der Gerichtshof stellte fest, dass im Kontext von Zweckänderungen gemäß Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2016/680 bei der Beurteilung der Einhaltung der Grundsätze für die Datenverarbeitung im Anwendungsbereich dieser Richtlinie jede einzelne Datenverarbeitung spezifisch und gesondert zu betrachten ist (vgl. Urteil vom 8. Dezember 2022, Inspektor v Inspektorata kam Visshia sadeben savet (Zwecke der Verarbeitung personenbezogener Daten – strafrechtliche Ermittlungen) (C‑180/21, EU:C:2022:967, Rn. 56).


43      In Fällen, in denen technische Hilfe des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet die Überwachung durchgeführt wird, erforderlich ist, kommt Art. 30 der EEA-Richtlinie zur Anwendung.


44      Der Wortlaut von Art. 31 der EEA-Richtlinie entspricht weitgehend Art. 20 des Übereinkommens gemäß Artikel 34 des Vertrags über die Europäische Union – vom Rat erstellt – über die Rechtshilfe in Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (ABl. 2000, C 197, S. 3).


45      Bachmaier, L., Fn. 19, S. 330.


46      Konkret erlaubt es Art. 31 Abs. 3 der EEA-Richtlinie der zuständigen Behörde des unterrichteten Staates, zu überprüfen, ob eine solche Überwachung in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall genehmigt würde, und dem überwachenden Mitgliedstaat innerhalb von 96 Stunden nach Erhalt der Unterrichtung mitzuteilen, dass die Überwachung nicht durchgeführt werden kann; zu beenden ist; oder dass die gesammelten Daten nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen verwendet werden dürfen.


47      Ich teile daher nicht die Auffassung der französischen Regierung, die vorgebracht hat, dass Art. 31 der EEA-Richtlinie auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar sei, da die Überwachung des Telekommunikationsverkehrs nicht zum Zweck der Vollstreckung einer EEA durchgeführt worden sei, sondern vielmehr vor dem Erlass einer EEA erfolgt sei.


48      Bachmaier, L., Fn. 19, S. 331.


49      Um der Unterrichtungspflicht gemäß Art. 31 der EEA-Richtlinie nachzukommen, hätte Frankreich das in Anhang C dieser Richtlinie festgelegte Formblatt verwenden müssen.


50      Siehe Art. 33 Abs. 1 der EEA-Richtlinie.


51      Ligeti, K. u. a. weisen darauf hin, dass die Mitgliedstaaten einen solchen Schritt ablehnen würden, da Bedenken hinsichtlich der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit bestünden und dies die nationalen Kontrollmechanismen der Gewaltenteilung beeinflussen würde (Ligeti, K., Garamvölgy, B., Ondrejová, A., und von Galen, M., „Admissibility of Evidence in Criminal Proceedings in the EU“, eucrim, Bd. 3, 2020, S. 202 und Fn. 14).


52      Im 34. Erwägungsgrund der EEA-Richlinie heißt es außerdem: „Darüber hinaus sollte – aus demselben Grund – die Beurteilung, ob der Gegenstand als Beweismittel zu verwenden ist und daher einer EEA unterliegen sollte, Sache der Anordnungsbehörde sein.“


53      Verordnung (EU) 2017/1939 des Rates vom 12. Oktober 2017 zur Durchführung einer Verstärkten Zusammenarbeit zur Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft (EUStA) (ABl. 2017, L 283, S. 1) (EUStA-Verordnung).


54      EGMR, Urteile vom 12. Juli 1988 in der Rechtssache Schenk/Schweiz (CE:ECHR:1988:0712JUD001086284), Beschwerde Nr. 10862/84, §§ 45 und 46, vom 11. Juli 2017 in der Rechtssache Morreira Ferreira/Portugal (Nr. 2) (CE:ECHR:2017:0711JUD001986712), Beschwerde Nr. 19867/12, § 83, und vom 1. März 2007 in der Rechtssache Heglas/Tschechische Republik (CE:ECHR:2007:0301JUD000593502), Beschwerde Nr. 5935/02, § 84.


55      EGMR, Urteil vom 17. Januar 2017 in der Rechtssache Habran und Dalem/Belgien (CE:ECHR:2017:0117JUD004300011), Beschwerde Nrn. 43000/11 und 49380/11, § 96.


56      Hecker, B., „Mutual Recognition and Transfer of Evidence. The European Evidence Warrant“, in Ruggeri, S. (Hrsg.), Transnational Inquiries and the Protection of Fundamental Rights in Criminal Proceedings. A Study in Memory of Vittorio Grevi and Giovanni Tranchina, Springer, Berlin, 2013, S. 277; Armada, I., Fn. 19, S. 30.


57      Urteil vom 7. September 2023, Rayonna prokuratura (Leibesvisitation) (C‑209/22, EU:C:2023:634, Rn. 58 und 61).


58      Erstmals festgestellt in den Urteilen vom 16. Dezember 1976, Rewe-Zentralfinanz und Rewe-Zentral (33/76, EU:C:1976:188, Rn. 5), und Comet (45/76, EU:C:1976:191, Rn. 13). Siehe z. B. auch jüngst Urteil vom 13. Juli 2023, CAJASUR Banco (C‑35/22, EU:C:2023:569, Rn. 23).