Language of document : ECLI:EU:T:2020:606

Rechtssache T3/20

Forbo Financial Services AG

gegen

Amt der Europäischen Union für geistiges Eigentum

 Urteil des Gerichts (Dritte Kammer) vom 16. Dezember 2020

„Unionsmarke – Widerspruchsverfahren – Anmeldung der Unionswortmarke Canoleum – Ältere internationale Wortmarke MARMOLEUM – Relatives Eintragungshindernis – Verspätete Einreichung der Beschwerdebegründung – Unzulässigkeit der Beschwerde vor der Beschwerdekammer – Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand – Plötzliche Erkrankung des den Beschwerdeführer vertretenden Rechtsanwalts – Sorgfaltspflicht – Beweiswert der eidesstattlichen Versicherung des Rechtsanwalts“

1.      Unionsmarke – Verfahrensvorschriften – Wiedereinsetzung in den vorigen Stand – Voraussetzungen – Nach den gegebenen Umständen gebotene Sorgfalt – Außergewöhnliche und damit nicht vorhersehbare Umstände

(Verordnung 2017/1001 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 104 Abs. 1)

(Rn. 45, 46)

2.      Unionsmarke – Verfahrensvorschriften – Wiedereinsetzung in den vorigen Stand – Tatbestandsmerkmale – Strikte Auslegung

(Verordnung 2017/1001 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 104 Abs. 1)

(Rn. 47)

3.      Unionsmarke – Verfahrensvorschriften – Beweiskraft der Beweiselemente – Eidesstattliche Versicherungen

(Verordnung 2017/1001 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 97 Abs. 1 Buchst. f und Art. 104 Abs. 1)

(Rn. 51-59)

Zusammenfassung

Am 17. Mai 2017 meldete die Windmöller Flooring Products WFP GmbH das Wortzeichen Canoleum als Unionsmarke an. Am 27. September 2017 erhob die Forbo Financial Services AG beim Amt der Europäischen Union für geistiges Eigentum (EUIPO) gegen die Eintragung der angemeldeten Marke Widerspruch, der sich auf ihre internationale Wortmarke MARMOLEUM stützte. Sie machte geltend, dass eine Verwechslungsgefahr im Sinne von Art. 8 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 207/2009(1) bestehe. Mit Entscheidung vom 12. Februar 2019 wurde der Widerspruch zurückgewiesen.

Am 9. April 2019 hat Forbo Financial Services beim EUIPO Beschwerde eingelegt. Sie hat die Beschwerdebegründung jedoch erst am 26. Juni 2019 eingereicht, also nach Ablauf der gesetzten Frist(2). Sie hat der Beschwerdebegründung einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand(3) beigefügt, in dem sie geltend gemacht hat, dass der sachbearbeitende Rechtsanwalt (im Folgenden: Erstanwalt) die Beschwerdebegründung wegen einer unvorhersehbaren schweren Erkrankung nicht in der gesetzten Frist habe einreichen können. Zur Stützung dieses Vorbringens hat Forbo Financial Services zwei eidesstattliche Versicherungen vorgelegt, von der die eine vom Rechtsanwalt und die andere von seiner Ehefrau stammte. Mit der Entscheidung vom 9. Oktober 2019 hat die Beschwerdekammer die Beschwerde als unzulässig zurückgewiesen. Sie hat die Ansicht vertreten, dass der Erstanwalt keinen hinreichenden Nachweis dafür erbracht habe, dass er die nach den gegebenen Umständen gebotene Sorgfalt beachtet habe. Die Beschwerdekammer hat ihm u. a. vorgeworfen, kein ärztliches Attest vorgelegt zu haben.

Auf die von Forbo Financial Services erhobene Klage hin hat das Gericht die Entscheidung der Beschwerdekammer aufgehoben und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, dass die Beschwerdekammer den beiden fraglichen eidesstattlichen Versicherungen von vornherein jede Glaubhaftigkeit abgesprochen und die darin enthaltenen detaillierten Erläuterungen zurückgewiesen hat.

Würdigung durch das Gericht

Zunächst weist das Gericht darauf hin, dass eine eidesstattliche Versicherung ein zulässiges Beweismittel darstellt(4). Ferner stellt das Gericht fest, dass eine im Interesse des Erklärenden abgegebene Erklärung nur einen begrenzten Beweiswert hat und durch ergänzende Beweiselemente untermauert werden muss, was den Dienststellen des EUIPO jedoch nicht gestattet, grundsätzlich anzunehmen, dass eine solche Erklärung an sich unglaubhaft sei. Der Beweiswert, der solch einer Erklärung beizumessen ist, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. Die Beschwerdekammer hat den beiden fraglichen eidesstattlichen Versicherungen jedoch de facto von vornherein jede Glaubhaftigkeit abgesprochen und daher die Umstände des Einzelfalls nicht gebührend berücksichtigt.

Sodann stellt das Gericht hinsichtlich der vom Erstanwalt abgegebenen Erklärung fest, dass die Beschwerdekammer verkannt hat, dass er ein Angehöriger eines Rechtsberufs ist, der seine Tätigkeit unter Einhaltung der Standesregeln und der Gebote der Moral auszuüben hat und der sich durch eine falsche eidesstattliche Versicherung strafbar machen und seinem Ansehen schaden würde. Das Gericht führt weiter aus, dass eine schriftliche eidesstattliche Versicherung eines Rechtsanwalts als solche einen tragfähigen Beweis für die in ihr enthaltenen Angaben darstellt, wenn sie eindeutig, widerspruchsfrei und schlüssig ist und nichts ihre Echtheit in Frage stellen kann.

Ferner hat die Beschwerdekammer nicht die Tatsache berücksichtigt, dass die Erkrankung, die der Erstanwalt als Ursache der Fristüberschreitung geltend gemacht hat, zu seinem ganz persönlichen Lebensbereich gehörte und er am besten dazu in der Lage war, Informationen über diesen Vorfall und insbesondere seine Symptome und Beschwerden zu liefern.

Was die eidesstattliche Versicherung der Ehefrau des Erstanwalts anbelangt, hätte die Beschwerdekammer auch berücksichtigen müssen, dass die Personen, die Zeugen eines Vorfalls wie dem im vorliegenden Fall eingetretenen sind, zumeist zum unmittelbaren Umfeld des Betroffenen gehören, und dass sich die Ehefrau ebenso wie der Rechtsanwalt strafbar machen würde, wenn sie eine falsche eidesstattliche Versicherung abgäbe.

Schließlich hebt das Gericht hervor, dass die Beschwerdekammer nicht berücksichtigt hat, dass ergänzende Beweiselemente, die den Inhalt beider eidesstattlicher Versicherungen stützen könnten, wie ein ärztliches Attest, vernünftigerweise nicht verlangt werden konnten oder nicht verfügbar waren. Insoweit weist das Gericht darauf hin, dass in der Rechtssache ein singuläres und unfallgleiches Ereignis aus dem ganz persönlichen Lebensbereich des Betroffenen in Rede steht und sie sich somit von denjenigen Konstellationen unterscheidet, die im Allgemeinen in der Rechtsprechung über den Beweiswert eidesstattlicher Versicherungen in Rede stehen und in denen solche Erklärungen vorgelegt werden, um rein objektive Tatsachen bar jedes persönlichen Gepräges zu belegen.

Daher hebt das Gericht die Entscheidung der Beschwerdekammer auf.


1      Verordnung (EG) Nr. 207/2009 des Rates vom 26. Februar 2009 über die Unionsmarke (ABl. 2009, L 78, S. 1) in geänderter Fassung.


2      Gemäß Art. 68 Abs. 1 letzter Satz der Verordnung (EU) 2017/1001 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. Juni 2017 über die Unionsmarke (ABl. 2017, L 154, S. 1) ist die Beschwerde innerhalb von vier Monaten nach Zustellung der Entscheidung schriftlich zu begründen.


3      Gemäß Art. 104 der Verordnung 2017/1001.


4      Im Sinne von Art. 97 Abs. 1 Buchst. f der Verordnung 2017/1001.