Language of document : ECLI:EU:T:2013:277

Rechtssache T‑384/10

Königreich Spanien

gegen

Europäische Kommission

„Kohäsionsfonds – Verordnung (EG) Nr. 1164/94 – Vorhaben, die die Wasserversorgung für Siedlungen im hydrografischen Becken des Río Guadiana im Gebiet von Andévalo, die Abwasserentsorgung und ‑aufbereitung im Guadalquivir-Becken sowie die Wasserversorgung für gemeindeübergreifende Systeme der Provinzen Granada und Málaga betreffen – Teilweise Streichung der finanziellen Beteiligung – Öffentliche Bau- und Dienstleistungsaufträge – Begriff des ‚Bauwerks‘ – Auftragsaufteilung – Festsetzung der Finanzkorrekturen – Anhang II Art. H Abs. 2 der Verordnung Nr. 1164/94 – Verhältnismäßigkeit“

Leitsätze – Urteil des Gerichts (Erste Kammer) vom 29. Mai 2013

1.      Rechtsangleichung – Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge – Richtlinie 93/37 – Bauwerk – Begriff – Kriterien – Wirtschaftliche und technische Funktion des Ergebnisses der Arbeiten – Errichtung eines Netzes von Leitungen, die mit demselben Zentralbehälter verbunden sind und Abschnitte bilden, die Trinkwasser für dasselbe bewohnte Gebiet, ausgehend von einer einzigen Bevorratungsstelle, verteilen sollen – Qualifizierung als einziges Bauwerk

(Richtlinie 93/37 des Rates, Art. 1 Buchst. c, Art. 6 Abs. 4)

2.      Rechtsangleichung – Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge – Richtlinie 93/37 – Bauwerk – Künstliche Aufteilung eines einzigen Bauwerks – Feststellung, die nicht vom Nachweis der Absicht, die Unionsvorschriften zu umgehen, abhängt

(Richtlinie 93/37 des Rates, Art. 6 Abs. 4)

3.      Rechtsangleichung – Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge – Aufträge, die vom Anwendungsbereich der Richtlinie im Bereich öffentlicher Arbeiten ausgeschlossen sind, aber ein eindeutiges grenzüberschreitendes Interesse an ihnen besteht – Verpflichtung, die Grundregeln des Vertrags zu beachten

(Art. 49 AEUV, 56 AEUV und 114 AEUV)

4.      Wirtschaftlicher, sozialer und territorialer Zusammenhalt – Strukturinterventionen – Finanzierung durch die Union – Aussetzung oder Kürzung einer finanziellen Beteiligung wegen Unregelmäßigkeiten – Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit

(Art. 5 Abs. 4 EUV; Verordnung Nr. 1164/94 des Rates, Art. 8 Abs. 1; Verordnung Nr. 1386/2002 der Kommission, Art. 17 Abs. 1)

5.      Handlungen der Organe – Normen für die Verwaltungspraxis von allgemeiner Geltung – Rechtsakt, der Außenwirkungen entfalten soll – Selbstbeschränkung des Wertungsspielraums des Organs, das den Rechtsakt erlassen hat – Verpflichtung, die Grundsätze der Gleichbehandlung, des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit sowie die höherrangigen Unionsvorschriften zu beachten

1.      Im Bereich öffentlicher Bauaufträge ist die Frage, ob ein Bauwerk im Sinne von Art. 1 Buchst. c der Richtlinie 93/37 zur Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge vorliegt, im Hinblick auf die wirtschaftliche und technische Funktion des Ergebnisses der Arbeiten der betreffenden öffentlichen Aufträge zu beurteilen. Ferner kann das Ergebnis voneinander verschiedener Arbeiten schon dann als Bauwerk im Sinne dieser Bestimmung eingestuft werden, wenn entweder dieselbe wirtschaftliche oder dieselbe technische Funktion erfüllt ist. Die Feststellung des Vorliegens einer identischen wirtschaftlichen oder technischen Funktion ist also alternativ und nicht kumulativ. Die Gleichzeitigkeit der Einleitung der Vergabeverfahren, die Ähnlichkeit der Vergabebekanntmachungen, die Einheitlichkeit des geografischen Rahmens, in dem die Aufträge durchgeführt werden, und das Vorhandensein eines einzigen öffentlichen Auftraggebers stellen ebenso weitere Hinweise dar, die dafür sprechen, dass unterschiedliche Bauaufträge in Wirklichkeit ein einziges Bauwerk betreffen.

Daher stellt ein Vorhaben, das die Errichtung eines Netzes von Leitungen vorsieht, die mit demselben Zentralbehälter verbunden sind, so dass die verschiedenen Abschnitte des Vorhabens in ihrer Gesamtheit dieselbe wirtschaftliche und technische Funktion erfüllen sollen, nämlich die Trinkwasserverteilung für dasselbe bewohnte Gebiet, ausgehend von einer einzigen Bevorratungsstelle, ein einziges Bauwerk dar. Was Arbeiten betrifft, die darin bestehen, ein Gut von öffentlichem Nutzen in ein bestimmtes geografisches Gebiet zu leiten, steht der Umstand, dass dieses Leitungsnetz dazu dient, mehrere Gemeinden mit Wasser zu versorgen, ebenso nicht der Schlussfolgerung entgegen, dass es in seiner Gesamtheit dieselbe wirtschaftliche und technische Funktion erfüllt. Schließlich stellen Anhaltspunkte wie eine offensichtliche enge zeitliche Abfolge zwischen der Vergabe zweier Aufträge, dass diese Aufträge sich auf denselben Kreis beziehen und dass sie beide von demselben Auftraggeber vergeben wurden, obwohl sie für das Vorliegen eines einheitlichen Bauwerks nicht entscheidend sind, zusätzliche Hinweise dar, die es rechtfertigen, vorliegend davon auszugehen, dass ein einziges Bauwerk vorliegt.

(vgl. Randnrn. 67-69, 74, 76, 77, 80, 81)

2.      Die Feststellung einer gegen Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie 93/37 zur Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge verstoßenden Aufteilung eines Auftrags setzt subjektiv nicht den Nachweis einer Absicht zur Umgehung der Anwendung der in der Regelung enthaltenen Vorschriften voraus. Wenn eine solche Feststellung getroffen worden ist, ist es unerheblich, ob der betreffende Mitgliedstaat den Verstoß absichtlich oder fahrlässig begangen hat oder ob der Verstoß auf technischen Schwierigkeiten des Mitgliedstaats beruht.

(vgl. Randnr. 95)

3.      Zwar gelten die Regeln der Richtlinien zur Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge nicht für Aufträge, deren Wert den von diesen festgelegten Schwellenwert nicht erreicht, das bedeutet jedoch nicht, dass solche Aufträge vom Anwendungsbereich des Unionsrecht ausgenommen sind. In Bezug auf die Vergabe von Aufträgen, die aufgrund ihres Auftragswerts nicht den in der Unionsregelung über die Vergabe öffentlicher Aufträge vorgesehenen Verfahren unterliegen, sind die öffentlichen Auftraggeber nämlich gleichwohl verpflichtet, die Grundregeln und allgemeinen Grundsätze des Vertrags und insbesondere das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit zu beachten.

Die Anwendung der allgemeinen Grundsätze der Verträge auf die Verfahren zur Vergabe von Aufträgen, deren Wert unter dem Schwellenwert für die Anwendung der Richtlinien liegt, setzt jedoch voraus, dass an diesen Aufträgen ein eindeutiges grenzüberschreitendes Interesse besteht. Objektive Kriterien wie u. a. ein Volumen von gewisser Größe des fraglichen Auftrags in Verbindung mit dem Leistungsort, insbesondere im Fall der Nähe dieses Ortes mit einer Grenzregion, die für Wirtschaftsteilnehmer in der gesamten Union von Interesse sein kann, können darauf hindeuten, dass ein solches Interesse besteht. Demgegenüber kann das Bestehen eines solchen Interesses auch ausgeschlossen werden, wenn z. B. der fragliche Auftrag von wirtschaftlich sehr geringer Bedeutung ist.

Was das sich aus dem AEU-Vertrag ergebende Diskriminierungsverbot und insbesondere die Grundfreiheiten betrifft, verlangt dieses nicht nur die Beseitigung jeder Diskriminierung des Erbringers von Bauleistungen bzw. des Dienstleistenden aufgrund seiner Staatsangehörigkeit, sondern auch die Aufhebung aller Beschränkungen – selbst wenn sie unterschiedslos für inländische Dienstleistende wie für solche aus anderen Mitgliedstaaten gelten –, sofern sie geeignet sind, die Tätigkeiten des Leistungserbringers, der in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassen ist und dort rechtmäßig vergleichbare Dienstleistungen erbringt, zu unterbinden, zu behindern oder weniger attraktiv zu machen. Daraus folgt, dass die nationalen Behörden, indem sie das Kriterium der Erfahrung in ihrem eigenen Mitgliedstaat für den Zuschlag eines Auftrags angewandt haben, gegen das Diskriminierungsverbot verstoßen haben.

(vgl. Randnrn. 109-111, 114, 115, 119, 121)

4.      In Bezug auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit kann ein Verstoß gegen die Verpflichtungen, deren Einhaltung für das ordnungsgemäße Funktionieren eines Unionssystems von grundlegender Bedeutung ist, mit dem Verlust eines durch die Unionsregelung verliehenen Anspruchs, etwa eines Anspruchs auf einen finanziellen Zuschuss, geahndet werden. Nach dem in Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1164/94 zur Errichtung des Kohäsionsfonds zum Ausdruck gebrachten Grundsatz, dass die finanzierten Vorhaben in Einklang mit den Bestimmungen der Verträge, den aufgrund der Verträge erlassenen Rechtsakten und den Unionspolitiken stehen müssen, trägt das Budget der Union allein Ausgaben, die in Einklang mit den Regeln der Union und mit den aufgrund dieser Regeln erlassenen Rechtsakten getätigt wurden. Folglich ist die Kommission, sobald sie einen Verstoß gegen das Unionsrecht bei den Zahlungen eines Mitgliedstaats aufdeckt, gehalten, die von diesem vorgelegten Abrechnungen zu berichtigen und die erforderlichen Finanzkorrekturen durchzuführen, um eine Situation wiederherzustellen, bei der 100 % der zur Kofinanzierung durch den Kohäsionsfonds erklärten Ausgaben mit der Unionsregelung auf dem Gebiet der öffentlichen Aufträge übereinstimmen, und dabei den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu berücksichtigen. Wenn sich, was die Berechnungsmodalitäten der Finanzkorrekturen betrifft, herausstellt, dass angesichts der Umstände eines Einzelfalls eine Korrektur, die in der Streichung sämtlicher Ausgaben für die fraglichen Vorhaben bestanden hätte, eine in Bezug zur Schwere der aufgedeckten Unregelmäßigkeiten unverhältnismäßige Strafe gewesen wäre und eine genaue Quantifizierung der finanziellen Auswirkungen der Unregelmäßigkeit nicht möglich oder ausführbar ist, ist es angebracht, die Korrekturen auf der Grundlage eines Pauschalsatzes vorzunehmen

(vgl. Randnrn. 134, 136, 137, 140, 141)

5.      Das fragliche Organ beschränkt dadurch, dass es Normen für die Verwaltungspraxis, die Außenwirkungen entfalten sollen, erlassen und durch ihre Veröffentlichung angekündigt hat, dass es sie von nun an auf die von diesen Normen erfassten Fälle anwenden werde, die Ausübung seines Ermessens und kann nicht von diesen Normen abweichen, ohne dass dies gegebenenfalls wegen eines Verstoßes gegen allgemeine Rechtsgrundsätze wie die Grundsätze der Gleichbehandlung, der Rechtssicherheit oder des Vertrauensschutzes geahndet würde. Daher ist nicht auszuschließen, dass derartige Verhaltensnormen mit allgemeiner Geltung unter bestimmten Voraussetzungen und je nach ihrem Inhalt Rechtswirkungen entfalten können und dass insbesondere die Verwaltung von ihnen im Einzelfall nicht ohne Angabe von Gründen abweichen kann, die mit diesen allgemeinen Rechtsgrundsätzen vereinbar sind, sofern ein solches Vorgehen nicht gegen andere höherrangige Vorschriften des Unionsrechts verstößt.

(vgl. Randnr. 144)