Language of document : ECLI:EU:T:2024:187

Rechtssache T115/22

(auszugsweise Veröffentlichung)

Belshyna AAT

gegen

Rat der Europäischen Union

 Urteil des Gerichts (Neunte erweiterte Kammer) vom 20. März 2024

„Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Restriktive Maßnahmen angesichts der Lage in Belarus und der Beteiligung von Belarus an der Aggression Russlands gegen die Ukraine – Einfrieren von Geldern – Listen der Personen, Organisationen und Einrichtungen, deren Gelder und wirtschaftliche Ressourcen eingefroren werden – Aufnahme des Namens der Klägerin in die Listen und Belassung auf den Listen – Unterstützung des Lukaschenko-Regimes – Finanzielle Unterstützung – Staatseigenes Unternehmen – Repressionen gegen die Zivilgesellschaft – Beurteilungsfehler“

1.      Europäische Union – Gerichtliche Kontrolle der Rechtmäßigkeit von Handlungen der Organe – Restriktive Maßnahmen gegen Belarus – Einfrieren der Gelder bestimmter Personen und Organisationen angesichts der Lage in Belarus – Umfang der Kontrolle – Beweis für die Rechtmäßigkeit der Maßnahme – Pflicht der zuständigen Unionsbehörde, im Streitfall die Stichhaltigkeit der gegen die betroffenen Personen oder Organisationen angeführten Begründung nachzuweisen – Aufnahme in die Listen aufgrund eines Bündels genauer, konkreter und übereinstimmender Indizien

(Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 47; Beschluss 2012/642/GASP des Rates in der durch die Beschlüsse [GASP] 2021/2125 und [GASP] 2023/421 geänderten Fassung, Anhang; Verordnungen des Rates Nrn. 765/2006, 2021/2124 und 2023/419, Anhang I)

(vgl. Rn. 24-27, 57, 77)

2.      Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Restriktive Maßnahmen gegen Belarus – Kriterien für den Erlass der restriktiven Maßnahmen – Natürliche oder juristische Personen, Organisationen oder Einrichtungen, die vom Lukaschenko-Regime profitieren oder es unterstützen – Begriff der Unterstützung des Regimes – Beurteilungsfehler

(Beschluss 2012/642/GASP des Rates in der durch die Beschlüsse [GASP] 2021/2125 und [GASP] 2023/421 geänderten Fassung, Art. 4 Abs. 1 Buchst. b und Anhang; Verordnungen des Rates Nrn. 765/2006, Art. 2 Abs. 2, 2021/2124 und 2023/419, Anhang I)

(vgl. Rn. 31, 35-37, 45, 49, 51-55, 61, 62, 97, 98)

3.      Europäische Union – Gerichtliche Kontrolle der Rechtmäßigkeit von Handlungen der Organe – Restriktive Maßnahmen gegen Belarus – Umfang der Kontrolle – Ausschluss von Umständen, die dem Organ nach Erlass des angefochtenen Beschlusses zur Kenntnis gelangt sind

(Beschluss 2012/642/GASP des Rates in der durch die Beschlüsse [GASP] 2021/2125 und [GASP] 2023/421 geänderten Fassung, Anhang; Verordnungen des Rates Nrn. 765/2006, 2021/2124 und 2023/419, Anhang I)

(vgl. Rn. 60)

4.      Europäische Union – Gerichtliche Kontrolle der Rechtmäßigkeit von Handlungen der Organe – Restriktive Maßnahmen gegen Belarus – Einfrieren der Gelder bestimmter Personen und Organisationen angesichts der Lage in Belarus – Umfang der Kontrolle – Aufnahme in die dem angefochtenen Beschluss beigefügte Liste wegen ihrer Verantwortung für die Unterdrückung der Zivilgesellschaft und der demokratischen Opposition – Presseberichte, die nicht aus verschiedenen Quellen stammen – Beweiswert – Fehlen

(Beschluss 2012/642/GASP des Rates in der durch die Beschlüsse [GASP] 2021/2125 und [GASP] 2023/421 geänderten Fassung, Anhang; Verordnungen des Rates Nrn. 765/2006, 2021/2124 und 2023/419, Anhang I)

(vgl. Rn. 68, 72, 73)

5.      Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Restriktive Maßnahmen gegen Belarus – Kriterien für den Erlass der restriktiven Maßnahmen – Personen, Organisationen und Einrichtungen, die für schwere Menschenrechtsverletzungen, Repressionen gegen die Zivilgesellschaft oder die demokratische Opposition verantwortlich sind oder die Demokratie oder die Rechtsstaatlichkeit untergraben – Begriff – Beurteilungsfehler

(Beschluss 2012/642/GASP des Rates in der durch die Beschlüsse [GASP] 2021/2125 und [GASP] 2023/421 geänderten Fassung, Art. 4 Abs. 1 Buchst. a und Anhang; Verordnungen des Rates Nrn. 765/2006, Art. 2 Abs. 4, 2021/2124 und 2023/419, Anhang I)

(vgl. Rn. 76-81, 97, 98)

6.      Gerichtliches Verfahren – Beschluss, der im Laufe des Verfahrens den angefochtenen Beschluss ersetzt oder ändert – Antrag auf Anpassung der Klageschrift – Die Nichtigerklärung eines Beschlusses über das Einfrieren von Geldern betreffende Klageschrift – Anpassung zur Nichtigerklärung eines Beschlusses über die Belassung – Zulässigkeit – Früherer Beschluss über die Belassung, für den kein solcher Antrag gestellt wurde – Keine Auswirkung

(Verfahrensordnung des Gerichts, Art. 86 Abs. 1; Beschluss 2012/642/GASP des Rates in der durch die Beschlüsse [GASP] 2021/2125 und [GASP] 2023/421 geänderten Fassung, Anhang; Verordnungen des Rates Nrn. 765/2006, 2021/2124 und 2023/419, Anhang I)

(vgl. Rn. 89-94)

Zusammenfassung

Das Gericht gibt in seinem Urteil der von der Belshyna AAT erhobenen Nichtigkeitsklage gegen die Maßnahmen statt, mit denen sie vom Rat der Europäischen Union in die Liste der Personen und Organisationen, gegen die angesichts der Lage in Belarus restriktive Maßnahmen erlassen wurden, aufgenommen und danach zum zweiten Mal dort belassen wurde. Diese Rechtssache gibt dem Gericht die Möglichkeit zu näheren Ausführungen betreffend die Zulässigkeit eines Antrags auf Anpassung der Klageschrift auf der Grundlage von Art. 86 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichts im Rahmen von Streitigkeiten über restriktive Maßnahmen.

Diesem Urteil liegen die restriktiven Maßnahmen zugrunde, die die Europäische Union seit 2004 aufgrund der Lage in Belarus in Bezug auf Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte eingeführt hat. Diese Maßnahmen sehen u. a. das Einfrieren von Geldern und wirtschaftlichen Ressourcen vor, die Personen, Organisationen oder Einrichtungen, die für schwere Menschenrechtsverletzungen oder Repressionen gegen die Zivilgesellschaft und die demokratische Opposition verantwortlich sind oder deren Aktivitäten die Demokratie oder die Rechtsstaatlichkeit in Belarus ernsthaft untergraben, oder Personen, Organisationen oder Einrichtungen, die das Lukaschenko-Regime unterstützen, gehören(1). Der Rat nahm die Klägerin, ein in Belarus ansässiges Unternehmen, das Fahrzeugreifen herstellt, 2021(2) in die fragliche Liste auf und beließ sie dort sowohl 2022(3) als auch 2023(4), weil sie eine wichtige Einnahmequelle für das Lukaschenko-Regime darstelle und nach den Präsidentschaftswahlen 2020 streikende Mitarbeiter entlassen habe. Die Klägerin beantragte zunächst die Nichtigerklärung der ursprünglichen Rechtsakte und nach der Anpassung ihrer Klageschrift auch die Nichtigerklärung der Fortsetzungsrechtsakte von 2023; für die Fortsetzungsrechtsakte von 2022 wurde kein entsprechender Antrag gestellt.

Würdigung durch das Gericht

Was die Prüfung der Zulässigkeit der Anpassung der Klageschrift angeht, die eine Frage des zwingenden Rechts ist, weist das Gericht darauf hin, dass der Kläger, wenn ein Rechtsakt, dessen Nichtigerklärung beantragt wird, durch einen anderen Rechtsakt mit demselben Gegenstand ersetzt oder geändert wird, vor Abschluss des mündlichen Verfahrens oder vor der Entscheidung des Gerichts, ohne mündliches Verfahren zu entscheiden, die Klageschrift anpassen kann, um diesem neuen Umstand Rechnung zu tragen(5).

Im vorliegenden Fall stellt es zunächst fest, dass sowohl die ursprünglichen Rechtsakte als auch die Fortsetzungsrechtsakte, soweit sie die Klägerin betreffen, die Verhängung individueller restriktiver Maßnahmen gegen die Klägerin in Form des Einfrierens aller ihrer Gelder und wirtschaftlichen Ressourcen zum Gegenstand haben(6).

Sodann weist es darauf hin, dass diese individuellen restriktiven Maßnahmen in Form der Aufnahme des Namens der betroffenen Personen, Organisationen oder Einrichtungen in die streitigen Listen in den Anhängen des Beschlusses 2012/642 und der Verordnung Nr. 765/2006 erfolgen.

In diesem Kontext haben die ursprünglichen Rechtsakte die Anhänge des Beschlusses 2012/642 und der Verordnung Nr. 765/2006 geändert, um u. a. den Namen der Klägerin in die streitigen Listen aufzunehmen. Zu den Fortsetzungsrechtsakten stellt das Gericht zum einen fest, dass der Beschluss 2023/421 die Anwendbarkeit des Beschlusses 2012/642, in dessen mit der Durchführungsverordnung 2021/2125 geändertem Anhang I der Name der Klägerin aufgeführt ist, bis zum 28. Februar 2024 verlängert hat. Zum anderen hat die Durchführungsverordnung Nr. 2023/419 Anhang I der Verordnung Nr. 765/2006 geändert, dabei den Namen der Klägerin jedoch mindestens implizit in diesem Anhang belassen. Somit ist davon auszugehen, dass mit den Fortsetzungsrechtsakten eine Änderung der ursprünglichen Rechtsakte im Sinne von Art. 86 Abs. 1 der Verfahrensordnung vorgenommen wurde.

Nach alledem kommt das Gericht zu dem Ergebnis, dass die Klägerin, die in ihrer Klageschrift die Nichtigerklärung der ursprünglichen Rechtsakte beantragt hatte, die Klageschrift anpassen durfte, um die Nichtigerklärung der Fortsetzungsrechtsakte von 2023 zu beantragen, obwohl sie nicht zuvor die Klageschrift angepasst hatte, um die Nichtigerklärung der Rechtsakte von 2022 zu beantragen.


1      Art. 4 Abs. 1 Buchst. a und b des Beschlusses 2012/642/GASP des Rates vom 15. Oktober 2012 über restriktive Maßnahmen gegen Belarus (ABl. 2012, L 285, S. 1) und Art. 2 Abs. 4 der Verordnung (EG) Nr. 765/2006 des Rates vom 18. Mai 2006 über restriktive Maßnahmen gegen Präsident Lukaschenko und verschiedene belarussische Amtsträger (ABl. 2006, L 134, S. 1) in der durch die Verordnung (EU) Nr. 1014/2012 des Rates vom 6. November 2012 (ABl. 2012, L 307, S. 1) geänderten Fassung.


2      Durchführungsbeschluss (GASP) 2021/2125 des Rates vom 2. Dezember 2021 zur Durchführung des Beschlusses 2012/642/GASP über restriktive Maßnahmen angesichts der Lage in Belarus (ABl. 2021, L 430 I, S. 16) und Durchführungsverordnung (EU) 2021/2124 des Rates vom 2. Dezember 2021 zur Durchführung des Artikels 8a Absatz 1 der Verordnung (EG) Nr. 765/2006 über restriktive Maßnahmen gegen Belarus (ABl. 2021, L 430 I, S. 1) (im Folgenden: ursprüngliche Rechtsakte).


3      Beschluss (GASP) 2022/307 des Rates vom 24. Februar 2022 zur Änderung des Beschlusses 2012/642/GASP über restriktive Maßnahmen angesichts der Lage in Belarus (ABl. 2022, L 46, S. 97) und Durchführungsverordnung (EU) 2022/300 des Rates vom 24. Februar 2022 zur Durchführung des Artikels 8a der Verordnung (EG) Nr. 765/2006 über restriktive Maßnahmen angesichts der Lage in Belarus (ABl. 2022, L 46, S. 3) (im Folgenden: Rechtsakte von 2022).


4      Beschluss (GASP) 2023/421 des Rates vom 24. Februar 2023 zur Änderung des Beschlusses 2012/642/GASP über restriktive Maßnahmen angesichts der Lage in Belarus und der Beteiligung von Belarus an der Aggression Russlands gegen die Ukraine (ABl. 2023, L 61, S. 41) und Durchführungsverordnung (EU) 2023/419 des Rates vom 24. Februar 2023 zur Durchführung des Artikels 8a der Verordnung (EG) Nr. 765/2006 über restriktive Maßnahmen angesichts der Lage in Belarus und der Beteiligung von Belarus an der Aggression Russlands gegen die Ukraine (ABl. 2023, L 61, S. 20).


5      Art. 86 Abs. 1 der Verfahrensordnung.


6      Nach Art. 4 Abs. 1 Buchst. a und b des Beschlusses 2012/642 und Art. 2 Abs. 4 und 5 der Verordnung Nr. 765/2006.