SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
MANUEL CAMPOS SÁNCHEZ-BORDONA
vom 15. Mai 2019(1)
Rechtssache C‑378/18
Landwirtschaftskammer Niedersachsen
gegen
Reinhard Westphal
(Vorabentscheidungsersuchen des Bundesverwaltungsgerichts [Deutschland])
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Gemeinsame Agrarpolitik – Gemeinschaftliche Beihilferegelungen – Flächenzahlungen – Rückforderung zu Unrecht gezahlter Beträge – Sanktionen – Verjährung – Beginn der Verjährungsfrist – Etwaige Anwendung der Vorschriften über den Schutz der finanziellen Interessen der Union“
1. In den Jahren 2001 und 2002 beantragte ein deutscher Landwirt nach der Verordnung (EG) Nr. 1251/1999(2) Beihilfen für landwirtschaftliche Flächen. Einige Monate nach den jeweiligen Anträgen erhielt er die entsprechenden Zahlungen. Die Landwirtschaftskammer Niedersachsen (Deutschland) (im Folgenden: Landwirtschaftskammer) stellte jedoch im Jahr 2006 fest, dass die Flächen falsch angegeben waren, und hob als angemessene Sanktion für dieses Verhalten die Bewilligungsbescheide für die Beihilfen vollständig auf.
2. Der Streit vor den deutschen Gerichten konzentriert sich auf die auf diesen Sachverhalt anwendbare Verjährungsfrist, die davon abhängt, ob bestimmte Vorschriften des Unionsrechts, mit denen eine mildere Sanktionsregelung eingeführt wurde, zugunsten des Betroffenen Rückwirkung haben.
I. Rechtlicher Rahmen
A. Vorschriften der gemeinsamen Agrarpolitik
1. Verordnung (EWG) Nr. 3887/92(3)
3. Art. 9 Abs. 2 bestimmt:
„(2) Wird festgestellt, dass die in einem Beihilfeantrag ‚Flächen‘ angegebene Fläche über der ermittelten Fläche liegt, so wird der Beihilfeantrag auf der Grundlage der bei der Kontrolle tatsächlich ermittelten Fläche berechnet. Außer in Fällen höherer Gewalt wird die tatsächlich ermittelte Fläche jedoch um das Doppelte der festgestellten Differenz gekürzt, wenn diese über 3 % oder über 2 ha liegt und bis zu 20 % der ermittelten Fläche beträgt.
Liegt die festgestellte Differenz über 20 % der ermittelten Fläche, so wird keinerlei Beihilfe für Flächen gewährt.
…
Im Sinne dieses Artikels bedeutet ‚ermittelte Fläche‘ die Fläche, bei der alle vorgeschriebenen Bedingungen … erfüllt sind.“
2. Verordnung (EG) Nr. 2419/2001(4)
4. In Art. 32 Abs. 1 heißt es:
„(1) Liegt die angegebene Fläche einer Kulturgruppe über der gemäß Artikel 31 Absatz 2[(5)] ermittelten Fläche, so wird die Beihilfe auf der Grundlage der ermittelten Fläche, gekürzt um das Doppelte der festgestellten Differenz, berechnet, wenn die Differenz über 3 % oder 2 ha liegt, aber nicht mehr als 20 % der ermittelten Fläche ausmacht.
Liegt die festgestellte Differenz über 20 % der ermittelten Fläche, so wird für die betreffende Kulturgruppe keine flächenbezogene Beihilfe gewährt.“
5. Art. 49 („Rückforderung zu Unrecht gezahlter Beträge“) bestimmt:
„(1) Bei zu Unrecht gezahlten Beträgen ist der Betriebsinhaber zur Rückzahlung dieser Beträge zuzüglich der gemäß Absatz 3 berechneten Zinsen verpflichtet.
…
(5) Die Verpflichtung zur Rückzahlung gemäß Absatz 1 gilt nicht, wenn zwischen dem Tag der Zahlung der Beihilfe und dem Tag, an dem der Begünstigte von der zuständigen Behörde erfahren hat, dass die Beihilfe zu Unrecht gewährt wurde, mehr als zehn Jahre vergangen sind.
Der in Unterabsatz 1 genannte Zeitraum wird jedoch auf vier Jahre verkürzt, wenn der Begünstigte in gutem Glauben gehandelt hat.
(6) Für Beträge, die aufgrund von Kürzungen und Ausschlüssen gemäß den Bestimmungen des Artikels 13 und des Titels IV zurückgezahlt werden müssen, gilt eine Verjährungsfrist von vier Jahren.
…“
6. Art. 52a („Verjährungsbestimmungen betreffend Beihilfeanträge, die sich auf Wirtschaftsjahre oder Prämienzeiträume beziehen, die vor dem 1. Januar 2002 begonnen haben“), eingefügt durch Art. 1 Nr. 13 der Verordnung (EG) Nr. 118/2004(6), legt fest:
„Abweichend von Artikel 54 Absatz 2 und unbeschadet günstigerer, von den Mitgliedstaaten festgelegter Verjährungsbestimmungen findet Artikel 49 Absatz 5 auch Anwendung in Hinblick auf Beihilfeanträge, die sich auf Wirtschaftsjahre oder Prämienzeiträume beziehen, die vor dem 1. Januar 2002 begonnen haben, es sei denn, der Begünstigte hat bereits vor dem 1. Februar 2004 von der zuständigen Behörde erfahren, dass die Beihilfe zu Unrecht gewährt wurde.“
7. Obwohl die Verordnung Nr. 2419/2001 durch Art. 80 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 796/2004(7) aufgehoben wurde, blieben die Vorschriften über die Verjährungsfristen in Art. 73 Abs. 1, 5 und 6 der Verordnung Nr. 796/2004 bis zu ihrer Aufhebung durch Art. 86 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1122/2009(8) am 1. Januar 2010 bestehen. Die Verordnung (EG) Nr. 1122/2009 wurde wiederum durch die Verordnung (EU) Nr. 640/2014(9) ersetzt, die seit dem 1. Januar 2015 in Kraft ist.
B. Vorschriften zum Schutz der finanziellen Interessen der Union: Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95(10)
8. Die Verordnung Nr. 2988/95 enthält allgemeine Bestimmungen zur Betrugsbekämpfung zum Schutz der finanziellen Interessen der Union. Gegenüber den sektorbezogenen Regelungen, insbesondere im Bereich der Landwirtschaft, ist sie subsidiär.
9. In ihrem neunten Erwägungsgrund heißt es:
„Die gemeinschaftlichen Maßnahmen und Sanktionen zur Verwirklichung der Ziele der gemeinsamen Agrarpolitik sind Bestandteil der Beihilferegelungen. Sie haben einen eigenen Zweck … Ihre Effizienz ist durch die unmittelbare Wirksamkeit der Gemeinschaftsnorm … sicherzustellen …“
10. Art. 1 Abs. 2 in Titel I („Grundsätze“) legt fest:
„Der Tatbestand der Unregelmäßigkeit ist bei jedem Verstoß gegen eine [unionsrechtliche Bestimmung] als Folge einer Handlung oder Unterlassung eines Wirtschaftsteilnehmers gegeben, die einen Schaden für den Gesamthaushaltsplan der Union oder die Haushalte, die von den Gemeinschaften verwaltet werden, bewirkt hat bzw. haben würde, sei es durch die Verminderung oder den Ausfall von Eigenmitteleinnahmen, die direkt für Rechnung der [Union] erhoben werden, sei es durch eine ungerechtfertigte Ausgabe.“
11. Art. 2 Abs. 2 lautet:
„Eine verwaltungsrechtliche Sanktion kann nur verhängt werden, wenn sie in einem Rechtsakt der Gemeinschaften vor dem Zeitpunkt der Unregelmäßigkeit vorgesehen wurde. Bei späterer Änderung der in einer Gemeinschaftsregelung enthaltenen Bestimmungen über verwaltungsrechtliche Sanktionen gelten die weniger strengen Bestimmungen rückwirkend.“
12. Art. 3 bestimmt:
„(1) Die Verjährungsfrist für die Verfolgung beträgt vier Jahre ab Begehung der Unregelmäßigkeit nach Artikel 1 Absatz 1. …
Bei andauernden oder wiederholten Unregelmäßigkeiten beginnt die Verjährungsfrist an dem Tag, an dem die Unregelmäßigkeit beendet wird. …
Die Verfolgungsverjährung wird durch jede der betreffenden Person zur Kenntnis gebrachte Ermittlungs- oder Verfolgungshandlung der zuständigen Behörde unterbrochen. Nach jeder eine Unterbrechung bewirkenden Handlung beginnt die Verjährungsfrist von neuem.
…
(2) Die Frist für die Vollstreckung der Entscheidung, mit der eine verwaltungsrechtliche Sanktion verhängt wird, beträgt drei Jahre. …
Die Fälle der Unterbrechung und der Aussetzung werden durch die einschlägigen Bestimmungen des einzelstaatlichen Rechts geregelt.
(3) Die Mitgliedstaaten behalten die Möglichkeit, eine längere Frist als die in Absatz 1 bzw. Absatz 2 vorgesehene Frist anzuwenden.“
II. Sachverhalt und Ausgangsverfahren
13. Ich werde den Sachverhalt darstellen, so wie er im Vorlagebeschluss (von dem ich einige Abschnitte wörtlich wiedergebe) erscheint, dabei jedoch auch auf einige Unstimmigkeiten hinweisen.
14. Herr Westphal, ein Landwirt, beantragte im Mai 2000 und Mai 2001(11) für die jeweiligen Wirtschaftsjahre Flächenzahlungen nach der Stützungsregelung für Erzeuger bestimmter landwirtschaftlicher Kulturpflanzen.
15. Die Landwirtschaftskammer bewilligte die Flächenzahlungen und zahlte sie jeweils noch in den Jahren der Antragstellung aus(12).
16. „Im Zuge einer Vor-Ort-Kontrolle im Januar 2006 stellte die Beklagte Unregelmäßigkeiten bei den Angaben der Stilllegungsflächen fest. Nach Anhörung des Klägers hob sie mit Bescheid vom 23. Juli 2007 unter anderem die Bewilligungsbescheide für die Jahre 2000 und 2001 teilweise auf und forderte die Zuvielzahlungen zurück. Bei deren Berechnung ging sie davon aus, dass als Sanktion einer Übererklärung für die Stilllegungsflächen überhaupt keine Beihilfe zu gewähren sei.“(13)
17. Herr Westphal hat hiergegen Klage erhoben. „Im Berufungsverfahren hat er die Rücknahme der Bewilligungen und die Rückforderungen akzeptiert, soweit sie nicht auf der Sanktion beruhen. … Hinsichtlich der verbleibenden, auf der Sanktion beruhenden Rückforderung hat das Berufungsgericht den Bescheid vom 23. Juli 2007 aufgehoben …“(14)
18. Zur Begründung seiner Entscheidung hat das Berufungsgericht ausgeführt(15):
– Die tatbestandlichen Voraussetzungen der Sanktion des Art. 9 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 3887/92 lägen vor. Für die zwei streitigen Jahre habe die Differenz zwischen der beantragten Stilllegungsfläche und der ermittelten Fläche jeweils mehr als 20 % der ermittelten Fläche betragen.
– Die Sanktion sei aber verjährt.
– Nach dem Grundsatz der rückwirkenden Anwendung der milderen Sanktionsnorm (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 der Verordnung Nr. 2988/95) sei die Verjährungsregelung des Art. 49 Abs. 5 und 6 der Verordnung Nr. 2419/2001 anzuwenden.
– Nach dieser Regelung sei die Sanktion verjährt, weil zwischen den Zahlungen der Beihilfen und dem Tag, an dem der Kläger nach der Vor-Ort-Kontrolle von der zuständigen Behörde erfahren habe, dass die Beihilfen zu Unrecht gewährt worden seien, mehr als vier Jahre verstrichen seien.
– Diese Verjährungsregelung sei gegenüber der sonst anwendbaren Verjährungsregelung (d. h. Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 2 Satz 1 der Verordnung Nr. 2988/95) milder, weil letztere bei einer – wie hier – wiederholten Unregelmäßigkeit erst an dem Tag beginne, an dem die Unregelmäßigkeit beendet werde.
19. Die Landwirtschaftskammer hat beim vorlegenden Gericht gegen das Urteil Revision eingelegt.
III. Vorlagefragen und Verfahren vor dem Gerichtshof
20. Das vorlegende Gericht stimmt mit der Vorinstanz darin überein, dass die Voraussetzungen für die Verhängung der Sanktion nach der Verordnung Nr. 3887/92, insbesondere hinsichtlich der Differenz von mehr als 20 % zwischen der angemeldeten Fläche und der ermittelten Fläche, erfüllt waren.
21. Gegenüber der Anwendung des Kriteriums der milderen Sanktion äußert es jedoch folgende Bedenken:
– Die Verordnung Nr. 3887/92 enthalte keine Vorschriften zur Verjährung der Sanktionen, so dass Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 2988/95 zur Anwendung komme, demzufolge die Verjährungsfrist von vier Jahren mit der Beendigung der wiederholten Unregelmäßigkeit beginne(16).
– Der deutsche Gesetzgeber habe von der in Art. 3 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2988/95 genannten Möglichkeit einer „längeren Frist“ keinen Gebrauch gemacht.
– Mit der erstmaligen Einführung einer sektoralen Verjährungsregelung für die Rückforderung zu Unrecht gezahlter Beträge, einschließlich der Rückzahlungen aufgrund von Kürzungen und Ausschlüssen, durch Art. 49 Abs. 5 und 6 der Verordnung Nr. 2419/2001 sei der Beginn der Verjährungsfrist geändert und auf den Tag der Zahlung der Beihilfe gelegt, ihre Dauer von vier Jahren jedoch beibehalten worden.
22. Da Art. 49 Abs. 6 der Verordnung Nr. 2419/2001 nicht regelt, wann die Verjährungsfrist bei Beträgen beginnt, die aufgrund von Kürzungen und Ausschlüssen zurückzuzahlen sind, fragt das vorlegende Gericht,
– ob es den in Art. 49 Abs. 5 genannten Fristbeginn (Tag der Zahlung der Beihilfe) heranziehen solle. Wenn dies der Fall wäre, wäre die Verjährung eingetreten.
– Wäre dagegen diese Lücke durch Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 2988/95 als subsidiär anzuwendende allgemeine Vorschrift zu schließen, wäre keine Verjährung eingetreten.
23. Der Grundsatz der Anwendung der milderen Sanktionsnorm (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 der Verordnung Nr. 2988/95) sei jedoch anwendbar, obwohl die neue sektorale Regelung der Verordnung Nr. 2419/2001 am 1. Januar 2002, d. h. nach der Zahlung der Beihilfe, in Kraft getreten sei(17). Letztere Verordnung habe nichts an der Beihilfe- und Sanktionsregelung geändert, so dass dieser Grundsatz nach der Rechtsprechung trotz des unterschiedlichen Regelungszusammenhangs herangezogen werden könne(18).
24. Es müsse geklärt werden, ob die neuen Verjährungsvorschriften als Bestimmungen über verwaltungsrechtliche Sanktionen im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 der Verordnung Nr. 2988/95 anzusehen seien. Die deutschen Strafgerichte ordneten die Verjährung von Straftaten dem Prozessrecht zu, so dass der Grundsatz der Anwendung des mildesten Gesetzes(19) nur dann zum Zuge komme, wenn zwischen der Begehung der Tat und der Entscheidung die materielle Strafdrohung verschärft werde und sich hierdurch die Verjährungsfrist verändere, was hier nicht gegeben sei. Auf jeden Fall seien die Billigkeit und die Tatsache zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber mit der Einführung einer neuen Verjährungsregelung zwangsläufig eine Neubewertung der Regelung vornehme.
25. Wäre die mildere Verjährungsregelung nicht anwendbar, käme eine Anwendung von Art. 49 Abs. 6 der Verordnung Nr. 2419/2001 nicht in Betracht. Es würde sich dann die Frage einer analogen Anwendung von Art. 49 Abs. 5 dieser Verordnung stellen, obwohl der Wortlaut dies nicht zulasse. Es liege nahe, dass die Formulierung von Art. 52a der Verordnung Nr. 2419/2001 von der Vorstellung getragen gewesen sei, dass hinsichtlich Art. 49 Abs. 6 der Verordnung Nr. 2419/2001 eine Regelung nicht erforderlich und mittels Art. 2 Abs. 2 Satz 2 der Verordnung Nr. 2988/95 ein kohärentes System bereits gesichert sei. Fraglich sei daher, ob eine Regelungslücke vorliege, die mittels Analogie geschlossen werden könne.
26. Vor diesem Hintergrund hat das Bundesverwaltungsgericht (Deutschland) beschlossen, dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Beginnt die Verjährung im Sinne von Art. 49 Abs. 6 der Verordnung Nr. 2419/2001 mit der Zahlung der Beihilfe oder richtet sich der Beginn nach Art. 3 Abs. 1, hier: Unterabs. 2 Satz 1 der Verordnung Nr. 2988/95?
2. Sind die Verjährungsregelungen des Art. 49 Abs. 6 der Verordnung Nr. 2419/2001 bzw. des Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2988/95 Bestimmungen über verwaltungsrechtliche Sanktionen im Sinne des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 der Verordnung Nr. 2988/95?
3. Kann Art. 52a der Verordnung Nr. 2419/2001 mit seiner Regelung über die rückwirkende Anwendung der Verjährungsregelung des Art. 49 Abs. 5 dieser Verordnung analog auch auf deren Art. 49 Abs. 6 angewandt werden?
27. Das vorlegende Gericht erläutert, dass, falls Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 2 Satz 1 der Verordnung Nr. 2988/95 Anwendung finde (Frage 1), die weiteren Fragen keiner Beantwortung bedürften; finde er keine Anwendung, so erledige sich Frage 3, wenn Frage 2 bejaht werden sollte.
28. Der Vorlagebeschluss ist am 8. Juni 2018 beim Gerichtshof eingegangen. Die Landwirtschaftskammer und die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung wurde nicht für notwendig erachtet.
IV. Rechtliche Würdigung
A. Zur ersten Vorlagefrage
1. Relevante Verjährungsvorschriften
29. Aus dem im Vorlagebeschluss beschriebenen Sachverhalt geht hervor, dass die Landwirtschaftskammer Herrn Westphal mit Bescheid vom 23. Juli 2007 eine Sanktion im Sinne von Art. 9 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 3887/92 auferlegte. Die Sanktion betraf die im Mai 2000 und 2001 für die betreffenden Wirtschaftsjahre beantragten Beihilfen, die jeweils noch im selben Jahr bewilligt wurden. Die zuständige Verwaltung griff erst dann erstmalig ein, als sie im Januar 2006 eine Vor-Ort-Kontrolle durchführte und den Flächenunterschied feststellte, und dies ist der Grund für die Fragen nach der Verjährung.
30. In den Vorlagefragen wird anscheinend davon ausgegangen, dass in der vorliegenden Rechtssache die in Art. 49 Abs. 6 der Verordnung Nr. 2419/2001 genannte Verjährungsfrist (von vier Jahren) gilt. Aus den Gründen, die ich im Folgenden darlegen werde, bin ich jedoch nicht der Auffassung, dass dieser Artikel für die Entscheidung über den Rechtsstreit maßgeblich ist.
31. Hauptgrund hierfür ist die Art der Kürzungen und Ausschlüsse, die Art. 49 Abs. 6 der Verordnung Nr. 2419/2001 in Zusammenhang mit der Verjährungsfrist nennt. Aus Art. 13 (verspätete Einreichung von Anträgen), Art. 32 (Kürzungen und Ausschlüsse in Fällen von Übererklärungen)(20) und Art. 38 (Kürzungen und Ausschlüsse bei einer Differenz bei der Zahl der Rinder) dieser Verordnung lässt sich ableiten, dass sie echte finanzielle Sanktionen vorsieht, d. h. die Zahlung von Beträgen, die über einen im Verhältnis zur Übererklärung stehenden Betrag, den die Verwaltung zurückfordern kann, hinausgehen.
32. Bei den Kürzungen und Ausschlüssen handelt es sich nämlich um eine Sanktion im Sinne von Art. 5 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 2988/95(21), da sie den Antragsteller verpflichten, einen höheren Betrag als die zu Unrecht erhaltenen Beträge zurückzuzahlen. Der Gerichtshof hat den Strafcharakter dieser Vorschriften betont und diese ohne Zögern als Sanktionen eingestuft(22).
33. Die infolge der Kürzungen und Ausschlüsse zurückzuerstattenden Beträge werden logischerweise in den entsprechenden Sanktionsbescheiden der Verwaltung berechnet. Diese Beträge sind ab dem Datum des entsprechenden Verwaltungsbescheids fällig. Genauso wie die allgemeine Vorschrift (Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 1 der Verordnung Nr. 2988/95) eine „Frist für die Vollstreckung der Entscheidung, mit der eine verwaltungsrechtliche Sanktion verhängt wird, [von] drei Jahre[n]“ vorsieht, wird in der sektoralen Regelung (Art. 49 Abs. 6 der Verordnung Nr. 2419/2001) eine Verjährungsfrist von vier Jahren festgelegt, die als maximaler Zeitraum zu verstehen ist, in dem die Verwaltung die aufgrund der verhängten Sanktion zurückzuerstattenden Beträge einziehen kann(23).
34. Meiner Meinung nach wird mit dieser Auslegung das absurde Ergebnis verhindert, dass bei Verhaltensweisen, die aufgrund ihres ausgeprägten rechtswidrigen Charakters mit Sanktionen geahndet werden (Abs. 6), eine Verjährungsfrist von nur vier Jahren angewandt würde, während bei weniger schwerwiegenden Verhaltensweisen (Abs. 5), die nur zu einer Rückzahlungspflicht führen, eine Verjährungsfrist von bis zu zehn Jahren gälte. Die einzige Erklärung, die ich finden kann, ist, dass es sich hierbei um Fristen unterschiedlicher Art handelt und dass sich Abs. 6, wie gesagt, auf die Vollstreckung der Sanktion selbst bezieht.
35. Im vorliegenden Rechtsstreit wird anscheinend nicht über die Verjährungsfrist für die Vollstreckung der mit Bescheid der Landwirtschaftskammer vom 23. Juli 2007 verhängten Sanktionen (Kürzungen und Ausschlüsse) gestritten(24). Der Streit beschränkt sich vielmehr auf die Verjährung der Verpflichtung zur Rückzahlung der Beträge, die der Landwirt als Beihilfe für die Wirtschaftsjahre 2000 und 2001 zu Unrecht erhielt, da sie nicht den tatsächlichen Flächen entsprachen.
36. Daher bin ich der Überzeugung, dass die Auslegung von Art. 49 Abs. 6 der Verordnung Nr. 2419/2001 in diesem Fall nicht von Bedeutung ist.
37. Die Verordnung Nr. 1251/1999, auf die sich die von Herrn Westphal eingereichten Anträge stützen, enthält keine Vorschriften zur Verjährungsfrist für Rückzahlungsverpflichtungen, die sich aus Unregelmäßigkeiten wie denen des vorliegenden Falles ergeben. Ebenso wenig finden sich solche Vorschriften in der Verordnung Nr. 3887/92, deren Art. 9 als Grundlage für den Sanktionsbescheid der Landwirtschaftskammer vom 23. Juli 2007 diente.
38. Mangels besonderer Vorschriften musste auf die allgemeinen Vorschriften zurückgegriffen werden(25), d. h. auf Art. 3 der Verordnung Nr. 2988/95, die zum Zeitpunkt der Antragstellung und der Auszahlung der beantragten Beihilfe (2000 bzw. 2001) in Kraft war(26).
39. Im Jahr 2001 wurde jedoch eine spezielle Vorschrift (für Beihilfen im Agrarsektor) erlassen, die eigene Verjährungsregeln einführt. Die sektorale Verjährungsregelung für die Rückzahlung zu Unrecht gezahlter Beihilfen dieser Art wurde in Art. 49 der Verordnung Nr. 2419/2001 festgelegt und im Jahr 2004 durch die Einfügung von Art. 52a in diese Verordnung teilweise geändert.
40. Die neue Verjährungsregelung trat mit der Änderung der Verordnung Nr. 2419/2001 im Jahr 2004 rückwirkend in Kraft: Für Rückzahlungsverpflichtungen in Bezug auf Beihilfeanträge für Wirtschaftsjahre, die vor dem 1. Januar 2002 begannen, galt die in Art. 49 Abs. 5 der Verordnung Nr. 2419/2001 vorgesehene Verjährungsfrist(27).
41. Nach dieser neuen, rückwirkend anwendbaren Regelung verjährt die Verpflichtung zur Rückzahlung, wenn „zwischen dem Tag der Zahlung der Beihilfe und dem Tag, an dem der Begünstigte von der zuständigen Behörde erfahren hat, dass die Beihilfe zu Unrecht gewährt wurde“ zehn Jahre (der Begünstigte hat nicht in gutem Glauben gehandelt) oder vier Jahre (der Begünstigte hat in gutem Glauben gehandelt) vergangen sind. Dies ist dem Wortlaut von Art. 49 Abs. 5 der Verordnung Nr. 2419/2001 zu entnehmen.
42. Mit der Einfügung von Art. 52a wurde die Erstreckung von Art. 49 Abs. 5 der Verordnung Nr. 2419/2001 auf Beihilfeanträge aus der Zeit vor dem 1. Januar 2002 (wie im vorliegenden Fall) am 25. Januar 2004 wirksam. Da zu diesem Zeitpunkt noch die (allgemeine) Verjährungsfrist von vier Jahren gemäß Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2988/95 lief, gibt es unter dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit(28) bei in gutem Glauben begangenen Unregelmäßigkeiten keine Probleme: Nach beiden Regelungen (der allgemeinen und der speziellen) war die Verjährungsfrist die gleiche, betrug also vier Jahre.
43. Größer sind die Probleme, die sich aus der Rückwirkung von Art. 49 Abs. 5 der Verordnung Nr. 2419/2001 ergeben, falls Herr Westphal nicht in gutem Glauben gehandelt haben sollte. In diesem Fall ist die Verjährungsfrist der neuen sektoralen Regelung (zehn Jahre) belastender als die der allgemeinen Vorschrift (vier Jahre). Ich bin jedoch der Ansicht, dass diese rückwirkende Anwendung rechtlich zulässig ist.
44. Tatsächlich können die Mitgliedstaaten nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs im Bereich der Strafverfolgung längere Verjährungsfristen festlegen, jedoch nur für solche Fälle, in denen die Unregelmäßigkeit zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der neuen Frist noch nicht verjährt war, und unter der Voraussetzung, dass die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts(29), insbesondere die Grundsätze der Rechtssicherheit und der Verhältnismäßigkeit, eingehalten werden.
45. Ich sehe keinen Grund dafür, diese in der Rechtsprechung aufgestellten Leitlinien nicht auch – nach Maßgabe der gleichen Kriterien – auf die Vorschriften des europäischen Gesetzgebers zu erstrecken.
46. In diesem Fall gilt die Verlängerung der Verjährungsfrist auf zehn Jahre (Art. 49 Abs. 5 der Verordnung Nr. 2419/2001) nur für Anträge, die nicht in gutem Glauben eingereicht wurden und bei denen die Verjährungsfrist noch nicht abgelaufen ist(30).
47. Was die Verhältnismäßigkeit betrifft(31), so kann eine Frist von zehn Jahren zwar übermäßig lang erscheinen, dieser Eindruck wird jedoch relativiert, wenn die jährlich für Agrarbeihilfen eingesetzten Beträge und die Tatsache berücksichtigt werden, dass sich diese auf eine große Zahl von Anträgen verteilen und die mitgliedstaatlichen Behörden keine umfassenden Kontrollen, sondern nur Stichproben durchführen.
2. Beginn der Verjährungsfrist
48. Aus der zeitlichen Anwendbarkeit von Art. 49 Abs. 5 der Verordnung Nr. 2419/2001 lässt sich auf den Zeitpunkt, zu dem die Frist für die Verjährung der Rückzahlungspflicht von Herrn Westphal zu laufen begann, schließen: der Tag der Zahlung der Beihilfe, wie in Unterabs. 1 zu lesen ist.
49. Im Gegensatz zur Verordnung Nr. 2988/95, deren Art. 3 den Beginn der Verjährungsfrist auf den Tag legt, an dem die Unregelmäßigkeit begangen wird (hier wäre dies ein Tag im Mai 2000 bzw. 2001)(32), beginnt nach Art. 49 Abs. 5 Unterabs. 1 der Verordnung Nr. 2419/2001 die Verjährung am Tag der Zahlung der Beihilfe.
50. Die Verordnung Nr. 2419/2001 unterscheidet im Übrigen nicht zwischen einzelnen oder andauernden Unregelmäßigkeiten, wie dies in der Verordnung Nr. 2988/95 der Fall ist. Das vorlegende Gericht geht davon aus, dass es sich um eine andauernde Unregelmäßigkeit handelt(33), da sie die beiden Anträge der Jahre 2000 und 2001 betrifft.
51. Diese Bewertung lässt sich sowohl durch den Wortlaut der Verordnung Nr. 1251/1999(34), die für Beihilfeanträge (wie die von Herrn Westphal) das Muster „erst der Antrag und dann die Zahlung“ vorsieht, als auch durch den Sachverhalt des Rechtsstreits untermauern, da die Anträge in zwei aufeinanderfolgenden Jahren, d. h. im Mai 2000 und im Mai 2001, gestellt und jeweils zum Ende der jeweiligen Jahre ausgezahlt wurden.
52. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs beginnt in diesen Fällen die Verjährungsfrist zum Zeitpunkt des Eintritts des wirtschaftlichen Schadens für den Haushalt der Union, d. h. zum Zeitpunkt der Zahlung, da diese nach der Handlung oder Unterlassung, die sich als Verstoß gegen das Unionsrecht darstellt, erfolgt ist(35).
53. Letztlich stimmt das Kriterium, auf das Art. 49 Abs. 5 der Verordnung Nr. 2419/2001 für die Festlegung des Beginns der Berechnung der Verjährungsfrist abstellt, mit dem vom Gerichtshof für andauernde Unregelmäßigkeiten festgelegten Kriterium überein. Beide führen in dieser Rechtssache zum selben Ergebnis: Die Frist beginnt mit der Zahlung der zu Unrecht gewährten Beihilfen zu laufen.
54. Es bleibt eine letzte Klarstellung zu der Frage, welche der beiden in Art. 49 Abs. 5 der Verordnung Nr. 2419/2001 vorgesehenen Fristen zur Anwendung kommt, wenn in beiden Fällen von einer Untätigkeit der Behörden bis 2006 ausgegangen wird: zehn Jahre ab Zahlung, ohne jede weitere Bedingung, oder vier Jahre ab Zahlung, sofern Herr Westphal in gutem Glauben gehandelt hat.
55. Da es sich bei der Gutgläubigkeit um eine Tatsachenfrage handelt, ist es Sache des nationalen Gerichts, diese Frage zu beurteilen und abhängig vom Ergebnis(36) die entsprechende Variante anzuwenden.
B. Zur zweiten Vorlagefrage
56. Das vorlegende Gericht möchte wissen, ob die Verjährungsregelungen in Art. 49 Abs. 6 der Verordnung Nr. 2419/2001 bzw. Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2988/95 als Bestimmungen über verwaltungsrechtliche Sanktionen einzustufen sind.
57. Von der Antwort hängt seiner Überzeugung nach die Anwendung des Grundsatzes der Rückwirkung zugunsten des Betroffenen ab, der für nachträglich erlassene Vorschriften mit Sanktionscharakter, die zu einer günstigeren Behandlung des Betroffenen führen, charakteristisch ist. Dieser Grundsatz wird in Art. 2 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2988/95 und in Art. 49 Abs. 1 Satz 3 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union(37) konkretisiert.
58. Da ich Art. 49 Abs. 6 der Verordnung Nr. 2419/2001 nicht für anwendbar halte, erscheint mir eine Beantwortung dieser Frage nicht erforderlich. Die folgenden Erwägungen führe ich daher nur hilfsweise an.
59. An dieser Stelle ist erneut auf das Urteil Taricco u. a.(38), ergänzt durch das Urteil M.A.S. und M.B., hinzuweisen(39). Im Urteil M.A.S. und M.B. erfolgte die Antwort des Gerichtshofs in Anbetracht dessen, dass das vorlegende Gericht betont hatte, dass „die Verjährung nach italienischem Recht ein materielles Institut darstellt, so dass die für sie geltenden Vorschriften für die Bürger zur Zeit der Begehung der ihnen zur Last gelegten Taten vorhersehbar sein müssen und nicht rückwirkend zu ihren Lasten geändert werden dürfen“(40).
60. Nach dem Urteil M.A.S. und M.B. kommt es darauf an, ob nach den nationalen Vorschriften des Gerichts, das das Unionsrecht anwenden soll, „die dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen innewohnenden Erfordernisse der Vorhersehbarkeit, der Bestimmtheit und des Rückwirkungsverbots … auch für die Regelung der Verjährung von Mehrwertsteuerstraftaten [gelten]“(41).
61. Das vorlegende Gericht hat bestätigt, dass die Verjährung im deutschen Recht nicht zum materiellen Recht, sondern zum Strafprozessrecht zählt, so dass das Rückwirkungsverbot (und damit auch der Grundsatz der Rückwirkung zugunsten des Betroffenen) auf die betreffenden Vorschriften nicht anwendbar ist. Der Vorlagebeschluss bestätigt, dass der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit von Strafen Verjährungsregelungen nicht erfasst(42).
62. Wenn dem so sein sollte, bestünde kein Grund, Vorschriften, die kürzere Fristen für die Verjährung von Verstößen oder Verwaltungssanktionen vorsehen, zwangsläufig Vorrang vor Vorschriften zu geben, die zum Zeitpunkt der Begehung der Tat längere Fristen festgelegt hatten. Außerdem könnten, wie gesagt(43), die Verjährungsfristen für Straftaten solcher Art, die noch nicht verjährt sind, sogar verlängert werden, wie der Gerichtshof im Urteil Glencore Céréales France(44) anerkannt hat.
63. Aus einem anderen Blickwinkel, der mehr auf die besonderen Umstände des Rechtsstreits abstellt, weist die Landwirtschaftskammer darauf hin, dass der Betrag der nach der lex posterior (Art. 32 der Verordnung Nr. 2419/2001) angemessenen Sanktion nicht niedriger ausfällt als der Betrag, der sich bei Anwendung der Vorschrift ergibt, nach der die Sanktion gegen Herrn Westphal verhängt wurde (Art. 9 der Verordnung Nr. 3887/92).
64. Obwohl der Grundsatz der rückwirkenden Anwendung der milderen Sanktionsnorm zur Anwendung kommt, wenn eine Unionsvorschrift eine in einer früheren Vorschrift enthaltene Sanktion später ändert, indem sie sie abschwächt, fällt hier der Betrag sowohl nach der einen als auch nach der anderen Vorschrift gleich hoch aus.
65. Für eine Anwendung des Grundsatzes der Rückwirkung zugunsten des Betroffenen wäre ein „Wertungswandel des Gemeinschaftsgesetzgebers hinsichtlich der Angemessenheit der Sanktionen im Verhältnis zur Schwere der jeweiligen Unregelmäßigkeit“ erforderlich(45). Aus diesem Wertungswandel würde sich ergeben, dass die Höhe der Sanktion nach der neuen Vorschrift niedriger ausfällt als bei Anwendung der vorherigen Vorschrift(46). Das scheint hier nicht der Fall zu sein.
C. Zur dritten Vorlagefrage
66. Mit der dritten Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Regelung über die rückwirkende Anwendung der Verjährungsregelung des Art. 49 Abs. 5 der Verordnung Nr. 2419/2001 analog auch auf Art. 49 Abs. 6 derselben Verordnung angewandt werden kann.
67. Wie bei der zweiten Vorlagefrage halte ich auch eine Beantwortung der dritten Vorlagefrage für nicht erforderlich, da die Verweise auf Art. 49 Abs. 6 der Verordnung Nr. 2419/2001 für die Entscheidung über diesen Rechtsstreit nicht von Nutzen sind. Ich werde mich jedoch, ebenfalls rein hilfsweise, zu dieser Frage äußern.
68. Die in Art. 49 Abs. 6 der Verordnung Nr. 2419/2001 genannten Kürzungen und Ausschlüsse setzen das Eingreifen der zuständigen Behörde, die sie verhängt hat, voraus. Wie bereits erwähnt, fehlt es daran, wenn die Verwaltung zehn bzw. vier Jahre, d. h. in dem Zeitraum untätig war, der in Art. 49 Abs. 5 dieser Verordnung für die Verjährung der Pflicht zur Rückzahlung von nicht vom Begünstigten zurückgeforderten Beträgen vorgesehen ist.
69. Wenn der Gesetzgeber die Verordnung Nr. 2419/2001 im Jahr 2004 um einen Art. 52a ergänzt hat, der die Rückwirkung der (neuen) Verjährungsfristen auf die in Art. 49 Abs. 5 genannten Fälle begrenzt und dabei die Fälle des Abs. 6 außen vor lässt, dann wurde diese Entscheidung meines Erachtens getroffen, um die verschiedenen Fälle, die nicht analog sind, zu unterscheiden und nicht, um sie gleichzusetzen.
70. Außerdem stimmt in den Fällen, in denen der Antragsteller in gutem Glauben gehandelt hat, die in Art. 49 Abs. 5 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 2419/2001 vorgesehene Verjährungsfrist mit der in Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 der Verordnung Nr. 2988/95 festgelegten Frist, an deren Stelle sie für den Sektor der streitigen Beihilfen getreten ist, überein.
71. Hieraus ergibt sich meiner Ansicht nach, dass der Gesetzgeber mit der von ihm gewählten Art der Festlegung der Rückwirkung der Verjährungsfristen (Art. 52a der Verordnung Nr. 2419/2001) beabsichtigt hat, die Verjährungsfrist für Rückzahlungspflichten in allen Fällen vorsätzlich fehlerhafter Erklärungen (Anträge), einschließlich solcher für die Wirtschaftsjahre vor 2002, auf zehn Jahre zu verlängern und in den Fällen gutgläubiger Erklärungen bei vier Jahren zu belassen.
72. Im Übrigen ist es, nachdem die Verwaltung eingegriffen und im entsprechenden Bescheid den aufgrund Kürzung und/oder Ausschluss zurückzuzahlenden Betrag festgelegt hat, insbesondere im Hinblick auf die Verjährung unerheblich, ob der betroffene Antragsteller in gutem Glauben gehandelt hat oder nicht.
73. Folglich liegen die Bedingungen für eine Erstreckung der Rückwirkung der in Art. 49 Abs. 5 in Verbindung mit Art. 52a der Verordnung Nr. 2419/2001 verankerten Verjährung auf Art. 49 Abs. 6 der Verordnung Nr. 2419/2001 nicht vor.
V. Ergebnis
74. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die Vorlagefragen des Bundesverwaltungsgerichts (Deutschland) wie folgt zu beantworten:
In einer Situation wie der des Ausgangsrechtsstreits, in der gegen einen Landwirt, der Beihilfeanträge für eine angemeldete Fläche gestellt hat, die größer war als die später von der zuständigen Behörde ermittelte Fläche, eine Sanktion verhängt wurde, ist Art. 49 der Verordnung (EG) Nr. 2419/2001 der Kommission vom 11. Dezember 2001 mit Durchführungsbestimmungen zum mit der Verordnung (EWG) Nr. 3508/92 des Rates eingeführten integrierten Verwaltungs- und Kontrollsystem für bestimmte gemeinschaftliche Beihilferegelungen wie folgt auszulegen:
– Nach Art. 49 Abs. 5 der Verordnung Nr. 2419/2001 kann die Verpflichtung zur Rückzahlung zu Unrecht erhaltener Beträge als verjährt angesehen werden, wenn die zuständige Behörde keine auf die Rückforderung abzielende Maßnahme ergriffen hat, weil entweder seit dem Tag der Zahlung zehn Jahre vergangen sind oder aber vier Jahre, sofern der Antragsteller in gutem Glauben gehandelt hat. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob der Betroffene bei der Einreichung der streitgegenständlichen Anträge in gutem Glauben gehandelt hat.
– Art. 49 Abs. 6 der Verordnung Nr. 2419/2001 ist auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar.
– Die Verjährungsvorschriften des Art. 52a der Verordnung Nr. 2419/2001 betreffend Beihilfeanträge, die sich auf Wirtschaftsjahre oder Prämienzeiträume beziehen, die vor dem 1. Januar 2002 begonnen haben, sind keine „Bestimmungen über verwaltungsrechtliche Sanktionen“ im Sinne von Art. 2 Abs. 2 der Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95 des Rates vom 18. Dezember 1995 über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften.
– Die in Art. 49 Abs. 5 der Verordnung Nr. 2419/2001 geregelten Fälle der Verjährung unterscheiden sich von den Fällen, die der Verjährung nach Art. 49 Abs. 6 dieser Verordnung unterliegen, so dass die in Art. 49 Abs. 5 in Verbindung mit Art. 52a der Verordnung Nr. 2419/2001 vorgesehene Rückwirkung nicht analog auf Art. 49 Abs. 6 der Verordnung erstreckt werden kann.