Language of document : ECLI:EU:T:2004:361

Rechtssache T‑332/02

Nordspedizionieri di Danielis Livio & C. Snc u. a.

gegen

Kommission der Europäischen Gemeinschaften

„Zollunion – Gemeinschaftliches Versandverfahren – Betrug – Zigarettenschmuggel – Erlass von Eingangsabgaben – Verordnung (EWG) Nr. 1430/79 – Artikel 13: Billigkeitsklausel – Begriff ‚besondere Umstände‘“

Leitsätze des Urteils

1.      Eigenmittel der Europäischen Gemeinschaften – Erstattung oder Erlass von Eingangs- oder Ausfuhrabgaben – Artikel 13 der Verordnung Nr. 1430/79 – Tragweite – Grenzen –Anwendung des materiellen Zollrechts – Ausschließliche Zuständigkeit der nationalen Behörden

(Artikel 234 EG; Verordnung Nr. 1430/79 des Rates, Artikel 13 Absatz 1)

2.      Eigenmittel der Europäischen Gemeinschaften – Erstattung oder Erlass von Eingangs- oder Ausfuhrabgaben – Artikel 13 der Verordnung Nr. 1430/79 – Tragweite – Entscheidungsbefugnis der Kommission – Ausübungsmodalitäten

(Verordnung Nr. 1430/79 des Rates, Artikel 13 Absatz 1)

3.      Eigenmittel der Europäischen Gemeinschaften – Erstattung oder Erlass von Eingangs- oder Ausfuhrabgaben – Artikel 13 der Verordnung Nr. 1430/79 – „Besondere Umstände“ – Begriff – Nationale Behörden, die im Rahmen einer Untersuchung die Begehung von Zuwiderhandlungen oder Ordnungswidrigkeiten absichtlich nicht verhindern, wodurch eine Zollschuld eines gutgläubigen Abgabenschuldners entsteht – Einbeziehung – Kein besonderer Umstand im vorliegenden Fall

(Verordnung Nr. 1430/79 des Rates, Artikel 13 Absatz 1)

1.      Artikel 13 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1430/79 über die Erstattung oder den Erlass von Eingangs- oder Ausfuhrabgaben bietet lediglich die Möglichkeit, bei Vorliegen bestimmter besonderer Umstände und unter der Voraussetzung, dass nicht fahrlässig oder in betrügerischer Absicht gehandelt wurde, Wirtschaftsteilnehmer von der Zahlung der geschuldeten Abgaben freizustellen; er erlaubt es nicht, das Bestehen der Zollschuld dem Grunde nach in Zweifel zu ziehen. Die Ermittlung des Vorliegens und der genauen Höhe der Schuld fällt nämlich in die Zuständigkeit der nationalen Behörden. Deren Entscheidungen können im Übrigen vor den nationalen Gerichten angefochten werden, die ihrerseits den Gerichtshof aufgrund von Artikel 234 EG anrufen können.

(vgl. Randnrn. 33-34, 101)

2.      Artikel 13 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1430/79 über die Erstattung oder den Erlass von Eingangs- oder Ausfuhrabgaben ist eine auf Billigkeitserwägungen beruhende Generalklausel, die andere als die in der Praxis am häufigsten vorkommenden Fälle, für die bei Erlass der Verordnung eine besondere Regelung geschaffen werden konnte, erfassen soll. Diese Bestimmung soll dann Anwendung finden, wenn es angesichts des Verhältnisses zwischen Wirtschaftsteilnehmer und Verwaltung unbillig wäre, den Wirtschaftsteilnehmer einen Schaden tragen zu lassen, den er bei rechtem Gang der Dinge nicht erlitten hätte.

Diese Bestimmung macht den Erlass von Eingangsabgaben von der Erfüllung zweier kumulativer Voraussetzungen abhängig, nämlich vom Vorliegen besonderer Umstände und vom Fehlen betrügerischer Absicht oder offensichtlicher Fahrlässigkeit des Wirtschaftsteilnehmers.

Die Kommission verfügt über ein Ermessen, wenn sie in Anwendung dieser auf Billigkeitserwägungen beruhenden Generalklausel eine Entscheidung erlässt. Außerdem stellt die Erstattung oder der Erlass von Einfuhrabgaben eine Ausnahme vom gewöhnlichen Einfuhr- und Ausfuhrsystem dar, so dass die Vorschriften, die eine solche Erstattung oder einen solchen Erlass vorsehen, eng auszulegen sind.

(vgl. Randnrn. 40-42)

3.      Wird der Abgabenschuldner von den nationalen Behörden aufgrund der Erfordernisse einer Untersuchung der Zoll- oder Polizeibehörden zur Ermittlung und Ergreifung der Täter oder Teilnehmer eines bereits begangenen oder in Vorbereitung befindlichen Betruges nicht über den Verlauf der Untersuchung unterrichtet, so begründet dies, wenn dem Abgabenschuldner keine betrügerische Absicht oder Fahrlässigkeit zur Last gelegt werden kann, einen besonderen Umstand im Sinne der Billigkeitsklausel in Artikel 13 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1430/79 über die Erstattung oder den Erlass von Eingangs- oder Ausfuhrabgaben. Im Rahmen einer solchen Untersuchung sind die nationalen Behörden zwar berechtigt, die Begehung von Zuwiderhandlungen oder Ordnungswidrigkeiten absichtlich nicht zu verhindern, doch widerspricht es dem Ziel der Billigkeitsklausel, dem Abgabenschuldner eine Zollschuld aufzubürden, die sich aus diesen Entscheidungen im Zusammenhang mit der Verfolgung von Zuwiderhandlungen ergibt, und ihn dadurch in eine Lage zu bringen, die gegenüber derjenigen anderer Wirtschaftsteilnehmer, die die gleiche Tätigkeit ausüben, außergewöhnlich ist.

Überdies stellt zwar auch die gutgläubige Vorlage von Dokumenten, die sich später als gefälscht erweisen, durch den Abgabenschuldner als solche keinen besonderen Umstand dar, der einen Erlass der Einfuhrabgaben rechtfertigt, doch liegt ein solcher Umstand dann vor, wenn schwerwiegendes Fehlverhalten der Kommission oder der nationalen Zollbehörden die missbräuchliche Verwendung der Dokumente erleichtert hat.

Im Fall eines an einer Grenze der Gemeinschaft ansässigen Zollspediteurs, der nach der Abfahrt eines Lastkraftwagens von einem Ort in einem Drittland gemeinschaftliche Versandbescheinigungen ausgestellt hat, stellen weder die Tatsache, dass er an der Grenze und nicht am Abgangsort des Transports tätig war, noch die fehlende Möglichkeit, den Lastkraftwagen zu untersuchen, Gegebenheiten dar, aufgrund deren sich ein Wirtschaftsteilnehmer in einer Lage befinden kann, die gegenüber derjenigen anderer Wirtschaftsteilnehmer außergewöhnlich ist, da diese Gegebenheiten eine unbestimmte Zahl von Wirtschaftsteilnehmern betreffen. Daher können sie keinen besonderen Umstand im Sinne der genannten Bestimmung darstellen.

(vgl. Randnrn. 51, 70, 72, 84)