Language of document : ECLI:EU:T:2022:780

URTEIL DES GERICHTS (Zehnte erweiterte Kammer)

7. Dezember 2022(*)

„Unionsmarke – Anmeldung einer Unionsmarke, die ein zylindrisches sanitäres Einsatzteil darstellt – Positions-Tastmarke – Absolute Eintragungshindernisse – Geltungsbereich des Gesetzes – Prüfung von Amts wegen – Prüfung der Unterscheidungskraft durch die Beschwerdekammer – Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung (EG) Nr. 207/2009 (jetzt Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung [EU] 2017/1001) – Zeichen, das keine Unionsmarke darstellen kann – Fehlen einer eindeutigen und in sich abgeschlossenen grafischen Darstellung des vom Zeichen hervorgerufenen Tasteindrucks – Art. 4 und Art. 7 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 207/2009 (jetzt Art. 4 und Art. 7 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung 2017/1001)“

In der Rechtssache T‑487/21,

Neoperl AG mit Sitz in Reinach (Schweiz), vertreten durch Rechtsanwältin U. Kaufmann,

Klägerin,

gegen

Amt der Europäischen Union für geistiges Eigentum (EUIPO), vertreten durch T. Klee und D. Hanf als Bevollmächtigte,

Beklagter,

erlässt

DAS GERICHT (Zehnte erweiterte Kammer)

zum Zeitpunkt der Beratung unter Mitwirkung des Präsidenten A. Kornezov, des Richters E. Buttigieg (Berichterstatter), der Richterin K. Kowalik-Bańczyk sowie der Richter G. Hesse und D. Petrlík,

Kanzler: R. Ūkelytė, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

auf die mündliche Verhandlung vom 12. Mai 2022

folgendes

Urteil

1        Mit ihrer Klage nach Art. 263 AEUV beantragt die Klägerin, die Neoperl AG, die Aufhebung der Entscheidung der Fünften Beschwerdekammer des Amtes der Europäischen Union für geistiges Eigentum (EUIPO) vom 3. Juni 2021 (Sache R 2327/2019-5) (im Folgenden: angefochtene Entscheidung).

 Vorgeschichte des Rechtsstreits

2        Am 1. September 2016 meldete die Klägerin nach der Verordnung (EG) Nr. 207/2009 des Rates vom 26. Februar 2009 über die Unionsmarke (ABl. 2009, L 78, S. 1) (ersetzt durch die Verordnung [EU] 2017/1001 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. Juni 2017 über die Unionsmarke [ABl. 2017, L 154, S. 1]) beim Amt der Europäischen Union für geistiges Eigentum (EUIPO) folgendes Zeichen als Unionsmarke an:

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3        In der Anmeldung wurde die angemeldete Marke als „andere Marke“, und zwar als „Positions-Tastmarke“, bezeichnet und folgendermaßen beschrieben:

„Die Marke ist eine Positions-Tastmarke. Schutz wird beansprucht für eine an einer Stirnseite eines zur Wasserführung bestimmten zylindrischen sanitären Einsetzteils angeordnete, nach außen orientierte und von einer unelastischen Unterlage abstehende Struktur aus kreisförmigen, konzentrischen, elastischen Lamellen von wenigen Millimetern Höhe im gesamten Bereich der Stirnseite, wobei die elastischen Lamellen mit einem Finger gegen die Unterlage und parallel zur Unterlage verformbar sind. Für die übrige, in der Darstellung gestrichelt gezeigte Kontur des Einsetzteils wird kein Schutz beansprucht.“

4        Die Marke wurde für folgende Waren der Klasse 11 des Abkommens von Nizza über die internationale Klassifikation von Waren und Dienstleistungen für die Eintragung von Marken vom 15. Juni 1957 in revidierter und geänderter Fassung angemeldet: „Sanitäre Einsatzteile, insbesondere Strahlregler und Strahlformer“.

5        Die Anmeldung wurde aufgrund formaler Eintragungshindernisse nach Art. 26 Abs. 1 Buchst. d der Verordnung Nr. 207/2009 (jetzt Art. 31 Abs. 1 Buchst. d der Verordnung 2017/1001) in Verbindung mit Regel 9 Abs. 3 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 2868/95 der Kommission vom 13. Dezember 1995 zur Durchführung der Verordnung Nr. 40/94 des Rates über die Gemeinschaftsmarke (ABl. 1995, L 303, S. 1) (jetzt Art. 41 Abs. 2 der Verordnung 2017/1001) beanstandet, da „Tastmarken … vom [EUIPO] generell nicht akzeptiert“ würden. Gegenüber der Klägerin wurde daher eine Umbenennung der angemeldeten Marke zur Positionsmarke angeregt.

6        Mit Eingabe vom 22. Dezember 2016 lehnte die Klägerin eine Umbenennung der angemeldeten Marke ab und bestand auf der Einordnung der Marke als Positions-Tastmarke sowie der eingereichten Beschreibung.

7        Am 11. Oktober 2019 wies die Prüferin die Anmeldung auf der Grundlage von Art. 41 Abs. 4 im Wesentlichen in Verbindung mit Art. 4 und Art. 31 Abs. 3 der Verordnung 2017/1001 aus formalen Gründen hauptsächlich mit der Begründung zurück, dass die Anmeldung, soweit sie auf die Eintragung einer Tastmarke abziele, nicht ausreichend bestimmt im Sinne dieser Vorschriften sei.

8        Am 16. Oktober 2019 legte die Klägerin gegen die Entscheidung der Prüferin beim EUIPO Beschwerde ein. Am 22. Januar 2020 reichte sie ihre Beschwerdebegründung ein.

9        Mit Mitteilung des Berichterstatters vom 3. August 2020 wies die Beschwerdekammer des EUIPO die Klägerin darauf hin, dass sie unabhängig von der Frage, ob die Markenanmeldung den Anforderungen von Art. 31 der Verordnung 2017/1001 genüge, das absolute Eintragungshindernis des Art. 7 Abs. 1 Buchst. b dieser Verordnung für einschlägig halte und die angemeldete Marke keine Unterscheidungskraft im Sinne dieser Bestimmung habe.

10      Am 3. März 2021 nahm die Klägerin zu der Mitteilung vom 3. August 2020 Stellung.

11      In der angefochtenen Entscheidung entschied die Beschwerdekammer des EUIPO, dass das als Unionsmarke angemeldete Zeichen nicht unterscheidungskräftig im Sinne von Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung 2017/1001 sei, und wies die Beschwerde zurück.

 Anträge der Parteien

12      Die Klägerin beantragt,

–        die angefochtene Entscheidung aufzuheben;

–        dem EUIPO die Kosten aufzuerlegen.

13      Das EUIPO beantragt,

–        die Klage abzuweisen;

–        der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.

 Rechtliche Würdigung

 Vorbemerkungen

14      Unter Berücksichtigung des Zeitpunkts der in Rede stehenden Anmeldung, nämlich dem 1. September 2016, der für die Bestimmung des für die Prüfung des Vorliegens absoluter Eintragungshindernisse anwendbaren materiellen Rechts ausschlaggebend ist, sind auf den vorliegenden Sachverhalt die materiell-rechtlichen Vorschriften der Verordnung Nr. 207/2009, gegebenenfalls in der Fassung der Verordnung (EU) 2015/2424 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2015 zur Änderung der Verordnung Nr. 207/2009 und der Verordnung Nr. 2868/95 und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 2869/95 der Kommission über die an das Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt (Marken, Muster und Modelle) zu entrichtenden Gebühren (ABl. 2015, L 341, S. 21), anwendbar (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 12. Dezember 2019, EUIPO/Wajos, C‑783/18 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2019:1073, Rn. 2, und vom 8. Mai 2019, VI.TO./EUIPO – Bottega [Form einer vergoldeten Flasche], T‑324/18, nicht veröffentlicht, EU:T:2019:297, Rn. 17 und die dort angeführte Rechtsprechung).

15      Im Einzelnen sieht Art. 4 der Verordnung 2015/2424 vor, dass diese Verordnung am 23. März 2016 in Kraft tritt, dass aber bestimmte Vorschriften der Verordnung Nr. 207/2009 in geänderter Fassung, zu denen Art. 4 und Art. 26 Abs. 3 gehören, erst ab dem 1. Oktober 2017 gelten.

16      Des Weiteren sind im vorliegenden Fall, was die materiell-rechtlichen Vorschriften angeht, Art. 4 und Art. 26 Abs. 3 der Verordnung Nr. 207/2009 in ihrer vor der Änderung durch die Verordnung 2015/2424 anwendbaren Fassung sowie Art. 7 der Verordnung Nr. 207/2009 in der durch die Verordnung 2015/2424 geänderten Fassung anwendbar. Was diese letztgenannte Bestimmung betrifft, führt die zeitliche Anwendung der Verordnung Nr. 207/2009 in der durch die Verordnung 2015/2424 geänderten Fassung für die Prüfung der vorliegenden Klage jedoch zu keinem anderen Ergebnis. Die Änderung der Verordnung Nr. 207/2009 durch die Verordnung 2015/2424 betrifft nämlich nicht die Bestimmungen von Art. 7 Abs. 1 Buchst. a und b der Verordnung Nr. 207/2009, die als einzige für die Prüfung der vorliegenden Klage relevant sind. Somit sind im vorliegenden Fall in Bezug auf das materielle Recht die Verweise der Beschwerdekammer in der angefochtenen Entscheidung und der Klägerin in ihren Schriftsätzen auf Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung 2017/1001 dahin zu verstehen, dass sie sich auf den inhaltsgleichen Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 207/2009 in geänderter Fassung beziehen.

17      Da bei Verfahrensvorschriften im Allgemeinen davon auszugehen ist, dass sie ab dem Datum ihres Inkrafttretens Anwendung finden (vgl. Urteil vom 11. Dezember 2012, Kommission/Spanien, C‑610/10, EU:C:2012:781, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung), gelten für den vorliegenden Rechtsstreit die Verfahrensvorschriften der Verordnung 2017/1001, die zum Zeitpunkt des Erlasses der angefochtenen Entscheidung in Kraft waren.

 Prüfung eines Klagegrundes, mit dem ein Verstoß gegen den Geltungsbereich von Rechtsvorschriften geltend gemacht wird, von Amts wegen

18      Zur Stützung ihrer Klage macht die Klägerin zwei Klagegründe geltend: erstens einen Verstoß gegen Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 207/2009 und zweitens einen Verstoß gegen Art. 95 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung 2017/1001. Sie trägt im Wesentlichen vor, die Beschwerdekammer habe den Besonderheiten der angemeldeten Marke als Positions-Tastmarke nicht ausreichend Rechnung getragen, und wirft ihr vor, u. a. unter Verstoß gegen die Pflicht aus Art. 95 der Verordnung 2017/1001, den relevanten Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln, weder den von den Strahlreglern hervorgerufenen gewöhnlichen Tasteindruck noch den vom angemeldeten Zeichen hervorgerufenen Eindruck noch die Tatsache nachgewiesen zu haben, dass dieser weiche Tasteindruck der dieses Zeichen bildenden Lamellen zwangsläufig mit einer funktionellen Eigenschaft der in Rede stehenden Waren verbunden sei. Die Klägerin schließt daraus, dass dieses Zeichen entgegen den Feststellungen der Beschwerdekammer unterscheidungskräftig sei.

19      Das EUIPO tritt dem Vorbringen der Klägerin entgegen und macht geltend, dass die Beschwerdekammer, nachdem sie den Sachverhalt umfangreich und zutreffend ermittelt habe, zutreffend festgestellt habe, dass das angemeldete Zeichen nicht unterscheidungskräftig sei.

20      Hierzu ist festzustellen, dass die Prüferin die Anmeldung auf der Grundlage von Art. 41 Abs. 4 der Verordnung 2017/1001 in Verbindung mit Art. 4 dieser Verordnung (siehe oben, Rn. 7) mit der Begründung zurückgewiesen hat, dass die angemeldete Marke falsch bezeichnet worden sei, dass die Beschreibung in der Anmeldung irrelevant sei und dass diese Beschreibung jedenfalls lediglich das beschreiben dürfe, was in der grafischen Wiedergabe der Marke zu sehen sei. Sie dürfe keine Auslegung dessen sein, was mit einer bestimmten Marke gemeint sein solle. Die angemeldete Marke werde durch den Tastsinn wahrgenommen, der Wiedergabe des Zeichens könnten jedoch fühlbare Eigenschaften nicht unmittelbar entnommen werden. Infolgedessen gebe die grafische Darstellung des Zeichens die Anmeldung nicht ausreichend bestimmt wieder.

21      Die Klägerin hat diese Entscheidung angefochten und im Rahmen ihrer Beschwerdebegründung vom 22. Januar 2020 (siehe oben, Rn. 8) ausgeführt, dass seit dem Inkrafttreten der Verordnung 2017/1001 eine grafische Darstellung eines Zeichens, das als Unionsmarke angemeldet werde, nicht mehr verlangt werde. Hilfsweise, falls die in der Verordnung Nr. 207/2009 enthaltenen Anforderungen an die grafische Darstellung einer Marke berücksichtigt werden sollten, machte sie unter Verweis auf ein ihrer Stellungnahme beigefügtes Rechtsgutachten geltend, dass die allgemeine Eintragungsfähigkeit von Positions-Tastmarken im Unionsmarkenrecht nicht ausgeschlossen sei und dass die grafische Darstellung des in Rede stehenden Zeichens unter Beifügung einer Beschreibung ermögliche, die angemeldete Marke zu „konkretisieren“, auch was den von ihr hervorgerufenen Tasteindruck betreffe, so dass die zuständigen Behörden und das Publikum den Gegenstand des beanspruchten Schutzes klar und eindeutig bestimmen könnten.

22      In der Mitteilung des Berichterstatters vom 3. August 2021, die nach der Einreichung der Beschwerde gegen die Entscheidung der Prüferin an die Klägerin gerichtet wurde (siehe oben, Rn. 9), und in der angefochtenen Entscheidung hat die Beschwerdekammer entschieden, das absolute Eintragungshindernis aus Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 207/2009 zu prüfen, und ausgeführt, dass die Frage, ob das angemeldete Zeichen darüber hinaus gemäß Art. 41 Abs. 4 der Verordnung 2017/1001 in Verbindung mit Art. 4 der Verordnung Nr. 207/2009 (jetzt nach Änderung Art. 4 der Verordnung 2017/1001) oder gemäß Art. 7 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 207/2009 in geänderter Fassung zurückgewiesen werden müsste, irrelevant sei, da es ausreichend sei, wenn ihm ein Eintragungshindernis nach Art. 7 Abs. 1 entgegenstehe (vgl. Rn. 58 der angefochtenen Entscheidung).

23      Die Klägerin hat keinen Klagegrund eines Verstoßes gegen den Geltungsbereich von Rechtsvorschriften geltend macht, um die Entscheidung der Beschwerdekammer zu rügen, die Anmeldung nur im Hinblick auf Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 207/2009 zu prüfen.

24      Zwar können und müssen nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs bestimmte Klagegründe von den Unionsgerichten von Amts wegen geprüft werden, doch darf ein Klagegrund, der die materielle Rechtmäßigkeit der streitigen Entscheidung betrifft, von den Unionsgerichten nur geprüft werden, wenn sich der Kläger darauf beruft (vgl. Urteil vom 25. Oktober 2017, Kommission/Italien, C‑467/15 P, EU:C:2017:799, Rn. 15 und die dort angeführte Rechtsprechung).

25      Allerdings geht aus der Rechtsprechung auch hervor, dass der Unionsrichter im Rahmen des von den Parteien eingegrenzten Rechtsstreits, auch wenn er nur über das Begehren der Parteien zu entscheiden hat, nicht verpflichtet sein kann, allein die Argumente zu berücksichtigen, auf die die Parteien ihr Vorbringen gestützt haben, da er seine Entscheidung sonst gegebenenfalls auf unzutreffende rechtliche Erwägungen stützen müsste (vgl. Urteile vom 21. September 2010, Schweden u. a./API und Kommission, C‑514/07 P, C‑528/07 P und C‑532/07 P, EU:C:2010:541, Rn. 65, und vom 20. Januar 2021, Kommission/Printeos, C‑301/19 P, EU:C:2021:39, Rn. 58). Insbesondere obliegt es in einem Rechtsstreit zwischen den Parteien über die Auslegung und Anwendung einer Vorschrift des Unionsrechts, vorliegend Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 207/2009, dem Unionsrichter, die für die Entscheidung des Rechtsstreits einschlägigen Rechtsvorschriften auf den ihm von den Parteien unterbreiteten Sachverhalt anzuwenden. Nach dem Grundsatz iura novit curia fällt die Ermittlung des Sinns einer Rechtsvorschrift nämlich nicht in den Geltungsbereich des Grundsatzes der freien Disposition der Parteien über den Rechtsstreit (vgl. Urteil vom 12. Dezember 2018, Servier u. a./Kommission, T‑691/14, Rechtsmittel anhängig, EU:T:2018:922, Rn. 102 und die dort angeführte Rechtsprechung).

26      So sind die Unionsgerichte befugt und gegebenenfalls verpflichtet, bestimmte Klagegründe in Bezug auf die materielle Rechtmäßigkeit von Amts wegen zu prüfen (Schlussanträge des Generalanwalts Tanchev in der Rechtssache Changmao Biochemical Engineering/Kommission, C‑666/19 P, EU:C:2021:827, Nr. 25). So verhält es sich zum Beispiel bei einem die materielle Rechtmäßigkeit betreffenden Klagegrund bezüglich der absoluten Rechtskraft (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 1. Juni 2006, P & O European Ferries [Vizcaya] und Diputación Foral de Vizcaya/Kommission, C‑442/03 P und C‑471/03 P, EU:C:2006:356, Rn. 45).

27      Ein Klagegrund, bei dem es um den Geltungsbereich von Rechtsvorschriften geht, betrifft zwingendes Recht und ist damit vom Gericht von Amts wegen zu prüfen. Das Gericht würde nämlich sein der Rechtmäßigkeitsprüfung verpflichtetes Richteramt verkennen, wenn es – auch ohne insoweit vorliegende Rüge der Parteien – nicht feststellen würde, dass die bei ihm angefochtene Entscheidung aufgrund einer Norm ergangen ist, die in dem betreffenden Fall keine Anwendung finden kann, und wenn es damit über den ihm vorliegenden Rechtsstreit entscheiden müsste, indem es selbst diese Norm anwendet (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Juni 2019, RV/Kommission, T‑167/17, EU:T:2019:404, Rn. 60 und 61 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

28      Allerdings muss der Unionsrichter seine Pflicht, einen Gesichtspunkt zwingenden Rechts von Amts wegen zu berücksichtigen, im Licht des Grundsatzes des kontradiktorischen Verfahrens erfüllen. Demnach kann der Unionsrichter seine Entscheidung außer in besonderen Fällen wie u. a. denen, die in den Verfahrensordnungen der Unionsgerichte vorgesehen sind, nicht auf einen von Amts wegen geprüften Gesichtspunkt stützen, sei er auch zwingenden Rechts, ohne die Beteiligten zuvor aufgefordert zu haben, sich zu diesem Gesichtspunkt zu äußern (Urteil vom 2. Dezember 2009, Kommission/Irland u. a., C‑89/08 P, EU:C:2009:742, Rn. 57, vgl. in diesem Sinne auch Urteil vom 27. März 2014, HABM/National Lottery Commission, C‑530/12 P, EU:C:2014:186, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung).

29      Da das Gericht im vorliegenden Fall entschieden hat, den Klagegrund des Verstoßes gegen den Geltungsbereich von Rechtsvorschriften von Amts wegen zu prüfen, hat es die Parteien in der mündlichen Verhandlung und mit einer im Rahmen prozessleitender Maßnahmen gestellten Frage zur schriftlichen Beantwortung aufgefordert, hierzu Stellung zu nehmen. Insbesondere wurden die Parteien gebeten, jeweils ihren Standpunkt dazu darzulegen, ob der Beschwerdekammer gegebenenfalls die Pflicht obliegt, zu prüfen, ob die angemeldete Marke dem in Art. 4 der Verordnung Nr. 207/2009 vorgesehenen Erfordernis der grafischen Darstellung genügt und ob dieser Marke infolgedessen u. a. in Anbetracht der sich aus dem Urteil vom 6. Oktober 2021, M/S. Indeutsch International/EUIPO – 135 Kirkstall (Darstellung von Spitzklammern zwischen zwei parallelen Linien) (T‑124/20, nicht veröffentlicht, EU:T:2021:668), ergebenden Rechtsprechung das absolute Eintragungshindernis gemäß Art. 7 Abs. 1 Buchst. a dieser Verordnung entgegenstehen kann. Außerdem wurden die Parteien gebeten, zu erläutern, ob Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 207/2009 ihrer Ansicht nach auf die Umstände des vorliegenden Falles angewendet werden kann.

30      In ihrer Antwort auf diese Frage trägt die Klägerin vor, dass die Beschwerdekammer vor der Prüfung des Zeichens im Hinblick auf die Voraussetzungen von Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 207/2009 hätte prüfen müssen, ob das in Rede stehende Zeichen den Anforderungen von Art. 7 Abs. 1 Buchst. a dieser Verordnung und insbesondere dem in Art. 4 dieser Verordnung genannten Erfordernis der grafischen Darstellung genüge. Eine solche Pflicht ergebe sich aus einer grammatikalischen, teleologischen und systematischen Auslegung der in Rede stehenden Bestimmungen sowie aus der sich aus dem Urteil vom 6. Oktober 2021, Darstellung von Spitzklammern zwischen zwei parallelen Linien (T‑124/20, nicht veröffentlicht, EU:T:2021:668), ergebenden Rechtsprechung. Die Vorgehensweise der Beschwerdekammer in der angefochtenen Entscheidung verstoße gegen die Verordnung Nr. 207/2009, insbesondere ihren Art. 71 Abs. 1 in Verbindung mit ihrem Art. 7 Abs. 1 Buchst. a und Art. 94 Abs. 1 Satz 1 dieser Verordnung. Das Gericht müsse daher diese Verstöße von Amts wegen prüfen.

31      Das EUIPO ist der Auffassung, dass die Voraussetzungen für eine Prüfung des Verstoßes gegen den Geltungsbereich von Rechtsvorschriften von Amts wegen vorliegend nicht erfüllt seien. Insbesondere trägt das EUIPO vor, dass die Beschwerdekammer berechtigt gewesen sei, die Beschwerde nach Prüfung des angemeldeten Zeichens nur im Hinblick auf Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 207/2009 zurückzuweisen, und infolgedessen in Rn. 58 der angefochtenen Entscheidung die Auffassung habe vertreten dürfen, dass die Frage der Anwendbarkeit von Art. 4 und Art. 7 Abs. 1 Buchst. a dieser Verordnung vorliegend irrelevant sei. Zum einen könne nämlich die Zurückweisung einer Anmeldung auf ein einziges absolutes Eintragungshindernis gestützt werden, da keines dieser Hindernisse Vorrang vor einem anderen habe, und zum anderen sei die Prüfung, die die Beschwerdekammer gemäß Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 207/2009 vorgenommen habe, so umfassend wie nur möglich gewesen. Des Weiteren trägt das EUIPO vor, dass der vom Gericht im Urteil vom 6. Oktober 2021, Darstellung von Spitzklammern zwischen zwei parallelen Linien (T‑124/20, nicht veröffentlicht, EU:T:2021:668), herausgearbeitete Grundsatz auf den vorliegenden Fall nicht übertragbar sei.

32      Hierzu ist festzustellen, dass nach Art. 4 der Verordnung Nr. 207/2009 in ihrer zeitlich anwendbaren Fassung (siehe oben, Rn. 16) Unionsmarken alle Zeichen sein können, die sich grafisch darstellen lassen, insbesondere Wörter einschließlich Personennamen, Abbildungen, Buchstaben, Zahlen und die Form oder Aufmachung der Ware, soweit solche Zeichen geeignet sind, Waren oder Dienstleistungen eines Unternehmens von denjenigen anderer Unternehmen zu unterscheiden.

33      Art. 7 der Verordnung Nr. 207/2009 lautet:

„(1)      Von der Eintragung ausgeschlossen sind

a)      Zeichen, die nicht unter Artikel 4 fallen,

b)      Marken, die keine Unterscheidungskraft haben,

(3)      Die Vorschriften des Absatzes 1 Buchstaben b, c und d finden keine Anwendung, wenn die Marke für die Waren oder Dienstleistungen, für die die Eintragung beantragt wird, infolge ihrer Benutzung Unterscheidungskraft erlangt hat.“

34      Art. 4 der Verordnung Nr. 207/2009 ist somit zu entnehmen, dass ein Zeichen eine Unionsmarke sein kann, wenn es die in dieser Bestimmung genannten Voraussetzungen erfüllt, u. a. die, dass es sich grafisch darstellen lässt. Da die grafische Darstellung insbesondere den Zweck hat, die Marke selbst festzulegen, um den genauen Gegenstand des Schutzes zu bestimmen, den die eingetragene Marke ihrem Inhaber gewährt, muss sie klar, eindeutig, in sich abgeschlossen, leicht zugänglich, verständlich, dauerhaft und objektiv sein (Urteile vom 12. Dezember 2002, Sieckmann, C‑273/00, EU:C:2002:748, Rn. 48 und 55, und vom 6. Juni 2019, Deichmann/EUIPO, C‑223/18 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2019:471, Rn. 44; vgl. in diesem Sinne auch Urteil vom 29. Juli 2019, Red Bull/EUIPO, C‑124/18 P, EU:C:2019:641, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).

35      Nach Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 207/2009 sind „Marken“, die keine Unterscheidungskraft besitzen, somit von der Eintragung ausgeschlossen.

36      Daraus folgt, dass die Unterscheidungskraft eines Zeichens für die Zwecke seiner Eintragung als Unionsmarke erst dann beurteilt werden kann, wenn festgestellt wurde, dass es eine Marke im Sinne von Art. 4 der Verordnung Nr. 207/2009 ist, d. h. ab dem Zeitpunkt, zu dem festgestellt wurde, dass es sich im Sinne der Ausführungen oben in Rn. 34 grafisch darstellen lässt (Urteil vom 6. Oktober 2021, Darstellung von Spitzklammern zwischen zwei parallelen Linien, T‑124/20, nicht veröffentlicht, EU:T:2021:668, Rn. 46), was vom EUIPO im Wesentlichen eingeräumt wird.

37      Infolgedessen ist zwar, wie das EUIPO geltend macht, die Anmeldung einer Marke schon dann zurückzuweisen, wenn nur ein Eintragungshindernis vorliegt (Urteil vom 19. September 2002, DKV/HABM, C‑104/00 P, EU:C:2002:506, Rn. 28). Wie oben aus Rn. 36 hervorgeht, setzt allerdings die Prüfung des absoluten Eintragungshindernisses wegen fehlender Unterscheidungskraft wie die im vorliegenden Fall von der Beschwerdekammer vorgenommene Prüfung voraus, dass die angegriffene Marke die in Art. 4 der Verordnung Nr. 207/2009 vorgesehenen Voraussetzungen erfüllt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2021, Darstellung von Spitzklammern zwischen zwei parallelen Linien, T‑124/20, nicht veröffentlicht, EU:T:2021:668, Rn. 56).

38      Im vorliegenden Fall geht aus Rn. 58 der angefochtenen Entscheidung hervor (siehe oben, Rn. 22), dass die Beschwerdekammer nicht geprüft hat, ob das angemeldete Zeichen eine Marke darstellen kann, da sie eine solche Prüfung in Anbetracht ihrer Schlussfolgerung, dass dieses Zeichen keine Unterscheidungskraft besitze, für irrelevant hielt. Entgegen dem, was aus den Erwägungen oben in Rn. 36 zu den Regeln für die Prüfung von Anmeldungen im Hinblick auf die in Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 207/2009 genannten absoluten Eintragungshindernisse folgt, hat die Beschwerdekammer somit die Unterscheidungskraft dieses Zeichens geprüft, ohne zuvor untersucht zu haben, ob dieses eine Marke darstellen kann.

39      Das EUIPO räumt zwar ein, dass „grundsätzlich“ die Prüfung der Unterscheidungskraft einer Marke voraussetzt, dass diese die Voraussetzungen erfüllt, die sich aus Art. 4 und Art. 7 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 207/2009 ergeben. Im vorliegenden Fall habe die Beschwerdekammer aber dadurch, dass sie nicht so vorgegangen sei, keinen Fehler begangen, da sie die Anwendung von Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 207/2009 so umfassend wie nur möglich geprüft habe, und zwar im Hinblick „auf sämtliche Schutzgegenstände und Markenformen, welche das [in Rede stehende] Zeichen hypothetisch aufweisen konnte“, und die Beschwerde somit in einer für die Klägerin günstigen Art und Weise geprüft habe. Die Beschwerdekammer habe das Zeichen zum einen auf der Grundlage seiner grafischen Darstellung sowie des Teils der Beschreibung, die dieser entspreche, und zum anderen unter Berücksichtigung der Beschreibung geprüft, die dieser Darstellung nicht entspreche, nämlich soweit der Tasteindruck beschrieben werde.

40      Hierzu ist festzustellen, dass auch unter der Annahme, dass die Beschwerdekammer die eventuelle Unterscheidungskraft der verschiedenen hypothetischen Formen, die das angemeldete Zeichen annehmen konnte, tatsächlich geprüft hat, was aus der angefochtenen Entscheidung allerdings nicht eindeutig hervorgeht, eine solche Prüfung die Beschwerdekammer nicht von ihrer Pflicht nach der Verordnung Nr. 207/2009 zur Prüfung der absoluten Eintragungshindernisse entbindet.

41      Des Weiteren ist darauf hinzuweisen, dass für die Beurteilung, ob eine Marke Unterscheidungskraft hat, auf den von ihr hervorgerufenen Gesamteindruck abzustellen ist (vgl. Urteil vom 25. Oktober 2007, Develey/HABM, C‑238/06 P, EU:C:2007:635, Rn. 82 und die dort angeführte Rechtsprechung).

42      Im vorliegenden Fall wird der Schutz gemäß der Anmeldung sowohl für ein Element der Struktur der Strahlregler als auch für den haptischen Aspekt des in Rede stehenden Zeichens beansprucht (siehe oben, Rn. 3). Daraus folgt, dass die Beschwerdekammer die Unterscheidungskraft dieses Zeichens jedenfalls nicht unter selektiver Zugrundelegung bestimmter Aspekte des Zeichens, insbesondere unter Ausschluss seines haptischen Aspekts, prüfen durfte. Zudem gehört das vom EUIPO in der mündlichen Verhandlung vorgebrachte Argument, wonach die Beschwerdekammer die Auffassung vertreten habe, dass der haptische Eindruck des angemeldeten Zeichens nicht seiner grafischen Darstellung entspreche, sondern sich lediglich aus seiner Beschreibung ergebe, zur Prüfung der Anwendung von Art. 4 der Verordnung Nr. 207/2009 und Art. 7 Abs. 1 Buchst. a dieser Verordnung.

43      Dem Vorbringen des EUIPO kann daher nicht gefolgt werden.

44      Das EUIPO macht auch geltend, dass sich die Erwägungen oben in Rn. 36, die vom Gericht im Urteil vom 6. Oktober 2021, Darstellung von Spitzklammern zwischen zwei parallelen Linien (T‑124/20, nicht veröffentlicht, EU:T:2021:668), herausgearbeitet worden seien, auf ein Nichtigkeitsverfahren bezögen und auf den vorliegenden Fall nicht angewendet werden könnten. Dieses Argument ist nicht stichhaltig. Entgegen dem, was das EUIPO vorzutragen scheint, darf nämlich die Prüfung, ob der Eintragung eines Zeichens absolute Eintragungshindernisse entgegenstehen, nicht nach anderen Grundsätzen als denen durchgeführt werden, die auf die Prüfung des Vorliegens dieser Hindernisse anwendbar sind, wenn sie, wie in der Rechtssache, in der dieses Urteil ergangen ist, zur Stützung eines Nichtigkeitsantrags geltend gemacht werden.

45      Des Weiteren kann dem Vorbringen des EUIPO, dass im Gegensatz zur Rechtssache, in der das Urteil vom 6. Oktober 2021, Darstellung von Spitzklammern zwischen zwei parallelen Linien (T‑124/20, nicht veröffentlicht, EU:T:2021:668), ergangen sei, im vorliegenden Fall die durch Benutzung des angemeldeten Zeichens erlangte Unterscheidungskraft nicht in Rede stehe, auch nicht gefolgt werden. Zwar sind nämlich die Erwägungen oben in Rn. 36 besonders relevant, wenn sich ein Anmelder auf die durch Benutzung erlangte Unterscheidungskraft der betreffenden Marke beruft, da gemäß Art. 7 Abs. 3 der Verordnung Nr. 207/2009 bei Unterscheidungskraft durch Benutzung – ihr Nachweis unterstellt – das in Art. 7 Abs. 1 Buchst. b dieser Verordnung genannte absolute Eintragungshindernis unanwendbar ist. Allerdings ist das diesen Erwägungen zugrunde liegende Interesse nicht auf solche Umstände zu reduzieren. Denn die Definition des Gegenstands des von der Eintragung eines Zeichens als Unionsmarke im Sinne von Art. 4 der Verordnung Nr. 207/2009 verliehenen Schutzes (siehe oben, Rn. 34) ist auch erforderlich, bevor deren originäre Unterscheidungskraft geprüft wird, wie oben aus Rn. 36 hervorgeht.

46      Außerdem ist festzustellen, dass die Beschwerdekammer im vorliegenden Fall in den Rn. 51 bis 54 der angefochtenen Entscheidung ergänzend geprüft hat, ob die angemeldete Marke im Sinne von Art. 7 Abs. 3 der Verordnung Nr. 207/2009 Unterscheidungskraft durch Benutzung erlangt hat. Eine solche Prüfung ist jedoch gar nicht denkbar, wenn das in Rede stehende Zeichen nicht im Sinne von Art. 4 dieser Verordnung grafisch dargestellt werden kann und infolgedessen gemäß Art. 7 Abs. 1 Buchst. a dieser Verordnung von der Eintragung ausgeschlossen werden muss (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2021, Darstellung von Spitzklammern zwischen zwei parallelen Linien, T‑124/20, nicht veröffentlicht, EU:T:2021:668, Rn. 47).

47      Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass die Auslegung der maßgeblichen Rechtsvorschriften und insbesondere der Frage, ob das Zeichen, dessen Eintragung als Unionsmarke beantragt wird, die in Art. 4 der Verordnung Nr. 207/2009 genannten Voraussetzungen, u. a. die, dass es sich grafisch darstellen lässt, erfüllt und daher eine Marke sein kann, im vorliegenden Fall eine Vorfrage ist, deren Beantwortung für die Prüfung der Klagegründe eines Verstoßes gegen Art. 7 Abs. 1 Buchst. b und Art. 95 Abs. 1 der Verordnung Nr. 207/2009 erforderlich ist.

48      Infolgedessen würde das Gericht sein der Rechtmäßigkeitsprüfung verpflichtetes Richteramt offensichtlich verkennen, wenn es zum einen, selbst wenn die Parteien dies nicht gerügt haben, nicht feststellen würde, dass die angefochtene Entscheidung auf der Grundlage einer Vorschrift, und zwar Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 207/2009, erlassen wurde, die sich als auf den vorliegenden Fall unanwendbar herausstellen könnte, falls, was die Beschwerdekammer nicht geprüft hat, das angemeldete Zeichen keine Marke im Sinne von Art. 4 dieser Verordnung sein sollte, und wenn es zum anderen dazu veranlasst würde, über den ihm vorgelegten Rechtsstreit zu entscheiden, indem es selbst diese Vorschrift anwendet.

49      Daher ist der Klagegrund des Verstoßes gegen den Geltungsbereich von Rechtsvorschriften von Amts wegen zu prüfen.

 Zur Begründetheit des Klagegrundes, mit dem ein Verstoß gegen den Geltungsbereich von Rechtsvorschriften gerügt wird

50      Wie oben aus den Rn. 36 und 47 hervorgeht, ist für die Entscheidung, ob Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 207/2009 im vorliegenden Fall auf die Prüfung der Anmeldung anwendbar ist, zu untersuchen, ob das angemeldete Zeichen die in Art. 4 dieser Verordnung genannten Voraussetzungen für die Eintragung erfüllt, und zwar insbesondere, ob es sich im Sinne der Ausführungen oben in Rn. 34 grafisch darstellen lässt.

51      Die Klägerin trägt vor, dass die grafische Darstellung des als Unionsmarke angemeldeten Zeichens unter Beifügung ihrer Beschreibung – insbesondere hinsichtlich der Tatsache, dass die es bildenden Lamellen elastisch und durch Drücken mit einem Finger gegen die Unterlage und parallel zur Unterlage verformbar seien – für die Darstellung dieses Zeichens und auch des von ihm hervorgerufenen haptischen Eindrucks ausreichend sei. Sie hat außerdem auf ihre Stellungnahme verwiesen, die sie im Rahmen ihrer Beschwerdebegründung vom 22. Januar 2020 vor der Beschwerdekammer abgegeben hat (siehe oben, Rn. 21).

52      Das EUIPO trägt vor, dass der vom angemeldeten Zeichen hervorgerufene haptische Eindruck nicht aus dessen grafischer Darstellung hervorgehe, sondern lediglich aus der dieser Darstellung beigefügten Beschreibung. Diese Beschreibung dürfe gemäß Art. 3 Abs. 2 der Durchführungsverordnung (EU) 2018/626 der Kommission vom 5. März 2018 mit Einzelheiten zur Umsetzung von Bestimmungen der Verordnung (EU) 2017/1001 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Unionsmarke und zur Aufhebung der Durchführungsverordnung (EU) 2017/1431 (ABl. 2018, L 104, S. 37) nicht berücksichtigt werden, da sie den Gegenstand des beanspruchten Schutzes, wie er aus der grafischen Darstellung des Zeichens hervorgehe, erweitere.

53      Einleitend ist festzustellen, dass Art. 3 der Verordnung 2018/626 zu deren Titel II gehört. Diese Verordnung war zwar zum Zeitpunkt des Erlasses der angefochtenen Entscheidung in Kraft, ihr Art. 39 Abs. 2 Buchst. a sieht jedoch vor, dass dieser Titel II nicht für Anmeldungen einer Unionsmarke gilt, die vor dem 1. Oktober 2017 eingereicht wurden. Entgegen dem, was das Vorbringen des EUIPO voraussetzt, ist diese Verordnung im vorliegenden Fall nicht anwendbar, da die Anmeldung der in Rede stehenden Marke am 1. September 2016 eingereicht wurde. Des Weiteren gelten gemäß den in Art. 37 der Durchführungsverordnung 2018/626 vorgesehenen Übergangsmaßnahmen die Vorschriften der Verordnung Nr. 2868/95 weiterhin für laufende Verfahren, für die die vorliegende Verordnung nicht gilt, bis diese Verfahren abgeschlossen sind.

54      Ferner ist darauf hinzuweisen, dass gemäß der Anmeldung der in Rede stehenden Marke der Schutz sowohl für die Struktur der Strahlregler als auch für den haptischen Aspekt des Zeichens beansprucht wird. Darüber hinaus hat die Klägerin in Beantwortung einer mündlichen Frage des Gerichts in der mündlichen Verhandlung bestätigt, dass diese beiden Aspekte der Marke, und zwar die Tatsache, dass es sich um eine Positionsmarke handele, und ihren haptischen Aspekt, für die Zwecke ihrer Anmeldung gleichermaßen bedeutsam seien und dass die Kombination dieser Elemente dafür also entscheidend sein müsse.

55      In Bezug auf die Frage, ob das angemeldete Zeichen die in Art. 4 der Verordnung Nr. 207/2009 genannten Voraussetzungen erfüllt, ist somit festzustellen, dass die Struktur dieses Zeichens, das an der Stirnseite eines zur Wasserführung bestimmten zylindrischen sanitären Einsatzteils angeordnet ist, zwar grafisch dargestellt werden kann, soweit es aus kreisförmigen und konzentrischen Lamellen von wenigen Millimetern Höhe im gesamten Bereich der Stirnseite besteht, wie aus der oben in Rn. 2 wiedergegebenen Darstellung hervorgeht. Dies ist jedoch, wie das EUIPO einräumt (siehe oben, Rn. 39 und 52), bei dem von dieser Struktur hervorgerufenen haptischen Eindruck nicht der Fall, was die Elastizität der Lamellen betrifft, die mit einem Finger gegen die Unterlage und parallel zur Unterlage verformbar sind. Wie oben in Rn. 34 erläutert wurde, kann ein Zeichen eine Unionsmarke sein, wenn es die in dieser Bestimmung genannten Voraussetzungen erfüllt, u. a. die, dass es sich grafisch darstellen lässt, wobei diese grafische Darstellung einer Marke außerdem klar, eindeutig, in sich abgeschlossen, leicht zugänglich, verständlich, dauerhaft und objektiv sein muss.

56      Zwar kann nach Regel 3 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2868/95 die Anmeldung „eine Beschreibung der Marke enthalten“. Folglich muss, wie die Klägerin im Wesentlichen geltend macht (siehe oben, Rn. 51), wenn eine Anmeldung eine Beschreibung enthält, diese Beschreibung zusammen mit der grafischen Darstellung geprüft werden (vgl. Urteil vom 19. Juni 2019, adidas/EUIPO – Shoe Branding Europe [Darstellung dreier parallel laufender Streifen], T‑307/17, EU:T:2019:427, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung). Wird der Anmeldung eine verbale Beschreibung des Zeichens beigefügt, so muss diese allerdings nach der Rechtsprechung zur Klarstellung von Gegenstand und Reichweite des beantragten markenrechtlichen Schutzes beitragen und darf weder im Widerspruch zu der grafischen Darstellung einer Marke stehen noch Zweifel in Bezug auf Gegenstand und Reichweite dieser grafischen Darstellung wecken (vgl. Urteil vom 29. Juli 2019, Red Bull/EUIPO, C‑124/18 P, EU:C:2019:641, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).

57      Im vorliegenden Fall geht der vom angemeldeten Zeichen hervorgerufene haptische Eindruck nicht eindeutig und in sich abgeschlossen aus der grafischen Darstellung dieses Zeichens selbst hervor, sondern allenfalls aus der ihm beigefügten Beschreibung. Folglich stellt diese Beschreibung die grafische Darstellung des Zeichens nicht klar im Sinne der oben in Rn. 56 angeführten Rechtsprechung, sondern kann vielmehr Zweifel in Bezug auf Gegenstand und Reichweite dieser grafischen Darstellung wecken, soweit sie versucht, den Gegenstand des beantragten Schutzes, wie das EUIPO im Wesentlichen geltend macht, zu erweitern.

58      Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass das angemeldete Zeichen nicht die in Art. 4 der Verordnung Nr. 207/2009 genannten Voraussetzungen erfüllt und ihm folglich das absolute Eintragungshindernis im Sinne von Art. 7 Abs. 1 Buchst. a dieser Verordnung entgegensteht.

59      Diese Schlussfolgerung lässt die Auslegung und Anwendung von Art. 4 und Art. 7 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung 2017/1001 in den Fällen, die in den zeitlichen Anwendungsbereich dieser Verordnung fallen, unberührt.

60      Daraus folgt, wie oben aus den Rn. 36 und 37 hervorgeht, dass Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 207/2009 auf die Prüfung der Anmeldung des in Rede stehenden Zeichens als Unionsmarke keine Anwendung finden konnte. Infolgedessen durfte die Beschwerdekammer diese Bestimmung auf die Entscheidung über die Zurückweisung der Beschwerde gegen die Entscheidung der Prüferin, mit der die Eintragung dieses Zeichens abgelehnt wurde, nicht anwenden.

61      Es ist daher festzustellen, dass die angefochtene Entscheidung unter Verstoß gegen den Geltungsbereich von Rechtsvorschriften erlassen wurde und deshalb aufzuheben ist, ohne dass die Zulässigkeit der Proben geprüft zu werden braucht, die von der Klägerin mit ihrem bei der Kanzlei des Gerichts am 15. April 2022 eingereichten Schreiben vorgelegt worden sind.

 Kosten

62      Nach Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichts ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da das EUIPO unterlegen ist, sind ihm gemäß dem Antrag der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.

Aus diesen Gründen hat

DAS GERICHT (Zehnte erweiterte Kammer)

für Recht erkannt und entschieden:

1.      Die Entscheidung der Fünften Beschwerdekammer des Amtes der Europäischen Union für geistiges Eigentum (EUIPO) vom 3. Juni 2021 (Sache R 2327/2019-5) wird aufgehoben.

2.      Das EUIPO trägt die Kosten.

Kornezov

Buttigieg

Kowalik-Bańczyk

Hesse

 

Petrlík

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 7. Dezember 2022.

Der Kanzler

 

Der Präsident

E. Coulon

 

S. Papasavvas


*      Verfahrenssprache: Deutsch.