Language of document : ECLI:EU:C:2018:255

Rechtssache C441/17

Europäische Kommission

gegen

Republik Polen

„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Umwelt – Richtlinie 92/43/EWG – Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen – Art. 6 Abs. 1 und 3 – Art. 12 Abs. 1 – Richtlinie 2009/147/EG – Erhaltung der wildlebenden Vogelarten – Art. 4 und 5 – Natura-2000-Gebiet ‚Puszcza Białowieska‘ – Änderung des Waldbewirtschaftungsplans – Erhöhung der Hiebsatzes – Plan oder Projekt, der bzw. das nicht unmittelbar für die Verwaltung des Gebiets notwendig ist, es jedoch erheblich beeinträchtigen könnte – Angemessene Verträglichkeitsprüfung – Beeinträchtigung des Gebiets als solches – Wirksame Durchführung der Erhaltungsmaßnahmen – Auswirkungen auf die Fortpflanzungs- und Ruhestätten der geschützten Arten“

Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 17. April 2018

1.        Vertragsverletzungsklage – Streitgegenstand – Bestimmung während des Vorverfahrens – Berücksichtigung von Tatsachen, die nach Abgabe der mit Gründen versehenen Stellungnahme eingetreten sind – Voraussetzungen – Umstände, die von derselben Art sind wie die, auf die ursprünglich abgestellt wurde, und die demselben Verhalten zugrunde liegen

(Art. 258 AEUV)

2.        Umwelt – Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen – Richtlinie 92/43 – Angemessene Verträglichkeitsprüfung eines Plans oder Projekts – Bestimmung der Umstände, die die für das Gebiet festgelegten Erhaltungsziele gefährden können – Berücksichtigung der Auswirkungen, die der Plan in Zusammenwirkung mit anderen relevanten Plänen oder Projekten hat

(Richtlinie 92/43 des Rates, Art. 6 Abs. 3)

3.        Umwelt – Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen – Richtlinie 92/43 – Besondere Schutzgebiete – Verpflichtungen der Mitgliedstaaten – Prüfung der Verträglichkeit eines Projekts mit einem Gebiet – Genehmigung eines Plans oder Projekts in einem geschützten Gebiet – Voraussetzung – Keine nachteiligen Auswirkungen auf das Gebiet als solches

(Richtlinie 92/43 des Rates, Art. 6 Abs. 3)

4.        Umwelt – Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen – Richtlinie 92/43 – Besondere Schutzgebiete – Verpflichtung der Mitgliedstaaten, die Verschlechterung der natürlichen Lebensräume und der Habitate der Arten zu vermeiden – Vertragsverletzung – Der Kommission obliegende Beweislast – Umfang – Erforderlichkeit des Nachweises eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen einem Bauprojekt und einer Störung der betroffenen Arten – Fehlen

(Richtlinie 92/43 des Rates, Art. 6 Abs. 3)

5.        Umwelt – Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen – Richtlinie 92/43 – Genehmigung eines Plans oder Projekts für ein Schutzgebiet aus zwingenden Gründen des überwiegenden öffentlichen Interesses – Voraussetzung – Vorherige Feststellung der Auswirkungen des Plans oder Projekts auf das Schutzgebiet

(Richtlinie 92/43 des Rates, Art. 6 Abs. 3 und 4)

6.        Umwelt – Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen – Richtlinie 92/43 – Besondere Schutzgebiete – Verpflichtungen der Mitgliedstaaten – Umfang – Wirksame Durchführung der Erhaltungsmaßnahmen

(Richtlinie 2009/147 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 4 Abs. 1 und 2; Richtlinie 92/43 des Rates, Art. 1 Abs. 1 Buchst. l und Art. 6 Abs. 1)

7.        Umwelt – Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen – Richtlinie 92/43 – Strenger Schutz für die in Anhang IV Buchst. a genannten Tierarten – Bedeutung – Notwendige Maßnahmen zur Einführung eines Schutzsystems – Häufiges Vorkommen der Arten – Keine Auswirkung

(Richtlinie 92/43 des Rates, Art. 12 Abs. 1 Buchst. a und d und Anhang IV Buchst. a)

8.        Umwelt – Erhaltung der wildlebenden Vogelarten – Richtlinie 2009/147 – Erforderliche Maßnahmen zur Schaffung einer allgemeinen Schutzregelung – Verpflichtungen der Mitgliedstaaten – Umfang – Berücksichtigung der Auswirkungen auf die Fortpflanzungs- und Ruhestätten der geschützten Arten

(Richtlinie 2009/147 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 5 Buchst. b und d)

1.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 64-67)

2.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 113, 114, 133-144)

3.      Die Genehmigung eines Plans oder Projekts im Sinne von Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 92/43 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen in der durch die Richtlinie 2013/17 geänderten Fassung darf nur unter der Voraussetzung erteilt werden, dass die zuständigen Behörden Gewissheit darüber erlangt haben, dass sich der Plan oder das Projekt nicht dauerhaft nachteilig auf das betreffende Gebiet als solches auswirkt. Dies ist dann der Fall, wenn aus wissenschaftlicher Sicht kein vernünftiger Zweifel daran besteht, dass es keine solchen Auswirkungen gibt. Die zuständigen nationalen Behörden dürfen daher keine Eingriffe zulassen, die die ökologischen Merkmale von Gebieten, in denen natürliche Lebensraumtypen vorkommen, die von gemeinschaftlichem Interesse oder prioritär sind, dauerhaft beeinträchtigen könnten, was insbesondere dann der Fall ist, wenn der Lebensraumtyp durch den Eingriff verschwinden oder teilweise irreparabel zerstört werden könnte.

Bei Maßnahmen der aktiven Waldbewirtschaftung der Entfernung und des Einschlags einer erheblichen Zahl von Bäumen in einem Natura-2000-Gebiet besteht bereits aufgrund der Art der Maßnahmen die Gefahr, dass die ökologischen Merkmale des Gebiets dauerhaft beeinträchtigt werden, da sie zum Verschwinden oder zu einer teilweisen irreparablen Zerstörung der in dem Gebiet vorkommenden geschützten Lebensräume und Arten führen könnten.

(vgl. Rn. 117, 119, 164)

4.      Für den Nachweis eines Verstoßes gegen Art. 6 Abs. 3 Satz 2 der Richtlinie 92/43 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen in der durch die Richtlinie 2013/17 geänderten Fassung braucht die Kommission in Anbetracht des Vorsorgegrundsatzes, der in dieser Bestimmung enthalten ist, keinen ursächlichen Zusammenhang zwischen den betreffenden Maßnahmen und der Beeinträchtigung der Lebensräume und Arten als solcher darzutun. Es genügt, wenn sie nachweist, dass die Wahrscheinlichkeit oder die Gefahr besteht, dass die Maßnahmen eine solche Beeinträchtigung verursachen.

(vgl. Rn. 158)

5.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 188-191)

6.      Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 92/43 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen in der durch die Richtlinie 2013/17 geänderten Fassung und Art. 4 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2009/147 über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten in der durch die Richtlinie 2013/17 geänderten Fassung verlangen nicht nur, dass die Erhaltungsmaßnahmen festgelegt werden, die zur Wahrung eines günstigen Erhaltungszustands der geschützten Lebensräume und Arten, die in dem betreffenden Gebiet vorkommen, nötig sind, sondern auch und vor allem, dass die Maßnahmen wirksam durchgeführt werden. Sonst hätten die genannten Vorschriften keine praktische Wirksamkeit. Diese Auslegung findet eine Stütze in Art. 1 Abs. 1 Buchst. l der Richtlinie 92/43, in dem ein besonderes Schutzgebiet als ein Gebiet von gemeinschaftlicher Bedeutung, in dem Erhaltungsmaßnahmen durchgeführt werden, definiert ist, ferner im achten Erwägungsgrund der Richtlinie, in dem es heißt, dass in jedem ausgewiesenen Gebiet entsprechend den einschlägigen Erhaltungszielen die erforderlichen Maßnahmen durchzuführen sind.

Maßnahmen der aktiven Waldbewirtschaftung, deren Durchführung zur Zerstörung eines Teils eines Natura-2000-Gebiets führt, können deshalb keine Maßnahmen zur Erhaltung dieses Gebiets im Sinne von Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 92/43 sein.

(vgl. Rn. 213, 214, 218)

7.      Um Art. 12 Abs. 1 Buchst. a und d der Richtlinie 92/43 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen in der durch die Richtlinie 2013/17 geänderten Fassung nachzukommen, müssen die Mitgliedstaaten nicht nur einen vollständigen gesetzlichen Rahmen schaffen, sondern auch konkrete besondere Schutzmaßnahmen durchführen. Desgleichen setzt das strenge Schutzsystem den Erlass kohärenter und koordinierter vorbeugender Maßnahmen voraus. Ein solches strenges Schutzsystem muss also im Stande sein, tatsächlich absichtliche Formen des Fangs oder der Tötung von aus der Natur entnommenen Exemplaren und die Beschädigung oder Vernichtung der Fortpflanzungs- oder Ruhestätten der in Anhang IV Buchst. a der Richtlinie 92/43 genannten Tierarten zu verhindern.

Dass die betreffenden Arten in dem betreffenden Natura-2000-Gebiet häufig vorkommen, ist insoweit ohne Belang. Art. 12 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 92/43 sieht nämlich ein strenges System des Schutzes der Fortpflanzungs- oder Ruhestätten der in Anhang IV Buchst. a der Richtlinie 92/43 genannten Arten vor, unabhängig von der Größe der jeweiligen Populationen.

(vgl. Rn. 231, 237)

8.      Nach Art. 5 der Richtlinie 2009/147 über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten in der durch die Richtlinie 2013/17 geänderten Fassung sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, einen vollständigen und wirksamen Rechtsrahmen zu erlassen. Sie müssen konkrete, spezifische Schutzmaßnahmen ergreifen, mit denen gewährleistet wird, dass die Verbote von Art. 5 Buchst. b und d der Richtlinie 2009/147 zum Schutz der Fortpflanzungs- oder Ruhestätten der unter die Richtlinie 2009/147 fallenden Vögel tatsächlich beachtet werden. Die Verbote müssen ohne zeitliche Beschränkung gelten.

Ein Mitgliedstaat, der im Rahmen von Maßnahmen der aktiven Waldbewirtschaftung eine Abweichung vom Schutz der geschützter Vögel zulässt, indem er Maßnahmen trifft, deren Durchführung zwangsläufig zur Zerstörung oder Beschädigung der Fortpflanzungs- oder Ruhestätten der geschützten Vogelarten führen würde und die keine konkreten, spezifischen Schutzmaßnahmen enthalten, mit denen gewährleistet wäre, dass von ihrem Anwendungsbereich absichtliche Eingriffe in das Leben und den Lebensraum der geschützten Vögel ausgeschlossen sind und dass das Verbot der absichtlichen Zerstörung oder Beschädigung von Nestern und Eiern und der Entfernung von Nestern sowie das Verbot ihres absichtlichen Störens, insbesondere während der Brut- und Aufzuchtzeit, tatsächlich beachtet werden, verstößt gegen diese Verpflichtung.

(vgl. Rn. 252, 255, 259)