SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
HENRIK SAUGMANDSGAARD ØE
vom 18. Mai 2017(1)(i)
Rechtssache C‑64/16
Associação Sindical dos Juízes Portugueses
gegen
Tribunal de Contas
(Vorabentscheidungsersuchen des Supremo Tribunal Administrativo [Oberstes Verwaltungsgericht, Portugal])
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – Wirksamer Rechtsschutz – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 47 – Richterliche Unabhängigkeit – Kürzung der Bezüge in der öffentlichen Verwaltung vorsehende nationale Regelung -Haushaltssparmaßnahmen“
I. Einleitung
1. Das Vorabentscheidungsersuchen des Supremo Tribunal Administrativo (Oberstes Verwaltungsgericht, Portugal) ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Associação Sindical dos Juízes Portugueses (Gewerkschaft der Portugiesischen Richter, im Folgenden: ASJP) und dem Tribunal de Contas (Rechnungshof, Portugal) über die Kürzung der Bezüge der Mitglieder des letzteren Gerichts, die sich aus einem Gesetz ergab, das vorübergehend die Vergütungen im öffentlichen Dienst kürzte, um die Folgen der Wirtschaftskrise in Portugal zu bekämpfen.
2. Das vorlegende Gericht fragt, ob eine solche nationale Regelung mit dem Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit vereinbar ist, wie er sich sowohl aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV(2) als auch aus Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta)(3) und der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergebe.
3. Bevor ich die Sachgründe darlege, aus denen meiner Ansicht nach die Vorlagefrage zu verneinen ist, werde ich die in der vorliegenden Rechtssache erhobenen Rügen der Unzulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens und einer offensichtlichen Unzuständigkeit des Gerichtshofs prüfen.
II. Rechtlicher Rahmen
A. Unionsrecht
4. Die wesentlichen Unionsrechtsakte zur Beseitigung des übermäßigen Defizits der Portugiesischen Republik und zur Gewährung eines finanziellen Beistands, die in der vorliegenden Rechtssache angeführt werden, sind folgende:
– Beschluss 2010/288/EU des Rates vom 2. Dezember 2009 über das Bestehen eines übermäßigen Defizits in Portugal(4);
– Verordnung (EU) Nr. 407/2010 des Rates vom 11. Mai 2010 zur Einführung eines europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus(5);
– am 17. Mai 2011 zwischen der portugiesischen Regierung, der Europäischen Kommission, dem Internationalen Währungsfonds (im Folgenden: IWF) und der Europäischen Zentralbank (im Folgenden: EZB) unterzeichnete Einigung über die wirtschaftliche und finanzielle Sanierung, die üblicherweise als „Memorandum of Understanding“ bezeichnet wird(6);
– Durchführungsbeschluss 2011/344/EU des Rates vom 30. Mai 2011 über einen finanziellen Beistand der Union für Portugal(7), geändert u. a. durch den Durchführungsbeschluss 2012/409/EU des Rates vom 10. Juli 2012(8) und durch den Durchführungsbeschluss 2014/234/EU des Rates vom 23. April 2014(9);
– Empfehlung des Rates vom 18. Juni 2013 mit dem Ziel, das übermäßige öffentliche Defizit in Portugal zu beenden(10).
B. Portugiesisches Recht
1. Gesetz Nr. 75/2014
5. Die Lei n.° 75/2014, estabelece os mecanismos das reduções remuneratórias temporárias e as condições da sua reversão (Gesetz Nr. 75/2014 zur Festlegung der Mechanismen zur vorübergehenden Kürzung der Bezüge und der Bedingungen für ihre Rückgängigmachung) vom 12. September 2014(11) (im Folgenden: Gesetz Nr. 75/2014) bezweckt nach ihrem Art. 1 Abs. 1, die vorübergehende Anwendung des Mechanismus zur Kürzung der Bezüge im öffentlichen Dienst zu bestimmen und die Grundsätze für ihre Rückgängigmachung festzulegen.
6. Art. 2 („Kürzung der Bezüge“)dieses Gesetzes hat folgenden Wortlaut:
„1 – Die monatlichen Gesamt-Bruttobezüge von Personen im Sinne von Abs. 9, die 1 500 Euro übersteigen, werden unabhängig davon, ob diese Personen zu diesem Zeitpunkt ihrer Tätigkeit nachgingen oder sie zu einem späteren Zeitpunkt, auf welcher Grundlage auch immer, aufgenommen haben, nach folgenden Maßgaben herabgesetzt:
a) um 3,5 % vom Gesamtbetrag der Bezüge von mehr als 1 500 Euro, aber weniger als 2 000 Euro;
b) um 3,5 % vom Betrag von 2 000 Euro zuzüglich 16 % vom Betrag der Gesamtbezüge, der 2 000 Euro übersteigt, was bei Bezügen, die zwischen 2 000 und 4 165 Euro liegen, zu einer Gesamtkürzung in Höhe von 3,5 % bis 10 % führt;
c) um 10 % vom Gesamtbetrag der Bezüge, die 4 165 Euro übersteigen.
…
9 – Das vorliegende Gesetz findet auf die Inhaber öffentlicher Ämter sowie die nachstehend genannten Personen Anwendung;
a) den Präsidenten der Republik;
b) den Präsidenten der Assembleia da República [(Parlament der Republik)];
c) den Premierminister;
d) die Abgeordneten der Assembleia da República;
e) die Regierungsmitglieder;
f) die Richter des Tribunal Constitucional [(Verfassungsgericht)] und des Tribunal de Contas [(Rechnungshof)], den Procurador-Geral da República [(Generalanwalt der Republik)], die Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit und die Angehörigen der Staatsanwaltschaft sowie die Richter der Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit und der Friedensgerichte;
g) die Vertreter der Republik für die Autonomen Regionen;
h) die Abgeordneten der gesetzgebenden Versammlungen der Autonomen Regionen;
i) die Mitglieder der Regionalregierungen;
j) die gewählten Amtsinhaber der lokalen Gebietskörperschaften;
k) die Amtsträger der sonstigen Verfassungsorgane, die von den vorstehenden Buchstaben nicht erfasst sind, sowie die Mitglieder der Leitungsorgane von unabhängigen Verwaltungseinrichtungen, insbesondere solcher, die ihre Aufgaben bei der Assembleia da República wahrnehmen;
l) die Mitglieder und Mitarbeiter der Kabinette, der Leitungsorgane und der Unterstützungskabinette, der unter den vorstehenden Buchstaben genannten Inhaber öffentlicher Ämter und Organe, des Präsidenten und des Vizepräsidenten des Conselho Superior da Magistratura [(Oberster Rat der Richterschaft)], des Präsidenten und des Vizepräsidenten des Conselho Superior dos Tribunais Administrativos e Fiscais [(Oberster Rat der Verwaltungs- und Finanzgerichte)], des Präsidenten des Supremo Tribunal de Justiça [(Oberster Gerichtshof)], des Präsidenten und der Richter des Tribunal Constitucional [(Verfassungsgericht)], des Präsidenten des Supremo Tribunal Administrativo [(Oberster Verwaltungsgerichtshof)], des Präsidenten des Tribunal de Contas [(Rechnungshof)], des Provedor de Justiça [(Ombudsmann)] und des Procurador-Geral da República [(Generalanwalt der Republik)];
m) die Mitglieder der Streitkräfte und der Guarda Nacional Republicana (GNR) [(Republikanische Nationalgarde)] einschließlich der Militärrichter und der Soldaten, die dem Beraterstab des Vertreters des öffentlichen Interesses in Verteidigungsangelegenheiten angehören, sowie sonstige militärische Verbände;
n) das leitende Personal der Dienste des Präsidenten der Republik und der Assembleia da República sowie anderer Unterstützungsdienste für Verfassungsorgane und der sonstigen Dienststellen und Einrichtungen der zentralen, regionalen und örtlichen Verwaltung des Staates sowie das Personal, das Aufgaben wahrnimmt, die den vorstehenden vergütungsrechtlich gleichgestellt sind;
o) die öffentlichen Verwalter und die ihnen gleichgestellten Personen, die Mitglieder der Ausführungs-, Beratungs-, Konsultativ- und Kontrollorgane sowie sämtlicher anderen statutarischen Organe von allgemeinen und besonderen öffentlichen Einrichtungen, von juristischen Personen des öffentlichen Rechts, die aufgrund ihrer Beteiligung an Regelungs-, Überwachungs- oder Kontrollaufgaben Unabhängigkeit genießen, von öffentlichen Unternehmen mit ausschließlich oder mehrheitlich öffentlichem Kapital, des öffentlichen Unternehmenssektors und der Einrichtungen, die dem regionalen und kommunalen Unternehmenssektor angehören, sowie von öffentlichen Stiftungen und sonstigen öffentlichen Einrichtungen;
p) Arbeitnehmer, die öffentliche Aufgaben beim Präsidenten der Republik, bei der Assembleia da República und bei anderen Verfassungsorganen wahrnehmen, sowie Arbeitnehmer, die öffentliche Aufgaben im Rahmen eines öffentlich-rechtlichen Beschäftigungsverhältnisses gleich welcher Art wahrnehmen, einschließlich der in einem Umschulungsverfahren oder in Sonderurlaub befindlichen Arbeitnehmer;
q) Arbeitnehmer öffentlich-rechtlicher Einrichtungen, die einer besonderen Regelung unterliegen, sowie juristischer Personen des öffentlichen Rechts, die aufgrund ihrer Beteiligung an Regelungs-, Überwachungs- oder Kontrollaufgaben Unabhängigkeit genießen, einschließlich unabhängiger Regulierungsstellen;
r) Arbeitnehmer öffentlicher Unternehmen mit ausschließlich oder mehrheitlich öffentlichem Kapital, des öffentlichen Unternehmenssektors und der Einrichtungen, die dem regionalen oder örtlichen unternehmerischen Sektor angehören;
s) Arbeitnehmer und leitendes Personal öffentlich-rechtlicher und privatrechtlicher öffentlicher Stiftungen sowie öffentlicher Einrichtungen, die nicht unter die vorstehenden Buchstaben fallen;
t) das Reservepersonal, das Personal im Vorruhestand und das Personal im Wartestand, das Geldleistungen bezieht, die nach Maßgabe der Diensteinkünfte des aktiven Dienstpersonals berechnet werden.
…
15 – Die Regelung nach diesem Artikel ist zwingend und hat Vorrang vor allen ihr entgegenstehenden Bestimmungen, unabhängig davon, ob es sich um besondere oder Ausnahmebestimmungen handelt, sowie vor Kollektivvereinbarungen und Arbeitsverträgen und kann durch diese weder aufgehoben noch geändert werden.“
2. Gesetz Nr. 159‑A/2015
7. Die Lei n.° 159‑A/2015, Extinção da redução remuneratória na Administração Pública (Gesetz Nr. 159‑A/2015 über die Aufhebung der Kürzung der Bezüge im öffentlichen Dienst) vom 30. Dezember 2015(12) (im Folgenden: Gesetz Nr. 159‑A/2015) beendete schrittweise ab dem 1. Januar 2016 die sich aus dem Gesetz Nr. 75/2014 ergebenden Kürzungsmaßnahmen.
8. Art. 2 dieses Gesetzes bestimmt, dass „[d]ie gemäß dem Gesetz Nr. 75[/2014] erfolgte Kürzung der Bezüge … im Jahr 2016 nach folgendem Zeitplan in Vierteljahresschritten aufgehoben [wird]:
a) Rückgängigmachung um 40 % für die ab 1. Januar 2016 gezahlten Bezüge;
b) Rückgängigmachung um 60 % für die ab 1. April 2016 gezahlten Bezüge;
c) Rückgängigmachung um 80 % für die ab 1. Juli 2016 gezahlten Bezüge;
d) vollständiger Wegfall der Kürzung der Bezüge ab 1. Oktober 2016.“
III. Ausgangsrechtsstreit, Vorlagefrage und Verfahren vor dem Gerichtshof
9. Die von der ASJP, handelnd im Namen einiger ihrer Mitglieder, die Richter am Tribunal de Contas (Rechnungshof) sind, erhobene besondere Verwaltungsklage ist auf die Aufhebung der nach Art. 2 des Gesetzes Nr. 75/2014 erlassenen Verwaltungsakte gerichtet, das eine vorübergehende Kürzung der Bezüge einführte, die an die in der portugiesischen öffentlichen Verwaltung tätigen Bediensteten, die in diesem Artikel aufgeführt sind und zu denen die Richter gehören, gezahlt werden(13). Die von dieser Vereinigung vertretenen Richter beantragen außerdem die Rückzahlung der von ihren Bezügen einbehaltenen Beträge zuzüglich Verzugszinsen zum gesetzlichen Zinssatz ab Oktober 2014 sowie die Feststellung ihres Anspruchs auf Zahlung ihrer Bezüge ohne diese Kürzung.
10. Zur Stützung dieser Klage macht die ASJP geltend, dass die streitigen Maßnahmen zur Kürzung der Bezüge gegen den „Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit“ verstießen, der in Art. 203 der Verfassung der Portugiesischen Republik niedergelegt(14) und sowohl in Art. 19 Abs. 1 EUV als auch in Art. 47 der Charta verankert sei.
11. In seiner Vorlageentscheidung legt das Supremo Tribunal Administrativo (Oberstes Verwaltungsgericht) dar, dass, da die Maßnahmen zur Ausgabenbegrenzung, die durch die im Ausgangsverfahren fragliche Kürzung der Bezüge konkretisiert würden, vor dem Hintergrund des Abbaus eines übermäßigen Defizits in Portugal – der von den Unionsorganen geregelt und überwacht werde –, gefolgt von einem finanziellem Beistand – der durch Unionsrechtsakte gewährt und geregelt werde –, ergriffen worden seien, sich kaum bestreiten lasse, dass diese Maßnahmen im Rahmen des Unionsrechts ergriffen worden seien oder zumindest einen unionsrechtlichen Ursprung hätten.
12. Es weist sodann darauf hin, dass die Ermessensspielräume bei der Umsetzung der Leitlinien für die Haushaltspolitik, auf die sich der portugiesische Staat mit den Unionsorganen geeinigt habe, den portugiesischen Staat jedoch nicht von der Verpflichtung entbänden, gemäß Art. 51 Abs. 1 der Charta die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts, zu denen der der richterlichen Unabhängigkeit gehöre, zu beachten.
13. Der effektive gerichtliche Schutz der Rechte, die sich aus der Unionsrechtsordnung ergäben, werde nämlich nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in erster Linie durch die nationalen Gerichte gewährleistet, und diese müssten dabei die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit an den Tag legen, auf die die Unionsbürger nach Art. 47 der Charta Anspruch hätten. Alles weise darauf hin, dass die Unabhängigkeit der Gerichte auch durch das Vorsehen von Garantien bezüglich des Status der Richter, insbesondere in wirtschaftlicher Hinsicht, erreicht werde; dies sei der Grund dafür, dass die einseitige und fortdauernde Kürzung der Bezüge der von der Klägerin des Ausgangsverfahrens vertretenen Personen beanstandet werde.
14. Daher hat das Supremo Tribunal Administrativo (Oberstes Verwaltungsgericht) mit Entscheidung vom 7. Januar 2016,die beim Gerichtshof am 5. Februar 2016 eingegangen ist, das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof die folgende Frage vorgelegt:
Ist angesichts der Erfordernisse des Abbaus des übermäßigen Haushaltsdefizits und des durch europäische Vorschriften geregelten finanziellen Beistands der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit, wie er sich aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, Art. 47 der Charta und der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt, in dem Sinne auszulegen, dass er den Maßnahmen zur Kürzung der Bezüge, denen die Richter in Portugal unterworfen sind, entgegensteht, die einseitig von anderen Gewalten/Verfassungsorganen fortdauernd auferlegt werden, wie sich aus Art. 2 des Gesetzes Nr. 75/2014 ergibt?
15. Die ASJP, die portugiesische Regierung und die Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. In der mündlichen Verhandlung vom 13. Februar 2017 waren die portugiesische Regierung und die Kommission vertreten.
IV. Würdigung
16. Bevor ich in der Sache zum Vorabentscheidungsersuchen Stellung nehme, weise ich darauf hin, dass in der vorliegenden Rechtssache zwei Prozesseinreden, zum einen der Unzulässigkeit dieses Ersuchens und zum anderen der Unzuständigkeit des Gerichtshofs, erhoben worden sind. Zur Reihenfolge, in der diese Einreden behandelt werden, weise ich darauf hin, dass die Zuständigkeit des Gerichtshofs grundsätzlich zuerst zu prüfen ist. Es scheint mir jedoch angebracht, in den vorliegenden Schlussanträgen zunächst die Zulässigkeit des Ersuchens zu behandeln, da diese hier weniger komplexe Fragen aufwirft als die Prüfung der Zuständigkeit des Gerichtshofs und weil diese Prüfung mit den Bestimmungen im Zusammenhang steht, um deren Auslegung gebeten wurde, so dass die Würdigung in der Sache unmittelbar an diese Prüfung anschließen wird.
A. Zur Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens
17. Die portugiesische Regierung und die Kommission haben zwei Arten von Rügen erhoben, die die Zulässigkeit des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens betreffen. Die erste betrifft eine ungenaue Begründung der Vorlageentscheidung, während die zweite den Umstand betrifft, dass die im Ausgangsrechtsstreit beanstandeten nationalen Maßnahmen zu dem Zeitpunkt, zu dem der Gerichtshof angerufen wurde, bereits aufgehoben worden waren.
1. Zu den Lücken der Vorlageentscheidung
18. In ihren schriftlichen und mündlichen Erklärungen macht die Kommission zunächst geltend, dass die Vorlageentscheidung mangelhaft sei, da sie insbesondere weder darlege, welche Rechtsprechung des Gerichtshofs für die Auslegung der in der Vorlagefrage genannten Bestimmungen des Unionsrechts relevant sei, noch die Gründe für die Wahl dieser Bestimmungen anführe(15), und dass sich der Gerichtshof folglich für die Beantwortung dieser Frage für unzuständig zu erklären habe.
19. Meines Erachtens betreffen diese Rügen zum Inhalt der Vorlageentscheidung jedoch eher die Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens als die Zuständigkeit des Gerichtshofs als solche(16).
20. Zwar ist es, wie die Kommission vorbringt, wichtig, dass das vorlegende Gericht sein Ersuchen klar und präzise abfasst, da dieses den einzigen Rechtsakt darstellt, der dem Verfahren vor dem Gerichtshof, sowohl für diesen als auch für die an diesem Verfahren Beteiligten, als Grundlage dient(17). Diese Anforderungen an den Inhalt eines Vorabentscheidungsersuchens sind ausdrücklich in Art. 94 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs aufgeführt, von dem das vorlegende Gericht im Rahmen der in Art. 267 AEUV vorgesehenen Zusammenarbeit Kenntnis haben sollte und den es sorgfältig zu beachten hat. Insbesondere ist es unerlässlich, dass die nationalen Gerichte in der Vorlageentscheidung selbst den Rechtsrahmen des Ausgangsrechtsstreits darlegen und dass sie nicht nur erläutern, aus welchen Gründen sie die Vorschriften des Unionsrechts, um deren Auslegung gebeten wird, ausgewählt haben, sondern auch, welches der Zusammenhang ist, den sie zwischen diesen Vorschriften und dem auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren nationalen Recht herstellen(18).
21. In der vorliegenden Rechtssache ist jedoch die Begründung der Vorlageentscheidung, insbesondere unter zwei wesentlichen Gesichtspunkten, besonders kurz, so dass man sich fragen kann, ob das in ihr enthaltene Vorabentscheidungsersuchen zulässig ist.
22. Erstens sind die Ausführungen des vorlegenden Gerichts zum Zusammenhang zwischen den streitigen nationalen Maßnahmen und den Bestimmungen, um deren Auslegung mit der Vorlagefrage ersucht wird – nämlich Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta –, nicht sehr deutlich, da es nur darauf hinweist, dass sich seiner Auffassung nach aus diesen Bestimmungen ein allgemeiner Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit ergebe, den diese Maßnahmen beeinträchtigt haben könnten(19), ohne dazu genaue Angaben zu machen.
23. Zweitens verweist die Vorlagefrage auf „Rechtsprechung des Gerichtshofs“, aus der sich dieser Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit ebenfalls ergeben soll, jedoch wird in der Begründung der Vorlageentscheidung keine Entscheidung des Gerichtshofs in diesem Sinne angeführt. Das vorlegende Gericht verweist lediglich auf das Vorliegen „zahlreicher Urteile“ des Gerichtshofs zum Begriff „Gericht“ im Sinne von Art. 267 AEUV, die die „Unabhängigkeit“ der Stelle, die ein Vorabentscheidungsersuchen vorgelegt habe, berücksichtigten, ohne jedoch ein bestimmtes, seines Erachtens einschlägiges Urteil anzuführen. Mangels angemessener Angaben ist meines Erachtens über diesen Gesichtspunkt der dem Gerichtshof vorgelegten Frage nicht zu entschieden.
24. Trotz der oben dargelegten Lücken der Vorlageentscheidung halte ich dennoch in Anbetracht der in dieser Entscheidung insgesamt angeführten und erörterten Umstände den Gerichtshof für ausreichend unterrichtet, um über die mögliche Auslegung von Art. 19 EUV und Art. 47 der Charta befinden und so die gestellte Frage sachdienlich beantworten zu können(20).
2. Zur Aufhebung der streitigen Regelung vor der Anrufung des Gerichtshofs
25. Die portugiesische Regierung bringt in ihren schriftlichen Erklärungen vor, das Vorabentscheidungsersuchen sei unzulässig, da es bei der Anrufung des Gerichtshofs aufgrund der innerstaatlichen Gesetzesänderungen in Portugal, die zur schrittweisen und vollständigen Wiederherstellung der Ansprüche im Bereich der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Bezüge im Lauf des Jahres 2016 geführt hätten, gegenstandslos geworden sei. Sie leitet daraus ab, dass der Gerichtshof nicht mehr auf die Vorlagefrage zu antworten brauche, da sie hypothetisch geworden sei(21).
26. In der mündlichen Verhandlung hat diese Regierung bestätigt, dass nach dem Gesetz Nr. 159‑A/2015 die Kürzung der Bezüge in der öffentlichen Verwaltung gemäß dem Gesetz Nr. 75/2014 zwischen 1. Januar und 1. Oktober 2016(22) schrittweise, aber nicht rückwirkend, vollständig weggefallen sei. Daraus folgt, dass der Verlust, den die von der Klägerin des Ausgangsverfahrens vertretenen Personen infolge der Kürzung ihrer Bezüge ab Oktober 2014 geltend machen, für die Vergangenheit und bis zum 1. Oktober 2016 fortbestand, zu welchem Zeitpunkt die vollständige Wiederherstellung des normalen Niveaus der Bezüge für alle in der öffentlichen Verwaltung tätigen Bediensteten, die von dieser Kürzung betroffen waren, erfolgte.
27. Die portugiesische Regierung hat jedoch geltend gemacht, dass die Vorlagefrage die Beeinträchtigung der richterlichen Unabhängigkeit betreffe, die durch das Gesetz Nr. 75/2014 bewirkt worden sein soll, und dieses etwaige Problem am Tag der Anrufung des Gerichtshofs, dem 5. Februar 2016, aufgrund der Beseitigung der Wirkungen dieses Gesetzes durch das Gesetz Nr. 159‑A/2015, das am 30. Dezember 2015 erlassen und am 1. Januar 2016 in Kraft getreten sei, bereits behoben gewesen sei. Die Folgen des Gesetzes Nr. 75/2014 vor seiner Aufhebung, die von der ASJP vorgebracht würden, seien zudem nur vermögensrechtlicher Natur, wobei diese Problematik ihrer Ansicht nach nicht zum Gegenstand des Vorabentscheidungsersuchens gehöre.
28. Insoweit weise ich darauf hin, dass eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen des nationalen Gerichts spricht, die es zur Auslegung des Unionsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen stellt, den es in eigener Verantwortung festgelegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat. Der Gerichtshof darf die Entscheidung über ein Ersuchen eines nationalen Gerichts nur dann verweigern, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn er nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind(23).
29. Nach ständiger Rechtsprechung folgt sowohl aus dem Wortlaut als auch aus der Systematik von Art. 267 AEUV, dass das Vorabentscheidungsverfahren voraussetzt, dass bei den nationalen Gerichten tatsächlich ein Rechtsstreit anhängig ist, in dem sie eine Entscheidung erlassen müssen, bei der die Vorabentscheidung berücksichtigt werden kann(24). Wenn daher der Ausgangsrechtsstreit zu dem Zeitpunkt, zu dem das vorlegende Gericht den Gerichtshof angerufen hat, bereits gegenstandslos geworden war, hat dieser das Vorabentscheidungsersuchen für unzulässig erklärt(25), wobei die Feststellung der Erledigung grundsätzlich auf Fälle beschränkt ist, in denen der relevante Vorfall oder das relevante Ereignis während des Verfahrens vor dem Gerichtshof eintrat(26).
30. Insbesondere äußert sich der Gerichtshof nicht zu einem Vorabentscheidungsersuchen, wenn die ursprünglich auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren nationalen Bestimmungen wegen ihrer Verfassungswidrigkeit aufgehoben oder verworfen wurden(27). Hingegen wurde entschieden, dass der Umstand, dass eine unmittelbar bevorstehende Änderung der fraglichen nationalen Rechtsvorschriften erfolgen solle, für die Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens unerheblich ist, wenn den Angaben in diesem zu entnehmen ist, dass eine Antwort des Gerichtshofs auf die vorgelegten Fragen für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits maßgebend ist(28).
31. In der vorliegenden Rechtssache ergibt sich meines Erachtens aus den dem Gerichtshof unterbreiteten Gesichtspunkten nicht, dass die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht oder das Problem hypothetischer Natur ist.
32. Entgegen dem Vorbringen der portugiesischen Regierung betrifft nämlich der Rechtsstreit, mit dem das vorlegende Gericht befasst ist, nicht die richterliche Unabhängigkeit als solche, da der Grundsatz dieser Unabhängigkeit nur als rechtlicher Klagegrund geltend gemacht wird, um die Aufhebung der angeblich rechtswidrigen Verwaltungsakte, aufgrund deren die Bezüge der von der ASJP vertretenen Personen gekürzt wurden, sowie die Rückzahlung der Beträge, die von ihren Bezügen zu Unrecht nach dem Gesetz Nr. 75/2014 einbehalten worden seien, zu erreichen.
33. Da außerdem das Gesetz Nr. 159‑A/2015, mit dem das vorgenannte Gesetz geändert wurde, zum Tag der Einreichung des Vorabentscheidungsersuchens die beanstandeten Kürzungen nicht vollständig beendet hatte, weder für die Vergangenheit noch für die unmittelbare Zukunft(29), bestand, wie mir scheint, zu diesem Zeitpunkt für das vorlegende Gericht, das es für möglich hält, dass die fragliche nationale Regelung gegen das Unionsrecht verstieß, weiterhin eine Verpflichtung, über den Gegenstand dieser Klage zu entscheiden, und daher für den Gerichtshof die Notwendigkeit, die Vorlagefrage zu beantworten.
34. Aufgrund all dieser Erwägungen bin ich der Ansicht, dass das Vorabentscheidungsersuchen zulässig ist.
B. Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs
35. Zur Stützung ihrer Klage im Ausgangsrechtsstreit macht die Klägerin des Ausgangsverfahrens die Rechtswidrigkeit der angefochtenen Verwaltungsakte mit der Begründung geltend, dass die nationale Regelung, die sie umsetzten, nämlich das Gesetz Nr. 75/2014, nicht mit dem Unionsrecht vereinbar sei, da es gegen den „Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit“ verstoße, wie er sich sowohl aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV als auch aus Art. 47 der Charta ergebe. Das vorlegende Gericht übernimmt diesen gemeinsamen Ansatz bezüglich dieser Bestimmungen nicht nur im Wortlaut der Vorlagefrage, sondern auch in deren Begründung.
36. Um über die von der portugiesischen Regierung und der Kommission erhobenen Einreden der Unzuständigkeit zu entscheiden, ist meines Erachtens Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV unabhängig von Art. 47 der Charta zu analysieren, da die Kriterien für die Anwendbarkeit dieser Bestimmungen und daher die Möglichkeit des Gerichtshofs, sie auszulegen, meiner Meinung nach unterschiedlich sind.
1. Zu Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV
37. In ihren schriftlichen und mündlichen Erklärungen haben die portugiesische Regierung und die Kommission nicht ausdrücklich die Gründe angegeben, aus denen der Gerichtshof ihrer Ansicht nach für die Auslegung von Art. 19 EUV für sich genommen unzuständig sein könnte. Sie haben nämlich ausführlich Argumente für den Gedanken vorgetragen, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung keine Maßnahme der Durchführung des Unionsrechts im Sinne von Art. 51 der Charta sei, woraus sich ergebe, dass keine Auslegung von Art. 47 der Charta vorzunehmen sei, und sie scheinen mir eine ähnliche Begründung zu Art. 19 EUV vorgeschlagen zu haben(30).
38. Ich bin jedoch der Ansicht, dass es angesichts des spezifischen Wortlauts von Art. 19 EUV, der sich von demjenigen von Art. 51 Abs. 1 der Charta – auf den ich später zurückkommen werde(31), wobei schon jetzt darauf hingewiesen sei, dass er den Anwendungsbereich der Charta auf Maßnahmen beschränkt, die die Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Unionsrechts treffen – unterscheidet, nicht möglich ist, diese Begründung auszudehnen oder entsprechend anzuwenden.
39. Ohne der Würdigung in der Sache vorzugreifen, die zur Bestimmung des Inhalts und der Tragweite von Art. 19 EUV führen wird(32), ist hier festzustellen, ob der Gerichtshof im vorliegenden Fall für die Auslegung dieses Artikels wegen seiner etwaigen Anwendbarkeit und insbesondere der seines in der Vorlagefrage angeführten Abs. 1 Unterabs. 2 in einem Kontext wie dem des Ausgangsrechtsstreits zuständig ist.
40. Nach diesem Unterabs. 2 „[schaffen d]ie Mitgliedstaaten … die erforderlichen Rechtsbehelfe, damit ein wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist“(33). Das letztere Element dieser Bestimmung scheint mir für die Beurteilung, ob der Gerichtshof die Möglichkeit hat, sich über ihre Auslegung in der vorliegenden Rechtssache zu äußern, entscheidend.
41. Die Gewährleistung wirksamen Rechtsschutzes, der den Zugang zu angemessenen Rechtsbehelfen umfasst, die die Einzelnen nach diesem Unterabsatz in Anspruch nehmen können müssen, wird meines Erachtens von den Mitgliedstaaten verlangt, wenn nationale Gerichte ihre Rechtsprechungstätigkeit im Rahmen der vom Unionsrecht erfassten Bereiche, also als Unionsgerichte, ausüben können. Ich denke, dass das bei Richtern, die von der im Ausgangsverfahren fraglichen Regelung betroffen sind, der Fall sein kann, da sie veranlasst sein könnten, Rechtsstreitigkeiten zu entscheiden, die in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen und für die die Möglichkeit, solche Rechtsbehelfe zu nutzen, sichergestellt sein muss.
42. Diese Feststellung reicht meiner Ansicht nach für die Annahme aus, dass der Gerichtshof in der vorliegenden Rechtssache für die Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV zuständig ist. Der Nachweis dieser Zuständigkeit ist nun für die erbetene Auslegung von Art. 47 der Charta zu erbringen, da die Kriterien für die Anwendung der letzteren Bestimmung nicht gleich abgefasst sind wie die, die für Art. 19 EUV gelten, selbst wenn das konkrete Ergebnis, zu dem die einen und die anderen führen, gleich ausfallen kann.
2. Zu Art. 47 der Charta
43. Nach ständiger Rechtsprechung finden die in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte, wie das „Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht“ nach Art. 47 der Charta, in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen, aber nicht außerhalb derselben Anwendung(34). Daher sieht Art. 51 Abs. 1 der Charta vor, dass ihre Bestimmungen für die Mitgliedstaaten ausschließlich „bei der Durchführung des Rechts der Union“, gemäß der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu diesem Begriff, gelten(35). Art. 6 Abs. 1 EUV, der der Charta einen verbindlichen Charakter verleiht, präzisiert ebenso wie Art. 51 Abs. 2 der Charta, dass durch deren Bestimmungen die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten der Union in keiner Weise erweitert werden. Wird folglich eine rechtliche Situation nicht vom Unionsrecht erfasst, ist der Gerichtshof nicht zuständig, um über sie zu entscheiden, und die möglicherweise angeführten Bestimmungen der Charta können als solche keine neue Zuständigkeit begründen(36).
44. In der vorliegenden Rechtssache machen sowohl die portugiesische Regierung als auch die Kommission geltend, dass die Bedingungen, die den Schluss erlauben würden, der Erlass und die Anwendung der Maßnahmen nach Art. 2 des Gesetzes Nr. 75/2014 durch die Portugiesische Republik stellten einen Fall der Durchführung des Unionsrechts im Sinne von Art. 51 der Charta dar, nicht erfüllt seien und der Gerichtshof daher für die Auslegung von Art. 47 der Charta offensichtlich unzuständig sei.
45. Ich weise darauf hin, dass sich der Gerichtshof für die Beantwortung früherer Vorabentscheidungsersuchen, die ebenfalls von portugiesischen Gerichten stammten, mit der Begründung für in der Sache offensichtlich unzuständig erklärt hatte, dass die Vorlageentscheidung keinen konkreten Anhaltspunkt dafür enthalten habe, dass die in diesen Rechtssachen fraglichen nationalen Maßnahmen, die den auf den vorliegenden Ausgangsrechtsstreit anwendbaren entsprechen(37), der Umsetzung von Unionsrecht im Sinne dieses Art. 51 gedient hätten(38). Allerdings ist die behauptete Unzuständigkeit des Gerichtshofs, anders als in diesen anderen Rechtssachen, hier nicht offensichtlich, da das vorlegende Gericht, wenn auch in relativ gedrängter Form, ausführlichere Angaben zum Vorliegen einer solchen Durchführung im vorliegenden Fall gemacht hat.
46. Das vorlegende Gericht legt nämlich dar, dass die Maßnahmen zur Kürzung der Bezüge, wie die in Art. 2 des Gesetzes Nr. 75/2014 vorgesehenen, mit den Erfordernissen der Haushaltskonsolidierung gerechtfertigt worden seien, und listet sodann die Unionsrechtsakte auf, die das übermäßige Defizit des portugiesischen Staates und den finanziellen Beistand, der ihm gewährt wurde, betreffen(39). Es ist jedoch nicht leicht, die Gründe festzustellen, aus denen dieses Gericht der Ansicht ist, dass ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Maßnahmen und den einzelnen Bestimmungen des Unionsrechts besteht, da es wenige Informationen zu diesem Thema liefert(40).
47. Die Vorlageentscheidung führt nämlich nicht aus, in welchen Rechtsrahmen sich die streitigen nationalen Maßnahmen im Hinblick auf die zu diesem Zeitpunkt geltenden Unionsrechtsbestimmungen einfügten. Insbesondere zeigt sie nicht klar den Unterschied, den die portugiesische Regierung in der mündlichen Verhandlung betont hat, zwischen zum einen der Phase, in der der portugiesische Staat den Vorschriften des Unionsrechts zum Abbau eines übermäßigen Defizits unterlag, und zum anderen der Phase auf, in der sich die geltende Regelung aus den Verpflichtungen aufgrund des finanziellen Beistands der Union ergab.
48. Wie jedoch Generalanwalt Bot in einer Rechtssache darlegte, die ebenfalls Haushaltssparmaßnahmen betraf, die ein Mitgliedstaat im Kontext von gegenüber der Europäischen Gemeinschaft übernommenen Verpflichtungen erlassen hatte, ist für die Beurteilung, ob die Bestimmungen der Charta im Hinblick auf ihren Art. 51 anwendbar sind(41), nicht nur der Wortlaut der betreffenden nationalen Bestimmungen, sondern auch der Inhalt der Unionsrechtsakte, in denen diese Verpflichtungen enthalten sind, zu berücksichtigen. In diesem Zusammenhang wies er meines Erachtens zu Recht darauf hin, dass es keine Rolle spielt, dass diese Rechtsakte dem betreffenden Mitgliedstaat einen Handlungsspielraum belassen, um Maßnahmen zu beschließen, die am ehesten dazu führen, dass die genannten Verpflichtungen eingehalten werden, da die relevanten Bestimmungen im Gegensatz zu einfachen Empfehlungen, die der Rat auf der Grundlage von Art. 126 AEUV an Mitgliedstaaten richtet, deren öffentliches Defizit möglicherweise als übermäßig angesehen wird, hinreichend detaillierte und genaue Ziele nennen, um eine einschlägige unionsrechtliche Regelung darzustellen(42).
49. In der vorliegenden Rechtssache führt das vorlegende Gericht, um den geltend gemachten Zusammenhang zwischen dem Gesetz Nr. 75/2014 und dem Unionsrecht darzulegen, keine dem Wortlaut dieses Gesetzes entnommenen Elemente an. Das Gesetz bezieht sich tatsächlich auf keinen Unionsrechtsakt, anders als die ihm zugrunde liegende Begründung des Gesetzesvorhabens, in der ein Zusammenhang mit den sich aus dem Unionsrecht ergebenden Verpflichtungen in Haushaltsangelegenheiten hergestellt wird(43).
50. Dieses Gericht stützt sich dagegen, wie die ASJP, insbesondere auf die vom portugiesischen Staat im Mai 2011 geschlossene Einigung über die wirtschaftliche und finanzielle Sanierung(44) und zuletzt auf den Durchführungsbeschluss 2012/409 des Rates vom 10. Juli 2012 über einen finanziellen Beistand der Union für Portugal sowie auf die Empfehlung des Rates vom 18. Juni 2013 zur Verbesserung der Situation des übermäßigen Staatsdefizits in Portugal.
51. Insoweit erinnere ich daran, dass eine Empfehlung der Unionsorgane, im Gegensatz zu einem Beschluss, ein nicht verbindlicher Rechtsakt ist(45). Außerdem bin ich wie die portugiesische Regierung(46) und die Kommission der Ansicht, dass die vorstehend angeführte Empfehlung, die sich insbesondere auf Art. 126 Abs. 7 AEUV gründet, keine hinreichend konkreten und genauen Ziele festlegte, um davon auszugehen, dass der portugiesische Staat gemäß dieser Empfehlung Anforderungen des Unionsrechts im Sinne von Art. 51 der Charta durchgeführt hätte.
52. Zum Durchführungsbeschluss 2012/409, den das vorlegende Gericht anführt, weise ich darauf hin, dass er durch den Durchführungsbeschluss 2014/234 des Rates vom 23. April 2014 ersetzt wurde, der daher in zeitlicher Hinsicht anwendbar war, als die streitigen Maßnahmen getroffen wurden, die sich aus dem Gesetz Nr. 75/2014, das am 12. September 2014 erlassen wurde, ergeben. Art. 1 des letzteren Beschlusses änderte den Durchführungsbeschluss 2011/344, der ursprünglich, im Anschluss an die Verordnung Nr. 407/2010, die Voraussetzungen für die Gewährung eines finanziellen Beistands der Union für die Portugiesische Republik(47) vorgesehen hatte. Nach Abs. 2 dieses Artikels hatte allerdings der portugiesische Staat im Jahr 2014 „in Übereinstimmung mit den Spezifikationen des Memorandum of Understanding“ spezifische und nicht nur allgemeine Maßnahmen zu treffen(48), die u. a. darin bestanden, dass im Rahmen „[der] Haushaltskonsolidierungsstrategie für 2015“, „[d]ie Regierung … im Jahr 2014 eine einheitliche Lohnskala aus[arbeitet], die im Jahr 2015 umgesetzt werden soll, um die Vergütungspolitik über alle Laufbahnen des öffentlichen Sektors hinweg rationeller und kohärenter zu gestalten“(49). Dieser Mitgliedstaat verfügte zwar in Ausübung seiner Befugnisse in Haushaltsangelegenheiten über einen Ermessensspielraum, um die genauen wirtschaftlichen Korrekturmaßnahmen zu bestimmen, die er für am besten geeignet hielt, um die auf diese Weise zugewiesenen spezifischen Ziele zu erreichen; dies stellt diese Würdigung jedoch nicht in Frage(50).
53. Selbst wenn aufgrund der begrenzten Erläuterungen in der Vorlageentscheidung zu diesem Thema ernsthafte Zweifel bestehen können, neige ich zu der Ansicht, dass der Erlass der Maßnahmen zur Kürzung der Bezüge im öffentlichen Dienst nach Art. 2 des Gesetzes Nr. 75/2014, die im Ausgangsverfahren in Rede stehen, eine Durchführung von Unionsrecht im Sinne von Art. 51 der Charta darstellt und der Gerichtshof daher für die Beantwortung des Vorabentscheidungsersuchens, auch soweit es Art. 47 der Charta betrifft, zuständig ist.
C. Zur Begründetheit
1. Zum Gegenstand der Vorlagefrage
54. Zur Stützung ihrer Ansprüche macht die ASJP geltend, dass die Rechtsstellung der Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit nicht mit der statutarischen Regelung für die Beamten im Allgemeinen vermengt werden dürfe, deren Situation unsicher sein könnte. Sie bezieht sich u. a.(51) auf die Europäische Charta über das Richterstatut(52), die unter der Schirmherrschaft des Europarats angenommen wurde, und bringt vor, dass die Stabilität der Bezüge der Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit sowie ihre Festsetzung auf ein angemessenes Niveau, um sie vor Eingriffen zu schützen, die ihre Entscheidungen beeinflussen sollten, es erlaubten, die Beachtung insbesondere der Grundsätze der Unabhängigkeit und der Unparteilichkeit, die Garantien der Rechtsprechungstätigkeit darstellten, sicherzustellen. Der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit, insbesondere in finanzieller Hinsicht, der sich aus Art. 19 EUV und Art. 47 der Charta ergebe, stehe Rechtsakten zur Kürzung der Bezüge, wie den im Ausgangsverfahren fraglichen, die einseitig von der Exekutive und der Legislative eines Mitgliedstaats erlassen würden, entgegen.
55. Diesem Gedankengang folgend wird mit der Vorlageentscheidung der Gerichtshof im Wesentlichen darum ersucht, zu bestimmen, ob es einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts gibt, nach dem die Behörden der Mitgliedstaaten verpflichtet wären, die Unabhängigkeit der nationalen Richter zu beachten, und insbesondere – im Hinblick auf die Umstände des Ausgangsrechtsstreits – die Bezüge der Letzteren auf einem konstanten und hinreichenden Niveau zu halten, damit sie ihre Aufgaben frei ausüben können.
56. Das vorlegende Gericht ist der Ansicht, dass ein solcher Grundsatz und solche Folgen sich sowohl aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV als auch aus Art. 47 der Charta ergäben(53), Bestimmungen, die der Gerichtshof – meiner Ansicht nach getrennt(54) – auszulegen haben wird, falls er sich für zuständig ansieht, um in beiderlei Hinsicht zu entscheiden(55). Wie die portugiesische Regierung und die Kommission teile ich aus den oben erläuterten Gründen die vom vorlegenden Gericht in der Sache dargelegte Ansicht nicht.
2. Zur Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV
57. Das vorlegende Gericht und die ASJP stützen die Auffassung, wonach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts aufstelle, der die richterliche Unabhängigkeit verankere, und den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Maßnahmen entgegenstehe, darauf, dass die Gerichte in den Mitgliedstaaten in funktioneller Hinsicht auch Unionsgerichte seien, da sie in erster Linie den effektiven gerichtlichen Schutz der Rechte, die sich aus der Unionsrechtsordnung ergäben, insbesondere nach dieser Bestimmung, sicherstellten.
58. Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV sieht zwar vor, dass „[d]ie Mitgliedstaaten … die erforderlichen Rechtsbehelfe [schaffen], damit ein wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist“(56), und die mit diesen Rechtsbehelfen befassten Richter der nationalen Gerichte tragen zu diesem Schutz bei. Allerdings erfordert die Auslegung des Wortlauts dieser Bestimmung, sie im Hinblick auf ihren Kontext zu untersuchen.
59. Dazu weise ich darauf hin, dass Art. 19 EUV in Titel III („Bestimmungen über die Organe“) dieses Vertrags enthalten ist, der eine Reihe von allgemeinen Regelungen zur Festsetzung der Bedingungen umfasst, unter denen jedes Organ der Union – u. a. nach besagtem Art. 19 der Gerichtshof der Europäischen Union – im Rahmen der ihm zugewiesenen Befugnisse handelt.
60. Außerdem scheint mir, dass im Licht der Bestimmungen der Abs. 1 bis 3 von Art. 19 EUV in ihrer Gesamtheit der oben angeführte Begriff „wirksamer Rechtsschutz“ in engem Zusammenhang mit der Ausübung der Aufgaben durch den Gerichtshof der Europäischen Union zu verstehen ist, dessen Zusammensetzung und Befugnisse Gegenstand dieser drei Absätze sind. Insbesondere überträgt Abs. 1 Unterabs. 1 diesem Organ, das den Gerichtshof und das Gericht umfasst, die Aufgabe, die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge zu sichern(57), wobei es von der durch diesen Unterabsatz eingeführten „Regel der allgemeinen Zuständigkeit“ Abweichungen gibt(58).
61. Nach der Rechtsprechung soll dieser Abs. 1 Unterabs. 2 bestätigen, dass es Sache der Mitgliedstaaten ist, „ein System von Rechtsbehelfen und Verfahren vorzusehen, mit dem die Einhaltung des Grundrechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz gewährleistet werden kann“(59). Daher betrifft dieser Unterabs. 2 nicht unmittelbar die nationalen Gerichte, sondern soll sicherstellen, dass in den Mitgliedstaaten Möglichkeiten zur Einlegung von Rechtsbehelfen bestehen, damit jeder Einzelne in allen Bereichen, in denen das Unionsrecht anwendbar ist, in den Genuss eines solchen Schutzes kommen kann. Dieses Erfordernis hängt damit zusammen, dass die gerichtliche Kontrolle der Wahrung der Rechtsordnung der Europäischen Union nach den beiden Unterabsätzen dieses Absatzes nicht nur durch deren Gerichte, sondern auch in Zusammenarbeit mit den nationalen Gerichten gewährleistet wird(60).
62. Der Gerichtshof hat festgestellt, dass eine solche Pflicht sich auch aus Art. 47 der Charta in Bezug auf Maßnahmen der Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Rechts der Union im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta ergibt(61). Abs. 1 dieses Art. 47 sieht nämlich ausdrücklich vor, dass jede Person, deren durch das Unionsrecht garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, das Recht hat, nach Maßgabe der dort genannten Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen. Ohne mich schon jetzt zur Auslegung des letzteren Artikels und zu seiner etwaigen Bedeutung im Hinblick auf die Gegebenheiten des Ausgangsrechtsstreits äußern zu wollen(62), weise ich darauf hin, dass sich der Zweck und der Inhalt dieses Art. 47 von denjenigen von Art. 19 EUV unterscheiden.
63. In Bezug auf den letztgenannten Artikel hat der Gerichtshof entschieden, dass es Sache des innerstaatlichen Rechts jedes Mitgliedstaats ist – unter Beachtung der sich u. a. aus Unterabs. 2 von Art. 19 ergebenden Erfordernisse –, die zuständigen Gerichte zu bestimmen und die Verfahrensmodalitäten für Klagen zu regeln, die den Schutz der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen(63). Meines Erachtens hat dieser Unterabsatz, der die Verpflichtung der Mitgliedstaaten vorsieht, die Rechtsbehelfe zu schaffen, die es ermöglichen, diese Rechte wirksam zu schützen, vor allem verfahrensrechtlichen Charakter.
64. Nach alledem bin ich, wie die portugiesische Regierung(64), der Ansicht, dass der Begriff „wirksamer Rechtsschutz“ im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV nicht mit dem „Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit“ verwechselt werden darf, der sich nach der Vorlagefrage aus dieser Bestimmung ergeben soll(65).
65. Der Unterschied zwischen dem Recht auf wirksamen Rechtsschutz, der den Rechtsunterworfenen der Mitgliedstaaten mittels angemessener Rechtsbehelfe offenstehen muss, und dem Recht auf die Anrufung von in völliger Unparteilichkeit entscheidenden Richtern der ordentlichen Gerichtsbarkeit, das auch im Interesse dieser Rechtsunterworfenen anerkannt sei, erscheint mir außerdem angesichts der Überschrift und des Wortlauts von Art. 47 der Charta, die diese beiden Rechte unterscheiden, offenkundig(66). Die Unterscheidung ist ebenso klar in der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten(67) verwirklicht, da das „Recht auf wirksame Beschwerde“ bei einer innerstaatlichen Instanz in ihrem Art. 13 vorgesehen ist, während das „Recht auf ein faires Verfahren“, das insbesondere das „… Recht [jeder Person] darauf, dass über Streitigkeiten … von einem unabhängigen … Gericht … verhandelt wird“, umfasst, in ihrem Art. 6 geregelt ist(68), selbst wenn zwischen diesen beiden Artikeln ganz offensichtlich sachliche Zusammenhänge bestehen(69). Ich werde bei der Auslegung von Art. 47 der Charta auf diese Gesichtspunkte zurückkommen(70).
66. Die Verpflichtung der Mitgliedstaaten nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, ein System von „Rechtsbehelfen“ vorzusehen, hängt jedoch meines Erachtens allein mit dem Anspruch auf „wirksamen Rechtsschutz“ zusammen, wie sich aus dem Wortlaut dieser Bestimmung ergibt, und nicht mit dem Recht auf ein faires Verfahren vor einem unabhängigen Gericht, das einen ganz anderen Inhalt hat.
67. Folglich bin ich der Ansicht, dass dieser Unterabs. 2 dahin auszulegen ist, dass er keinen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts verankert, wonach die Unabhängigkeit der Richter aller Gerichte der Mitgliedstaaten sichergestellt werden müsste.
68. Hilfsweise, für den Fall, dass der Gerichtshof entscheiden sollte, dass sich der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit unmittelbar aus dem Erfordernis eines wirksamen Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ergibt, wie das vorlegende Gericht annimmt, meine ich, dass jedenfalls weder diese Bestimmung noch dieser Grundsatz(71) so verstanden werden können, dass sie nationalen Maßnahmen zur Kürzung der Bezüge, wie den von der Klägerin des Ausgangsverfahrens angefochtenen, entgegenstehen, da diese in keiner Weise spezifisch auf die Richter abzielen, sondern im Gegenteil allgemeine Geltung haben(72), weil sie auf eine große im öffentlichen Dienst tätige Personengruppe anzuwenden sind(73).
3. Zur Auslegung von Art. 47 der Charta
69. Das vorlegende Gericht macht ebenso wie die ASJP geltend, dass nach Art. 47 der Charta die Gerichte der Mitgliedstaaten mit Unabhängigkeit und Unparteilichkeit den wirksamen Schutz der Rechte, die den Bürgern von der europäischen Rechtsordnung gewährt würden, umzusetzen hätten und dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende einseitige Kürzung der Bezüge die Unabhängigkeit der betroffenen Richter beeinträchtigt haben könnte.
70. Insoweit erinnere ich daran, dass, wie jüngst Generalanwalt Wathelet dargelegt hat(74), die Überschrift(75) und der Wortlaut von Art. 47 der Charta darauf hinweisen, dass die Charta zum einen das Recht auf wirksame Beschwerde, das auch in Art. 13 EMRK festgelegt ist, und zum anderen das in Art. 6 Abs. 1 EMRK verankerte Recht auf ein faires Verfahren, das das Recht auf Zugang zu einem unabhängigen und unparteiischen Gericht umfasst, anerkennt.
71. Da der Inhalt dieses Art. 47 unmittelbar an diese Bestimmungen der EMRK angelehnt ist(76), ist er nach Art. 52 Abs. 3 der Charta nicht nur unter Berücksichtigung der Erläuterungen zur Charta, sondern auch im Licht der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR) auszulegen(77), so dass die von diesem Art. 47 gewährleisteten Rechte grundsätzlich die gleiche Bedeutung und Tragweite haben wie die, die ihnen in der EMRK verliehen werden, ohne dass diese Regel jedoch dem entgegensteht, dass das Recht der Union einen weiter gehenden Schutz gewährt. Es wurde von Anfang an darauf hingewiesen(78), dass gerade Art. 47 der Charta einen Schutz bietet, dessen materieller Anwendungsbereich weiter ist als derjenige der entsprechenden Artikel der EMRK(79).
72. In Anbetracht der Rechtsprechung zur EMRK und zu ihren Protokollen(80) scheint mir, dass der „Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit“, der im vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen angeführt wird, mehr zu dem „Recht [jeder Person], dass ihre Sache von einem unabhängigen, unparteiischen … Gericht … verhandelt wird“, wie es sich aus Art. 47 Abs. 2 der Charta ergibt(81), als zu dem „Recht …, … bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen“, wie es in Abs. 1 dieses Artikels vorgesehen ist(82), gehört.
73. Sowohl das vorlegende Gericht als auch die ASJP machen geltend, dass der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit „den Maßnahmen zur Kürzung der Bezüge, denen die Richter in Portugal unterworfen sind, entgegensteh[en könnte], die einseitig von anderen Gewalten/Verfassungsorganen fortdauernd auferlegt [wurden]“(83).
74. Der EGMR hat jedoch wiederholt entschieden, dass die Garantie eines „unabhängigen Gerichts“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 der EMRK(84) erfordert, dass die Richter nicht nur in statutarischer Hinsicht(85), sondern auch bei der Ausübung ihrer Funktionen Unabhängigkeit genießen. Dieser Begriff hat eine in der vorliegenden Rechtssache nicht relevante justizinterne Seite(86) sowie eine justizexterne Seite, wonach die Richter ihre Tätigkeit ohne Einflussnahmen seitens der Parteien des Rechtsstreits(87) oder anderer Staatsgewalten(88) verrichten können müssen, was meines Erachtens der einzige von der ASJP geltend gemachte Gesichtspunkt ist. Ich weise darauf hin, dass der Gerichtshof einen ähnlichen Ansatz gewählt hat, als er die Kriterien definierte, die die Unabhängigkeit eines nationalen Gerichts kennzeichnen können(89).
75. Insbesondere zur Unabhängigkeit der Mitglieder eines Gerichts im Hinblick auf ihre Bezüge hat der EGMR bereits die Wechselwirkung zwischen diesen beiden Elementen anerkannt, indem er entschieden hat, dass „die nicht rechtzeitige Auszahlung der Bezüge der Richter durch den Staat mit dem Erfordernis unvereinbar ist, zu gewährleisten, dass diese ihre richterlichen Funktionen mit Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, vor jedem Druck von außen geschützt, der ihre Entscheidungen und ihr Verhalten beeinflussen soll, ausüben können“, wobei in diesem Kontext „die Frage der Unabhängigkeit der Richter besonders sensibel ist“(90).
76. Diese Würdigung stützt sich auf verschiedene Rechtsakte des Europarats, die sich auf solche Bedenken beziehen. Art. 6 der Europäischen Charta über das Richterstatut bestimmt nämlich – ohne bindende Wirkung –, dass die Höhe der Bezüge der Richter so festgelegt werden sollte, dass sie keinem etwaigen Druck ausgesetzt werden, der ihre Unabhängigkeit beeinträchtigen könnte, selbst wenn diese Höhe von einem Richter zum anderen nach objektiven Faktoren, wie den auferlegten beruflichen Pflichten, variieren kann(91). Ebenso wurde in Empfehlungen des Ministerkomitees(92) zum einen befürwortet, dass „[d]ie Bezüge der Richter entsprechend ihrer Rolle und ihrer Verantwortung gewährt [werden sollten] und in hinreichender Höhe, um sie vor jedem Druck von außen, der ihre Entscheidungen beeinflussen soll, zu schützen“, und zum anderen, dass „[s]pezifische Gesetzesbestimmungen eingeführt [werden sollten], um sich gegen eine Kürzung der Bezüge, die speziell die Richter betrifft, zu wappnen“(93).
77. Vor diesem Hintergrund bin ich der Ansicht, dass das Recht jeder Person, dass ihre Sache von einem unabhängigen Gericht verhandelt wird, im Sinne von Art. 47 der Charta das Erfordernis umfasst, dass die Unabhängigkeit der Mitglieder dieses Gerichts dadurch gewährleistet wird, dass ihnen unter Berücksichtigung der Verantwortung, die sie übernehmen, hinreichend hohe und feste Bezüge ausgezahlt werden, um sie gegen die Gefahr zu schützen, dass etwaige Interventionen oder Druck von außen die Neutralität der von ihnen zu treffenden Gerichtsentscheidungen beeinträchtigen.
78. Allerdings hat die Höhe der Bezüge der Richter zwar der Bedeutung der von ihnen übernommenen öffentlichen Aufgaben angemessen zu sein, jedoch darf dieser Betrag nicht von den wirtschaftlichen und sozialen Gegebenheiten und insbesondere vom durchschnittlichen Lebensstandard in dem Staat, in dem die Betroffenen ihre Berufstätigkeit ausüben, losgelöst sein(94). Außerdem setzt eine angemessene Stabilität ihres Einkommens meines Erachtens zwar voraus, dass dieses sich im Lauf der Zeit nicht so verändert, dass die Unabhängigkeit ihres Urteils gefährdet würde, aber nicht, dass es unveränderlich bleibt.
79. Insbesondere kann der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit in einer wirtschaftlichen Krisensituation großen Ausmaßes, wie der im Zeitraum vor dem Erlass der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Maßnahmen durchlebten(95), nicht so verstanden werden, dass er eine Mäßigung der Bezüge der Richter unmöglich macht, selbst wenn eine solche Vorgehensweise natürlich in einem angemessenen Verhältnis bleiben muss, um zu vermeiden, die Richter für Druck anfällig zu machen, der auf sie ausgeübt werden könnte. Wie nämlich die portugiesische Regierung geltend macht, ist ein angemessener Ausgleich zwischen dem Allgemeininteresse der Gemeinschaft und dem Einzelinteresse der Richter zu finden, die dafür zuständig sind, die Wahrung der den Bürgern gewährten Rechte sicherzustellen.
80. Überdies betrafen, wie ich(96), ebenso wie die portugiesische Regierung(97) und die Kommission, bereits dargelegt habe, die streitigen Kürzungsmaßnahmen nicht nur die Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit, sondern auch eine große Zahl von Personen, die im öffentlichen Dienst tätig sind. Da die Richter in keiner Weise ausschließlich oder auch nur spezifisch betroffen waren, kann nicht davon ausgegangen werden, dass die in der Vorlagefrage genannten „anderen Gewalten/Verfassungsorgane“ versucht hätten, die Angehörigen der Justiz zu destabilisieren, zumal sowohl Bedienstete der Exekutive als auch der Legislative nach Art. 2 des Gesetzes Nr. 75/2014 genau denselben Sparmaßnahmen unterlagen.
81. Folglich bin ich der Ansicht, dass Art. 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass er dem Erlass von nationalen Maßnahmen wie den im Ausgangsrechtsstreit beanstandeten nicht entgegensteht, da diese nicht gegen den Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit nach diesem Artikel verstoßen.
82. Die gegenteilige Auslegung hätte die meines Erachtens bedauerliche praktische Folge, den Mitgliedstaaten die Möglichkeit zu nehmen, bei Vorliegen einer schweren Wirtschaftskrise eine erforderliche Anpassung der Höhe der Bezüge der Personen vorzunehmen, die zum öffentlichen Dienst im weiten Sinn gehören, obwohl diese Anpassung nicht ausschließlich die Richter betrifft und nicht unverhältnismäßig ist.
V. Ergebnis
83. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die Frage des Supremo Tribunal Administrativo (Oberstes Verwaltungsgericht, Portugal) wie folgt zu beantworten:
Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sind dahin auszulegen, dass sie Maßnahmen zur allgemeinen Kürzung der Bezüge in der öffentlichen Verwaltung, denen Richter aufgrund einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden unterliegen, nicht entgegenstehen.
i Die vorliegende Sprachfassung ist in den Nrn. 5, 6, 7, 8 und14 gegenüber der ursprünglich online gestellten Fassung geändert worden.