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Rechtssache C549/22

X

gegen

Raad van bestuur van de Sociale verzekeringsbank

(Vorabentscheidungsersuchen des Centrale Raad van Beroep)

 Urteil des Gerichtshofs (Zweite Kammer) vom 29. Februar 2024

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Assoziationsabkommen EG‑Algerien – Soziale Sicherheit der algerischen Wanderarbeitnehmer und ihrer Hinterbliebenen – Transfer von Leistungen nach Algerien zu den nach den Rechtsvorschriften des Schuldnermitgliedstaats geltenden Sätzen – Hinterbliebenenleistungen – Nationale Regelung, die das Wohnstaatsprinzip anwendet – Wohnortklausel, die die Kürzung der Hinterbliebenenleistungen für die Leistungsempfänger mit Wohnort in Algerien enthält“

1.        Internationale Übereinkünfte – Assoziationsabkommen EGAlgerien – Art. 68 Abs. 4 – Unmittelbare Wirkung – Fehlen eines Beschlusses des Assoziationsrats – Unerheblichkeit

(Assoziationsabkommen EGAlgerien, Art. 68 Abs. 4)

(vgl. Rn. 30-36, Tenor 1)

2.        Internationale Übereinkünfte – Assoziationsabkommen EGAlgerien – Soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer – Freier Transfer von Renten der sozialen Sicherheit – Persönlicher Anwendungsbereich – Hinterbliebenenleistungen – Hinterbliebene von Arbeitnehmern – Einbeziehung – Erfordernis eines Wohnsitzes im Schuldnermitgliedstaat – Fehlen

(Assoziationsabkommen EG‑Algerien, Art. 68 Abs. 4)

(vgl. Rn. 38, 40-42, Tenor 2)

3.        Internationale Übereinkünfte – Assoziationsabkommen EGAlgerien – Soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer – Freier Transfer von Renten der sozialen Sicherheit – Hinterbliebenenleistungen – Hinterbliebener Ehegatte mit Wohnsitz in Algerien – Transfer von Leistungen zu den nach den Rechtsvorschriften des Schuldnermitgliedstaats geltenden Sätzen – Kürzung einer Hinterbliebenenleistung unter Berücksichtigung der Lebenshaltungskosten des Wohnsitzstaats des Leistungsempfängers – Zulässigkeit – Voraussetzungen

(Assoziationsabkommen EG‑Algerien, Art. 68 Abs. 4)

(vgl. Rn. 46-49, 51, Tenor 3)

Zusammenfassung

Der vom Centrale Raad van Beroep (Berufungsgericht in Sachen der sozialen Sicherheit und des öffentlichen Dienstes, Niederlande, im Folgenden: vorlegendes Gericht) im Wege der Vorabentscheidung angerufene Gerichtshof entscheidet, dass Art. 68 Abs. 4(1) des Assoziationsabkommens EG‑Algerien(2) hinsichtlich des Rechts auf freien Transfer von Leistungen der sozialen Sicherheit unmittelbare Wirkung entfaltet und der Kürzung von Hinterbliebenenleistungen aufgrund des Umstands, dass die Leistungsempfänger in Algerien wohnen, nicht entgegensteht, wenn mit ihnen bezweckt wird, ein Grundeinkommen zu sichern, das in Abhängigkeit von den Lebenshaltungskosten im Schuldnermitgliedstaat berechnet wird, und wenn die vorgenommene Kürzung dieses Recht nicht aushöhlt.

X wohnt in Algerien. Als Hinterbliebene ihres Ehemannes, der in den Niederlanden beschäftigt und im Zeitpunkt seines Todes nach der Algemene nabestaandenwet (Allgemeines Hinterbliebenengesetz, im Folgenden: ANW) versichert war, hat sie seit dem 1. Januar 1999 Anspruch auf eine Hinterbliebenenleistung. Nachdem der Raad van bestuur van de Sociale verzekeringsbank (Verwaltungsrat der Sozialversicherungsanstalt, Niederlande) die Zahlung der Hinterbliebenenleistung an X, die er 2012 eingestellt hatte, 2018 rückwirkend wieder aufleben ließ, informierte er sie, dass die Hinterbliebenenleistung ab dem 1. Januar 2013 gekürzt werde, da sie ab diesem Zeitpunkt nach dem Wohnstaatsprinzip, d. h. im vorliegenden Fall nach einem Prozentsatz hätte gezahlt werden müssen, der die Höhe der Lebenshaltungskosten in Algerien im Verhältnis zu den Lebenshaltungskosten in den Niederlanden widerspiegele(3).

Nachdem mehrere Rechtsbehelfe gegen diese Entscheidung erfolglos waren, legte X Berufung beim vorlegenden Gericht ein, das beschlossen hat, den Gerichtshof über verschiedene Fragen zur Auslegung von Art. 68 Abs. 4 des Assoziationsabkommens EG‑Algerien um Vorabentscheidung zu ersuchen, um zu erfahren, ob das Abkommen einer auf das Wohnstaatsprinzip gestützten Kürzung der Hinterbliebenenleistung von X entgegenstehe.

Würdigung durch den Gerichtshof

Der Gerichtshof antwortet zunächst auf die Frage, ob Art. 68 Abs. 4 des Assoziationsabkommens EG‑Algerien unter Berücksichtigung des Wortlauts sowie von Sinn und Zweck des Abkommens unmittelbar anwendbar ist.

Er stellt hierzu fest, dass diese Bestimmung klar, genau und unbedingt das Recht auf freien Transfer der von dieser Bestimmung vorgesehenen Renten nach Algerien begründet, und zwar zu den nach den Rechtsvorschriften des Schuldnermitgliedstaats geltenden Sätzen. Somit enthält die Bestimmung für die Mitgliedstaaten eine klare und präzise Ergebnispflicht, die darin besteht, dass den Betroffenen ein solcher freier Transfer ermöglicht werden muss, und die als solche bei ihrer Erfüllung oder in ihren Wirkungen nicht vom Erlass eines späteren Aktes abhängt.

Der Gerichtshof stellt zwar fest, dass das Recht auf freien Transfer nicht absolut gilt, da seine konkreten Wirkungen in jedem Einzelfall von den „zu den nach den Rechtsvorschriften des Schuldnermitgliedstaates bzw. der Schuldnermitgliedstaaten geltenden Sätzen“ abhängen, jedoch kann dies nicht dahin ausgelegt werden, dass es den Mitgliedstaaten gestattet ist, das Recht auf freien Transfer nach freiem Ermessen einzuschränken und es auszuhöhlen. Außerdem hängen die Durchführung oder die Wirkungen des in dieser Bestimmung vorgesehenen Rechts nicht vom Erlass eines anderen Aktes und insbesondere nicht vom Erlass der in Art. 70 Abs. 1 des Assoziationsabkommens EG‑Algerien vorgesehenen Bestimmungen durch den Assoziationsrat ab, weshalb diese Bestimmung nicht so aufgefasst werden kann, als ob sie die unmittelbare Anwendung dieses Rechts von einer Bedingung abhängig machen würde. Daher entfaltet Art. 68 Abs. 4 des Assoziationsabkommens EG‑Algerien unmittelbare Wirkung, so dass die Personen, auf die diese Bestimmung Anwendung findet, das Recht haben, sich vor den Gerichten der Mitgliedstaaten unmittelbar auf sie zu berufen, damit die mit ihr unvereinbaren nationalen Rechtsvorschriften unangewendet gelassen werden.

Der Gerichtshof antwortet sodann auf die Frage zum persönlichen Anwendungsbereich von Art. 68 Abs. 4 des Assoziationsabkommens EG‑Algerien.

Unter Hinweis darauf, dass Art. 68 Abs. 4 ausdrücklich nur „[d]ie betreffenden Arbeitnehmer“ nennt, womit auf die in Abs. 1 dieses Artikels genannten „algerischen Arbeitnehmer“ Bezug genommen wird, stellt der Gerichtshof fest, dass die Hinterbliebenenrenten zu den Leistungen zählen, die frei nach Algerien transferiert werden können, und deren Leistungsempfänger per Definition nur die Hinterbliebenen dieser Arbeitnehmer sein können. Art. 68 Abs. 4 des Assoziationsabkommens EG‑Algerien wäre daher seiner praktischen Wirksamkeit beraubt, wenn die Hinterbliebenen vom persönlichen Anwendungsbereich dieser Vorschrift ausgenommen wären. Außerdem widerspräche es der dem Grundsatz des freien Transfers von Leistungen nach Algerien zugrunde liegenden Logik, zu verlangen, dass der Leistungsempfänger im Schuldnermitgliedstaat, im vorliegenden Fall in den Niederlanden, wohnt. Insoweit kommt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass Art. 68 Abs. 4 des Assoziationsabkommens EG‑Algerien dahin auszulegen ist, dass er auf die Hinterbliebenen eines Arbeitnehmers Anwendung findet, die ihre Hinterbliebenenleistungen nach Algerien transferieren möchten, selbst aber keine Arbeitnehmer sind, und die in Algerien wohnen.

Was schließlich die Vereinbarkeit der Kürzung des Betrags einer Hinterbliebenenleistung aufgrund des Umstands, dass der Leistungsempfänger in Algerien wohnt, mit Art. 68 Abs. 4 des Assoziationsabkommens EG‑Algerien betrifft, weist der Gerichtshof darauf hin, dass diese Bestimmung das Recht auf freien Transfer der in Rede stehenden Leistungen nach Algerien „zu den nach den Rechtsvorschriften des Schuldnermitgliedstaates bzw. der Schuldnermitgliedstaaten geltenden Sätzen“ vorsieht. Somit steht es im Ermessen des Schuldnermitgliedstaats, die Regeln für die Berechnung der in dieser Bestimmung genannten Leistungen aufzustellen, und daher kann dieser Mitgliedstaat Regeln wie die auf dem Wohnstaatsprinzip beruhende Regel vorsehen, um die Höhe der Leistungen anlässlich des Transfers anzupassen.

Der Gerichtshof weist jedoch darauf hin, dass solche Regeln das Recht auf freien Transfer von Leistungen nicht aushöhlen und es nicht seiner praktischen Wirksamkeit berauben dürfen, und prüft zu diesem Zweck die Kriterien, die die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Hinterbliebenenleistung kennzeichnen. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Höhe dieser Leistung in Abhängigkeit von den Lebenshaltungskosten in den Niederlanden festgesetzt wird und dass mit der Leistung daher sichergestellt werden soll, dass die Hinterbliebenen über ein Grundeinkommen verfügen, das in Abhängigkeit von den Lebenshaltungskosten in diesem Mitgliedstaat berechnet wird. Daher vermag der Umstand, dass die Höhe der transferierten Leistung angepasst wird, um den Lebenshaltungskosten in Algerien Rechnung zu tragen, nach Ansicht des Gerichtshofs das Recht auf freien Transfer nicht auszuhöhlen, sofern die Bestimmung der für diese Anpassung verwendeten Sätze anhand objektiver Kriterien erfolgt, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.


1      Art. 68 des Abkommens sieht vor:


      „(1) Vorbehaltlich der folgenden Absätze gilt für die algerischen Arbeitnehmer und die mit ihnen zusammenlebenden Familienangehörigen auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit eine Regelung, die keine auf der Staatsangehörigkeit beruhende Diskriminierung gegenüber den Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten, in denen sie beschäftigt sind, beinhaltet. Der Begriff der sozialen Sicherheit umfasst die Zweige der Sozialversicherung, die für Leistungen bei Krankheit und Mutterschaft, für Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrenten, Altersruhegeld, Hinterbliebenenrenten, Leistungen bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten, Sterbegeld, Arbeitslosenunterstützung und Familienbeihilfen zuständig sind.


      Jedoch darf diese Bestimmung nicht dazu führen, dass die anderen Koordinierungsregeln, die die auf Artikel 42 des EG-Vertrages gestützte Gemeinschaftsregelung vorsieht, in anderer Weise angewandt werden als unter den Bedingungen des Artikels 70 dieses Abkommens.


      …


      (4) Die betreffenden Arbeitnehmer haben die Möglichkeit, Alters- und Hinterbliebenenrenten und Renten bei Arbeitsunfall, Berufskrankheit oder Erwerbsunfähigkeit, wenn diese durch einen Arbeitsunfall oder eine Berufskrankheit verursacht wurde, zu den nach den Rechtsvorschriften des Schuldnermitgliedstaates bzw. der Schuldnermitgliedstaaten geltenden Sätzen frei nach Algerien zu transferieren, mit Ausnahme beitragsunabhängiger Sonderleistungen. …“


2      Europa-Mittelmeer-Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Demokratischen Volksrepublik Algerien andererseits, das im Namen der Europäischen Gemeinschaft mit dem Beschluss 2005/690/EG des Rates vom 18. Juli 2005 (ABl. 2005, L 265, S. 1, im Folgenden: Assoziationsabkommen EG‑Algerien) genehmigt wurde.


3      Dieser Prozentsatz wird gemäß den Bestimmungen der Regeling woonlandbeginsel in de sociale zekerheid 2012 (Verordnung über das Wohnstaatsprinzip in der sozialen Sicherheit von 2012), die auf der Grundlage von Art. 17 Abs. 3 ANW in der durch die Wet woonlandbeginsel in de sociale zekerheid (Gesetz über das Wohnstaatsprinzip im Bereich der sozialen Sicherheit) geänderten Fassung erlassen wurde, festgesetzt. Für Algerien beträgt der Prozentsatz ab dem 1. Januar 2013 60 % des Höchstbetrags der Hinterbliebenenleistungen und ab dem 1. Januar 2016 40 % des Höchstbetrags.