Vorläufige Fassung
SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
JEAN RICHARD DE LA TOUR
vom 7. Mai 2024(1)
Rechtssache C‑4/23 [Mirin](i)
M.‑A. A.
gegen
Direcţia de Evidenţă a Persoanelor Cluj, Serviciul stare civilă,
Direcţia pentru Evidenţa Persoanelor şi Administrarea Bazelor de Date din Ministerul Afacerilor Interne,
Municipiul Cluj-Napoca,
Beteiligte:
Asociaţia Accept,
Consiliul Naţional pentru Combaterea Discriminării
(Vorabentscheidungsersuchen der Judecătoria Sectorului 6 Bucureşti [Gericht erster Instanz Stadtbezirk 6 Bukarest, Rumänien])
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Unionsbürgerschaft – Art. 21 Abs. 1 AEUV – Recht, sich in den Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten – Bürger mit Wohnsitz im Vereinigten Königreich, der die Staatsangehörigkeit dieses Staats und eines Mitgliedstaats hat – Weigerung der Behörden dieses zweitgenannten Staats, in seiner Geburtsurkunde einen Vermerk über die im erstgenannten Staat rechtswirksam vorgenommenen Änderungen des Vornamens und des Geschlechts einzutragen – Nationale Regelung, die die Änderung einer Personenstandsurkunde nur aufgrund einer rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung zulässt – Auswirkung des Austritts des Vereinigten Königreichs aus der Union“
I. Einleitung
1. Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 EUV, Art. 18, 20 und 21 AEUV sowie Art. 1, 7, 20, 21 und 45 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union(2).
2. Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen einer Person rumänischer Staatsangehörigkeit und den nationalen Behörden dieses Mitgliedstaats, die für die Führung der Personenstandsregister und die Verwaltung der Personenidentifikationsnummer zuständig sind(3), wegen deren Weigerung, den neuen Vornamen dieser Person und ihre Geschlechtsidentität(4), die sie im Vereinigten Königreich erworben(5) hat, dessen Staatsangehörigkeit sie ebenfalls besitzt, anzuerkennen und in ihre Geburtsurkunde einzutragen.
3. Diese Rechtssache gibt dem Gerichtshof Gelegenheit, die Tragweite seiner auf Art. 21 AEUV gestützten Entscheidungen zur Anerkennung der persönlichen Rechtsstellung der Unionsbürger in den Grenzen der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet des Standesamtswesens und des Personenstandsrechts weiter auszudifferenzieren.
II. Rechtlicher Rahmen
A. Austrittsabkommen
4. Im vierten und achten Absatz der Präambel des am 17. Oktober 2019 geschlossenen und am 1. Februar 2020 in Kraft getretenen Abkommens über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft(6), das mit dem Beschluss (EU) 2020/135 des Rates vom 30. Januar 2020(7) gebilligt wurde, heißt es:
„E[ingedenk] dessen, dass nach Artikel 50 AEUV in Verbindung mit Artikel 106a des Euratom-Vertrags und vorbehaltlich der Regelungen in diesem Abkommen das Recht der Union und der Euratom in seiner Gesamtheit ab dem Tag des Inkrafttretens dieses Abkommens auf das Vereinigte Königreich keine Anwendung mehr findet,
…
I[n der] E[rwägung], dass es sowohl im Interesse der Union als auch im Interesse des Vereinigten Königreichs liegt, einen Übergangs- oder Durchführungszeitraum festzulegen, in dem – ungeachtet aller Folgen des Austritts des Vereinigten Königreichs aus der Union für die Beteiligung des Vereinigten Königreichs an den Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union, insbesondere des Endes der Amtszeit der im Zusammenhang mit der Mitgliedschaft des Vereinigten Königreichs in der Union benannten, ernannten oder gewählten Mitglieder der Organe, Einrichtungen und Agenturen der Union am Tag des Inkrafttretens dieses Abkommens – das Unionsrecht, einschließlich der internationalen Übereinkünfte, auf das Vereinigte Königreich und im Vereinigten Königreich und in der Regel mit gleicher Wirkung wie in Bezug auf die Mitgliedstaaten Anwendung finden sollte, um Störungen in dem Zeitraum zu vermeiden, in dem das oder die Abkommen über die künftigen Beziehungen ausgehandelt werden“.
5. Art. 126 („Übergangszeitraum“) des Austrittsabkommens, der sich in Teil vier („Übergang“) befindet, sieht vor:
„Es gibt einen Übergangs- oder Durchführungszeitraum, der am Tag des Inkrafttretens dieses Abkommens beginnt und am 31. Dezember 2020 endet.“
6. Art. 127 („Anwendungsbereich für den Übergang“) Abs. 1 Unterabs. 1 und Abs. 6 dieses Abkommens bestimmt:
„(1) Sofern in diesem Abkommen nichts anderes bestimmt ist, gilt das Unionsrecht während des Übergangszeitraums für das Vereinigte Königreich sowie im Vereinigten Königreich.
…
(6) Sofern in diesem Abkommen nichts anderes bestimmt ist, schließen während des Übergangszeitraums alle Bezugnahmen auf Mitgliedstaaten in dem nach Absatz 1 geltenden Unionsrecht, einschließlich der Durchführung und Anwendung durch die Mitgliedstaaten, das Vereinigte Königreich ein.“
B. Rumänisches Recht
7. Art. 9 der Legea nr. 119/1996 cu privire la actele de stare civilă (Gesetz Nr. 119/1996 über Personenstandsurkunden)(8) vom 16. Oktober 1996 (im Folgenden: Gesetz Nr. 119/1996) in seiner auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung lautet:
„Weigert sich der Standesbeamte oder der Beamte, der als Standesbeamter tätig wird, eine Urkunde auszustellen oder eine Eintragung vorzunehmen, die in seinen Zuständigkeitsbereich fallen, so kann die geschädigte Person nach Maßgabe des Gesetzes beim zuständigen Gericht Klage erheben.“
8. Art. 43 dieses Gesetzes sieht vor:
„In Geburtsurkunden und gegebenenfalls in Heirats- oder Sterbeurkunden werden Eintragungen über Änderungen des Personenstands in folgenden Fällen vorgenommen:
…
f) die Änderung des Namens;
…
i) die Änderung des Geschlechts nach einem rechtskräftigen Urteil.“
9. In Art. 57 Abs. 1 dieses Gesetzes heißt es:
„Die Kraftloserklärung, Ergänzung oder Änderung von Personenstandsurkunden und der darin enthaltenen Angaben kann nur aufgrund einer rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung erfolgen.“
10. Nach den Art. 1, 2 sowie 10 ff. des Gesetzes Nr. 119/1996 stellen die für die Führung des Personenstandsregisters zuständigen Behörden auf der Grundlage der Personenstandsurkunden, die sie verwahren, ohne vollständige Abschriften zu erteilen, Geburts‑, Heirats- oder Sterbebescheinigungen aus.
11. In Art. 4 Abs. 2 Buchst. l der Ordonanța Guvernului nr. 41/2003 privind dobândirea și schimbarea pe cale administrativă a numelor persoanelor fizice (Regierungsverordnung Nr. 41/2003 über den Erwerb und die Änderung der Namen natürlicher Personen im Verwaltungsweg)(9) vom 30. Januar 2003 heißt es:
„Anträge auf Namensänderung gelten in den folgenden Fällen als begründet:
…
l) wenn die Person eine Genehmigung der Geschlechtsänderung durch eine in Rechtskraft erwachsene und unwiderrufliche gerichtliche Entscheidung erhalten hat und unter Vorlage einer rechtsmedizinischen Bescheinigung, in der ihr Geschlecht angegeben ist, beantragt, einen entsprechenden Namen zu führen“.
12. Art. 131 Abs. 2 der durch die Hotărârea Guvernului nr. 64/2011 pentru aprobarea Metodologiei cu privire la aplicarea unitară a dispozițiilor în materie de stare civilă (Regierungsbeschluss Nr. 64/2011 zur Genehmigung der Methodik zur einheitlichen Anwendung der Vorschriften des Personenstandsrechts) vom 26. Januar 2011 genehmigte Methodik bestimmt:
„Die Personenidentifikationsnummer wird auf der Grundlage der in der Geburtsurkunde eingetragenen Angaben des Geschlechts und des Geburtsdatums zugeteilt.“
13. Diese Personenidentifikationsnummer wird in die Personenstandsurkunden eingetragen(10).
14. Nach den rumänischen Vorschriften über die Ausstellung von Ausweisen und Reisepässen(11) werden in diese Dokumente insbesondere der Name, der Vorname, das Geschlecht und die Personenidentifikationsnummer des Ausweis- bzw. Passinhabers eingetragen. Änderungen dieser Daten, die im Ausland eingetreten sind, können in Rumänien ohne vorherige Registrierung durch die Standesämter bei der Ausstellung eines Reisepasses im Fall der Änderung des Namens und des Vornamens oder eines Personalausweises im Fall der Änderung der Personenstandsdaten keine Wirkung entfalten. Nach Art. 19 Buchst. i der Dringlichkeitsverordnung der Regierung Nr. 97/2005 stellt die für das Personenregister zuständige Behörde im Fall der Geschlechtsänderung einen neuen Personalausweis aus.
C. Recht des Vereinigten Königreichs
15. Nach Section 2 (1) und Section 3 des Gender Recognition Act 2004 (Gesetz von 2004 über die Anerkennung der Geschlechtszugehörigkeit) in seiner auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung(12), wendet sich eine Person, die das 18. Lebensjahr vollendet hat und die rechtliche Anerkennung des von ihr angegebenen Geschlechts begehrt, um eine Bescheinigung über die Anerkennung der Geschlechtszugehörigkeit (Gender recognition certificate)(13) zu erhalten, an einen Ausschuss für die Anerkennung der Geschlechtszugehörigkeit, der die von ihr beigebrachten Beweismittel prüft. Dabei handelt es sich zum einen um eine Diagnose der Geschlechtsdysphorie durch einen Arzt oder auf diesen Bereich spezialisierten Psychologen und zum anderen um eine eidesstattliche Erklärung, dass die Person mindestens zwei Jahre in ihrer erworbenen Geschlechtszugehörigkeit gelebt hat und beabsichtigt, den Rest ihres Lebens in der erworbenen Geschlechtszugehörigkeit zu leben.
16. Section 9 (1) dieses Gesetzes bestimmt, dass im Fall der Erteilung eines vollständigen GRC die erworbene Geschlechtszugehörigkeit in jeder Hinsicht die Geschlechtszugehörigkeit des Antragstellers wird. Sie kann indes nicht als Identifizierungsmittel verwendet werden(14).
17. Nach den Enrolment of Deeds (Change of Name) Regulations 1994 [Verordnung von 1994 über die Registrierung von Erklärungen (Namensänderung)](15), kann ein Bürger des Commonwealth seinen Nach- oder Vornamen durch einfache Erklärung, einen „Deed poll“, ändern, der für alle Personen, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, bei der Kanzlei des High Court of Justice (England & Wales), King’s Bench Division (Hoher Gerichtshof [England & Wales], Abteilung King’s Bench, Vereinigtes Königreich) eingetragen werden kann. In diesem Fall wird er in The London Gazette veröffentlicht. Diese Registrierung ist nicht verpflichtend, die Namensänderung kann vielmehr mit allen rechtlichen Mitteln bewiesen werden.
III. Sachverhalt des Ausgangsverfahrens und Vorlagefragen
18. Der Kläger(16), rumänischer Staatsangehöriger, wurde bei seiner Geburt am 24. August 1992 in Cluj-Napoca (Rumänien) als weiblich registriert.
19. Nachdem er 2008 mit seinen Eltern ins Vereinigte Königreich gezogen war, erwarb der Kläger am 21. April 2016 im Wege der Einbürgerung die britische Staatsangehörigkeit. Seitdem besitzt er eine doppelte Staatsangehörigkeit, die rumänische und britische.
20. Am 21. Februar 2017 änderte der Kläger seinen Vornamen und seine Anrede nach dem Verfahren des „Deed poll“ von weiblich zu männlich.
21. Hiernach ließ er bestimmte von den britischen Behörden ausgestellte amtliche Dokumente austauschen, und zwar seinen Führerschein und seinen Reisepass.
22. Am 29. Juni 2020 erhielt der Kläger im Vereinigten Königreich ein „Gender Recognition Certificate“ (GRC), eine Bescheinigung, die seine männliche Geschlechtsidentität bestätigt.
23. Im Mai 2021 beantragte der Kläger beim Standesamt von Cluj auf der Grundlage dieser beiden ihm im Vereinigten Königreich ausgestellten Dokumente, d. h. des „Deed poll“ und des GRC, die Eintragung von Vermerken über die Änderung seines Vornamens, seines Geschlechts und seiner Personenidentifikationsnummer, um diese dem männlichen Geschlecht anzupassen, in seine Geburtsurkunde sowie die Ausstellung einer neuen Geburtsbescheinigung mit diesen Angaben.
24. Wegen der Weigerung dieser Behörde reichte der Kläger am 14. September 2021 bei der Judecătoria Sectorului 6 Bucureşti (Gericht erster Instanz Stadtbezirk 6 Bukarest, Rumänien), dem vorlegenden Gericht, eine Klage gegen das Standesamt von Cluj, die für das Personenregister und die Verwaltung der Datenbanken des Innenministeriums zuständige Direktion und die Gemeinde Cluj-Napoca mit entsprechenden Anträgen ein.
25. Der Kläger macht geltend, er habe beim vorlegenden Gericht beantragt, anzuordnen, seine Geburtsurkunde entsprechend seiner im Vereinigten Königreich bestandskräftig anerkannten Geschlechtsidentität zu ändern. Er begehrt die unmittelbare Anwendung des Unionsrechts, insbesondere des Rechts jedes Unionsbürgers, sich im Hoheitsgebiet der Union frei zu bewegen und aufzuhalten, um ein seiner männlichen Geschlechtsidentität entsprechendes Reisedokument zu erhalten und dieses Recht damit ungehindert ausüben zu können. Er bringt vor, dass für ihn, wenn er in Rumänien ein neues Gerichtsverfahren durchlaufen müsse, um unmittelbar die Genehmigung der Geschlechtsänderung zu erreichen, die Gefahr bestünde, dass dieses zu einem anderen Ergebnis führe als dem, zu dem die Behörden im Vereinigten Königreich gelangt seien, denn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte(17) habe das Verfahren in Rumänien als unklar und unvorhersehbar eingestuft(18).
26. Die beklagten rumänischen Behörden machen geltend, mit der Klage werde die Anerkennung der neuen persönlichen Rechtsstellung begehrt, die sich aus den im Ausland vorgenommenen Änderungen ergebe. Gemäß Art. 43 Buchst. i des Gesetzes Nr. 119/1996 würden Eintragungen über Änderungen des Personenstands im Fall der Änderung des Geschlechts jedoch aufgrund einer rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung vorgenommen.
27. In diesem Verfahren ist der Consiliul Naţional pentru Combaterea Discriminării (Nationaler Rat für die Bekämpfung der Diskriminierung, Rumänien) dem Rechtsstreit nach Streitverkündung beigetreten, und dem Antrag der Asociația Accept (Organisation Accept) auf Beitritt als Streithelferin zur Unterstützung des Klägers wurde stattgegeben.
28. Das vorlegende Gericht verweist zunächst auf die einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs, insbesondere auf die Urteile vom 2. Oktober 2003, Garcia Avello(19), vom 14. Oktober 2008, Grunkin und Paul(20), vom 8. Juni 2017, Freitag(21), sowie vom 14. Dezember 2021, Stolichna obshtina, rayon „Pancharevo“(22), um sodann Zweifel an der Vereinbarkeit der nationalen Regelung mit den an die Unionsbürgerschaft geknüpften Rechten zu äußern, da diese Regelung die betroffene Person zwinge, ein neues gerichtliches Verfahren in einem der Mitgliedstaaten anzustrengen, dessen Staatsangehörigkeit sie besitze, obschon sie bereits ein Verfahren in einem anderen Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie ebenfalls besitze, erfolgreich durchlaufen habe, unabhängig von der Art des in letzterem Mitgliedstaat durchgeführten Verfahrens, insbesondere davon, ob sich um ein gerichtliches Verfahren oder ein Verwaltungsverfahren handele.
29. Schließlich hängt die Entscheidung des Ausgangsverfahrens nach Ansicht dieses Gerichts auch von der Klärung der Folgen des Austritts des Vereinigten Königreichs aus der Union ab. Falls seine erste Frage bejaht werde, sei zu klären, ob ein Mitgliedstaat verpflichtet ist, die Rechtswirkungen des Verfahrens zur Änderung der Geschlechtsidentität anzuerkennen, das in einem Staat durchgeführt wurde, der zum Zeitpunkt der Verfahrenseinleitung Mitgliedstaat war, aber zum Zeitpunkt des Verfahrensabschlusses bereits aus der Union ausgetreten war.
30. Unter diesen Umständen hat die Judecătoria Sectorului 6 București (Gericht erster Instanz Stadtbezirk 6 Bukarest) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Steht der Umstand, dass Art. 43 Buchst. i und Art. 57 des Gesetzes Nr. 119/1996 Änderungen der Angaben zum Personenstand hinsichtlich des Geschlechts und des Vornamens, die ein Transgender-Mann mit doppelter Staatsangehörigkeit (der rumänischen und der Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats) in einem anderen Mitgliedstaat mittels eines Verfahrens zur rechtlichen Anerkennung des Geschlechts rechtswirksam vorgenommen hat, nicht anerkennen und den rumänischen Staatsbürger dazu verpflichten, ein vollständiges gesondertes Gerichtsverfahren in Rumänien gegen das örtliche Standesamt zu führen – ein Verfahren, das vom EGMR als unklar und unvorhersehbar eingestuft wurde (Urteil X und Y/Rumänien) und das zu einer Entscheidung führen kann, die der des anderen Mitgliedstaats zuwiderläuft –, dem entgegen, dass das Recht auf Unionsbürgerschaft (Art. 20 AEUV) und/oder das Recht der Unionsbürger, sich in der Union frei zu bewegen und aufzuhalten (Art. 21 AEUV und Art. 45 der Charta), unter Wahrung der Würde, der Gleichheit vor dem Gesetz und der Nichtdiskriminierung (Art. 2 EUV, Art. 18 AEUV und Art. 1, 20 und 21 der Charta) sowie unter Wahrung des Rechts auf Privat- und Familienleben (Art. 7 der Charta) ausgeübt werden kann?
2. Wirkt sich der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Union auf die Beantwortung der ersten Frage aus, insbesondere wenn i) das Verfahren zur Änderung des Personenstands vor dem Brexit begonnen und während der Übergangsfrist abgeschlossen wurde und wenn ii) der Brexit zur Wirkung hat, dass eine Person von den Rechten im Zusammenhang mit der Unionsbürgerschaft einschließlich des Rechts, sich in der Union frei zu bewegen und aufzuhalten, nur auf der Grundlage rumänischer Identitäts- oder Reisedokumente Gebrauch machen kann, in denen das weibliche Geschlecht und ein weiblicher Vorname angegeben sind, obwohl dies ihrer bereits rechtlich anerkannten Geschlechtsidentität widerspricht?
31. Der Kläger und die Organisation Accept, die Gemeinde Cluj-Napoca, die rumänische, die deutsche, die griechische, die ungarische, die niederländische und die polnische Regierung sowie die Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Der Kläger und die Organisation Accept, die deutsche, die ungarische, die niederländische und die polnische Regierung sowie die Kommission haben auf die in der mündlichen Verhandlung am 23. Januar 2024 vom Gerichtshof zur mündlichen Beantwortung gestellten Fragen geantwortet.
IV. Würdigung
32. Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft einen Antrag auf Eintragung einer Änderung des Vornamens und des Geschlechts aufgrund von Dokumenten, die im Vereinigten Königreich zum einen vor dem Austritt dieses Staates aus der Union und zum anderen vor dem Ende des im Austrittsabkommen vorgesehenen Übergangszeitraums registriert wurden. Der Kläger, ein Staatsangehöriger des Vereinigten Königreichs, wo er wohnt, und Rumäniens, wo er geboren ist, macht geltend, dass die Ausstellung eines seiner Geschlechtsidentität entsprechenden Reisedokuments es ihm ermöglichen werde, sein Recht auszuüben, sich als Unionsbürger in der Union frei zu bewegen und aufzuhalten.
33. Daher fragt sich das vorlegende Gericht zum einen, ob einem Unionsbürger, der die Aktualisierung seiner Geburtsurkunde begehrt, die Anerkennung von Änderungen seiner Identität, die er in einem anderen Mitgliedstaat erlangt hat, in dem das Unionsrecht zum damaligen Zeitpunkt anwendbar war, aus unionsrechtlicher Sicht rechtmäßig verwehrt werden kann. Zum anderen ersucht es den Gerichtshof um eine Klarstellung, welche Folgen sich aus dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Union ergeben.
A. Zum Unionsrechtsbezug der Konstellation, in der ein Unionsbürger die Eintragung seiner Geschlechtsidentität in seiner Geburtsurkunde verlangt
34. Nach dem gegenwärtigen Stand des Unionsrechts sind die Fragen der Aktualisierung der in den Personenstandsurkunden des Geburtsmitgliedstaats eingetragenen Geschlechts- oder Geschlechtsidentitätsangaben aufgrund von in einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Urkunden oder ergangenen Entscheidungen weder durch Vorschriften geregelt noch richterlich entschieden.
35. So ist erstens darauf hinzuweisen, dass keine Verordnung über die Zusammenarbeit in Zivilsachen anwendbar ist. Der Personenstand ist ausdrücklich vom Anwendungsbereich der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen ausgenommen(23), und zwar seit dem Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen(24). Der Gegenstand des Rechtsstreits fällt auch nicht in den Anwendungsbereich der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000(25).
36. Ferner ist der Unionsgesetzgeber zwar tätig geworden, um den Verkehr von Personenstandsurkunden zu erleichtern, hat jedoch, wie aus dem Titel der Verordnung (EU) 2016/1191 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Juli 2016 zur Förderung der Freizügigkeit von Bürgern durch die Vereinfachung der Anforderungen an die Vorlage bestimmter öffentlicher Urkunden innerhalb der Europäischen Union und zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1024/2012(26) ersichtlich, ihre Wirkungen nicht behandelt. Diese Verordnung, deren Rechtsgrundlage insbesondere Art. 21 Abs. 2 AEUV ist, sieht mehrsprachige Formulare und eine generelle Befreiung von der Legalisation innerhalb der Union vor. Die Frage der Aktualisierung der nationalen Personenstandsregister wird darin nicht behandelt, obwohl sie in Nr. 4 des Grünbuchs der Kommission „Weniger Verwaltungsaufwand für EU-Bürger: Den freien Verkehr öffentlicher Urkunden und die Anerkennung der Rechtswirkungen von Personenstandsurkunden erleichtern“(27) thematisiert worden war.
37. Zweitens betrifft die gefestigte Rechtsprechung des Gerichtshofs im Bereich des Personenstandsrechts nur den in den Personenstandsurkunden eingetragenen Namen und Vornamen. Der Gerichtshof hat entschieden, dass die Vorschriften über die Umschrift dieser Aspekte der Identität einer Person zwar in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fallen, diese jedoch bei der Ausübung ihrer Zuständigkeit gleichwohl das Unionsrecht und insbesondere die Bestimmungen des AEU‑Vertrags über die jedem Unionsbürger zuerkannte Freiheit, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten zu bewegen und aufzuhalten, beachten müssen(28).
38. Drittens hat der Gerichtshof daran erinnert, dass „das Personenstandsrecht, zu dem die Regelungen über die Ehe und die Abstammung gehören, in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt und das Unionsrecht diese Zuständigkeit unberührt lässt. Den Mitgliedstaaten steht es daher frei, in ihrem nationalen Recht für Personen gleichen Geschlechts die Ehe und die Elternschaft vorzusehen oder nicht vorzusehen. Bei der Ausübung dieser Zuständigkeit müssen die Mitgliedstaaten jedoch das Unionsrecht und insbesondere die Bestimmungen des AEU‑Vertrags über die jedem Unionsbürger zuerkannte Freiheit, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten zu bewegen und aufzuhalten, beachten und hierzu den in einem anderen Mitgliedstaat nach dessen Recht festgestellten Personenstand anerkennen“(29).
39. Daher besteht nach ständiger Rechtsprechung bei Personen, die Angehörige eines Mitgliedstaats sind und sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufhalten, ein Bezug zum Unionsrecht(30). Folglich kann sich jeder Unionsbürger in dieser Situation auf die mit dieser Eigenschaft verbundenen, insbesondere die in Art. 21 Abs. 1 AEUV vorgesehenen Rechte berufen, und zwar gegebenenfalls auch gegenüber seinem Herkunftsmitgliedstaat(31).
40. Im vorliegenden Fall steht fest, dass der Kläger in seiner Eigenschaft als Unionsbürger von seinem Recht, sich in einem anderen Mitgliedstaat als seinem Herkunftsmitgliedstaat frei zu bewegen und aufzuhalten, gemäß Art. 21 AEUV Gebrauch gemacht hat und dass er die Staatsangehörigkeit des erstgenannten Mitgliedstaats erworben hat.
41. Außerdem macht der Kläger hier in seinem Herkunftsmitgliedstaat Rechte geltend, die er erworben hat, nachdem er im Vereinigten Königreich, das damals Mitgliedstaat der Union war, von seinem Freizügigkeitsrecht Gebrauch gemacht hat. Schließlich möchte er sich, da dieser Staat diese Eigenschaft nicht mehr besitzt, als Unionsbürger, der er infolgedessen nur mehr aufgrund seiner rumänischen Staatsangehörigkeit ist, im Hoheitsgebiet der Union mit rumänischen Identitäts- und Reisedokumenten bewegen können(32).
42. Die Situation des Klägers fällt mithin in den Anwendungsbereich des Unionsrechts. Wird dieses Prüfungsergebnis aber möglicherweise dadurch in Frage gestellt, dass der Kläger seine Rechte erst nach dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Union in Rumänien geltend gemacht hat?
B. Zur Auswirkung des Austrittsabkommens
43. Als Erstes ist daran zu erinnern, dass
– das Vereinigte Königreich am 31. Januar 2020 aus der Union und der Europäischen Atomgemeinschaft ausgetreten ist;
– das Austrittsabkommen gemäß Art. 2 Buchst. e in Verbindung mit Art. 126 einen Übergangszeitraum vom 1. Februar 2020, dem Tag des Inkrafttretens dieses Abkommens, und dem 31. Dezember 2020 vorsieht. Während dieses Zeitraums war das Unionsrecht im Vereinigten Königreich und in seinem Hoheitsgebiet gemäß Art. 127 Abs. 1 dieses Abkommens anwendbar, sofern in diesem nichts anderes bestimmt ist.
44. Als Zweites stelle ich fest, dass
– keine Bestimmung des Austrittsabkommens eine Ausnahme von dem in Art. 127 aufgestellten Grundsatz für Bestimmungen des Unionsrechts vorsieht, die im Ausgangsverfahren anwendbar wären;
– im vorliegenden Fall die Wirkungen der Ausübung des Freizügigkeitsrechts im Vereinigten Königreich, die vor dem Austritt dieses Mitgliedstaats bzw. während des Übergangszeitraums eingetreten sind, in einem anderen Mitgliedstaat geltend gemacht werden. Am 21. Februar 2017 wurden nämlich nach einem „Deed poll“‑Verfahren der Vorname und die Anrede geändert und am 29. Juni 2020 – während des Übergangszeitraums – ein GRC, eine Bescheinigung über die männliche Geschlechtsidentität, erteilt.
45. Meiner Ansicht nach ist hieraus zu folgern, dass dieses GRC, das während des Übergangszeitraums ausgestellt wurde, im betroffenen Mitgliedstaat wie ein amtliches Dokument eines anderen Mitgliedstaats nach dem am Tag der Prüfung des Antrags anwendbaren Unionsrecht zu behandeln ist(33).
46. Diese Einstufung kann nicht vom Ende des Übergangszeitraums und folglich dem Zeitpunkt, zu dem seine Wirkungen von der betroffenen Person geltend gemacht werden, abhängen(34). Infolgedessen kann die vom Kläger behauptete Beschränkung des Freizügigkeitsrechts(35) durch die Weigerung, seine Geburtsurkunde zu aktualisieren, grundsätzlich anhand der Bestimmungen des Art. 21 AEUV gewürdigt werden.
47. Demnach möchte das vorlegende Gericht mit seinen beiden Fragen, die meines Erachtens zusammen zu prüfen sind, im Wesentlichen wissen, ob Art. 21 AEUV sowie die Art. 7 und 45 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie dem entgegenstehen, dass die Behörden eines Mitgliedstaats sich weigern, den Vornamen und die Geschlechtsidentität, die ein Staatsangehöriger dieses Mitgliedstaats, der auch britischer Staatsangehöriger ist, im Vereinigten Königreich rechtswirksam erklärt und erworben hat, als dieser Staat – bei der ersten Erklärung – noch Mitglied der Union bzw. das Unionsrecht – bei der zweiten Erklärung – noch anwendbar war, anzuerkennen und in seine Geburtsurkunde einzutragen, und dies damit begründen, dass eine Bestimmung des nationalen Rechts die Möglichkeit, eine solche Eintragung zu erlangen, von der Anerkennung der Geschlechtsänderung durch ein Gericht des erstgenannten Mitgliedstaats abhängig mache.
48. Daher ist zu prüfen, welche personenstandsrechtlichen Folgen sich aus den streitgegenständlichen Dokumenten nach dem Unionsrecht ergeben können.
C. Zur personenstandsrechtlichen Anerkennung der in einem Mitgliedstaat rechtswirksam vorgenommenen Änderung des Vornamens und des Geschlechts in einem anderen Mitgliedstaat
49. Unter Berücksichtigung der Voraussetzungen, unter denen in einem Mitgliedstaat die Wirkungen amtlicher Dokumente, die in einem anderen Mitgliedstaat ausgestellt wurden, anzuerkennen sind, merke ich als Erstes an, dass das vorlegende Gericht davon ausgeht, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Dokumente, die weder Personenstandsurkunden noch gerichtliche Entscheidungen sind, gültig sind und personenstandsrechtlich in Bezug auf die Identität des Klägers(36) die gleichen Wirkungen entfalten können wie die von den britischen Behörden anerkannten. Diese hatten infolge der Erklärung über die Änderung des Vornamens und der Anrede (Deed poll) einen neuen Reisepass und einen Führerschein ausgestellt; hinsichtlich des GRC finden sich keine näheren Ausführungen(37).
50. Als Zweites sind, was den Antrag auf Aktualisierung der Geburtsurkunde eines Unionsbürgers anbelangt, die Entscheidungen des Gerichtshofs zum Personenstand heranzuziehen, die ausschließlich die Weigerung der Behörden eines Mitgliedstaats betreffen, den Vor- oder Nachnamen anzuerkennen, den ein Staatsangehöriger dieses Mitgliedstaats, der von seinem Freizügigkeitsrecht Gebrauch gemacht hat und auch die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats besitzt, unter den Umständen des Ausgangsverfahrens vergleichbaren Umständen nach den in letzterem Mitgliedstaat geltenden Regelungen erworben hat(38).
51. Der Gerichtshof hat zunächst befunden, dass „Vor- und Nachnamen einer Person Teil ihrer Identität und ihres Privatlebens sind, deren Schutz in Art. 7 der [Charta] und in Art. 8 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) verankert ist“. Der Gerichtshof hat ferner entschieden, dass Vor- und Nachnamen einer Person, auch wenn in Art. 7 der Charta nicht ausdrücklich erwähnt, als Mittel zur persönlichen Identifizierung und zur Zuordnung zu einer Familie dennoch das Privat- und Familienleben dieser Person betreffen(39).
52. Sodann hat der Gerichtshof entschieden, dass es wegen der Missverständnisse und Nachteile, zu denen die Abweichung zwischen den beiden Namen, die für dieselbe Person verwendet werden, im Hinblick auf den Nachweis der eigenen Identität ebenso wie der Art ihrer Verwandtschaftsbeziehungen führen kann, die Ausübung des in Art. 21 AEUV verankerten Rechts, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, behindern kann, wenn sich die Behörden eines Mitgliedstaats weigern, den Namen eines Angehörigen dieses Staats, der von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat und auch die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats besitzt, so anzuerkennen, wie er dort bestimmt wurde(40).
53. Schließlich können etwaige andere Rechtsgrundlagen des nationalen Rechts zur Änderung des Namens auf Antrag des Betroffenen nur dann als mit dem Unionsrecht vereinbar angesehen werden, wenn sie die Wahrnehmung der durch Art. 21 AEUV verliehenen Rechte nicht unmöglich machen oder übermäßig erschweren. Außerdem muss mangels einer unionsrechtlichen Regelung auf dem Gebiet der Änderung des Familiennamens die Ausgestaltung der Bedingungen durch das nationale Recht den Äquivalenzgrundsatz beachten(41).
54. In diesen Entscheidungen, die auf das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, das jedem Unionsbürger zugutekommt, gestützt waren, hat der Gerichtshof bejaht, dass personenstandsbezogene Dokumente in einem Mitgliedstaat an den in einem anderen Mitgliedstaat entweder nach den Vorschriften über die Namensbestimmung(42) oder infolge einer freiwilligen Änderung(43) erhaltenen Namen oder Vornamen anzupassen sind.
55. Dahinter steht die Überlegung, dass im Rahmen des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten und im Interesse der Gewährleistung der Freizügigkeit der betroffenen Person ein in einem anderen Mitgliedstaat erworbener Vor- oder Nachname und nicht ein Verwaltungsakt oder ein Akt der Rechtsprechung automatisch anerkannt wird. Dieser Grundgedanke unterscheidet sich somit von demjenigen der Anerkennung der Wirkungen ausländischer Urkunden und Urteile nach den Methoden des Internationalen Privatrechts(44), der die Ausarbeitung von Sondervorschriften auf anderer Grundlage als Art. 21 AEUV rechtfertigen würde(45).
56. Vor diesem Hintergrund ist zu prüfen, unter welchen Voraussetzungen sich diese Rechtsprechung übertragen lässt, und dabei zwischen den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Dokumenten zu differenzieren, soweit sich der Gerichtshof bereits zur automatischen Anerkennung eines neuen Vornamens geäußert hat.
1. Änderung des Vornamens
57. Im vorliegenden Fall ist in Bezug auf die Änderung des Vornamens, die der Kläger im Vereinigten Königreich vor der Anerkennung seiner Geschlechtsidentität rechtswirksam vorgenommen hat, festzustellen, dass der in seinem britischen Reisepass und Führerschein angegebene Vorname nicht mit demjenigen übereinstimmt, der im rumänischen Personenstandsregister und den rumänischen Amtsdokumenten eingetragen ist. Wie in der Rechtssache, in der das Urteil Bogendorff(46) ergangen ist, besteht erst recht im Fall der Wahl eines neuen Vornamens im Zusammenhang mit anschließender Erklärung über die Geschlechtsidentität kein Zweifel, dass die Verschiedenheit der von ein und derselben Person geführten Vornamen dieser schwerwiegende Nachteile administrativer, beruflicher und privater Art verursachen kann.
58. Somit liegt in der Weigerung der Behörden eines Mitgliedstaats, den Vornamen so anzuerkennen, wie er in einem anderen Staat, der zum damaligen Zeitpunkt Mitglied der Union war, bestimmt wurde, eine Beschränkung der Freiheiten, die Art. 21 AEUV jedem Unionsbürger zuerkennt.
59. Weder das vorlegende Gericht noch die rumänische Regierung führen, außer dem von den zuständigen rumänischen Behörden vorgebrachten Einwand im Zusammenhang mit der Anerkennung der Geschlechtsidentität(47), einen anderen besonderen Grund an, der die Weigerung rechtfertigen könnte, den vom Kläger im Vereinigten Königreich erlangten Vornamen anzuerkennen und in dessen Geburtsurkunde einzutragen. Dieses Gericht hat ferner neben der Vorschrift über die Änderung des Geschlechts keine spezielle Vorschrift über die Änderung des Vornamens genannt. Überdies hat es keine Informationen über ein Verfahren zur unionsrechtskonformen Anerkennung einer ausländischen Entscheidung hinsichtlich des Vor- und Nachnamens mitgeteilt(48).
60. Zudem verstößt es unter den Umständen des Ausgangsverfahrens gegen den Effektivitätsgrundsatz und gewährleistet nicht den Schutz der Rechte, die dem Kläger nach dem Unionsrecht, insbesondere nach Art. 21 AEUV zustehen, wenn die Anerkennung des neuen Vornamens an die Anerkennung der Geschlechtsidentität geknüpft wird(49). Schließlich könnte das vorlegende Gericht keine Gründe der öffentlichen Ordnung oder der Gleichbehandlung heranziehen, um die Verweigerung der Änderung des Vornamens zu rechtfertigen(50).
61. Daher bin ich der Ansicht, dass es unter diesen Umständen im Hinblick auf die Aktualisierung der Geburtsurkunde des Klägers keine Schwierigkeiten bereitet, die Anerkennung der Änderung des Vornamens und die Anerkennung der Änderung des Geschlechts getrennt zu behandeln, auch wenn dann der Vorname mit einem anderen Geschlecht als demjenigen, das soziologisch mit dem bei der Geburt eingetragenen Geschlecht assoziiert wird, verbunden erscheinen mag.
62. Im Übrigen muss meiner Ansicht nach zur Würdigung der Tragweite einer Entscheidung über die automatische Anerkennung eines neuen Vornamens in dieser Situation der tatsächliche Rahmen, in dem der Gerichtshof angerufen wurde, verlassen werden und in die Betrachtung einbezogen werden, dass eine solche Anerkennung Folgen für andere Personenstandsurkunden haben kann, etwa Personenstandsurkunden der Familienangehörigen der betroffenen Person, die deren Vornamen vor der Änderung enthalten, insbesondere eine Ehe- oder Partnerschaftsurkunde oder die Geburtsurkunde eines Kindes.
63. Meines Erachtens muss die Anerkennung des neuen Vornamens, wenn im Personenstandsrecht vorgesehen, ihre Wirkungen vorbehaltlos entfalten, zumal sie keine Änderung der Identität betroffener Dritter bewirkt, im Gegensatz zur Anerkennung einer Änderung des Nachnamens, der gegebenenfalls vom Ehegatten gewählt oder erhalten oder auch an die Kinder weitergegeben wurde. Umgekehrt würde sich hieraus ohne nachfolgende Aktualisierung eine Divergenz zwischen den Personenstandsurkunden ergeben, die die Wahrnehmung der Rechte aus Art. 21 AEUV behindern würde, wenn die Familienangehörigen auf der Grundlage der von ihnen nachzuweisenden verwandtschaftlichen Beziehungen in den Genuss dieser Rechte kommen möchten.
64. Aus diesem Grund sollte sich der Umfang der Antwort des Gerichtshofs meines Erachtens nicht auf die Geburtsurkunde der betroffenen Person beschränken. Demnach wäre Art. 21 AEUV allgemein dahin auszulegen, dass er dem entgegensteht, dass die Behörden eines Mitgliedstaats die Eintragung eines von einem Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats in einem anderen Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er ebenfalls besitzt, erworbenen Vornamens in ein Personenstandsregister auf der Grundlage einer Bestimmung des nationalen Rechts verweigern, die die Möglichkeit, eine solche Eintragung zu erlangen, von der Anerkennung der Geschlechtsänderung durch ein Gericht des erstgenannten Mitgliedstaats abhängig macht.
2. Änderung des Geschlechts
65. Im vorliegenden Fall ist die vollkommen neue Frage, um deren Klärung der Gerichtshof ersucht wird, ob sich seine Rechtsprechung zum Personenstandsrecht in Bezug auf die grenzüberschreitenden Wirkungen des Erwerbs eines Namens in einem anderen Mitgliedstaat in allen Punkten übertragen lässt.
a) Analogie zur Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Namen
66. Einleitend ist hervorzuheben, dass der Gerichtshof zwar im Urteil vom 26. Juni 2018, MB (Geschlechtsumwandlung und Altersrente)(51), darauf hingewiesen hat, „dass das Unionsrecht die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten im Bereich des Personenstands und der rechtlichen Anerkennung der Geschlechtsumwandlung einer Person unberührt lässt“(52), die Rechtssache, in der diese Entscheidung ergangen ist, jedoch nicht die rechtliche Anerkennung der in einem Mitgliedstaat erworbenen Geschlechtsidentität in einem anderen Mitgliedstaat zum Gegenstand hatte(53).
67. Daher ist zu entscheiden, ob die bisher nur zu der im Hinblick auf die personenstandsrechtliche Eintragung in einem anderen Mitgliedstaat von Rechts wegen eintretenden Anerkennung der Änderung des Namens als einem Bestandteil der Identität eines Unionsbürgers ergangene Rechtsprechung unter den gleichen Voraussetzungen zur Anwendung gelangen soll, wenn es um die Angabe des Geschlechts in der Geburtsurkunde geht.
68. In einem ersten Prüfungsschritt könnte es aus drei Gründen geboten sein, die Frage zu bejahen und in gleicher Weise zu beantworten wie im Urteil Freitag(54).
69. Zunächst ist in einem Großteil der Mitgliedstaaten(55)die Angabe des Geschlechts ebenso wie der Name und der Vorname grundlegender Bestandteil der Identität einer Person(56). Der Vorname ist meistens an das in der Geburtsurkunde eingetragene Geschlecht geknüpft(57), manchmal auch der Nachname(58).
70. Ferner verbieten es die Grundlagen der Anerkennung eines neuen Namens oder Vornamens zwecks ihrer personenstandsrechtlichen Eintragung, sprich die Anforderungen, die sich aus Art. 21 AEUV und aus dem in Art. 7 der Charta sowie Art. 8 EMRK verbürgten Recht auf Achtung des Privatlebens(59) ergeben, einem Unionsbürger den Kernbestand der Rechte, die ihm sein Status verleiht, vorzuenthalten, und zwar hinsichtlich aller Aspekte seiner Identität.
71. Darüber hinaus steht diese Lösung im Einklang mit der auf Art. 8 EMRK beruhenden nunmehr ständigen Rechtsprechung des EGMR zur Achtung der Geschlechtsidentität(60).
72. Der EGMR hat sich zwar nicht zu Fällen der Anerkennung von Entscheidungen über die Änderung des Namens oder des Geschlechts geäußert(61), aber er hat vielfach bekräftigt, dass aus der Achtung des Privat- und Familienlebens die positive Verpflichtung des Staates erwächst, dieses durch Maßnahmen zur Anerkennung der Änderung sowohl des Namens oder des Vornamens(62) als auch der Geschlechtsidentität(63) zu garantieren und deren Folgen personenstandsrechtlich zu berücksichtigen.
73. Überdies ist festzustellen, dass 25 der 27 Mitgliedstaaten ein Verfahren zur Änderung des Personenstands vorsehen, um die bei der Geburt zugewiesene rechtliche Identität nachträglich aufgrund einer individuellen Wahl des Geschlechts zu ändern(64), was die Stichhaltigkeit des Lösungsvorschlags bestärkt, der in entsprechender Anwendung der Rechtsprechung zum Namen auf den in Nr. 70 der vorliegenden Schlussanträge genannten Grundsätzen beruht.
74. Ich füge hinzu, dass es mit Blick auf Art. 21 AEUV aufgrund der positiven Verpflichtung, die sich aus der Rechtsprechung des EGMR(65) ergibt, und des Analogieschlusses, der sich aus dem Urteil Grunkin und Paul ziehen lässt, keinen Hinderungsgrund darstellen dürfte, wenn in einem Mitgliedstaat die Anerkennung der Erklärung über die Änderung des Geschlechts nicht geregelt ist. In letzterer Entscheidung hat sich der Gerichtshof zur Anerkennung des Namens eines Kindes geäußert, der sich aus den Namen des Vaters und der Mutter zusammensetzte, während das deutsche Recht einen solchen Doppelnamen nicht vorsah(66).
75. Schließlich hat sich der Gerichtshof im Rahmen der Prüfung der Rechtfertigung einer Beschränkung des Freizügigkeitsrechts insbesondere zu dem Anliegen geäußert, im Fall freiwilliger Namensänderungen zu verhindern, dass das nationale Personenstandsrecht dadurch umgangen wird, dass die Freizügigkeit und die daraus fließenden Rechte allein zu diesem Zweck ausgeübt werden. Bei dieser Gelegenheit hat er darauf hingewiesen, dass er in Rn. 24 des Urteils vom 9. März 1999, Centros(67), bereits entsch ieden hatte, dass ein Mitgliedstaat berechtigt ist, Maßnahmen zu treffen, die verhindern sollen, dass sich seine Staatsangehörigen unter Missbrauch der durch den Vertrag geschaffenen Möglichkeiten der Anwendung des nationalen Rechts entziehen, und dass die missbräuchliche oder betrügerische Berufung auf Unionsrecht nicht gestattet ist(68).
76. Was dies anbelangt, ist zu berücksichtigen, dass die Regelungen der Mitgliedstaaten zur Anerkennung der Geschlechtsidentität gegenwärtig weniger konsolidiert sind als diejenigen zur Änderung des Namens im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichtshofs(69). Einige Mitgliedstaaten sehen auf der Selbstbestimmung basierende Verfahren vor(70), während in anderen Mitgliedstaaten aufgrund der Rechtsprechung des EGMR(71) die Beweisanforderungen geändert bzw. abgeschafft wurden(72).
77. Diese Unterschiede des im Fall von Änderungen des Geschlechts anwendbaren materiellen Rechts können jedoch nicht zu der Annahme führen, es lägen wichtige Gründe dafür vor, diesen Änderungen die Anerkennung zu versagen(73). Da es darum geht, den an die Unionsbürgerschaft geknüpften Rechten Wirkungen zu verleihen, rechtfertigen es diese Unterschiede lediglich, besonderes Augenmerk auf die Umstände zu richten, unter denen diese Rechte ausgeübt werden, um Missbräuchen entgegenzutreten.
78. Folglich erscheint es mir, wie in der mündlichen Verhandlung erwogen, angemessen, dass dem Missbrauchsrisiko mit Wohnsitz- oder der Staatsangehörigkeitsvoraussetzungen begegnet werden darf(74), die der Prüfung dienen, ob enge Bindungen zu dem Mitgliedstaat bestehen, in dem die Änderung erfolgt ist(75).
79. Zur Anwendung der vorstehend dargelegten Grundsätze auf den Ausgangsrechtsstreit merke ich an, dass die einzige in dem Vorabentscheidungsersuchen angeführte Begründung(76) für die Weigerung, die Änderung des Geschlechts infolge einer Erklärung über die Geschlechtsidentität anzuerkennen und ohne Verfahren in die in Rede stehende Geburtsurkunde einzutragen, daraus hergeleitet wird, dass in Rumänien andere Rechtsgrundlagen für die Änderung des Geschlechts bestehen.
80. Allerdings zeigt das Urteil X und Y/Rumänien(77), wie das vorlegende Gericht ausgeführt hat, dass dieses nationale Verfahren nicht als mit dem Unionsrecht vereinbar angesehen werden kann, weil es die Wahrnehmung der durch Art. 21 AEUV verliehenen Rechte unmöglich macht oder übermäßig erschwert(78).
81. Demnach könnte der Gerichtshof angesichts der Umstände des Ausgangsverfahrens ebenso wie in den vorangegangenen Urteilen, die den Namen eines Unionsbürgers betrafen, in der Weigerung der rumänischen Behörden, die Geschlechtsidentität, die im Vereinigten Königreich erworben wurde, als das Unionsrecht noch anwendbar war, anzuerkennen, eine nicht gerechtfertigte Beschränkung der Freiheiten sehen, die Art. 21 AEUV jedem Unionsbürger zuerkennt.
82. Jedoch wirft in einem zweiten Prüfungsschritt die unerlässliche Würdigung der allgemeinen Tragweite einer solchen Entscheidung, die auf der gleichen Grundlage beruht wie die Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Namen, die Frage nach möglichen Grenzen auf, die aufgrund der besonderen Wirkungen der Angabe des Geschlechts in der Geburtsurkunde hinsichtlich der persönlichen Rechtsstellung geboten sein könnten.
b) Begrenzung der Übertragung der Rechtsprechung zum Namen?
83. Die Angabe des Geschlechts in der Geburtsurkunde entfaltet hinsichtlich der persönlichen Rechtsstellung besondere Wirkungen. Welche Folgen ergäben sich gegebenenfalls mit Blick auf die letzten Entscheidungen des Gerichtshofs zu den Bedingungen, unter denen Personenstandsurkunden aus einem Mitgliedstaat Wirkungen in einem anderen Mitgliedstaat entfalten müssen, nämlich den Urteilen Coman u. a. und Pancharevo?
1) Zu den besonderen Wirkungen des standesamtlichen Geschlechtseintrags auf die persönliche Rechtsstellung
84. Im Personenstandswesen hat die Erklärung über die geschlechtliche Identität Wirkungen, die dem Namen nicht zukommen. Die Änderung des Namens kann zwar die Änderung des Namens der Personen nach sich ziehen, an die er weitergegeben oder von denen er gewählt wurde(79). Im Vergleich dazu kann die Erklärung über die Geschlechtsidentität jedoch nicht als Willensäußerung angesehen werden, die sich auf die Identität der betroffenen Person beschränkt.
85. Diese Erklärung ändert nämlich sowohl die persönliche Rechtsstellung als auch den familienrechtlichen Status des Betroffenen. Sie kann somit bei der Ausübung von Rechten, die weiterhin mit der Verschiedenheit der Geschlechter korrelieren (Ehe, Abstammung, Rente(80), Gesundheit, Sportwettkämpfe usw.), eingewandt werden.
86. Soweit die Aktualisierung der Personenstandsurkunden durch das Ziel gerechtfertigt wird, die an die Freizügigkeit des betroffenen Unionsbürgers und seiner Familienangehörigen geknüpften Rechte zu gewährleisten(81), stellt sich daher wie bei der Änderung des Namens(82) unweigerlich die Frage nach der Wirkungskette der Registrierung einer Erklärung über die Geschlechtsidentität, die in einem Mitgliedstaat anerkannt wurde, auf andere, vor einer solchen Erklärung(83) im selben Mitgliedstaat oder in anderen Mitgliedstaaten ausgestellte Personenstandsurkunden wie Heiratsurkunden oder Geburtsurkunden der Kinder, wie es die Urteile Coman u. a. und Pancharevo veranschaulichen.
2) Zu den Wirkungen, die der Anerkennung der in einem anderen Mitgliedstaat rechtswirksam vorgenommenen Erklärung über die Geschlechtsidentität und ihrer Eintragung in einem Personenstandsregister eigen sind
87. Aus den Urteilen Coman u. a. und Pancharevo leite ich ab, dass der Gerichtshof auf die Einhaltung des Grundsatzes geachtet hat, wonach das Unionsrecht die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die personenstandsrechtliche Eintragung von Angaben unberührt lässt, die eine Anerkennung der Institution der gleichgeschlechtlichen Ehe oder ein Abstammungsverhältnis zu zwei Elternteilen gleichen Geschlechts bewirken würden. In letztgenanntem Fall wurde klar darauf hingewiesen, dass eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten im Bereich des Personenstandswesens nicht besteht(84).
88. Daher bin ich der Ansicht, dass die Frage der Wirkungen der Anerkennung von in einem Mitgliedstaat ausgestellten Urkunden oder Entscheidungen über die Angabe des Geschlechts unter einem anderen Blickwinkel zu betrachten ist als demjenigen, den der Gerichtshof im Bereich des Namens eingenommen hat(85).
89. Im Urteil Coman u. a. hat der Gerichtshof nämlich zwar die Pflicht eines Mitgliedstaats angenommen, eine zwischen Personen gleichen Geschlechts in einem anderen Mitgliedstaat nach dessen Recht geschlossene Ehe anzuerkennen, jedoch allein zum Zweck der Gewährung eines abgeleiteten Aufenthaltsrechts zugunsten eines Drittstaatsangehörigen, und ausgeführt, die Anerkennungspflicht bedeute nicht, dass dieser Mitgliedstaat in seinem nationalen Recht das Institut der Ehe zwischen Personen gleichen Geschlechts vorsehen müsste(86).
90. Im Urteil Pancharevo hat der Gerichtshof entschieden, dass die Behörden eines Mitgliedstaats für seinen Staatsangehörigen einen Personalausweis oder Reisepass auf der Grundlage einer in einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Geburtsurkunde ausstellen müssen, unabhängig von der Ausstellung einer neuen Geburtsurkunde in einem nationalen Register, da erstere Urkunde anerkannt werden muss(87).
91. Die Entscheidungen des Gerichtshofs in diesen beiden Urteilen knüpfen an seine ständige Rechtsprechung zu den grenzüberschreitenden Wirkungen eines zugewiesenen oder gewählten Namens an. Er hat an die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für das Personenstandsrecht(88) und die Pflicht erinnert, die Rechte aus Art. 21 AEUV zu gewährleisten, die folglich die Anerkennung der Ehe von Personen gleichen Geschlechts(89) oder das in einem anderen Mitgliedstaat eingetragene Abstammungsverhältnis zu Eltern gleichen Geschlechts(90) gebietet. In letzterem Fall bescheinigte die in einem Mitgliedstaat ausgestellte Geburtsurkunde das Bestehen von Abstammungsverhältnissen ausschließlich zu Zwecken der Ausstellung eines Reisedokuments durch einen anderen Mitgliedstaat für seine Staatsangehörigen(91) ohne Wirkungen für die Führung der Personenstandsregister dieses Mitgliedstaats.
92. Folglich muss die Lösung im Bereich der Anerkennung einer Änderung des Geschlechts infolge einer Erklärung über die Geschlechtsidentität, die in einem anderen Mitgliedstaat rechtswirksam vorgenommen wurde, und deren Eintragung in ein Personenstandsregister auf der Grundlage der Gebote der Selbstbestimmung(92) und des Freizügigkeitsrechts der Unionsbürger(93) meines Erachtens gewisse Grenzen vorsehen.
93. Diese Lösung bestünde darin, die Pflicht der Mitgliedstaaten, die Änderung von Bestandteilen der Identität einer Person entsprechend dem gewählten Geschlecht einzutragen, auf die Geburtsurkunde dieser Person zu beschränken, wenn sie sich auf andere Personenstandsurkunden auswirken kann. Allgemein gefasst würde die Antwort des Gerichtshofs an das vorlegende Gericht die personenstandsrechtlichen Wirkungen der aus Art. 21 AEUV abgeleiteten Grundsätze auf die Identifizierungsmittel der betroffenen Person(94) beschränken, die insbesondere der Bewegung im Hoheitsgebiet der Union dienen, und zwar im Hinblick auf die Ausstellung eines Personalausweises oder Reisepasses(95).
94. Diese Lösung hätte zur Folge, dass keine unionsrechtliche Verpflichtung zur Aktualisierung von Personenstandsurkunden betreffend die Familienangehörigen der betroffenen Person bestünde, soweit diese Aktualisierung eine Anerkennung der gleichgeschlechtlichen Ehe(96) oder von Abstammungsverhältnissen zu Elternteilen gleichen Geschlechts(97) in den Personenstandsregistern nach sich ziehen würde, die den Mitgliedstaaten nach dem Unionsrecht nicht auferlegt werden kann.
95. Im Rahmen eines solchen Ansatzes könnte die vom Gerichtshof bereits formulierte, auf Art. 21 AEUV gestützte Behelfslösung voneinander abweichender Personenstandsurkunden eines Paars oder einer Familie dahin angepasst werden, dass die Erklärung über die Geschlechtsidentität für bereits existente Personenstandsurkunden nur bei der Ausstellung eines Personalausweises, eines Aufenthaltstitels oder eines Reisepasses gemäß der Rechtsprechung des Gerichtshofs in den Urteilen Coman u. a. und Pancharevo Wirkungen entfalten würde.
96. Zwar ist diese Lösung im Hinblick auf das Recht auf Achtung des Familienlebens und das Kindeswohl nicht zufriedenstellend, da die transgeschlechtliche Person die von ihr eingegangenen familiären Bindungen anhand von Personenstandsurkunden nachweisen können muss. Denn ich bin der Ansicht, dass die Trennung zwischen der Ausstellung eines behördlichen Dokuments und der Führung des Personenstandsregisters, auch wenn sie für das Verlassen des Hoheitsgebiets, dessen Staatsangehöriger der Bürger ist, denkbar erscheint, nach dessen Rückkehr der Anforderung nicht gerecht wird, nicht mit bürokratischen Problemen behelligt zu werden(98).
97. Da jedoch die in einem Mitgliedstaat erfolgte Anerkennung einer Änderung in Bezug auf die Identität eines Unionsbürgers in einem anderen Mitgliedstaat auf Art. 21 AEUV beruht, sind allein die Mitgliedstaaten dafür zuständig, die Folgen festzulegen, die sich im Personenstandswesen aus der Anpassung aller Personenstandsurkunden ergeben würden(99).
98. Auch nach Ansicht des EGMR müssen die im Rahmen der Organisation des Personenstandswesens betroffenen öffentlichen Interessen(100) und die Anerkennung der Geschlechtsidentität der Personen in einen Ausgleich gebracht werden(101). Hierbei müssen die unterschiedlichen Anforderungen in den Mitgliedstaaten Berücksichtigung finden(102).
99. Daher bin ich der Auffassung, dass Art. 21 AEUV dahin auszulegen ist, dass er der Weigerung der zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats entgegensteht, die Geschlechtsidentität eines Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats, die er in einem anderen Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er ebenfalls besitzt, erworben hat, anzuerkennen und ohne Verfahren in seine Geburtsurkunde einzutragen. Dass im nationalen Recht ein Verfahren zur Änderung des biologischen Geschlechts oder des Genders zur Verfügung steht, kann eine solche Weigerung nicht rechtfertigen.
100. Vor dem Hintergrund aller in Bezug auf die in einem anderen Mitgliedstaat rechtswirksam vorgenommenen Änderungen des Vornamens und des Geschlechts aufgeführten Punkte und unter Berücksichtigung der Umstände des Ausgangsverfahrens werde ich dem Gerichtshof eine Antwort auf die Fragen des vorlegenden Gerichts vorschlagen, die sich auf die Geburtsurkunde des betroffenen Unionsbürgers beschränkt, allgemein gefasst ist und durch eine Klarstellung der fehlenden Auswirkung des Austritts des Vereinigten Königreichs aus der Union ergänzt wird.
V. Ergebnis
101. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die Vorlagefragen der Judecătoria Sectorului 6 București (Gericht erster Instanz Stadtbezirk 6 Bukarest, Rumänien) wie folgt zu beantworten:
1. Art. 21 AEUV sowie die Art. 7 und 45 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union
sind dahin auszulegen, dass
sie der Weigerung der Behörden eines Mitgliedstaats entgegenstehen, den Vornamen und die Geschlechtsidentität, die ein Staatsangehöriger dieses Mitgliedstaats in einem anderen Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er ebenfalls besitzt, rechtswirksam erklärt und erworben hat, anzuerkennen und in seine Geburtsurkunde einzutragen.
Die Verfügbarkeit von Gerichts- oder Verwaltungsverfahren zur Änderung des biologischen Geschlechts oder des Genders kann kein Hinderungsgrund für eine solche automatische Anerkennung sein.
Dahingegen lässt das Unionsrecht die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten unberührt, in ihrem nationalen Recht die Auswirkungen dieser Anerkennung und dieser Eintragung auf andere Personenstandsurkunden sowie auf das Personenstandsrecht, zu dem die Regelungen über die Ehe und die Abstammung gehören, vorzusehen.
2. Der Umstand, dass der Antrag auf Anerkennung und Eintragung der im Vereinigten Königreich rechtswirksam vorgenommenen Änderung des Vornamens und des Geschlechts in ein Personenstandsregister in einem Mitgliedstaat der Union zu einem Zeitpunkt gestellt wurde, zu dem das Unionsrecht im Vereinigten Königreich nicht mehr anwendbar war, hat keine Auswirkung.