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SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

JEAN RICHARD DE LA TOUR

vom 23. März 2023(1)

Rechtssache C590/21

Charles Taylor Adjusting Limited,

FD

gegen

Starlight Shipping Company,

Overseas Marine Enterprises Inc.

(Vorabentscheidungsersuchen des Areios Pagos [Kassationsgerichtshof, Griechenland])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Verordnung (EG) Nr. 44/2001 – Anerkennung und Vollstreckung in einem Mitgliedstaat von Entscheidungen aus einem anderen Mitgliedstaat – Art. 34 – Versagungsgründe – Verstoß gegen die öffentliche Ordnung des Mitgliedstaats, in dem die Anerkennung geltend gemacht wird – Begriff der ‚öffentlichen Ordnung‘ – Entscheidung, die die Fortsetzung der vor den Gerichten eines anderen Mitgliedstaats betriebenen Verfahren oder die Wahrnehmung des Rechts auf gerichtlichen Rechtsschutz verhindert“






I.      Einleitung

1.        Das Vorabentscheidungsersuchen des Areios Pagos (Kassationsgerichtshof, Griechenland) hat die Auslegung von Art. 34 Nr. 1 sowie Art. 45 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen(2) zum Gegenstand.

2.        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits über die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen durch ein Gericht eines Mitgliedstaats, die ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats erlassen hat und die bewirken, dass Parteien, die ein anderes Gericht des erstgenannten Mitgliedstaats angerufen hatten, davon abgehalten werden, das bei Letzterem anhängige Verfahren fortzusetzen.

3.        Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen gibt dem Gerichtshof Anlass dazu, darüber zu befinden, ob im Fall einer Verurteilung der Kläger zur Zahlung einer Entschädigung für die Kosten des letztgenannten Verfahrens die Anerkennung und die Vollstreckung dieser Verurteilung wegen eines Verstoßes gegen die öffentliche Ordnung im Sinne von Art. 34 Nr. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 versagt werden können, wenn diese von dem in einem Vergleich als zuständig bestimmten Gericht ausgesprochene Verurteilung darauf beruht, dass gegen den genannten Vergleich verstoßen wurde, mit dem ein früher von den Klägern betriebenes Verfahren beendet wurde.

4.        Ich werde die Gründe darlegen, derentwegen ich der Ansicht bin, dass auch bei einer solchen Sachlage die Grundsätze angewandt werden müssen, die den Gerichtshof dazu veranlasst haben, zu befinden, dass eine „Anti-Suit Injunction“, d. h. eine Anordnung, die einer Person verbieten soll, ein Verfahren vor den Gerichten eines anderen Mitgliedstaats einzuleiten oder fortzusetzen, nicht mit dem durch die Verordnung Nr. 44/2001 geschaffenen System vereinbar ist.

II.    Rechtlicher Rahmen

5.        Art. 34 Nr. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 bestimmt:

„Eine Entscheidung wird nicht anerkannt, wenn

1.      die Anerkennung der öffentlichen Ordnung (ordre public) des Mitgliedstaats, in dem sie geltend gemacht wird, offensichtlich widersprechen würde[.]“

6.        Art. 45 Abs. 1 dieser Verordnung lautet:

„Die Vollstreckbarerklärung darf von dem mit einem Rechtsbehelf nach Artikel 43 oder Artikel 44 befassten Gericht nur aus einem der in den Artikeln 34 und 35 aufgeführten Gründe versagt oder aufgehoben werden. Das Gericht erlässt seine Entscheidung unverzüglich.“

III. Sachverhalt des Ausgangsrechtsstreits und Vorlagefragen

7.        Am 3. Mai 2006 sank das Schiff Alexandros T. mitsamt seiner Ladung vor der Bucht von Port Elizabeth (Südafrika). Die Gesellschaften Starlight Shipping Company(3) und Overseas Marine Enterprises Inc.(4) waren Eigentümer bzw. Nutzer dieses Schiffs und forderten von den Versicherern des Schiffs eine Entschädigung aus vertraglicher Haftung wegen des Eintritts des versicherten Schadensfalls.

8.        Nachdem die Versicherer dies verweigert hatten, erhob Starlight noch im selben Jahr im Vereinigten Königreich Klage vor dem zuständigen Gericht. Gegen einen der Versicherer leitete Starlight ein Schiedsverfahren ein. Während diese Verfahren anhängig waren, schlossen Starlight, OME und die Versicherer des Schiffs Vergleiche(5), mit denen die Verfahren zwischen den Parteien beendet wurden. Die Versicherer zahlten wegen des Eintritts des versicherten Schadensfalls innerhalb einer vereinbarten Frist die in den Versicherungsverträgen vorgesehene Versicherungssumme zur Abgeltung sämtlicher im Zusammenhang mit dem Verlust des Schiffs Alexandros T. stehender Ansprüche.

9.        Diese Vergleiche sind am 14. Dezember 2007 und am 7. Januar 2008 von dem englischen Gericht, bei dem die Klage anhängig war, gebilligt worden. Das Gericht ordnete für alle weiteren dasselbe Klagebegehren betreffenden Verfahren deren Aussetzung an.

10.      Nach Abschluss der genannten Vergleiche erhoben Starlight und ΟΜΕ sowie die weiteren Eigentümer und die natürlichen Personen, die sie gesetzlich vertreten, vor dem Polymeles Protodikeio Peiraios (Kollegialgericht erster Instanz Piräus, Griechenland) mehrere Klagen, darunter die vom 21. April 2011 und vom 13. Januar 2012. Diese Klagen richteten sich namentlich gegen die Charles Taylor Adjusting Limited(6), eine Beratungsgesellschaft für Rechts- und Technikfragen, die die Versicherer des Schiffs Alexandros T. gegen die von Starlight vor dem englischen Gericht geltend gemachten Ansprüche verteidigt hatte, sowie gegen FD, den Geschäftsführer dieser Beratungsgesellschaft.

11.      Mit diesen neuerlichen Klagen, mit denen Ansprüche aus unerlaubter Handlung geltend gemacht werden, begehrten Starlight und ΟΜΕ den Ersatz sowohl materieller als auch immaterieller Schäden, die sie aufgrund sie betreffender falscher und verleumderischer Behauptungen erlitten hätten und für die die Versicherer des Schiffs sowie deren Vertreter verantwortlich seien. Starlight und ΟΜΕ machten geltend, dass die Verrichtungsgehilfen und Vertreter der Versicherer, als das ursprüngliche Verfahren auf Zahlung der von den Versicherern geschuldeten Entschädigung noch anhängig gewesen und die Zahlung der Versicherungssumme noch verweigert worden sei, im Beisein der Ethniki Trapeza tis Ellados (Griechische Nationalbank), der Hypothekengläubigerin der Eigentümerin des gesunkenen Schiffs, sowie insbesondere auf dem Versicherungsmarkt das falsche Gerücht in Umlauf gebracht hätten, dass der Verlust des Schiffs auf dessen schwerwiegende Mängel zurückzuführen sei, die seinen Eigentümern bekannt gewesen seien.

12.      Im Verlauf des Jahres 2011, während die genannten Verfahren anhängig waren, erhoben die Versicherer des Schiffs und ihre Vertreter, darunter namentlich die in diesen Verfahren beklagten Charles Taylor und FD, in England Klage gegen Starlight und ΟΜΕ und beantragten, festzustellen, dass die in Griechenland angestrengten Verfahren gegen die Vergleiche verstießen; darüber hinaus stellten sie weitere Feststellungs- und Schadensersatzanträge.

13.      Nach Verfahren in allen Instanzen vor den englischen Gerichten führten diese Klagen am 26. September 2014 zur Verkündung eines Urteils und zweier Beschlüsse durch einen Richter des High Court of Justice (England & Wales), Queen’s Bench Division (Commercial Court) (Hoher Gerichtshof [England und Wales], Abteilung Queen’s Bench [Kammer für Handelssachen]), Vereinigtes Königreich (im Folgenden: High Court)(7). Diese stützten sich auf den Inhalt der Vergleiche sowie auf die dieses Gericht für zuständig erklärende Gerichtsstandsklausel. Starlight und ΟΜΕ wurden zur Zahlung einer Entschädigung im Zusammenhang mit dem in Griechenland eingeleiteten Verfahren und dazu verurteilt, die in England entstandenen Kosten zu erstatten(8).

14.      Das Monomeles Protodikeio Peiraios, Naftiko Tmima (Gericht erster Instanz – Einzelrichter – Kammer für Seerecht – Piräus, Griechenland) gab dem Antrag von Charles Taylor und von FD vom 7. Januar 2015 auf Anerkennung und Teilvollstreckbarerklärung dieser Entscheidungen in Griechenland gemäß der Verordnung Nr. 44/2001 statt.

15.      Am 11. September 2015 legten Starlight und OME vor dem Monomeles Efeteio Peiraios Naftiko Tmima (Berufungsgericht – Einzelrichter – Kammer für Seerecht – Piräus, Griechenland) einen Rechtsbehelf(9) gegen diese Entscheidung ein.

16.      Mit Urteil vom 1. Juli 2019 gab dieses Gericht ihrem Antrag mit der Begründung statt, dass die Entscheidungen, deren Anerkennung und Vollstreckung beantragt würden, „quasi Anti-Suit Injunctions“ (Quasi-Prozessführungsverbote) enthielten, die die Betroffenen daran hinderten, griechische Gerichte anzurufen, was gegen Art. 6 Abs. 1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten(10) sowie gegen Art. 8 Abs. 1 und Art. 20 der Syntagma (Verfassung) verstoße. Diese Bestimmungen gehörten zum Kernbereich des Begriffs der öffentlichen Ordnung in Griechenland.

17.      Charles Taylor und FD fochten diese Entscheidung beim Areios Pagos (Kassationsgerichtshof) mit einem Rechtsmittel an. Sie sind der Ansicht, das Urteil und die Beschlüsse des High Court enthielten weder einen offensichtlichen Verstoß gegen die öffentliche Ordnung am Ort des Gerichtsstands noch gegen die der Europäischen Union, und sie verletzten nicht deren Grundprinzipien. Dass ihnen eine vorläufige Entschädigung in Ansehung der Klagen zugesprochen worden sei, die in Griechenland im Vorfeld der vor den englischen Gerichten eingereichten erhoben worden seien, hindere weder die Betroffenen daran, weiter die griechischen Gerichte anzurufen, noch diese Gerichte daran, ihnen Rechtsschutz zu gewähren. Daher seien das Urteil und die Beschlüsse des High Court zu Unrecht als Anti-Suit Injunctions behandelt worden.

18.      Unter diesen Umständen hat der Areios Pagos (Kassationsgerichtshof) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Liegt ein offensichtlicher Verstoß gegen die öffentliche Ordnung der Union und damit gegen die nationale öffentliche Ordnung, der nach Art. 34 Nr. 1 und Art. 45 Abs. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 einen Grund für die Versagung der Anerkennung und Vollstreckbarerklärung darstellt, nicht nur bei ausdrücklichen „Anti-Suit Injunctions“, mit denen untersagt wird, Verfahren vor den Gerichten anderer Mitgliedstaaten einzuleiten oder fortzusetzen, sondern auch bei Urteilen und Beschlüssen von Gerichten der Mitgliedstaaten vor, (i) die die Gewährung von Rechtsschutz durch ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats oder die Fortsetzung von dort bereits eingeleiteten Gerichtsverfahren für den Kläger erschweren und ihn dabei behindern, und (ii) ist ein derartiger Eingriff in die Zuständigkeit eines Gerichts eines anderen Mitgliedstaats, über eine bestimmte, bereits bei ihm anhängige Rechtsstreitigkeit zu entscheiden, mit der öffentlichen Ordnung der Union vereinbar? Widerspricht insbesondere die Anerkennung oder (und) Vollstreckbarerklärung von Urteilen oder Beschlüssen von Gerichten der Mitgliedstaaten der öffentlichen Ordnung der Union im Sinne von Art. 34 Nr. 1 und Art. 45 Abs. 1 der Verordnung Nr. 44/2001, wenn mit diesen Urteilen oder Beschlüssen den Antragstellern, die die Anerkennung und Vollstreckbarerklärung begehren, eine vorläufige, ihnen im Voraus zu zahlende finanzielle Entschädigung für die ihnen durch die Erhebung einer Klage oder die Fortsetzung eines Verfahrens vor dem Gericht eines anderen Mitgliedstaats entstehenden Kosten und Auslagen zugesprochen wird, und zwar mit der Begründung, dass

a)      die Rechtssache – wie sich aus der Prüfung dieser Klage ergebe – von einem Vergleich erfasst werde, der formgerecht geschlossen und von dem Gericht des Mitgliedstaats, das das Urteil (oder) und den Beschluss erlasse, gebilligt worden sei, und

b)      das Gericht des anderen Mitgliedstaats, bei dem die Partei, gegen die das Urteil und der Beschluss ergangen seien, eine neue Klage eingereicht habe, wegen einer ausschließlichen Gerichtsstandsklausel nicht zuständig sei?

2.      Falls Frage 1 zu verneinen ist: Stellt es im Sinne des in Art. 34 Nr. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 enthaltenen Begriffs, dessen Grenzen der Gerichtshof auszulegen hat, einen Grund für die Versagung der Anerkennung und Vollstreckbarerklärung der von Gerichten eines anderen Mitgliedstaats (Vereinigtes Königreich) mit dem oben (unter 1.) genannten Inhalt erlassenen Entscheidung und Beschlüsse in Griechenland dar, wenn diese unmittelbar und offensichtlich gegen die nationale öffentliche Ordnung verstoßen, und zwar nach den im Land herrschenden wesentlichen staatstragenden und rechtlichen Anschauungen und den grundlegenden Regelungen des griechischen Rechts, die den Kernbereich des Rechts auf gerichtlichen Rechtsschutz (Art. 8 und 20 der griechischen Verfassung, Art. 33 des Astikos Kodikas [Zivilgesetzbuch] und den im gesamten griechischen Prozessrecht enthaltenen Grundsatz der Wahrung des vorgenannten Rechts, wie er in den Art. 173 Abs. 1 bis 3, Art. 176, 185, 191, 205 des Kodikas Politikis Dikonomias [Zivilprozessordnung] konkretisiert wird) und des Art. 6 Abs. 1 EMRK betreffen, so dass in diesem Fall eine Abweichung von dem im Unionsrecht verankerten Grundsatz des freien Verkehrs gerichtlicher Entscheidungen zulässig ist, und ist die auf diesem Grund beruhende Versagung der Anerkennung mit den Anschauungen vereinbar, die die europäische Perspektive aufnehmen und fördern?

19.      Charles Taylor und FD, Starlight und OME, die griechische und die spanische Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht.

IV.    Würdigung

20.      Mit seiner ersten Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 34 Nr. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 dahin auszulegen ist, dass ein Gericht eines Mitgliedstaats die Anerkennung und Vollstreckung einer Entscheidung wegen eines Verstoßes gegen die öffentliche Ordnung versagen kann, der darin besteht, dass die fragliche Entscheidung insofern der Fortsetzung eines bei einem anderen Gericht dieses Mitgliedstaats anhängigen Verfahrens entgegensteht, als sie einer der Parteien eine vorläufige finanzielle Entschädigung für die Kosten zuspricht, die ihr durch das Betreiben des in Rede stehenden Verfahrens entstehen, und zwar mit der Begründung, dass zum einen der Gegenstand dieses Verfahrens von einem Vergleich erfasst werde, der ordnungsgemäß geschlossen und von demjenigen Gericht des Mitgliedstaats, das die fragliche Entscheidung erlassen habe, gebilligt worden sei, und dass zum anderen das Gericht des anderen Mitgliedstaats, bei dem das in Rede stehende Verfahren eingeleitet worden sei, in Ansehung einer ausschließlichen Gerichtsstandsklausel nicht zuständig sei.

21.      Im vorliegenden Fall wurden das Urteil und die Beschlüsse des High Court, deren Anerkennung und Vollstreckung vor einem griechischen Gericht beantragt werden, am 26. September 2014 erlassen. Die Verordnung Nr. 44/2001 ist in zeitlicher Hinsicht auf das Ausgangsverfahren anwendbar(11).

22.      Diese Verordnung enthält besondere Regeln für die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen, auf die erneut hingewiesen werden soll(12), wobei zu betonen ist, dass die nicht alle in die Verordnung Nr. 1215/2012 übernommen worden sind.

A.      Überblick über die auf den Rechtsstreit anwendbaren Anerkennungs- und Vollstreckungsregeln

23.      Die Verordnung Nr. 44/2001 sieht vor, dass „[d]ie in einem Mitgliedstaat ergangenen Entscheidungen … in den anderen Mitgliedstaaten anerkannt [werden], ohne dass es hierfür eines besonderen Verfahrens bedarf“(13). Bildet die Frage, ob eine Entscheidung anzuerkennen ist, als solche den Gegenstand eines Streites, so kann jede Partei, welche die Anerkennung geltend macht, beantragen, dass die Entscheidung anzuerkennen ist(14). Für die Vollstreckung der Entscheidung ist in Art. 38 dieser Verordnung ein Verfahren vorgesehen, um sie auf entsprechenden Antrag hin in dem Mitgliedstaat, in dem sie vollstreckt werden soll, für vollstreckbar erklären zu lassen(15).

24.      In diesem Verfahrensstadium wird keine Prüfung in der Sache vorgenommen(16).

25.      Nach Art. 45 Abs. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 kann das Gericht eine solche Vollstreckbarerklärung nur im Rahmen eines Rechtsbehelfs gegen die Entscheidung über den Antrag auf Vollstreckbarerklärung gemäß Art. 43 Abs. 1 dieser Verordnung(17), und zwar aus einem der in den Art. 34 und 35 aufgeführten Gründe für die Nichtanerkennung, versagen oder aufheben.

26.      In Art. 34 der Verordnung Nr. 44/2001 werden vier allgemeine Gründe für die Nichtanerkennung einer Entscheidung genannt(18). Nr. 1 dieses Artikels betrifft den Fall, dass „die Anerkennung der öffentlichen Ordnung (ordre public) des Mitgliedstaats, in dem sie geltend gemacht wird, offensichtlich widersprechen würde“. Gemäß Art. 35 Abs. 3 dieser Verordnung gehören die Vorschriften über die Zuständigkeit nicht zur öffentlichen Ordnung (ordre public)(19).

27.      Das vorlegende Gericht möchte wissen, ob dieses Kriterium in Anbetracht der besonderen Umstände des Falls, mit dem es befasst ist, heranzuziehen ist.

B.      Die besonderen Umstände des Ausgangsverfahrens

28.      Mehrere Umstände des verfahrensrechtlichen Hintergrunds und des Inhalts der fraglichen Entscheidungen sind hervorzuheben.

1.      Verfahrensrechtlicher Hintergrund

29.      Gegenstand der Vorlageentscheidung ist die Frage, ob die Anerkennung und Vollstreckung einer Entscheidung mit der Begründung versagt werden darf, dass diese Anerkennung der öffentlichen Ordnung widerspräche, wenn der verfahrensrechtliche Hintergrund folgende Besonderheiten aufweist:

–        Die Parteien des Ausgangsverfahrens haben im Rahmen einer von Starlight auf vertraglicher Grundlage erhobenen Klage Vergleiche unterzeichnet, die die ausschließliche Zuständigkeit eines englischen Gerichts vorsehen.

–        Die Beklagten der von Starlight und OME nach Abschluss dieser Vergleiche vor einem griechischen Gericht erhobenen Klage aus unerlaubter Handlung haben bei diesem englischen Gericht Entscheidungen erwirkt, die ihrem Schutzantrag auf Feststellung stattgeben und ihnen als Vorauszahlung eine Entschädigung, die im Zusammenhang mit den Kosten des Verfahrens vor dem griechischen Gericht steht, sowie eine Zahlung zur Erstattung von vor dem genannten englischen Gericht angefallenen Kosten zusprechen.

–        Die Anerkennung und Vollstreckung dieser Entscheidung hängen, wie Charles Taylor und FD vorgebracht haben, von der Beurteilung ihres Inhalts ab.

2.      Der vom vorlegenden Gericht dargelegte Inhalt der fraglichen Entscheidungen

30.      Die Fragen des vorlegenden Gerichts ergeben sich aus dem Inhalt des Urteils und der Beschlüsse des High Court, den es dem Antrag von Charles Taylor und FD entnimmt.

31.      Erstens beruhen diese Entscheidungen auf einer zweifachen Feststellung. Zum einen wurde im Wege des Urteils entschieden, dass die in Griechenland erhobenen Klagen gegen die Vergleiche verstießen(20). Diese Vergleiche seien zwischen Parteien geschlossen worden, die sich sämtlich in den Gerichtsverfahren in England und im Schiedsverfahren mit der Behauptung konfrontiert gesehen hätten, sie seien an einer gemeinschaftlich begangenen unerlaubten Handlung beteiligt gewesen. Die Wirkung dieser Vergleiche bestehe darin, dass jedwede etwaige Klage gegen diese Parteien aus einem Grund wie dem Rechtsgrund der in Griechenland gegen sie eingeleiteten Verfahren nach der Regel, die für mehrere deliktisch haftende Schädiger gelte, bereits vom Regelungsprogramm der Vergleiche erfasst worden sei.

32.      Zum anderen ist im Beschlusswege außerdem festgestellt worden, dass die Klagen vor den griechischen Gerichten unter Verletzung der ausschließlichen Gerichtsstandsvereinbarung erhoben worden seien.

33.      Zweitens wurden Starlight und OME in zwei getrennten Beschlüssen zu folgenden Zahlungen verurteilt:

–        auf der Grundlage des Urteils des High Court, das die Forderung dem Grunde und der Höhe nach bestimmt(21), zu einer Vorauszahlung auf die Entschädigung, die aufgrund des in Griechenland eingeleiteten Verfahrens geschuldet werde, in Höhe von 100 000 Pfund Sterling (GBP) (ca. 128 090 Euro)(22), zahlbar bis spätestens 17. Oktober 2014, 16.30 Uhr, für alle Schäden, die bis einschließlich 9. September 2014 entstanden seien, sowie

–        zu zwei Zahlungen für die Kosten des Verfahrens vor dem englischen Gericht, nämlich 120 000 GBP (ca. 153 708 Euro) und 30 000 GBP (ca. 38 527 Euro), zahlbar innerhalb der gleichen Frist.

34.      Drittens finden sich zusätzliche Ausführungen in den Beschlüssen des High Court, deren Anerkennung und Vollstreckbarerklärung bei den griechischen Gerichten beantragt wurde. Das vorlegende Gericht stellt sie wie folgt dar:

–        „[D]ie beiden Beschlüsse [des High Court] enthalten eingangs Verfügungen, in denen Starlight und OME sowie die natürlichen Personen, die sie vertreten, darauf hingewiesen werden, dass, [wenn sie] den Beschluss nicht befolgen, davon ausgegangen werden kann, dass [sie] das Gericht missachtet haben; dann kann ihr Vermögen beschlagnahmt werden, oder eine Geldstrafe kann gegen sie verhängt werden, oder die natürlichen Personen können in Haft genommen werden (Rn. 1 bis 5).“

–        „[D]iese Beschlüsse enthalten zudem folgende Punkte, die auch in die Rechtsmittelschrift keine Aufnahme gefunden haben (es wurde nicht beantragt, diese Passagen anzuerkennen oder sie für vollstreckbar zu erklären):

‚4.      Gegen die Gesellschaften Starlight und OME wird jeweils eine Entscheidung über die Höhe der Entschädigung erlassen.

5.      Es können Anträge auf weitere Vorauszahlungen auf die genannte Entschädigung gestellt werden [dies bezieht sich offensichtlich auf den Fall, dass die Verfahren vor den griechischen Gerichten fortgeführt werden und die Kosten der Kläger um ein Vielfaches steigen(23)].‘“

–        „Und der erste Beschluss enthält zusätzlich die folgenden Verfügungen:

‚8.      … die Gesellschaften Starlight und OME werden jeweils mit einer Vereinbarung gemäß der Mustervereinbarung, die diesem Beschluss beigefügt ist, die CTa[(24)]-Parteien von jedweder Verpflichtung im Zusammenhang mit Ansprüchen freistellen, die die Gesellschaften Starlight bzw. OME im Klagewege vor griechischen Gerichten gegen eine der Cta-Parteien womöglich geltend machen, und Starlight und OME sind verpflichtet, die unterzeichneten Originale an die Anwälte der Cta-Parteien … zurückzusenden.

9.      Wenn Starlight und OME nicht mittels einer zumutbaren Suche ausfindig gemacht werden können oder wenn sie es unterlassen oder sich weigern, die Vereinbarungen bis zum oben genannten Datum zu unterzeichnen, kann Richter Kay, QC, die Vereinbarungen auf entsprechenden Antrag hin selbst ausfertigen.‘“

35.      Unter diesen Umständen stellt sich die Frage, wie die Entscheidungen, deren Anerkennung und Vollstreckung beantragt wird, einzustufen sind.

C.      Einstufung der fraglichen Entscheidungen

36.      Das vorlegende Gericht stellt fest, dass sich nach dem Urteil und den Beschlüssen des High Court, dessen ausschließliche Zuständigkeit von den Parteien im Rahmen der Vergleiche vereinbart wurde, bestimmt, welche Auswirkungen die Vergleiche auf das bei den griechischen Gerichten anhängige Verfahren haben.

37.      Zwar richten sich diese Entscheidungen nicht unmittelbar an das griechische Gericht und untersagen nicht ausdrücklich die Fortsetzung des Verfahrens, mit dem es befasst ist. Sie enthalten jedoch Ausführungen dazu, inwieweit das griechische Gericht in Hinblick auf die zwischen den Parteien geschlossenen Vergleiche zuständig ist, und verurteilen zu Geldzahlungen, wozu eine Schadensersatzentscheidung über eine im Voraus zu zahlende Entschädigung gehört, die insofern abschreckend wirkt, als ihre Höhe nicht abschließend bestimmt ist und von der Fortsetzung dieses Verfahrens abhängt(25). Darüber hinaus sind diesen Entscheidungen von ihnen nicht trennbare Sanktionen und Verfügungen beigegeben, um die Durchsetzung der Entscheidungen sicherzustellen(26). Sie sind unmittelbar an Starlight und ΟΜΕ gerichtet und verfolgen das Ziel, dass diese den Verstoß gegen die die Gerichtsstandsklausel enthaltenden Vergleiche abstellen(27).

38.      Nach alledem scheint es mir gerechtfertigt, dass das vorlegende Gericht das Urteil und die Beschlüsse des High Court „quasi“ als „Anti-Suit Injunctions“(28) einstuft und dabei insbesondere auf die Schadensersatzzahlungsverpflichtungen abstellt, deren Anerkennung und Vollstreckung beantragt werden.

39.      Daher bin ich der Ansicht, dass das vorlegende Gericht zu Recht die Frage nach der Vereinbarkeit der Wirkungen einer etwaigen Anerkennung und Vollstreckung dieser Entscheidungen mit der Verordnung Nr. 44/2001 aufwirft, indem es sich auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Erlass von „Anti-Suit Injunctions“(29) bezieht, um daraus einen Ordre-public-Verstoß herzuleiten.

D.      Grundsätze der Rechtsprechung zur „Anti-Suit Injunction“

1.      Die Prüfung der Zuständigkeit des Gerichts eines Mitgliedstaats durch das Gericht eines anderen Mitgliedstaats ist mit dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens unvereinbar

40.      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs(30) steht das Unionsrecht im Bereich der gerichtlichen Zuständigkeit dem von einem Gericht gegenüber einer Partei ausgesprochenen Verbot entgegen, eine Klage vor einem Gericht eines anderen Mitgliedstaats zu erheben oder weiterzuverfolgen(31), wenn das Verbot die Zuständigkeit dieses Gerichts beeinträchtigt, den ihm vorgelegten Rechtsstreit zu entscheiden. Denn ein solcher Eingriff ist nicht mit dem System des Brüsseler Übereinkommens sowie der Verordnung Nr. 44/2001 vereinbar, das auf dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens beruht.

41.      Darüber hinaus hat der Gerichtshof verschiedene Begründungen, die zur Rechtfertigung dieses Eingriffs angeführt wurden, verworfen, und zwar

–        dass der Eingriff nur mittelbar erfolge und einen Verfahrensmissbrauch durch den Beklagten des innerstaatlichen Verfahrens verhindern solle. Der Gerichtshof befand, dass die Beurteilung des dem Beklagten zum Vorwurf gemachten missbräuchlichen Verhaltens, das darin bestehe, dass er sich auf die Zuständigkeit eines Gerichts eines anderen Mitgliedstaats beruft, beinhaltet, dass beurteilt werden muss, ob die Erhebung einer Klage vor einem Gericht eines anderen Mitgliedstaats angemessen ist(32), und

–        dass eine Beteiligung an einem Schiedsverfahren vorliege(33).

42.      Somit ergibt sich aus dieser Rechtsprechung der nunmehr anerkannte allgemeine Grundsatz, dass jedes angerufene Gericht nach geltendem Recht selbst bestimmt, ob es für die Entscheidung über den bei ihm anhängig gemachten Rechtsstreit zuständig ist(34), und keiner Partei – gegebenenfalls unter Androhung von Sanktionen – die Möglichkeit vorenthalten werden darf, ein Gericht eines Mitgliedstaats anzurufen, das seine Zuständigkeit selbst überprüft(35).

2.      Vom Unionsgesetzgeber begrenzte Ausnahmen vom Grundsatz der Nichtkontrolle der Zuständigkeit

43.      Der Gerichtshof weist in seiner Rechtsprechung darauf hin, dass Ausnahmen von diesem allgemeinen Grundsatz nach der Verordnung Nr. 44/2001 in begrenztem Umfang zulässig sind, dass sie nur das Verfahrensstadium der Anerkennung oder Vollstreckung von Entscheidungen betreffen und dass sie die Anwendung bestimmter Vorschriften über die besondere oder ausschließliche Zuständigkeit gewährleisten sollen, die ausschließlich in dieser Verordnung vorgesehen sind(36).

44.      Daraus ist meines Erachtens abzuleiten, dass der Unionsgesetzgeber die Auffassung vertritt, dass Vereinbarungen von Parteien, in denen sie sich verpflichten, ihre Streitigkeiten einem Schiedsverfahren zu unterwerfen, oder mit denen sie ein Gericht zur Entscheidung über die Streitigkeit bestimmen, für die Anwendung des Grundsatzes der Nichtkontrolle der Zuständigkeit unerheblich sind(37).

45.      Der Gerichtshof hat sich zu dieser letzten Fallkonstellation noch nicht geäußert(38). Meiner Ansicht nach darf einer Partei, die ein Gericht eines Mitgliedstaats mit der Begründung anruft, dass die Gerichtsstandsklausel, der sie zugestimmt habe, nicht anwendbar sei, entsprechend der für Schiedsverfahren im Urteil Allianz und Generali Assicurazioni Generali(39) zugrunde gelegten Lösung der gerichtliche Schutz, auf den sie ein Recht hat, nicht vorenthalten werden(40).

46.      Die Grundlage des Verbots von „Anti-Suit Injunctions“ innerhalb der Union, nämlich das gegenseitige Vertrauen zwischen den Gerichten, sowie das Fehlen einer besonderen Bestimmung in der Verordnung Nr. 1215/2012, die an die Stelle der Verordnung Nr. 44/2001 getreten ist, rechtfertigen es, die Rechtsprechung des Gerichtshofs auf Fälle zu erstrecken, in denen einem Gericht kraft Vereinbarung der Parteien die ausschließliche Zuständigkeit übertragen wurde(41). Die praktische Wirksamkeit dieser Verordnung wird auf diese Weise gewährleistet(42).

E.      Zur aus der öffentlichen Ordnung hergeleiteten Begründung, mit der die Anerkennung und Vollstreckung von „Anti-Suit Injunctions“ versagt wird

47.      Die in Art. 34 Nr. 1 der Verordnung Nr. 44/2001(43) vorgesehene Beurteilung der offensichtlichen Unvereinbarkeit mit der öffentlichen Ordnung des Mitgliedstaats, in dem die Anerkennung geltend gemacht wird, bezieht sich auf die Wirkungen, die die ausländische Entscheidung entfaltet, wenn sie anerkannt und vollstreckt wird(44), und zwar im Hinblick auf ein europäisches Verständnis der öffentlichen Ordnung(45).

48.      Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist Art. 34 Nr. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 insofern eng auszulegen, als diese Bestimmung ein Hindernis für die Verwirklichung eines der grundlegenden Ziele dieser Verordnung bildet. Sie kann deshalb nur in Ausnahmefällen eine Rolle spielen. Der Gerichtshof wacht über die Grenzen, innerhalb deren sich das Gericht eines Mitgliedstaats auf diesen Begriff stützen darf, um einer Entscheidung eines anderen Mitgliedstaats die Anerkennung zu versagen(46).

49.      Was den verfahrensrechtlichen Ordre public betrifft(47), so legt der Gerichtshof diesen Begriff aus Art. 34 Nr. 1 weit aus und hat entschieden, dass im Fall einer Beeinträchtigung des in Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union garantierten Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf ein Ordre-public-Einwand erhoben werden kann(48).

50.      Im vorliegenden Fall betrifft die Frage des vorlegenden Gerichts die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen, die namentlich auf einem Verstoß gegen eine in Vergleichen enthaltene Gerichtsstandsklausel beruhen und die von dem von den Parteien benannten Gericht erlassen wurden, das die finanziellen Folgen des Verstoßes festlegt(49). Insbesondere erlegen diese Entscheidungen den Vergleichsparteien, die nicht als Erstes dieses Gericht angerufen haben, eine im Voraus zu zahlende Entschädigung auf, die mit den Kosten in Zusammenhang steht, die von den in einem anderen Mitgliedstaat verklagten anderen Parteien zu tragen sind.

51.      Diese nicht nur im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes zur Sicherung getroffenen Entscheidungen werden von Maßnahmen flankiert, die ihre Durchsetzung sicherstellen sollen, und sehen die Zuerkennung weiterer Entschädigungen für den Fall vor, dass das Verfahren vor dem griechischen Gericht fortgesetzt wird. In ihren Auswirkungen gehen sie daher weit über den Rahmen der Auslegung der Vergleiche und der Prüfung der Zuständigkeit durch das von den Parteien in diesen Vergleichen bestimmte Gericht hinaus(50).

52.      In ihrem Zusammenhang betrachtet, haben mithin insbesondere die Beschlüsse des High Court unbestreitbar die Wirkung, die betroffenen Parteien dazu zu zwingen, ihre Klage zurückzunehmen. Dadurch wird mittelbar auch der Zugang zum einzigen mit dem Rechtsstreit in der Sache befassten Gericht behindert, das nach der Verordnung Nr. 44/2001 befugt ist, über seine Zuständigkeit zu befinden, das Verfahren zu Ende zu führen und über die Kosten des bei ihm anhängigen Verfahrens sowie über etwaige Schadensersatzanträge im Zusammenhang mit diesem Verfahren zu entscheiden.

53.      In Erwägung dessen, dass es Sache dieses Gerichts ist, eine Gesamtwürdigung des Verfahrens und sämtlicher Umstände vorzunehmen(51), führt das vorlegende Gericht meines Erachtens zu Recht an, dass die Anerkennung und die Vollstreckung des Urteils und der Beschlüsse des High Court mit der öffentlichen Ordnung am Ort des Gerichtsstands offensichtlich unvereinbar sind, indem es argumentiert, dass der fundamentale Grundsatz des auf gegenseitigem Vertrauen beruhenden europäischen Rechtsraums(52), wonach jedes Gericht über seine eigene Zuständigkeit entscheidet, verletzt wird. Ich erinnere daran, dass dieser Grundsatz den Gerichtshof dazu veranlasst hat, zu erklären, dass der genannte Grundsatz unter allen Umständen dem Erlass von Entscheidungen entgegensteht, die unmittelbar oder mittelbar die Fortsetzung eines in einem anderen Mitgliedstaat eingeleiteten Verfahrens verbieten.

54.      Mit anderen Worten kann in Anbetracht seiner systemischen Grundlage eine Abweichung von diesem Verbot nicht zugelassen werden: Die Möglichkeit bestünde, dass einer Entscheidung Wirkungen verliehen würden, die zu treffen in einem Verfahren in der Sache untersagt gewesen wäre.

55.      Daher schlage ich dem Gerichtshof vor, die erste Vorlagefrage zu bejahen und demnach festzustellen, dass es nicht notwendig ist, die zweite Frage zu prüfen.

V.      Schlussfolgerung

56.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die vom Areios Pagos (Kassationsgerichtshof, Griechenland) zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen wie folgt zu antworten:

Art. 34 Nr. 1 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen

ist dahin auszulegen, dass

ein Gericht eines Mitgliedstaats die Anerkennung und Vollstreckung einer Entscheidung wegen eines Verstoßes gegen die öffentliche Ordnung versagen kann, der darin besteht, dass die fragliche Entscheidung insofern der Fortsetzung eines bei einem anderen Gericht dieses Mitgliedstaats anhängigen Verfahrens entgegensteht, als sie einer der Parteien eine vorläufige finanzielle Entschädigung für die Kosten zuspricht, die ihr durch das Betreiben des in Rede stehenden Verfahrens entstehen, und zwar mit der Begründung, dass zum einen der Gegenstand dieses Verfahrens von einem Vergleich erfasst werde, der ordnungsgemäß geschlossen und von demjenigen Gericht des Mitgliedstaats, das die fragliche Entscheidung erlassen habe, gebilligt worden sei, und dass zum anderen das Gericht des anderen Mitgliedstaats, bei dem das in Rede stehende Verfahren eingeleitet worden sei, in Ansehung einer ausschließlichen Gerichtsstandsklausel nicht zuständig sei.


1      Originalsprache: Französisch.


2      ABl. 2001, L 12, S. 1.


3      Im Folgenden: Starlight.


4      Im Folgenden: OME.


5      Im Folgenden: Vergleiche. Es handelt sich um drei Vereinbarungen die vom 13. Dezember 2007 sowie vom 7. und 30. Januar 2008 datieren, wobei die letztgenannte im Rahmen des Schiedsverfahrens geschlossen worden ist.


6      Im Folgenden: Charles Taylor.


7      Im Folgenden: Urteil des High Court, Beschlüsse des High Court und zusammen Urteil und die Beschlüsse des High Court.


8      Vgl. für eine ausführliche Darstellung ihres Inhalts Nrn. 30 bis 34 dieser Schlussanträge.


9      Vgl. Nr. 25 der vorliegenden Schlussanträge.


10      Unterzeichnet in Rom am 4. November 1950, im Folgenden: EMRK.


11      Gemäß Art. 66 der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2012, L 351, S. 1) gilt die Verordnung Nr. 44/2001 weiterhin auf vor dem 10. Januar 2015 eingeleitete Verfahren. Gleiches gilt für im Vereinigten Königreich ergangene Entscheidungen gemäß Art. 67 Abs. 2 Buchst. a des Abkommens über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft (ABl. 2020, L 29, S. 7), das durch den Beschluss (EU) 2020/135 des Rates vom 30. Januar 2020 über den Abschluss des Abkommens über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft (ABl. 2020, L 29, S. 1) angenommen wurde und am 1. Februar 2020 nach Art. 185 des Abkommens in Kraft getreten ist: Für einen Übergangszeitraum bis zum 31. Dezember 2020 (Art. 126) galt das Unionsrecht im Vereinigten Königreich, sofern in diesem Abkommen nichts anderes bestimmt ist. (Art. 127), auch für Entscheidungen, die im Vereinigten Königreich erlassen wurden.


12      Zu dem Grundsatz, dass die Auslegung, die der Gerichtshof in Bezug auf die Bestimmungen eines dieser Rechtsinstrumente vorgenommen hat, zu denen auch das in Brüssel am 27. September 1968 unterzeichnete Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 1972, L 299, S. 32) in der Fassung der aufeinanderfolgenden Übereinkommen über den Beitritt der neuen Mitgliedstaaten zu diesem Übereinkommen (ABl. 1998, C 27, S. 1) zählt (im Folgenden: Brüsseler Übereinkommen), auch für die Bestimmungen der anderen Rechtsinstrumente gilt, wenn die betreffenden Bestimmungen als gleichwertig angesehen werden können, vgl. Urteil vom 20. Juni 2022, London Steam-Ship Owners’ Mutual Insurance Association (C‑700/20, EU:C:2022:488, Rn. 42).


13      Art. 33 Abs. 1. Diese Regel beruht auf dem gegenseitigen Vertrauen in die Justiz im Rahmen der Union, das sich auf den Grundsatz stützt, dass alle Mitgliedstaaten das Unionsrecht achten, mit dem Ziel, den freien Verkehr von gerichtlichen Entscheidungen zu gewährleisten (vgl. Urteile vom 16. Juli 2015, Diageo Brands, C‑681/13, EU:C:2015:471, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 12. Dezember 2019, Aktiva Finants, C‑433/18, EU:C:2019:1074, Rn. 23 und 25).


14      Vgl. Art. 33 Abs. 2 der Verordnung Nr. 44/2001. Darüber hinaus kann ein Gericht eines Mitgliedstaats über die Anerkennung entscheiden, wenn die Anerkennung solcher Entscheidungen in einem vor ihm anhängigen Rechtsstreit, dessen Entscheidung von der Anerkennung abhängt, verlangt wird (vgl. Art. 33 Abs. 3).


15      Dieses Verfahren wurde in der Verordnung Nr. 1215/2012 abgeschafft (vgl. deren 26. Erwägungsgrund). Zur ausgeübten Kontrolle vgl. Urteil vom 6. September 2012, Trade Agency (C‑619/10, EU:C:2012:531, Rn. 43 und 44). Nach Art. 48 der Verordnung Nr. 44/2001 kann die Vollstreckbarerklärung einer ausländischen Entscheidung, in der über mehrere mit der Klage geltend gemachte Ansprüche erkannt worden ist, von Amts wegen oder auf Antrag auf bestimmte voneinander trennbare Ansprüche beschränkt werden.


16      Vgl. Art. 41 und 17. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 44/2001.


17      Vgl. 18. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 44/2001. Gemäß Art. 43 Abs. 1 der Verordnung „[kann g]egen die Entscheidung über den Antrag auf Vollstreckbarerklärung … jede Partei einen Rechtsbehelf einlegen“.


18      Weitere Gründe sind in Art. 35 der Verordnung Nr. 44/2001 aufgeführt. Dieser betrifft die Einhaltung der Zuständigkeitskriterien betreffend Versicherungen, Verbraucherverträge und Verträge, nach denen ein Gericht ohne Rücksicht auf den Wohnsitz der Parteien ausschließlich zuständig ist, sowie die Regel in Art. 72 der Verordnung. Diese Bestimmungen wurden in Art. 45 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 übernommen und nur auf individuelle Arbeitsverträge ausgeweitet. Vgl. zur Veranschaulichung der verfahrensrechtlichen Folgen Urteil vom 3. April 2014, Weber (C‑438/12, EU:C:2014:212, Rn. 54 bis 58).


19      Vgl. auch Urteil vom 16. Januar 2019, Liberato (C‑386/17, EU:C:2019:24, Rn. 45), sowie Nr. 53 der vorliegenden Schlussanträge.


20      Das englische Gericht hat festgestellt, dass die Bestimmungen der Vergleiche namentlich Charles Taylor und FD von jeglicher Verpflichtung im Zusammenhang mit jedweden Ansprüchen freistellten, die Starlight und OME (oder einer von ihnen) aufgrund des Verlusts des Schiffs zustehen könnten; dies schließe jegliche Verpflichtung im Zusammenhang mit den Ansprüchen ein, die in den griechischen Gerichtsverfahren geltend gemacht wurden.


21      Das vorlegende Gericht zitiert Rn. 83 des Urteils des High Court: „[Die Kläger] machen … einen Schadensersatzanspruch geltend … Die Kosten [„costs“ im englischsprachigen Original], die ihnen bislang entstanden sind, belaufen sich auf fast 163 000 GBP. Die [beantragte] Abschlagszahlung … beläuft sich auf 150 000 GBP oder jeden anderen Betrag, den der High Court nach eigenem Ermessen festlegt“. Im weiteren Verlauf wird in der Vorlageentscheidung insoweit darauf hingewiesen, dass in diesem Verfahren andere Kläger „eine Vorauszahlung auf die Entschädigung in Höhe von 60 % der Kosten, die ihnen in Bezug auf die griechischen Gerichtsverfahren entstanden sind“, beantragt hätten. Darüber hinaus vertrat der High Court in Rn. 94 dieses Urteils, das ebenfalls in der Vorlageentscheidung zitiert wird, die Auffassung, dass „als Vorauszahlung auf die oben genannte Entschädigung 100 000 GBP als Abschlagszahlung angemessen sind“. Das vorlegende Gericht stellt hierzu fest, dass „auch diese Erwägung deklaratorischer Natur ist und nach Würdigung der Klageschrift davon auszugehen ist, dass sich im vorliegenden Fall nur die Frage ihrer Anerkennung und nicht die der Vollstreckbarerklärung stellt, da Letztere nur den relevanten Teil des Beschlusses betrifft, der dem Urteil nachfolgte“.


22      Zum Wechselkurs vom 26. September 2014, siehe Nr. 13 dieser Schlussanträge.


23      Anmerkung des vorlegenden Gerichts.


24      Das vorlegende Gericht stellt klar, dass „mit ‚CTa‘ die Rechtsmittelführer gemeint sind“, also Charles Taylor und FD, vgl. Nr. 17 der vorliegenden Schlussanträge.


25      Das vorlegende Gericht ist außerdem der Ansicht, dass die Berechnung und die Ex-ante-Zuerkennung von Kostenerstattungen als vorläufige Schadensersatzleistung im Kern eine verschleierte Sanktion darstellen.


26      Im Urteil vom 10. Februar 2009, Allianz und Generali Assicurazioni Generali (C‑185/07, EU:C:2009:69, Rn. 20), hatte der Gerichtshof bereits auf die Vielfältigkeit der im Rahmen von „[A]nti-[S]uit [I]njunctions“ ergriffenen Maßnahmen hingewiesen.


27      Vgl. Nr. 34 dieser Schlussanträge.


28      Vgl. hierzu die Formulierung „eine Art von [A]nti-[S]uit [I]njunction“ in Rn. 89 des Urteils vom 19. September 2018, C.E. und N.E. (C‑325/18 PPU und C‑375/18 PPU, EU:C:2018:739).


29      Zur Anerkennung und Vollstreckung einer Entscheidung, die es einer Partei verbietet, bestimmte Anträge vor einem Gericht eines Mitgliedstaats zu stellen, hat der Gerichtshof ein einziges Urteil erlassen (Urteil vom 13. Mai 2015, Gazprom, C‑536/13, EU:C:2015:316). Es ist jedoch im vorliegenden Fall nicht einschlägig: Es betraf nämlich einen Schiedsspruch, was den Gerichtshof insbesondere in Anbetracht des Anwendungsbereichs der Verordnung Nr. 44/2001, von dem die Schiedsgerichtsbarkeit ausgenommen ist, dazu veranlasste, zu entscheiden, dass weder dieser Schiedsspruch noch die Entscheidung, mit der ihn ein Gericht eines Mitgliedstaats gegebenenfalls anerkennt, das gegenseitige Vertrauen zwischen den Gerichten der verschiedenen Mitgliedstaaten erschüttern kann, auf dem die Verordnung beruht (Rn. 39). Folglich unterliegt das Verfahren der Anerkennung und Vollstreckung eines Schiedsspruchs dem nationalen Recht des Mitgliedstaats, in dem Anerkennung und Vollstreckung beantragt werden, und den in diesem Mitgliedstaat anwendbaren völkerrechtlichen Vorschriften (Rn. 41). Im gleichen Sinne wird im zwölften Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1215/2012 nunmehr hervorgehoben, dass diese Verordnung nicht für eine Klage oder eine Entscheidung in Bezug auf die Anerkennung oder Vollstreckung eines Schiedsspruchs gilt (vgl. Urteil vom 20. Juni 2022, London Steam-Ship Owners’ Mutual Insurance Association, C‑700/20, EU:C:2022:488, Rn. 46).


30      Vgl. Urteil vom 27. April 2004, Turner (C‑159/02, EU:C:2004:228, Rn. 27, 28 und 31). Siehe auch Urteil vom 10. Februar 2009, Allianz und Generali Assicurazioni Generali (C‑185/07, EU:C:2009:69), und dessen Zusammenfassung im Urteil vom 13. Mai 2015, Gazprom (C‑536/13, EU:C:2015:316, Rn. 32 bis 34). Vgl. auch die jüngste Entscheidung, allerdings im Bereich der elterlichen Verantwortung: Urteil vom 19. September 2018, C.E. und N.E. (C‑325/18 PPU und C‑375/18 PPU, EU:C:2018:739, Rn. 90).


31      Vgl. für einen Überblick über den Zusammenhang, in dem von „Anti-Suit Injunctions“ in den Ländern des „Common Law“ Gebrauch gemacht wird, Usunier, L., „Compétence judiciaire, reconnaissance et exécution des décisions en matière civile et commerciale. – Compétence. – Exceptions à l’exercice de la compétence. – Conflits de procédures. – Articles 29 à 34 du règlement (UE) no 1215/2012“, JurisClasseur Droit international, LexisNexis, Paris, 7. Oktober 2015 (zuletzt aktualisiert am 3. August 2022), Faszikel 584-170, Nr. 5.


32      Vgl. Urteil vom 27. April 2004, Turner (C‑159/02, EU:C:2004:228, Rn. 28).


33      Vgl. Urteile vom 10. Februar 2009, Allianz und Generali Assicurazioni Generali (C‑185/07, EU:C:2009:69, Rn. 27 und 28), sowie vom 13. Mai 2015, Gazprom (C‑536/13, EU:C:2015:316, Rn. 32).


34      Vgl. Urteil Allianz und Generali Assicurazioni Generali (C‑185/07, EU:C:2009:69, Rn. 29 und 30).


35      Für einen Überblick über den Grundsatz und sein weites Verständnis vgl. Urteil vom 19. September 2018, C.E. und N.E. (C‑325/18 PPU und C‑375/18 PPU, EU:C:2018:739, Rn. 90 und 91). Vgl. in diesem Sinne auch einige mitgliedstaatliche Entscheidungen wie etwa das Urteil der Ersten Zivilkammer der Cour de Cassation (Kassationsgerichtshof, Frankreich) vom 14. Oktober 2009 (Nrn. 08-16.369 und 08-16.549) mit Anmerkungen u. a. von Clavel, S., „Conflits de juridictions. – Exequatur d’un jugement étranger. – Injonction anti-suit. – Ordre public international. – Clause attributive de juridiction. – Clauses de procédure.“, Journal du droit international (Clunet), LexisNexis, Paris, Januar 2010, Nr. 1, S. 146 bis 155, insbesondere S. 152, sowie von Muir Watt, H., „La procédure d’anti-suit injonction n’est pas contraire à l’ordre public international“, Revue critique de droit international privé, Dalloz, Paris, 2010, S. 158 bis 163. Siehe auch Urteil des High Court vom 6. Juni 2018, Nori Holding Limited u. a./Public Joint-Stock Company „Bank Otkritie Financial Corporation“, Rn. 90, zitiert von Law, S., „Article 29“, in Requejo Isidro, M., Brussels I bis: A Commentary on Regulation (EU) No 1215/2012, Edward Elgar Publishing, Cheltenham, 2022, S. 466 bis 483, insbesondere Rn. 29.52 und 29.54, S. 481 und 482.


36      Siehe Fn. 18 der vorliegenden Schlussanträge.


37      In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, dass die Gerichtsstandsvereinbarung nach Art. 17 des Brüsseler Übereinkommens zwar bewirkte, dass ein Gericht als ausschließlich zuständig bestimmt wird, in den Verordnungen Nr. 44/2001 und Nr. 1215/2012 diese Regel jedoch nur mit der Maßgabe beibehalten wurde, „sofern die Parteien nichts anderes vereinbart haben“.


38      In der Rechtssache Gjensidige (C‑90/22), die derzeit beim Gerichtshof anhängig ist, wird dieser um Auslegung von Art. 45 Abs. 1 Buchst. e Ziff. ii der Verordnung Nr. 1215/2012 ersucht (zweite Vorlagefrage), und zwar im Fall einer Gerichtsstandsvereinbarung, die in einem internationalen Beförderungsvertrag enthalten ist, der einem besonderen internationalen Übereinkommen unterliegt, und im Hinblick auf den Begriff der „öffentlichen Ordnung“ in diesem besonderen Zusammenhang (dritte Vorlagefrage).


39      C‑185/07, EU:C:2009:69, Rn. 26 und 31. Der Gerichtshof entschied, dass ein staatliches Gericht nicht daran gehindert werden darf, die Vorfrage der Gültigkeit oder Anwendbarkeit der Schiedsvereinbarung zu prüfen und so auf Antrag der betroffenen Partei zu beurteilen, ob eine Schiedsvereinbarung hinfällig, unwirksam oder nicht erfüllbar ist. Insoweit weise ich darauf hin, dass ungeachtet der im Nachgang zu diesem Urteil im Schrifttum in Anbetracht der besonderen Situation des Schiedsverfahrens geäußerten Kritik (siehe u. a. Muir Watt, H., a. a. O., S. 161) das Urteil vom 13. Mai 2015, Gazprom (C‑536/13, EU:C:2015:316), die Grundsätze, auf denen das oben genannte Urteil beruht, nicht in Frage stellt. Vgl. im gleichen Sinne das Urteil der Ersten Zivilkammer des französischen Kassationsgerichtshofs vom 14. Oktober 2009 (Nrn. 08-16.369 und 08-16.549), in dem entschieden wurde, dass eine „Anti-Suit Injunction“, deren Zweck „außerhalb des Anwendungsbereichs von Übereinkommen oder des Gemeinschaftsrechts“ darin besteht, die Einhaltung einer Gerichtsstandsklausel durchzusetzen, nicht gegen die internationale öffentliche Ordnung verstößt. Zu einigen Stellungnahmen des Schrifttums zu diesem Urteil vgl. Fn. 35 der vorliegenden Schlussanträge.


40      Die Parteien können insbesondere über die materielle Voraussetzung streiten, der eine Gerichtsstandsvereinbarung genügen muss, nämlich dass sie „eine bereits entstandene Rechtsstreitigkeit oder … eine künftige aus einem bestimmten Rechtsverhältnis entspringende Rechtsstreitigkeit“ zum Gegenstand hat (Art. 23 Abs. 1 der Verordnung Nr. 44/2001). Vgl. Urteil vom 21. Mai 2015, CDC Hydrogen Peroxide (C‑352/13, EU:C:2015:335, Rn. 67). Das angerufene Gericht könnte auch dazu veranlasst sein, zu prüfen, ob die Gerichtsstandsklausel nicht von einer ausschließlichen Zuständigkeitsregelung abweicht oder ob die Absicht bestand, von dieser abzuweichen, oder aber ob sie nicht anlässlich anderer Umstände ersetzt worden ist. Vgl. zur Veranschaulichung Legros, C., „Commerce maritime. – Contrat de transport de marchandises. Responsabilité du transporteur“, JurisClasseur Transport, LexisNexis, Paris, 25. September 2021, Faszikel 1269, II, Conflits de juridictions, Nr. 48. Vgl. ferner in Bezug auf die Anerkennung einer auf eine Gerichtsstandsklausel gestützten Unzuständigkeitsentscheidung und deren Begründung hinsichtlich der Wirksamkeit der Klausel Urteil vom 15. November 2012, Gothaer Allgemeine Versicherung u. a. (C‑456/11, EU:C:2012:719, Rn. 29 und 41).


41      Vgl. in diesem Sinne Usunier, L., a. a. O., Rn. 5. Vgl. auch Legros, C., a. a. O., Rn. 48.


42      Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 27. April 2004, Turner (C‑159/02, EU:C:2004:228, Rn. 29), und vom 10. Februar 2009, Allianz und Generali Assicurazioni Generali (C‑185/07, EU:C:2009:69, Rn. 24).


43      Vgl. Nrn. 5 und 26 dieser Schlussanträge.


44      Vgl. Bericht von M. P. Jenard über das Übereinkommen vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 1979, C 59, S. 1), insbesondere S. 44, sowie Urteil vom 28. April 2009, Apostolides (C‑420/07, EU:C:2009:271, Rn. 60 und die dort angeführte Rechtsprechung).


45      Vgl. Urteil vom 28. März 2000, Krombach (C‑7/98, EU:C:2000:164, Rn. 25 bis 27). Vgl. zu diesem Begriff Nowak, J. T., und Richard, V., „Article 45“, in Requejo Isidro, M., Brussels I bis: A Commentary on Regulation (EU) no 1215/2012, a. a. O., S. 638 bis 678, insbesondere Rn. 45.69 bis 45.72, S. 666 bis 668, und Mankowski, P., „Article 45“, in Magnus, U., und Mankowski, P., European Commentaries on Private International Law, Brussels Ibis Regulation, 2. Aufl., Otto Schmidt, Köln, 2023, S. 842 bis 918, insbesondere Rn. 28 ff. und S. 864 ff.


46      Vgl. Urteile vom 6. September 2012, Trade Agency (C‑619/10, EU:C:2012:531, Rn. 48 und 49 und die dort angeführte Rechtsprechung), sowie vom 25. Mai 2016, Meroni (C‑559/14, EU:C:2016:349, Rn. 38 und 40). Vgl. auch Urteil vom 20. Juni 2022, London Steam-Ship Owners’ Mutual Insurance Association (C‑700/20, EU:C:2022:488, Rn. 77).


47      Siehe hierzu Gaudemet-Tallon, H., und Ancel, M.‑E., Compétence et exécution des jugements en Europe, Règlements 44/2001 et 1215/2012, Conventions de Bruxelles (1968) et de Lugano (1998 et 2007), 6. Aufl., Librairie générale de droit et de jurisprudence, collection „Droit des affaires“, Paris, 2018, Rn. 438 ff. und S. 611 ff. sowie Nowak, J. T., und Richard, V., a. a. O., Rn. 45.82 ff. und S. 671 ff.


48      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Mai 2016, Meroni (C‑559/14, EU:C:2016:349, Rn. 44 bis 46 und die dort angeführte Rechtsprechung). So stellt eine offensichtliche Beeinträchtigung der Verteidigungsrechte, vorbehaltlich der Ausübung der Rechtsbehelfe, eine Verletzung des verfahrensrechtlichen Ordre public dar (Rn. 48 und 50 dieses Urteils sowie die zitierte Rechtsprechung). Zur Anwendung dieses Grundes für die Versagung der Anerkennung von „Anti-Suit Injunctions“ siehe Mankowski, P., a. a. O., Rn. 31, S. 869.


49      Es ist hervorzuheben, dass es hierbei nicht um die Begründetheit der Zuerkennung von Schadensersatz bei Missachtung einer Gerichtsstandsvereinbarung durch eine Partei geht. In dieser Hinsicht ist erstens daran zu erinnern, dass im Stadium der Anerkennung einer Entscheidung jede Nachprüfung in der Sache selbst verboten ist (vgl. Urteile vom 25. Mai 2016, Meroni, C‑559/14, EU:C:2016:349, Rn. 41, und vom 16. Januar 2019, Liberato, C‑386/17, EU:C:2019:24, Rn. 54). Zweitens halte ich es dessen ungeachtet für angezeigt, auf den Streitstand im Schrifttum zu diesem Thema hinzuweisen: vgl. einerseits Gaudemet-Tallon, H., und Ancel, M.‑E., a. a. O., Rn. 162, S. 215, die diese Frage im Unionsrecht verneinen wollen; vgl. andererseits Brosch, M., und Kahl, L. M., „Artikel 25“, in Requejo Isidro, M., Brussels I bis: A Commentary on Regulation (EU) No 1215/2012, a. a. O., S. 344 bis 374, insbesondere Rn. 25.75, S. 366, wo die Entscheidungen des deutschen Bundesgerichtshofs vom 17. Oktober 2019, III ZR 42/19, Rn. 41 bis 45, und des spanischen Obersten Gerichtshofs vom 23. Februar 2007, Nr. 201/2007, zitiert werden, sowie Álvarez González, S., „The Spanish Tribunal Supremo Grants Damages for Breach of a Choice-of-Court Agreement“, Praxis des Internationalen Privat- und Verfahrensrechts (IPRax), Gieseking, Bielefeld, 29. Jahrgang, Heft 6, 2009, S. 529 bis 533. Ich weise darauf hin, dass in der genannten deutschen Entscheidung, auf die sich Charles Taylor und FD berufen haben, das von den Parteien benannte Gericht über die Entschädigung erst befunden hat, nachdem das zuerst angerufene Gericht seine Zuständigkeit geprüft hatte. Siehe u. a. die Anmerkung von Burianski, M., „Damages for breach of an exclusive jurisdiction clause“, Januar 2020, abrufbar unter folgender Internetadresse: https://www.whitecase.com/insight-alert/damages-breach-exclusive-jurisdiction-clause.


50      Insoweit konnte sich im Ausgangsverfahren die Frage nach der Anwendung der im Urteil vom 9. Dezember 2003, Gasser (C‑116/02, EU:C:2003:657), aufgestellten Verfahrensregeln stellen, sofern die Voraussetzungen der Rechtshängigkeit vorlagen. Entgegen der Entscheidung des Gerichtshofs hat der Unionsgesetzgeber bei der Neufassung der Verordnung Nr. 44/2001 dem Gericht am Ort des gewählten Gerichtsstands den Vorrang eingeräumt, um seine Zuständigkeit unter den in Art. 31 Abs. 2 und 3 der Verordnung Nr. 1215/2012 festgelegten Voraussetzungen zu bestätigen, zu denen die Voraussetzung gehört, dass es in dem Rechtsstreit angerufen worden ist. Zu dieser letzteren, wesentlichen Voraussetzung, besonders in diesem Fall, vgl. Usunier, L., a. a. O., Rn. 29. Zur Ausweitung dieser Lösung auf Situationen, in denen die Verordnung Nr. 44/2001 anwendbar ist, siehe Gaudemet-Tallon, H., und Ancel, M.‑E., a. a. O., Rn. 367, S. 534. Im Übrigen ist daran zu erinnern, dass im Stadium der Anerkennung einer ausländischen Entscheidung die Nichteinhaltung der Regeln über die Rechtshängigkeit einer solchen Anerkennung nicht entgegensteht. Vgl. Urteil vom 16. Januar 2019, Liberato (C‑386/17, EU:C:2019:24, Rn. 52).


51      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. April 2009, Gambazzi (C‑394/07, EU:C:2009:219, Rn. 48).


52      Vgl. Nr. 40 dieser Schlussanträge.