Language of document : ECLI:EU:C:2024:301

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)

11. April 2024(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 2008/118/EG – Art. 1 Abs. 2 – Verbrauchsteuern – Elektrischer Strom – Nationale Regelung, die einen Zuschlag zur Verbrauchsteuer auf elektrischen Strom einführt – Fehlen besonderer Zwecke – Zuschlag, der von den nationalen Gerichten als mit der Richtlinie 2008/118/EG unvereinbar angesehen wird – Rückforderung der rechtsgrundlos entrichteten Steuer durch den Endverbraucher allein vom Lieferer – Art. 288 AEUV – Unmittelbare Wirkung – Effektivitätsgrundsatz“

In der Rechtssache C‑316/22

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunale di Como (Gericht Como, Italien) mit Entscheidung vom 28. April 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 11. Mai 2022, in dem Verfahren

Gabel Industria Tessile SpA,

Canavesi SpA

gegen

A2A Energia SpA,

Energit SpA,

Agenzia delle Dogane e dei Monopoli

erlässt

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten E. Regan sowie der Richter Z. Csehi, M. Ilešič (Berichterstatter), I. Jarukaitis und D. Gratsias,

Generalanwalt: N. Emiliou,

Kanzler: C. Di Bella, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 13. September 2023,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der spanischen Regierung, vertreten durch A. Ballesteros Panizo und J. Rodríguez de la Rúa Puig als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Armenia und F. Moro als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 16. November 2023

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 288 Abs. 3 AEUV und des Effektivitätsgrundsatzes.

2        Es ergeht im Rahmen zweier verbundener Ausgangsverfahren zwischen zum einen der Gabel Industria Tessile SpA und der A2A Energia SpA und zum anderen der Canavesi SpA auf der einen Seite und der Energit SpA sowie der Agenzia delle Dogane e dei Monopoli (Zoll- und Monopolagentur, Italien) auf der anderen Seite wegen Anträgen auf Erstattung des von Gabel Industria Tessile und Canavesi in den Jahren 2010 und 2011 an A2A Energia und Energit gezahlten, von der italienischen Regelung vorgesehenen Zuschlags zur Verbrauchsteuer auf elektrischen Strom.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Die Richtlinie 2008/118/EG des Rates vom 16. Dezember 2008 über das allgemeine Verbrauchsteuersystem und zur Aufhebung der Richtlinie 92/12/EWG (ABl. 2009, L 9, S. 12) wurde durch die Richtlinie (EU) 2020/262 des Rates vom 19. Dezember 2019 zur Festlegung des allgemeinen Verbrauchsteuersystems (ABl. 2020, L 58, S. 4) aufgehoben. Die Richtlinie 2008/118 ist jedoch in zeitlicher Hinsicht weiterhin auf den Sachverhalt der Ausgangsrechtsstreitigkeiten anwendbar.

4        Art. 1 dieser Richtlinie bestimmt:

„(1)      Diese Richtlinie legt ein allgemeines System für die Verbrauchsteuern fest, die mittelbar oder unmittelbar auf den Verbrauch folgender Waren (im Folgenden ‚verbrauchsteuerpflichtige Waren‘ genannt) erhoben werden:

a)      Energieerzeugnisse und elektrischer Strom gemäß der Richtlinie 2003/96/EG [des Rates vom 27. Oktober 2003 zur Restrukturierung der gemeinschaftlichen Rahmenvorschriften zur Besteuerung von Energieerzeugnissen und elektrischem Strom (ABl. 2003, L 283, S. 51)];

(2)      Die Mitgliedstaaten können für besondere Zwecke auf verbrauchsteuerpflichtige Waren andere indirekte Steuern erheben, sofern diese Steuern in Bezug auf die Bestimmung der Bemessungsgrundlage, die Berechnung der Steuer, die Entstehung des Steueranspruchs und die steuerliche Überwachung mit den Vorschriften der Union für die Verbrauchsteuer oder die Mehrwertsteuer vereinbar sind, wobei die Bestimmungen über die Steuerbefreiungen ausgenommen sind.

…“

5        Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie 2008/118 sieht vor:

„Die Verbrauchsteuer wird nach den von jedem Mitgliedstaat festgelegten Verfahren erhoben und eingezogen bzw. gegebenenfalls erstattet oder erlassen. …“

6        In Art. 48 Abs. 1 der Richtlinie heißt es:

„Die Mitgliedstaaten erlassen und veröffentlichen bis zum 1. Januar 2010 die erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften, um dieser Richtlinie spätestens ab dem 1. April 2010 nachzukommen. …“

 Italienisches Recht

 Gesetzesdekret Nr. 511/1988

7        In seiner auf die Sachverhalte der Ausgangsrechtsstreitigkeiten anwendbaren Fassung und jedenfalls bis 31. März 2012 lautete Art. 6 des Decreto Legge n. 511 – Disposizioni urgenti in materia di finanza regionale e locale (Gesetzesdekret Nr. 511 – Sofortmaßnahmen für das regionale und örtliche Finanzwesen) vom 28. November 1988 (GURI Nr. 280 vom 29. November 1988) in der durch Art. 5 des Decreto legislativo n. 26 – Attuazione della direttiva 2003/96/CE che ristruttura il quadro comunitario per la tassazione dei prodotti energetici e dell’elettricita (Gesetzesvertretendes Dekret Nr. 26 zur Umsetzung der Richtlinie 2003/96/EG zur Restrukturierung der gemeinschaftlichen Rahmenvorschriften zur Besteuerung von Energieerzeugnissen und elektrischem Strom) vom 2. Februar 2007 (Supplemento Ordinario zur GURI Nr. 68 vom 22. März 2007) (im Folgenden: Gesetzesdekret Nr. 511/1988) wie folgt:

„(1)      Es wird ein Zuschlag zur Verbrauchsteuer auf elektrischen Strom im Sinne der Art. 52 ff. des durch das [Decreto legislativo 26 ottobre 1995, n. 504 (Gesetzesvertretendes Dekret Nr. 504 vom 26. Oktober 1995)] genehmigten Einheitstexts über die Steuern auf Erzeugung und Verbrauch sowie die strafrechtlichen und verwaltungsrechtlichen Sanktionen (im Folgenden: Einheitstext über Verbrauchsteuern) eingeführt, und zwar in Höhe von:

a)      18,59 [Euro] pro 1 000 kWh zugunsten der Gemeinden für jede Nutzung in Wohnungen mit Ausnahme von Zweitwohnungen und Stromversorgungen mit einer verfügbaren Leistung von bis zu 3 kW in der registrierten Wohnung der Nutzer im Rahmen der ersten 150 kWh des monatlichen Verbrauchs. Für den Verbrauch, der bei Verträgen bis zu 1,5 kWh den Grenzwert von 150 kWh überschreitet und bei Verträgen von mehr als 1,5 kWh und bis zu 3 kWh den Grenzwert von 220 kWh überschreitet, wird der entsprechende Zuschlag nach den in Kapitel I Nr. 2 des Beschlusses Nr. 15 des interministeriellen Ausschusses für Preise vom 14. Dezember 1993 festgelegten Kriterien zurückgefordert.

b)      20,40 [Euro] je 1 000 kWh zugunsten der Gemeinden für jede Nutzung in Zweitwohnungen;

c)      9,30 [Euro] je 1 000 kWh zugunsten der Provinzen für jede Nutzung in anderen Räumlichkeiten und Orten als Wohnungen für alle Verträge bis zu einer Obergrenze von 200 000 kWh monatlichem Verbrauch.

(3)      Die in Absatz 1 aufgeführten Zuschläge werden von den in Art. 53 des Einheitstexts über Verbrauchsteuern genannten Steuerpflichtigen bei der Lieferung von elektrischem Strom an Endverbraucher oder – im Fall von elektrischem Strom, der zur eigenen Verwendung erzeugt oder erworben wurde – zum Zeitpunkt des Verbrauchs geschuldet. Die Zuschläge werden nach denselben Verfahren erhoben und eingezogen wie die Verbrauchsteuer auf elektrischen Strom.

(4)      Die in Absatz 1 aufgeführten Zuschläge für die Lieferung von elektrischem Strom mit einer verfügbaren Leistung von höchstens 200 kW werden direkt an die Gemeinden und Provinzen entrichtet, in deren Gebiet sich die Nutzer befinden. Die Zuschläge für die Lieferung von elektrischem Strom mit einer verfügbaren Leistung von mehr als 200 kW und die Zuschläge für den Verbrauch von zur eigenen Verwendung erzeugtem oder gekauftem elektrischem Strom werden an die Staatskasse entrichtet, mit Ausnahme derjenigen Zuschläge, die im Gebiet der Region Val de Aoste [(Italien)] und der Autonomen Provinzen Trient [(Italien)] und Bozen [(Bolzano), Italien] erhoben werden und unmittelbar an die Gemeinden und Provinzen selbst abgeführt werden.

…“

 Gesetzesvertretendes Dekret Nr. 504/1995

8        Art. 14 des Decreto legislativo n. 504 – Testo unico delle disposizioni legislative concernenti le imposte sulla produzione e sui consumi e relative sanzioni penali e amministrative (Gesetzesvertretendes Dekret Nr. 504 – Einheitstext über die Steuern auf Erzeugung und Verbrauch sowie die strafrechtlichen und verwaltungsrechtlichen Sanktionen) vom 26. Oktober 1995 (Beilage zum GURI Nr. 279 vom 29. November 1995) (im Folgenden: Gesetzesvertretendes Dekret Nr. 504/1995) bestimmt:

„(1)      Die Verbrauchsteuer wird erstattet, wenn sie rechtsgrundlos entrichtet wurde; die in diesem Artikel genannten Erstattungsvorschriften gelten auch für Anträge im Zusammenhang mit Erleichterungen, die im Wege der vollständigen oder teilweisen Erstattung der entrichteten Verbrauchsteuer oder auf andere in den Vorschriften über die einzelnen Erleichterungen vorgesehene Weise gewährt werden.

(2)      Unbeschadet der Bestimmungen von Art. 7 Abs. 1 Buchst. e und Art. 10a Abs. 1 Buchst. d ist die Erstattung innerhalb einer Ausschlussfrist von zwei Jahren ab dem Tag der Zahlung oder dem Zeitpunkt, zu dem das entsprechende Recht ausgeübt werden kann, zu beantragen.

(4)      Wenn der Schuldner der Verbrauchsteuer am Ende eines gerichtlichen Verfahrens verurteilt wird, Dritten im Wege der Abwälzung der Verbrauchsteuer zu Unrecht vereinnahmte Beträge zurückzuerstatten, ist die Erstattung vom Schuldner der Verbrauchsteuer innerhalb einer Ausschlussfrist von 90 Tagen nach Rechtskraft des Urteils, mit dem er zur Erstattung der Beträge verpflichtet wird, zu beantragen.“

9        Art. 16 Abs. 3 dieses gesetzesvertretenden Dekrets bestimmt:

„Nach Entrichtung der Steuer können die Forderungen der Schuldner der Verbrauchsteuer und Inhaber einer Genehmigung für den Betrieb gewerblicher Lager von Energieerzeugnissen gegen die Abnehmer der Erzeugnisse, für die sie diese Steuer entrichtet haben, im Wege der Abwälzung in Rechnung gestellt werden …“

10      Art. 53 dieses gesetzesvertretenden Dekrets sieht vor:

„(1)      Zur Entrichtung der Verbrauchsteuer auf elektrischen Strom sind verpflichtet:

a)      die Personen, die den elektrischen Strom den Endverbrauchern in Rechnung stellen …;

…“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

11      Gabel Industria Tessile und Canavesi sind zwei Gesellschaften italienischen Rechts, die jeweils mit A2A Energia bzw. mit Energit einen Vertrag über die Lieferung elektrischen Stroms an ihren Produktionsstandort geschlossen haben.

12      Für die Jahre 2010 und 2011 zahlten Gabel Industria Tessile und Canavesi die gemäß diesen Verträgen geschuldeten Beträge einschließlich eines Zuschlags, der bis zu dessen Aufhebung am 1. April 2012 in Art. 6 des Gesetzesdekrets Nr. 511/1988 vorgesehen war und auf die Verbrauchsteuer auf elektrischen Strom aufgeschlagen wurde.

13      Im Jahr 2020 verklagten sie ihre Lieferer beim Tribunale di Como (Gericht Como, Italien), dem vorlegenden Gericht, um im Rahmen zweier von diesem Gericht verbundener Zivilverfahren die Erstattung der als Zuschlag gezahlten Beträge wegen Unionsrechtswidrigkeit der innerstaatlichen Rechtsvorschriften, mit denen diese Steuer eingeführt worden war, zu erreichen.

14      Dieses Gericht führt aus, dass die Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof, Italien) im Anschluss an das Urteil vom 25. Juli 2018, Messer France (C‑103/17, EU:C:2018:587), entschieden habe, dass der später abgeschaffte, in Art. 6 des Gesetzesdekrets Nr. 511/1988 vorgesehene Zuschlag zur Verbrauchsteuer auf elektrischen Strom keinen besonderen Zweck habe und daher gegen Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 2008/118 verstoße.

15      Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass das Decreto legislativo n. 48 – Attuazione della direttiva 2008/118/CE relativa al regime generale delle accise e che abroga la direttiva 92/12/CEE (Gesetzesvertretendes Dekret Nr. 48 zur Umsetzung der Richtlinie 2008/118/EG über das allgemeine Verbrauchsteuersystem und zur Aufhebung der Richtlinie 92/12/EWG) vom 29. März 2010 (GURI Nr. 75 vom 31. März 2010) Art. 6 des Gesetzesdekrets Nr. 511/1988 unberührt gelassen habe.

16      Die beiden bei ihm anhängigen Rechtsstreitigkeiten seien Teil einer Reihe von Streitigkeiten über den Umgang mit den Beträgen, die in der Zeit zwischen der den Mitgliedstaaten eingeräumten Frist zur Umsetzung der Richtlinie 2008/118 und der Abschaffung des Zuschlags zur Verbrauchsteuer auf elektrischen Strom durch den italienischen Gesetzgeber rechtsgrundlos gezahlt worden seien.

17      Die italienischen Gerichte der unteren Instanzen verfolgten dabei zwei unterschiedliche Ansätze.

18      Nach einer ersten in der Rechtsprechung vertretenen Auffassung, die, wenn man ihr folgte, zur Abweisung der auf Erstattung dieser Steuer gerichteten Klagen führte, darf das Gericht in einem Rechtsstreit zwischen Privatpersonen nicht von der Anwendung einer gegen eine Richtlinie der Union verstoßenden nationalen Vorschrift absehen, da der Richtlinie andernfalls eine vom Gerichtshof abgelehnte „unmittelbare horizontale Wirkung“ zuerkannt würde.

19      Die zweite Strömung innerhalb der Rechtsprechung, nach der solchen Klagen stattzugeben wäre, stützt sich auf die Verpflichtung, das innerstaatliche Recht ab dem Ablauf der Umsetzungsfrist so weit wie möglich im Licht des Wortlauts und des Zwecks der betreffenden Richtlinie auszulegen, um die mit ihr verfolgten Ergebnisse zu erreichen. Aus dieser Verpflichtung ergebe sich, dass der Grundsatz der nur vertikalen unmittelbaren Wirkung europäischer Richtlinien kein Hindernis für die Feststellung der Rechtsgrundlosigkeit der Leistung in einem horizontalen „Abwälzungsverhältnis“ sei, und zwar aufgrund der Verbindung dieses Verhältnisses mit dem Steuerverhältnis, in dem das durch die europäische Vorschrift aufgestellte Verbot unmittelbar greife.

20      Unter diesen Umständen hat das Tribunale di Como (Gericht Como) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Stehen das System der Rechtsquellen der Europäischen Union und insbesondere Art. 288 Abs. 3 AEUV generell der Nichtanwendung einer innerstaatlichen Rechtsvorschrift, die gegen eine klare, genaue und unbedingte Bestimmung einer nicht umgesetzten oder nicht ordnungsgemäß umgesetzten Richtlinie verstößt, durch das nationale Gericht in einem Rechtsstreit zwischen Privatpersonen mit der Folge, dass einem Einzelnen eine zusätzliche Verpflichtung auferlegt wird, entgegen, wenn dies nach dem nationalen Rechtssystem (Art. 14 Abs. 4 des Gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 504/1995) die Voraussetzung dafür ist, dass er die ihm durch diese Richtlinie gewährten Ansprüche gegen den Staat geltend machen kann?

2.      Steht der Grundsatz der Effektivität einer nationalen Regelung (Art. 14 Abs. 4 des Gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 504/1995) entgegen, wonach der Endverbraucher seinen Antrag auf Erstattung der nicht geschuldeten Abgabe nicht unmittelbar an den Staat richten kann, sondern ihm lediglich die Möglichkeit eingeräumt wird, eine zivilrechtliche Klage auf Rückzahlung gegen den Abgabenpflichtigen, der allein Anspruch auf Erstattung von der Steuerverwaltung hat, zu erheben, wenn der alleinige Grund für die Rechtswidrigkeit der Abgabe – nämlich der Verstoß gegen eine Unionsrichtlinie – ausschließlich im Verhältnis zwischen dem Abgabenschuldner und der Steuerverwaltung geltend gemacht werden kann, nicht aber in jenem zwischen Ersterem und dem Endverbraucher, wodurch verhindert wird, dass die Erstattung tatsächlich greift, oder ist, um die Beachtung des genannten Grundsatzes sicherzustellen, in einem solchen Fall ein unmittelbarer Anspruch des Endverbrauchers gegen den Fiskus als Fall der Unmöglichkeit oder übermäßigen Schwierigkeit, vom Lieferer die Erstattung der rechtsgrundlos gezahlten Abgabe zu erwirken, anzuerkennen?

 Zu den Vorlagefragen

 Zur ersten Frage

21      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 288 Abs. 3 AEUV dahin auszulegen ist, dass er ein nationales Gericht daran hindert, in einem Rechtsstreit zwischen Privatpersonen eine nationale Rechtsvorschrift, mit der eine Steuer eingeführt wird, die gegen eine klare, genaue und unbedingte Bestimmung einer nicht umgesetzten oder mangelhaft umgesetzten Richtlinie verstößt, unangewendet zu lassen.

22      Gemäß Art. 288 Abs. 3 AEUV besteht die Verbindlichkeit einer Richtlinie, aufgrund deren eine Berufung auf sie möglich ist, nur in Bezug auf „jeden Mitgliedstaat, an den sie gerichtet wird“. Nach ständiger Rechtsprechung kann eine Richtlinie folglich nicht selbst Verpflichtungen für einen Einzelnen begründen, so dass diesem gegenüber eine Berufung auf die Richtlinie als solche vor nationalen Gerichten nicht möglich ist (Urteil vom 22. Dezember 2022, Sambre & Biesme und Commune de Farciennes, C‑383/21 und C‑384/21, EU:C:2022:1022, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).

23      Allerdings ist erstens darauf hinzuweisen, dass das Unionsrecht es einem Mitgliedstaat nicht verwehrt, seine Zuständigkeit hinsichtlich der Form und der Mittel zur Erreichung der in dieser Richtlinie festgelegten Ziele auszuüben, indem er in seinen nationalen Rechtsvorschriften vorsieht, dass nach Ablauf der Umsetzungsfrist die klaren, genauen und unbedingten Bestimmungen einer nicht oder nicht ordnungsgemäß umgesetzten Richtlinie in seine innerstaatliche Rechtsordnung aufgenommen werden und dass sich folglich ein Einzelner gegenüber einem anderen Einzelnen auf diese Bestimmungen berufen kann. In einem solchen Fall wird die dem Einzelnen damit auferlegte Verpflichtung nämlich nicht auf der Grundlage des Unionsrechts, sondern auf der Grundlage des nationalen Rechts auferlegt und stellt daher keine zusätzliche Verpflichtung im Verhältnis zu den im nationalen Recht vorgesehenen Verpflichtungen dar (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Januar 2022, Thelen Technopark Berlin, C‑261/20, EU:C:2022:33, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).

24      Folglich kann zwar eine Richtlinie nach dem Unionsrecht nicht selbst Verpflichtungen für einen Einzelnen begründen und daher ihm gegenüber als solche vor einem nationalen Gericht nicht geltend gemacht werden, doch kann ein Mitgliedstaat den nationalen Gerichten die Befugnis verleihen, die Anwendung jeder Bestimmung des nationalen Rechts, die gegen eine Bestimmung des Unionsrechts ohne unmittelbare Wirkung verstößt, aufgrund seines innerstaatlichen Rechts ausschließen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Januar 2022, Thelen Technopark Berlin, C‑261/20, EU:C:2022:33, Rn. 33).

25      Daher kann ein nationales Gericht es einem Einzelnen ungeachtet des Fehlens einer horizontalen Wirkung einer Richtlinie ermöglichen, sich auf die Rechtswidrigkeit einer Steuer zu berufen, die ein Verkäufer gemäß einer ihm nach den nationalen Rechtsvorschriften eingeräumten Befugnis zu Unrecht auf ihn abgewälzt hat, um die letztlich von ihm zu tragende zusätzliche wirtschaftliche Belastung zu neutralisieren, wenn eine solche Möglichkeit im nationalen Recht vorgesehen ist; es ist Sache des vorlegenden Gerichts, dies in den Ausgangsverfahren festzustellen.

26      Zweitens hat der Gerichtshof anerkannt, dass sich die Einzelnen auf unbedingte und hinreichend genaue Bestimmungen einer Richtlinie nicht nur gegenüber einem Mitgliedstaat und allen Trägern seiner Verwaltung berufen können, sondern auch gegenüber Organisationen oder Einrichtungen, die dem Staat oder dessen Aufsicht unterstehen oder mit besonderen Rechten ausgestattet sind, die über diejenigen hinausgehen, die nach den Vorschriften für die Beziehungen zwischen Privatpersonen gelten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Oktober 2017, Farrell, C‑413/15, EU:C:2017:745, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung). Im vorliegenden Fall wird es Sache des vorlegenden Gerichts sein, die erforderlichen Prüfungen vorzunehmen, um festzustellen, ob die betreffenden Lieferer in eine dieser Kategorien fallen.

27      Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 288 Abs. 3 AEUV dahin auszulegen ist, dass er ein nationales Gericht daran hindert, in einem Rechtsstreit zwischen Privatpersonen eine nationale Rechtsvorschrift, mit der eine indirekte Steuer eingeführt wird, die gegen eine klare, genaue und unbedingte Bestimmung einer nicht umgesetzten oder mangelhaft umgesetzten Richtlinie verstößt, unangewendet zu lassen, es sei denn, das innerstaatliche Recht bestimmt etwas anderes oder die Einrichtung, der gegenüber die Rechtswidrigkeit dieser Steuer geltend gemacht wird, untersteht dem Staat oder dessen Aufsicht oder ist mit besonderen Rechten ausgestattet, die über diejenigen hinausgehen, die nach den Vorschriften für die Beziehungen zwischen Privatpersonen gelten.

 Zur zweiten Frage

28      Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob der Effektivitätsgrundsatz dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die es dem Endverbraucher nicht erlaubt, die Erstattung der zusätzlichen wirtschaftlichen Belastung, die ihm dadurch entstanden ist, dass ein Lieferer eine von ihm selbst rechtsgrundlos entrichtete Abgabe gemäß einer ihm nach den nationalen Rechtsvorschriften zustehenden Befugnis abgewälzt hat, unmittelbar vom Mitgliedstaat zu verlangen, sondern ihn auf eine zivilrechtliche Klage gegen den Lieferer auf Rückzahlung einer nicht geschuldeten Leistung verweist, wenn die Rechtsgrundlosigkeit der Entrichtung dieser Abgabe daraus folgt, dass die Abgabe gegen eine klare, genaue und unbedingte Bestimmung einer nicht umgesetzten oder mangelhaft umgesetzten Richtlinie verstößt, und wenn dieser Rechtsverstoß im Rahmen einer solchen Klage nicht wirksam geltend gemacht werden kann, weil die Berufung auf eine Richtlinie als solche in einem Rechtsstreit zwischen Privatpersonen nicht möglich ist.

29      Die Mitgliedstaaten sind nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs grundsätzlich verpflichtet, unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhobene Steuern und Abgaben zu erstatten, da der Anspruch auf Erstattung dieser Abgaben eine Folge und eine Ergänzung der Rechte darstellt, die den Einzelnen aus den Bestimmungen des Unionsrechts erwachsen, die diesen Abgaben entgegenstehen (Urteil vom 20. Oktober 2011, Danfoss und Sauer-Danfoss, C‑94/10, EU:C:2011:674, Rn. 20 und die dort angeführte Rechtsprechung).

30      Als Ausnahme vom Grundsatz der Erstattung nicht mit dem Unionsrecht vereinbarer Abgaben kann jedoch die Rückzahlung einer rechtsgrundlos erhobenen Abgabe nur abgelehnt werden, wenn sie zu einer ungerechtfertigten Bereicherung der Berechtigten führen würde, also wenn feststeht, dass die zur Zahlung dieser Abgaben herangezogene Person sie tatsächlich auf eine andere Person abgewälzt hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. Oktober 2011, Danfoss und Sauer-Danfoss, C‑94/10, EU:C:2011:674, Rn. 21 und die dort angeführte Rechtsprechung).

31      In einem solchen Fall hat nämlich nicht der Abgabenpflichtige die Belastung durch die ohne Rechtsgrund erhobene Abgabe getragen, sondern der Endverbraucher, auf den die Belastung abgewälzt worden ist. Würde man daher dem Abgabenpflichtigen den Abgabenbetrag erstatten, den er bereits beim Endverbraucher erhoben hat, käme dies einer Doppelzahlung an ihn gleich, die als ungerechtfertigte Bereicherung beurteilt werden könnte, ohne dass damit die Folgen der Rechtswidrigkeit der Abgabe für den Endverbraucher beseitigt wären (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. Oktober 2011, Danfoss und Sauer-Danfoss, C‑94/10, EU:C:2011:674, Rn. 22 und die dort angeführte Rechtsprechung).

32      Dagegen muss in demselben Fall verhindert werden, dass der betreffende Mitgliedstaat einen Vorteil aus dem Verstoß gegen das Unionsrecht zieht. Da eine solche Abwälzung gemäß einer den Lieferern von den nationalen Rechtsvorschriften eingeräumten Möglichkeit vorgenommen wurde und da infolgedessen letztlich der Endverbraucher diese zusätzliche wirtschaftliche Belastung rechtsgrundlos getragen hat, muss dieser also die Möglichkeit haben, sich die Belastung entweder unmittelbar vom Mitgliedstaat oder vom steuerpflichtigen Verkäufer erstatten zu lassen. In letzterem Fall muss der steuerpflichtige Verkäufer dann die Möglichkeit haben, von demselben Mitgliedstaat einen Ausgleich für die Erstattung zu fordern, die er leisten musste.

33      Allerdings ist es nach ständiger Rechtsprechung in Ermangelung einer Unionsregelung auf diesem Gebiet Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung der einzelnen Mitgliedstaaten, die genauen Verfahren für die Ausübung dieses Anspruchs auf Erstattung einer solchen wirtschaftlichen Belastung zu regeln (vgl. entsprechend Urteil vom 15. März 2007, Reemtsma Cigarettenfabriken, C‑35/05, EU:C:2007:167, Rn. 37), wobei diese Verfahren den Grundsätzen der Äquivalenz und der Effektivität entsprechen müssen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Juni 2004, Recheio – Cash & Carry, C‑30/02, EU:C:2004:373, Rn. 17, und vom 6. Oktober 2005, MyTravel, C‑291/03, EU:C:2005:591, Rn. 17).

34      Insbesondere geböte der Grundsatz der Effektivität, dass der Endverbraucher seinen Erstattungsantrag unmittelbar an den betreffenden Mitgliedstaat richten kann, wenn es unmöglich oder übermäßig schwer wäre, eine Erstattung von den betreffenden Lieferern zu erhalten (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 15. März 2007, Reemtsma Cigarettenfabriken, C‑35/05, EU:C:2007:167, Rn. 41, und vom 26. April 2017, Farkas, C‑564/15, EU:C:2017:302, Rn. 53).

35      Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten, dass der Zuschlag zur Verbrauchsteuer auf elektrischen Strom gemäß Art. 53 des Gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 504/1995 von den Stromlieferern zu entrichten war, diese ihn dann aber gemäß der ihnen durch Art. 16 Abs. 3 des Gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 504/1995 eingeräumten Befugnis auf die Endverbraucher abgewälzt haben. Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts sieht dieses gesetzesvertretende Dekret vor, dass die Endverbraucher vom betreffenden Mitgliedstaat nicht unmittelbar die Erstattung der somit zu Unrecht von ihnen getragenen zusätzlichen wirtschaftlichen Belastung verlangen können, sondern dass sie einen solchen Antrag ausschließlich bei den Stromlieferern stellen müssen.

36      Da, wie sich aus Rn. 22 des vorliegenden Urteils ergibt, eine mangelhaft umgesetzte oder nicht umgesetzte Bestimmung einer Richtlinie, selbst wenn sie klar, genau und unbedingt ist, als solche keine Verpflichtungen für einen Einzelnen begründen kann, die über die im nationalen Recht vorgesehenen Verpflichtungen hinausgehen, und sie daher als solche ihm gegenüber nicht geltend gemacht werden kann, folgt daraus, dass in einem Fall wie dem der Ausgangsverfahren die Endverbraucher rechtlich nicht in der Lage sind, sich gegenüber den Stromlieferern auf die Unvereinbarkeit des Zuschlags zur Verbrauchsteuer auf elektrischen Strom mit den Bestimmungen der Richtlinie 2008/118 zu berufen und sich folglich die durch diese Abgabe verursachte zusätzliche wirtschaftliche Belastung erstatten zu lassen, die sie aufgrund der unterbliebenen ordnungsgemäßen Umsetzung dieser Richtlinie durch die Italienische Republik zu tragen hatten.

37      Daher ist in Anbetracht der dem Gerichtshof vorgelegten Informationen über die in den Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung und vorbehaltlich ihrer Überprüfung durch das vorlegende Gericht festzustellen, dass solche Rechtsvorschriften dadurch gegen den Effektivitätsgrundsatz verstoßen, dass sie es einem Endverbraucher nicht ermöglichen, die Erstattung der zusätzlichen wirtschaftlichen Belastung, die ihm aufgrund der von einem Lieferer auf der Grundlage einer diesem nach den nationalen Rechtsvorschriften zustehenden Befugnis vorgenommenen Abwälzung einer Abgabe entstanden ist, die der Lieferer selbst zu Unrecht an diesen Mitgliedstaat gezahlt hat, unmittelbar vom Mitgliedstaat zu verlangen.

38      Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass der Effektivitätsgrundsatz dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die es dem Endverbraucher nicht erlaubt, die Erstattung der zusätzlichen wirtschaftlichen Belastung, die ihm dadurch entstanden ist, dass ein Lieferer eine von ihm selbst rechtsgrundlos entrichtete Abgabe gemäß einer ihm nach den nationalen Rechtsvorschriften zustehenden Befugnis abgewälzt hat, unmittelbar vom Mitgliedstaat zu verlangen, sondern ihn auf eine zivilrechtliche Klage gegen den Lieferer auf Rückzahlung einer nicht geschuldeten Leistung verweist, wenn die Rechtsgrundlosigkeit der Entrichtung dieser Abgabe daraus folgt, dass die Abgabe gegen eine klare, genaue und unbedingte Bestimmung einer nicht umgesetzten oder mangelhaft umgesetzten Richtlinie verstößt, und wenn dieser Rechtsverstoß im Rahmen einer solchen Klage nicht wirksam geltend gemacht werden kann, weil die Berufung auf eine Richtlinie als solche in einem Rechtsstreit zwischen Privatpersonen nicht möglich ist.

 Kosten

39      Für die Beteiligten der Ausgangsverfahren ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:

1.      Art. 288 Abs. 3 AEUV ist dahin auszulegen, dass er ein nationales Gericht daran hindert, in einem Rechtsstreit zwischen Privatpersonen eine nationale Rechtsvorschrift, mit der eine indirekte Steuer eingeführt wird, die gegen eine klare, genaue und unbedingte Bestimmung einer nicht umgesetzten oder mangelhaft umgesetzten Richtlinie verstößt, unangewendet zu lassen, es sei denn, das innerstaatliche Recht bestimmt etwas anderes oder die Einrichtung, der gegenüber die Rechtswidrigkeit dieser Steuer geltend gemacht wird, untersteht dem Staat oder dessen Aufsicht oder ist mit besonderen Rechten ausgestattet, die über diejenigen hinausgehen, die nach den Vorschriften für die Beziehungen zwischen Privatpersonen gelten.

2.      Der Effektivitätsgrundsatz ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die es dem Endverbraucher nicht erlaubt, die Erstattung der zusätzlichen wirtschaftlichen Belastung, die ihm dadurch entstanden ist, dass ein Lieferer eine von ihm selbst rechtsgrundlos entrichtete Abgabe gemäß einer ihm nach den nationalen Rechtsvorschriften zustehenden Befugnis abgewälzt hat, unmittelbar vom Mitgliedstaat zu verlangen, sondern ihn auf eine zivilrechtliche Klage gegen den Lieferer auf Rückzahlung einer nicht geschuldeten Leistung verweist, wenn die Rechtsgrundlosigkeit der Entrichtung dieser Abgabe daraus folgt, dass die Abgabe gegen eine klare, genaue und unbedingte Bestimmung einer nicht umgesetzten oder mangelhaft umgesetzten Richtlinie verstößt, und wenn dieser Rechtsverstoß im Rahmen einer solchen Klage nicht wirksam geltend gemacht werden kann, weil die Berufung auf eine Richtlinie als solche in einem Rechtsstreit zwischen Privatpersonen nicht möglich ist.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Italienisch.