Language of document : ECLI:EU:C:2011:687

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

25. Oktober 2011(*)

„Rechtsmittel – Wettbewerb – Sodamarkt in der Gemeinschaft – Kartell – Verletzung der Verteidigungsrechte – Akteneinsicht – Anhörung des Unternehmens“

In der Rechtssache C‑110/10 P

betreffend ein Rechtsmittel nach Art. 56 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, eingelegt am 26. Februar 2010,

Solvay SA mit Sitz in Brüssel (Belgien), Prozessbevollmächtigte: P. Foriers, R. Jafferali, F. Louis und A. Vallery, avocats,

Rechtsmittelführerin,

andere Verfahrensbeteiligte:

Europäische Kommission, vertreten durch J. Currall und F. Castillo de la Torre als Bevollmächtigte im Beistand von N. Coutrelis, avocate, Zustellungsanschrift in Luxemburg,

Beklagte im ersten Rechtszug,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, der Kammerpräsidenten J. N. Cunha Rodrigues, K. Lenaerts, J.‑C. Bonichot und U. Lõhmus, des Richters A. Rosas (Berichterstatter), der Richterin R. Silva de Lapuerta sowie der Richter E. Levits, A. Ó Caoimh, L. Bay Larsen, T. von Danwitz, A. Arabadjiev und E. Jarašiūnas,

Generalanwältin: J. Kokott,

Kanzler: R. Şereş, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 18. Januar 2011,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 14. April 2011

folgendes

Urteil

1        Mit ihrem Rechtsmittel beantragt die Solvay SA (im Folgenden: Solvay) die Aufhebung des Urteils des Gerichts der Europäischen Union vom 17. Dezember 2009, Solvay/Kommission (T‑58/01, Slg. 2009, II‑4781, im Folgenden: angefochtenes Urteil), mit dem das Gericht ihre Klage auf Nichtigerklärung der Entscheidung 2003/5/EG der Kommission vom 13. Dezember 2000 in einem Verfahren nach Artikel 81 EG-Vertrag (COMP/33.133 – B: Natriumkarbonat – Solvay, CFK) (ABl. 2003, L 10, S. 1, im Folgenden: streitige Entscheidung) abgewiesen hat; hilfsweise beantragt die Rechtsmittelführerin die Aufhebung oder Herabsetzung der gegen sie verhängten Geldbuße.

 Vorgeschichte des Rechtsstreits

2        Solvay ist ein großes Chemieunternehmen. Der Unternehmensgründer Ernest Solvay erfand ein Verfahren zur synthetischen Herstellung von Soda (Natriumkarbonat), einem Stoff, der hauptsächlich für die Glasherstellung verwendet wird. Soda wird auch in der chemischen Industrie für die Herstellung von Waschmitteln und in der Metallbearbeitung verwendet.

3        Gegen 1870 erteilte Solvay der Brunner, Mond & Co., einer der Gesellschaften, die ursprünglich die Imperial Chemical Industries (im Folgenden: ICI) bildeten, eine Herstellungslizenz. Solvay und Brunner, Mond & Co. teilten ihre Einflussbereiche untereinander auf („Alkali Kartell“), wobei Solvay auf dem europäischen Kontinent tätig war, Brunner, Mond & Co. hingegen auf den britischen Inseln, im britischen Commonwealth und in weiteren Ländern Afrikas, Asiens und Südamerikas. Die ursprüngliche Absprache wurde mehrfach erneuert, u. a. im Jahr 1945.

4        Ende der 1980er-Jahre war Solvay der hauptsächliche Hersteller von Soda sowohl in der Europäischen Gemeinschaft – mit einem Marktanteil von 60 % – als auch weltweit. ICI war der zweitgrößte Hersteller von Soda. Danach kamen vier kleine Hersteller, nämlich Rhône-Poulenc, Akzo, Matthes & Weber und Chemische Fabrik Kalk (im Folgenden: CFK).

5        In den Vereinigten Staaten wurde natürliche Soda abgebaut. Die Gewinnungskosten dafür waren niedriger als für künstliche Soda, aber es mussten die Transportkosten hinzugerechnet werden. Die Gemeinschaftsunternehmen waren einige Jahre lang durch Antidumpingmaßnahmen geschützt, doch diese waren gerade in der Überprüfung begriffen, als die streitigen Verfahren von der Kommission der Europäischen Gemeinschaften eingeleitet wurden. Es bestand nämlich die Möglichkeit, dass das Dumping nicht mehr erwiesen war.

6        Auch die Hersteller aus den osteuropäischen Ländern stellten eine Konkurrenz dar, allerdings nur in Bezug auf geringe Sodamengen. Die Einfuhren aus diesen Ländern waren ebenfalls Gegenstand von Antidumpingmaßnahmen.

7        Auf dem Gemeinschaftsmarkt konnten eine Einflussbereichsaufteilung zwischen Solvay und ICI sowie eine Abschottung der nationalen Märkte mit erheblichen Preisunterschieden festgestellt werden.

8        Da die Kommission das Bestehen von Absprachen zwischen den verschiedenen Herstellerunternehmen der Gemeinschaft vermutete, führte sie Anfang 1989 Nachprüfungen bei den hauptsächlichen Sodaherstellern durch und ließ sich zahlreiche Unterlagen in Kopie aushändigen. Diese Nachprüfungen wurden durch Auskunftsersuchen ergänzt.

9        Am 13. März 1990 richtete die Kommission eine gemeinsame Mitteilung der Beschwerdepunkte an Solvay, ICI und CFK. Als Zuwiderhandlungen zur Last gelegt wurden Verstöße gegen

–        Art. 85 EWG-Vertrag (später Art. 85 EG-Vertrag, jetzt Art. 81 EG) durch Solvay und ICI,

–        Art. 85 des Vertrags durch Solvay und CFK,

–        Art. 86 EWG-Vertrag (später Art. 86 EG-Vertrag, jetzt Art. 82 EG) durch Solvay,

–        Art. 86 des Vertrags durch ICI.

10      Die Kommission übermittelte den einzelnen beschuldigten Unternehmen nicht alle Unterlagen, sondern nur diejenigen, die die dem betreffenden Unternehmen zur Last gelegte Zuwiderhandlung betrafen. Außerdem wurden den Unternehmen zahlreiche Unterlagen oder Auszüge aus Vertraulichkeitsgründen nicht übermittelt.

11      Die genannten Unternehmen wurden zur Äußerung aufgefordert. Solvay war anscheinend an einer Teilnahme an den Anhörungen nicht interessiert.

12      Am 19. Dezember 1990 erließ die Kommission folgende vier Entscheidungen:

–        die Entscheidung 91/297/EWG in einem Verfahren nach Artikel [81 EG] (IV/33.133 – A, Soda – Solvay, ICI) (ABl. 1991, L 152, S. 1), mit der sie Solvay und ICI im Wesentlichen vorwarf, dass sie sich den Sodamarkt trotz ihrer Behauptung, dass die Absprache aus dem Jahr 1945 nicht mehr praktiziert werde, weiterhin untereinander aufgeteilt hätten, und mit der sie für den Nachweis, dass es sich um keine unabhängigen Verhaltensweisen („Parallelverhalten“) handele, insbesondere anführte, dass unter bestimmten Umständen Solvay im Namen von ICI geliefert habe und dass es häufige Kontakte zwischen den beiden Unternehmen gegeben habe;

–        die Entscheidung 91/298/EWG in einem Verfahren nach Artikel [81 EG] (IV/33.133 – B: Soda – Solvay und CFK) (ABl. 1991, L 152, S. 16), mit der sie Solvay und CFK vorwarf, eine Preisabsprache getroffen zu haben, für die CFK als Gegenleistung eine jährlich überprüfte Mindestabsatzmengengarantie erhalten habe;

–        die Entscheidung 91/299/EWG in einem Verfahren nach Artikel [82 EG] (IV/33.133 – C: Soda – Solvay) (ABl. 1991, L 152, S. 21), mit der sie Solvay vorwarf, ihre beherrschende Stellung missbraucht zu haben, indem sie Systeme von Treuerabatten, Rückvergütungen und Preisabschlägen für Spitzenmengen angewandt habe, mit denen die Bindung der Kunden für ihren gesamten Bedarf und der Ausschluss der Wettbewerber bezweckt worden seien;

–        die Entscheidung 91/300/EWG in einem Verfahren nach Artikel [82 EG] (IV/33.133 – D: Soda – ICI) (ABl. 1991, L 152, S. 40), mit der sie ICI ein ähnliches Verhalten vorwarf.

13      Diese vier Entscheidungen wurden beim Gericht angefochten. Solvay beantragte die Nichtigerklärung der Entscheidungen 91/297 (Rechtssache T‑30/91), 91/298 (Rechtssache T‑31/91) und 91/299 (Rechtssache T‑32/91). ICI beantragte die Nichtigerklärung der Entscheidungen 91/297 (Rechtssache T‑36/91) und 91/300 (Rechtssache T‑37/91). CFK dagegen zahlte die Geldbuße, die ihr mit der Entscheidung 91/298 auferlegt worden war.

14      Dazu ist darauf hinzuweisen, dass das Gericht am 27. Februar 1992 eine Entscheidung der Kommission über ein Kartell von Polyvinylchlorid (PVC) herstellenden Unternehmen mangels ordnungsgemäßer Feststellung der Entscheidung für inexistent erklärte (Urteil vom 27. Februar 1992, BASF u. a./Kommission, T‑79/89, T‑84/89, T‑85/89, T‑86/89, T‑89/89, T‑91/89, T‑92/89, T‑94/89, T‑96/89, T‑98/89, T‑102/89 und T‑104/89, Slg. 1992, II‑315). Solvay reichte in den in Randnr. 13 des vorliegenden Urteils genannten Rechtssachen, in denen sie Klägerin war, „klageerweiternde Schriftsätze“ ein, in denen sie einen neuen Klagegrund geltend machte, mit dem sie unter Verweis auf zwei Zeitungsartikel, nach denen die Kommission eingeräumt hatte, seit 25 Jahren keine Entscheidung ausgefertigt zu haben, die Feststellung begehrte, dass die Entscheidung, deren Nichtigerklärung sie ursprünglich beantragt hatte, inexistent sei.

15      Nachdem der Gerichtshof mit Urteil vom 15. Juni 1994, Kommission/BASF u. a. (C‑137/92 P, Slg. 1994, I‑2555), über das Rechtsmittel gegen dieses Urteil des Gerichts entschieden hatte, erließ das Gericht weitere prozessleitende Maßnahmen in der vorliegenden Sache, wobei es insbesondere die Kommission aufforderte, u. a. den Text der von der Rechtsmittelführerin angefochtenen Entscheidung in der seinerzeit festgestellten Fassung vorzulegen. Die Kommission erklärte daraufhin, dass sie es für angezeigt halte, in die Prüfung der Begründetheit dieses Klagegrundes nicht einzutreten, solange das Gericht nicht über seine Zulässigkeit entschieden habe. Da das Gericht der Kommission dennoch mit Beschluss vom 25. Oktober 1994 aufgab, den genannten Text vorzulegen, fügte sich die Kommission und legte den Text dieser Entscheidung vor. In der Sitzung vom 6. und 7. Dezember 1994 verhandelten die Parteien mündlich und beantworteten Fragen des Gerichts.

16      Am 29. Juni 1995 verkündete das Gericht fünf Urteile.

17      Die Entscheidung 91/297 wurde mit den Urteilen vom 29. Juni 1995, Solvay/Kommission (T‑30/91, Slg. 1995, II‑1775) und ICI/Kommission (T‑36/91, Slg. 1995, II‑1847), wegen Verletzung der Verteidigungsrechte für nichtig erklärt, weil die Kommission im Verwaltungsverfahren keinen ausreichenden Zugang zu den Unterlagen insbesondere zu den Unterlagen, die der Verteidigung hätten dienlich sein können, gewährt hatte. Gegen die Möglichkeit einer Heilung des Mangels des Verwaltungsverfahrens im Gerichtsverfahren führte das Gericht insbesondere in Randnr. 98 des Urteils Solvay/Kommission Folgendes an: „Wenn die Klägerin im Verwaltungsverfahren sich auf möglicherweise entlastende Schriftstücke hätte berufen können, hätte sie … eventuell die Feststellungen des Kollegiums der Kommissionsmitglieder zumindest insoweit beeinflussen können, als es um den Beweiswert des ihr vorgeworfenen passiven und parallelen Verhaltens seit Beginn und somit für die Dauer der Zuwiderhandlung ging.“ Sowohl im Urteil Solvay/Kommission als auch im Urteil ICI/Kommission befand das Gericht, dass die Kommission zumindest ein Verzeichnis der von den anderen Unternehmen stammenden Unterlagen hätte übermitteln müssen, um eine Überprüfung ihres genauen Inhalts und ihres Nutzens für die Verteidigung zu ermöglichen.

18      Die Entscheidung 91/298 wurde, soweit sie Solvay betrifft, mit Urteil vom 29. Juni 1995, Solvay/Kommission (T‑31/91, Slg. 1995, II‑1821), für nichtig erklärt, weil diese Entscheidung der Kommission nicht ordnungsgemäß festgestellt worden war.

19      Die Entscheidung 91/299 wurde mit Urteil vom 29. Juni 1995, Solvay/Kommission (T‑32/91, Slg. 1995, II‑1825), aus demselben Grund für nichtig erklärt.

20      Zur Entscheidung 91/300 erging das Urteil vom 29. Juni 1995, ICI/Kommission (T‑37/91, Slg. 1995, II‑1901). Das Gericht wies die Gründe und Argumente zurück, die auf die Nichtübermittlung der von anderen Unternehmen stammenden Unterlagen gestützt waren, weil diese Unterlagen seiner Ansicht nach der Verteidigung der Klägerin nicht hätten dienlich sein können, sowie die Gründe und Argumente, mit denen die Nichtübermittlung eines Verzeichnisses der von der Klägerin selbst stammenden Unterlagen gerügt wurde. Es erklärte die angefochtene Entscheidung jedoch mangels ordnungsgemäßer Feststellung für nichtig.

21      Gegen die Urteile vom 29. Juni 1995, Solvay/Kommission (T‑31/91) und Solvay/Kommission (T‑32/91), legte die Kommission Rechtsmittel ein, über die im Urteil vom 6. April 2000, Kommission/Solvay (C‑287/95 P und C‑288/95 P, Slg. 2000, I‑2391), entschieden wurde. Auch gegen das Urteil vom 29. Juni 1995, ICI/Kommission (T‑37/91), wurde Rechtsmittel eingelegt, über das mit Urteil vom 6. April 2000, Kommission/ICI (C‑286/95 P, Slg. 2000, I‑2341), entschieden wurde. Diese Rechtsmittel wurden vom Gerichtshof mit den vorstehend genannten Urteilen Kommission/Solvay und Kommission/ICI zurückgewiesen.

22      In Bezug auf Solvay erließ die Kommission am 13. Dezember 2000 die folgenden zwei neuen Entscheidungen:

–        Die streitige Entscheidung, die der Entscheidung 91/298 entspricht. Beide Entscheidungen sind im Wesentlichen gleichlautend. Die streitige Entscheidung enthält darüber hinaus eine Beschreibung des Verfahrens. Sie ist an Solvay gerichtet, gegen die die Kommission eine Geldbuße von 3 Mio. Euro verhängt.

–        Die Entscheidung 2003/6/EG in einem Verfahren nach Artikel 82 EG-Vertrag (COMP/33.133 – C: Natriumkarbonat – Solvay) (ABl. 2003, L 10, S. 10), die der Entscheidung 91/299 entspricht, aber zusätzlich eine Beschreibung des Verfahrens enthält. Mit dieser Entscheidung verhängt die Kommission eine Geldbuße von 20 Mio. Euro gegen Solvay.

23      Solvay erhob Klage gegen diese Entscheidungen. Mit Urteil vom 17. Dezember 2009, Solvay/Kommission (T‑57/01, Slg. 2009, II‑4621), und dem angefochtenen Urteil hat das Gericht diese Klagen abgewiesen.

 Verfahren vor dem Gericht

24      Da die Rechtsmittelführerin den Klagegrund eines mangelnden Aktenzugangs geltend machte, forderte das Gericht die Kommission am 19. Dezember 2003 auf, u. a. ein detailliertes Verzeichnis aller zur Akte gehörenden Schriftstücke vorzulegen. Die Kommission legte, nachdem sie eine Fristverlängerung beantragt hatte, ein erstes und dann ein zweites Verzeichnis vor. Solvay beantragte Einsicht in bestimmte Unterlagen. Im Zuge dieser Beweisaufnahme teilte die Kommission mit, bestimmte Akten verlegt zu haben und kein Verzeichnis der in ihnen enthaltenen Unterlagen erstellen zu können, da auch die Inhaltsverzeichnisse der betreffenden Ordner unauffindbar seien. Die Rechtsmittelführerin und die Kommission reichten am 15. Juli bzw. 17. November 2005 ihre schriftlichen Stellungnahmen zur Nützlichkeit der von Solvay eingesehenen Unterlagen für deren Verteidigung ein. Im Jahr 2008 wurden noch verschiedene Fragen an die Parteien gerichtet. Die mündliche Verhandlung fand am 26. Juni 2008 statt.

 Angefochtenes Urteil

 Vorbringen zur Begründung des Antrags auf Nichtigerklärung der streitigen Entscheidung

25      Die Rechtsmittelführerin machte vier Klagegründe geltend, die in Teile gegliedert waren, die verschiedene Argumente enthielten.

 Erster Klagegrund: Zeitablauf

–       Fehlerhafte Anwendung der Verjährungsvorschriften

26      Solvay machte geltend, die gemäß der Verordnung (EWG) Nr. 2988/74 des Rates vom 26. November 1974 über die Verfolgungs- und Vollstreckungsverjährung im Verkehrs- und Wettbewerbsrecht der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (ABl. L 319, S. 1) berechnete Verfolgungsverjährung ruhe während des Rechtsmittelverfahrens nicht. Die Kommission habe sofort nach Verkündung des Urteils vom 29. Juni 1995, Solvay/Kommission (T‑31/91), eine neue Entscheidung erlassen können. Die Kommission sei mit der Einlegung eines Rechtsmittels ein Risiko eingegangen, zumal ihr das Urteil Kommission/BASF u. a. bekannt gewesen sei, in dem sich der Gerichtshof zur Frage der fehlenden Feststellung von Handlungen geäußert habe.

27      Das Gericht hat in dem angefochtenen Urteil unter Berufung auf das zur zweiten PVC‑Entscheidung ergangene Urteil vom 15. Oktober 2002, Limburgse Vinyl Maatschappij u. a./Kommission (C‑238/99 P, C‑244/99 P, C‑245/99 P, C‑247/99 P, C‑250/99 P bis C‑252/99 P und C‑254/99 P, Slg. 2002, I‑8375), die Auffassung vertreten, dass die Verjährungsfrist während der Dauer der Anhängigkeit des Rechtsmittels beim Gerichtshof ruhe (Randnrn. 78 bis 90). Es hat auf die praktischen Schwierigkeiten der von Solvay vertretenen Lösung hingewiesen, nämlich das etwaige Nebeneinanderbestehen zweier Entscheidungen falls der Gerichtshof dem Rechtsmittel der Kommission stattgegeben hätte.

–       Verstoß gegen den Grundsatz der angemessenen Verfahrensdauer

28      Das Gericht hat die einzelnen Verfahrensabschnitte und das Verfahren als Ganzes geprüft. Es hat auch festgestellt, dass die Verteidigungsrechte trotz der Verfahrensdauer nicht verletzt worden seien, da sich die streitige Entscheidung im Wesentlichen mit der Entscheidung 91/298 decke. In Randnr. 122 des angefochtenen Urteils hat es insbesondere darauf hingewiesen, dass die Rechtsmittelführerin ausdrücklich auf die Möglichkeit einer Herabsetzung der Geldbuße als Entschädigung verzichtet und auch keinen Antrag auf Schadensersatz gestellt habe.

 Zweiter Klagegrund: Verletzung wesentlicher Formvorschriften, die für den Erlass und die Feststellung der streitigen Entscheidung gelten

29      Das Gericht hat die ersten beiden Teile dieses Klagegrundes, die auf Verstöße gegen das Kollegialprinzip und gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit gestützt waren, zurückgewiesen. Zur Verletzung des Rechts der Rechtsmittelführerin auf eine neuerliche Anhörung hat das Gericht ausgeführt, dass die streitige Entscheidung im Wesentlichen gleichlautend mit der Entscheidung 91/298 sei und die Kommission deshalb die Rechtsmittelführerin nicht erneut habe anhören müssen (Randnr. 172 des angefochtenen Urteils). Außerdem hat das Gericht einen Teil dieses Klagegrundes zurückgewiesen, der darauf gestützt wurde, dass keine erneute Anhörung des Beratenden Ausschusses für Kartell- und Monopolfragen stattgefunden habe und der Ausschuss nicht ordnungsgemäß zusammengesetzt gewesen sei.

30      Ferner hat das Gericht einen Teil des zweiten Klagegrundes zurückgewiesen, der auf einen Verstoß gegen die Grundsätze der Unparteilichkeit, der ordnungsgemäßen Verwaltung und der Verhältnismäßigkeit gestützt war.

 Dritter Klagegrund: keine Beeinträchtigung des Handels zwischen Mitgliedstaaten

31      Die Rechtsmittelführerin stritt die ihr zur Last gelegte angebliche Geschäftsstrategie ab. Nach den Ausführungen des Gerichts soll sie jedoch nicht den Wortlaut der mit CFK geschlossenen Vereinbarung bestritten haben (Randnr. 214 des angefochtenen Urteils). Das Gericht hat in Randnr. 215 des angefochtenen Urteils befunden, dass eine solche Vereinbarung über eine garantierte jährliche Mindestabsatzmenge auf einem nationalen Markt definitionsgemäß die Handelsströme von der Richtung ablenken könne, die sie andernfalls genommen hätten, ohne dass der Nachweis des Bestehens einer Geschäftsstrategie erforderlich wäre.

 Vierter Klagegrund: Verletzung des Rechts auf Akteneinsicht

32      Das Gericht hat geprüft, ob der fehlende Zugang zu bestimmten Unterlagen während des Verwaltungsverfahrens die Rechtsmittelführerin daran hinderte, von Unterlagen, die ihrer Verteidigung hätten dienlich sein können, Kenntnis zu nehmen. Es hat dies verneint, nachdem es festgestellt hat, dass aufgrund der mit CFK geschlossenen Vereinbarung eine Beeinträchtigung des Handels zwischen Mitgliedstaaten feststehe und dass auch das Vorbringen zur Geschäftsstrategie daran nichts ändern könne. Das Gericht hat sodann den Teil geprüft, mit dem das Fehlen einer vollständigen Akteneinsicht gerügt wurde. Nachdem es versucht hatte, den Inhalt der von der Kommission verlegten Akten zu ermitteln, hat es in Randnr. 262 des angefochtenen Urteils festgestellt, dass die Solvay zur Last gelegten Verhaltensweisen durch die in den vorhandenen Akten enthaltenen Unterlagen bewiesen seien, und dass „es keinen Anhaltspunkt dafür [gibt], dass [Solvay] in den fehlenden Teilakten Schriftstücke hätte entdecken können, die ihr erlaubt hätten, die Feststellungen der Kommission in Frage zu stellen“.

 Vorbringen zur Begründung des Antrags auf Aufhebung oder Herabsetzung der Geldbuße

33      Die Rechtsmittelführerin brachte fünf Klagegründe vor, mit denen eine fehlerhafte Beurteilung der Schwere der Zuwiderhandlungen, eine fehlerhafte Beurteilung der Dauer der Zuwiderhandlung, die fälschliche Annahme erschwerender Umstände durch die Kommission, das Vorliegen mildernder Umstände und die Unverhältnismäßigkeit der Geldbuße insbesondere im Hinblick auf den Zeitablauf geltend gemacht wurden.

34      In Randnr. 303 des angefochtenen Urteils hat das Gericht festgestellt, dass die Kommission nicht nachgewiesen habe, dass die fragliche Zuwiderhandlung bis zum Ende des Jahres 1990 fortgesetzt worden sei. Es hat deshalb die Geldbuße um 25 % herabgesetzt.

35      Im Ergebnis hat das Gericht die Geldbuße auf 2,25 Mio. Euro festgesetzt. Es hat der Rechtsmittelführerin drei Viertel ihrer eigenen Kosten sowie drei Viertel der Kosten der Kommission und der Kommission ein Viertel ihrer eigenen Kosten und ein Viertel der Kosten der Rechtsmittelführerin auferlegt.

 Zum Rechtsmittel

36      Die Rechtsmittelführerin führt drei Rechtsmittelgründe aus. Mit dem ersten Rechtsmittelgrund wird eine Verletzung des Rechts auf Entscheidung innerhalb angemessener Frist gerügt. Der zweite Rechtsmittelgrund wird auf eine Verletzung der Verteidigungsrechte gestützt, die darin liege, dass die Kommission, nachdem sie der Rechtsmittelführerin im Verwaltungsverfahren den Aktenzugang verweigert habe, einen Teil der Akten verlegt habe. Mit dem dritten Rechtsmittelgrund wird eine Verletzung des Rechts der Rechtsmittelführerin auf Anhörung vor Erlass der streitigen Entscheidung durch die Kommission beanstandet.

37      Zunächst sind der zweite und der dritte Rechtsmittelgrund, die beide auf die Verletzung der Verteidigungsrechte abstellen, zusammen zu prüfen.

 Vorbringen der Verfahrensbeteiligten

38      Mit dem ersten Teil des zweiten Rechtsmittelgrundes beanstandet die Rechtsmittelführerin, das Gericht habe ihr, indem es von ihr den Nachweis verlangt habe, dass die verlegten Aktenstücke ihrer Verteidigung hätten dienlich sein können, eine unmöglich zu erfüllende Beweislast auferlegt, da die betreffenden Aktenstücke nicht hätten geprüft werden können.

39      Mit dem zweiten Teil dieses Rechtsmittelgrundes rügt sie, das Gericht habe den Grundsatz missachtet, nach dem den genannten Aktenstücken nur die – etwa auch nur geringe – Aussicht innegewohnt haben müsse, die streitige Entscheidung zu beeinflussen.

40      Mit dem dritten Teil desselben Rechtsmittelgrundes macht die Rechtsmittelführerin geltend, das Gericht habe sich nicht auf eine vorläufige Prüfung der Akten beschränkt, um zu überprüfen, ob die fehlenden Aktenstücke die streitige Entscheidung hätten beeinflussen können, sondern es habe zuerst in der Sache entschieden. Es habe nämlich in einem ersten Schritt befunden, dass der Sachgrund der fehlenden Auswirkung auf den Handel zwischen Mitgliedstaaten, auf den sie ihre Klage auf Nichtigerklärung der streitigen Entscheidung gestützt habe, zurückzuweisen sei, um in einem zweiten Schritt daraus zu schließen, dass die ihr nicht übermittelten Unterlagen diese Entscheidung nicht hätten beeinflussen können.

41      Mit dem vierten Teil dieses Rechtsmittelgrundes beanstandet die Rechtsmittelführerin die Auffassung des Gerichts, sie habe nicht nachgewiesen, dass die verschwundenen Aktenstücke ihrer Verteidigung hätten dienlich sein können, weil sie vor dem Gericht, wie es ihr auch ohne Aktenzugang möglich gewesen sei, anders als vor der Kommission nicht geltend gemacht habe, dass es keine Vereinbarung mit CFK gegeben habe, und weil der Inhalt der verlegten Unterlagen von niemandem mehr bestimmt werden könne.

42      Mit dem fünften Teil des zweiten Rechtsmittelgrundes rügt die Rechtsmittelführerin, das Gericht habe den verlegten Aktenstücken jegliche Bedeutung abgesprochen, weil es den von ihr vorgebrachten Sachgrund der fehlenden Auswirkung auf den Handel zwischen Mitgliedstaaten bereits zurückgewiesen habe, obwohl es den Inhalt dieser Aktenstücke nicht gekannt habe und deshalb nicht habe ausschließen können, dass diese ihr zusätzliche Argumente oder sogar völlig neue Klagegründe sowohl in der Sache als auch in Bezug auf die Höhe der Geldbuße oder die Ordnungsmäßigkeit des Verfahrens hätten liefern können.

43      Mit dem ersten Teil des dritten Rechtsmittelgrundes beanstandet die Rechtsmittelführerin, das Gericht sei nicht auf ihr Vorbringen eingegangen, dass sie trotz des Urteils Limburgse Vinyl Maatschappij u. a./Kommission vor Erlass der streitigen Entscheidung hätte gehört werden müssen, da dem Verwaltungsverfahren wegen des fehlenden Aktenzugangs in einem Stadium vor Erlass dieser Entscheidung Unregelmäßigkeiten angehaftet hätten, die die Gültigkeit der die Entscheidung vorbereitenden Maßnahmen berührten, und diese Unregelmäßigkeiten vom Gericht vor Erlass der streitigen Entscheidung im Urteil vom 29. Juni 1995, Solvay/Kommission (T‑30/91), auch festgestellt worden seien.

44      Mit dem zweiten Teil dieses Rechtsmittelgrundes rügt die Rechtsmittelführerin, das Gericht habe nicht anerkannt, dass die Kommission vor Erlass der streitigen Entscheidung das betroffene Unternehmen deshalb hätte anhören müssen, weil mit einem – wenn auch in einem anderen Verfahren ergangenen – Urteil des Gerichts ein Mangel festgestellt worden sei, der die Maßnahmen zur Vorbereitung der für nichtig erklärten Entscheidung beeinträchtigt habe. Die Rechtsmittelführerin verweist insoweit auf das Urteil vom 29. Juni 1995, Solvay/Kommission (T‑30/91), und betont, dass das Verfahren in der vorliegenden Sache unter den gleichen Mängeln leide wie denjenigen, die in der Sache, in der jenes Urteil ergangen sei, festgestellt worden seien. Nach Art. 233 EG hätte die Kommission alle Konsequenzen aus einem Urteil des Gerichts ziehen müssen. Selbst wenn das Gericht die Entscheidung 91/298 mangels Feststellung für nichtig erklärt habe, hätte die Kommission auch das Urteil vom 29. Juni 1995, Solvay/Kommission (T‑30/91), berücksichtigen müssen, das rechtskräftig eine weitere Verfahrensunregelmäßigkeit festgestellt habe. Die Kommission hätte somit diesen vom Gericht festgestellten Verfahrensmangel beheben müssen, um die Ordnungsmäßigkeit des Verfahrens herzustellen, und ihr somit den Aktenzugang ermöglichen und sie in die Lage versetzen müssen, alle schriftlichen und mündlichen Stellungnahmen vor Erlass der streitigen Entscheidung vorzubringen.

45      Die Kommission hält die vorstehenden Rechtsmittelgründe und Argumente der Rechtsmittelführerin für unzulässig und unbegründet.

 Würdigung durch den Gerichtshof

46      Entgegen dem Vorbringen der Kommission beanstandet die Rechtsmittelführerin mit dem Rechtsmittelgrund einer Verletzung des Rechts auf Akteneinsicht keine Tatsachenwürdigungen des Gerichts, sondern die Beweislastregeln, die dieses in Bezug auf die Frage der Nützlichkeit der zum Teil verlegten Unterlagen angewandt hat. Die Frage, ob das Gericht bei der Beurteilung der Nützlichkeit dieser Unterlagen für die Verteidigung der Rechtsmittelführerin ein zutreffendes rechtliches Kriterium angewandt hat, ist eine Rechtsfrage, die im Rahmen eines Rechtsmittels der Kontrolle durch den Gerichtshof unterliegt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 25. Januar 2007, Sumitomo Metal Industries und Nippon Steel/Kommission, C‑403/04 P und C‑405/04 P, Slg. 2007, I‑729, Randnr. 40, und vom 10. Juli 2008, Bertelsmann und Sony Corporation of America/Impala, C‑413/06 P, Slg. 2008, I‑4951, Randnr. 117).

47      Die Verteidigungsrechte gehören als Grundrechte zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern hat (Urteil vom 7. Januar 2004, Aalborg Portland u. a./Kommission, C‑204/00 P, C‑205/00 P, C‑211/00 P, C‑213/00 P, C‑217/00 P und C‑219/00 P, Slg. 2004, I‑123, Randnr. 64).

48      Die Wahrung der Verteidigungsrechte in einem Verfahren vor der Kommission, das die Verhängung einer Geldbuße gegen ein Unternehmen wegen Verstoßes gegen die Wettbewerbsvorschriften zum Gegenstand hat, verlangt, dass dem betroffenen Unternehmen Gelegenheit gegeben wurde, zum Vorliegen und zur Erheblichkeit der von der Kommission angeführten Tatsachen und Umstände sowie zu den von ihr für ihre Behauptung einer Zuwiderhandlung gegen den Vertrag herangezogenen Schriftstücken sachdienlich Stellung zu nehmen (Urteil Aalborg Portland u. a./Kommission, Randnr. 66). Auf diese Rechte wird in Art. 41 Abs. 2 Buchst. a und b der Charta der Grundrechte der Europäischen Union abgestellt.

49      Wie das Gericht in Randnr. 224 des angefochtenen Urteils zu Recht ausgeführt hat, ist mit dem Recht auf Akteneinsicht verbunden, dass die Kommission dem betroffenen Unternehmen die Möglichkeit geben muss, alle Schriftstücke in der Ermittlungsakte zu prüfen, die möglicherweise für seine Verteidigung erheblich sind. Dazu gehören sowohl belastende als auch entlastende Schriftstücke mit Ausnahme von Geschäftsgeheimnissen anderer Unternehmen, internen Schriftstücken der Kommission und anderen vertraulichen Informationen (Urteile Limburgse Vinyl Maatschappij u. a./Kommission, Randnr. 315, und Aalborg Portland u. a./Kommission, Randnr. 68).

50      Die Verletzung des Rechts auf Akteneinsicht im Verfahren vor dem Erlass einer Entscheidung kann grundsätzlich deren Nichtigerklärung nach sich ziehen, wenn die Verteidigungsrechte beeinträchtigt worden sind (Urteil Limburgse Vinyl Maatschappij u. a./Kommission, Randnr. 317).

51      In einem solchen Fall wird die eingetretene Verletzung nicht durch den bloßen Umstand geheilt, dass die Einsicht im Gerichtsverfahren ermöglicht worden ist (Urteil Limburgse Vinyl Maatschappij u. a./Kommission, Randnr. 318). Da sich nämlich die Prüfung durch das Gericht auf eine gerichtliche Kontrolle der geltend gemachten Klagegründe beschränkt, wird mit ihr ein Ersatz für die umfassende Sachverhaltsermittlung im Rahmen eines Verwaltungsverfahrens weder bezweckt noch bewirkt. Außerdem versetzt die verspätete Kenntnisnahme von bestimmten Aktenstücken das Unternehmen, das Klage gegen eine Entscheidung der Kommission erhoben hat, nicht in die Lage, in der es sich befunden hätte, wenn es sich bei der Abgabe seiner schriftlichen und mündlichen Stellungnahmen gegenüber der Kommission auf diese Schriftstücke hätte berufen können (vgl. Urteil Aalborg Portland u. a./Kommission, Randnr. 103 und die dort angeführte Rechtsprechung).

52      Wird die Akteneinsicht und insbesondere die Einsicht in entlastende Unterlagen im Stadium des Gerichtsverfahrens gewährt, so braucht das betroffene Unternehmen nicht zu beweisen, dass die Entscheidung der Kommission, wenn es Einsicht in die nicht übermittelten Unterlagen gehabt hätte, anders ausgefallen wäre, sondern nur, dass die fraglichen Unterlagen seiner Verteidigung hätten dienlich sein können (Urteile vom 2. Oktober 2003, Corus UK/Kommission, C‑199/99 P, Slg. 2003, I‑11177, Randnr. 128, Limburgse Vinyl Maatschappij u. a./Kommission, Randnr. 318, und Aalborg Portland u. a./Kommission, Randnr. 131).

53      Obwohl das Gericht diese Grundsätze zutreffend ausgeführt hat, hat es in Randnr. 263 des angefochtenen Urteils doch befunden, dass „[s]elbst wenn die Klägerin nicht alle Schriftstücke, die sich in der Ermittlungsakte befanden, einsehen konnte, … dieser Umstand sie im vorliegenden Fall nicht daran gehindert [hat], ihre Verteidigung in Bezug auf die Sachrügen, die die Kommission in der Mitteilung der Beschwerdepunkte und in der [streitigen] Entscheidung herangezogen hat, sicherzustellen“.

54      Das Gericht ist zu diesem Ergebnis gelangt, nachdem es vorab die in der streitigen Entscheidung zugrunde gelegten Beschwerdepunkte und die dafür vorgelegten Sachbeweise geprüft hat. Eine solche Vorgehensweise ist nicht zu beanstanden, da die Nützlichkeit sonstiger Unterlagen für die Verteidigung im Licht dieser Anhaltspunkte zu beurteilen ist.

55      Das Gericht hat jedoch sein Ergebnis insbesondere auf folgende Erwägung in Randnr. 262 des angefochtenen Urteils gestützt: „Nachdem die Klägerin in der Klageschrift kein Argument vorgetragen hat, mit dem die Existenz der Vereinbarung, auf die die Kommission in der [streitigen] Entscheidung Bezug nahm, bestritten wurde, gibt es keinen Anhaltspunkt dafür, dass sie in den fehlenden Teilakten Schriftstücke hätte entdecken können, die ihr erlaubt hätten, die Feststellungen der Kommission in Frage zu stellen“.

56      Es ist darauf hinzuweisen, dass die Rechtsmittelführerin und CFK, wie aus Randnr. 49 der streitigen Entscheidung hervorgeht, im Verwaltungsverfahren vor der Kommission das Bestehen einer Vereinbarung zwischen ihnen bestritten haben. Die Rechtsmittelführerin behauptete insbesondere, sie habe die Geschäftstätigkeit von CFK zu einem Zeitpunkt, als sie eine Übernahme des Geschäfts von CFK beabsichtigte, einseitig unterstützt.

57      Außerdem hatte die Rechtsmittelführerin, als sie ihre Klage vorbereitete, keinen Zugang zur CFK-Akte, was das fehlende Bestreiten des Bestehens einer solchen Vereinbarung in der Klageschrift erklären könnte.

58      Jedenfalls kann einer Partei des Verfahrens vor dem Gericht nicht vorgehalten werden, dass sie, wie in Art. 48 § 2 der Verfahrensordnung des Gerichts vorgesehen, neue Angriffsmittel geltend macht, die sich aus der Entwicklung des Verfahrens ergeben.

59      Im vorliegenden Fall konnte die Rechtsmittelführerin erst im Laufe des Jahres 2005 zu den 1989 sichergestellten Unterlagen Stellung nehmen. Der Verlust einiger Teilakten und das Fehlen eines Inhaltsverzeichnisses dieser Teilakten hinderten sie jedoch an der Überprüfung, ob die fehlenden Unterlagen ihrer Verteidigung hätten dienlich sein können und ob sie sich somit auf sie hätte berufen können.

60      Die Folgen dieses Verlustes für die Verteidigungsrechte wiegen umso schwerer, als die fehlenden Teilakten nach Angaben der Kommission wahrscheinlich die Antworten auf die Auskunftsersuchen nach Art. 11 der Verordnung Nr. 17 des Rates vom 6. Februar 1962, Erste Durchführungsverordnung zur Anwendung der Artikel [81] und [82] des Vertrages (ABl. 1962, Nr. 13, S. 204) und damit die Antworten von CFK enthielten. Daher ist nicht ausgeschlossen, dass die Rechtsmittelführerin darin Anhaltspunkte zur Untermauerung ihrer im Verwaltungsverfahren aufgestellten These hätte finden können.

61      Zu betonen ist, dass es hier nicht um einige fehlende Unterlagen geht, deren Inhalt ausgehend von anderen Quellen hätte rekonstruiert werden können, sondern um ganze Teilakten, die, wenn die in Randnr. 60 des vorliegenden Urteils wiedergegebenen Vermutungen der Kommission zuträfen, wesentliche Aktenstücke des Verfahrens vor der Kommission hätten enthalten können und möglicherweise für die Verteidigung der Rechtsmittelführerin erheblich gewesen wären.

62      Somit hat das Gericht mit der Schlussfolgerung in Randnr. 263 des angefochtenen Urteils, dass die Rechtsmittelführerin dadurch, dass sie nicht alle Schriftstücke in der Ermittlungsakte habe einsehen können, nicht daran gehindert gewesen sei, ihre Verteidigung sicherzustellen, einen Rechtsfehler begangen, was die Verletzung der Verteidigungsrechte durch die Kommission betrifft, und sich in Bezug auf den Inhalt der fehlenden Unterlagen auf eine Hypothese gestützt, die es selbst nicht überprüfen konnte.

63      Was die von der Rechtsmittelführerin mit ihrem dritten Rechtsmittelgrund angesprochene Anhörung des betroffenen Unternehmens vor Erlass der streitigen Entscheidung anbelangt, ist festzustellen, dass eine solche Anhörung zu den Verteidigungsrechten gehört. Ob eine Verletzung der Verteidigungsrechte vorliegt, ist anhand der besonderen Umstände jedes einzelnen Falles zu prüfen.

64      In Randnr. 165 des angefochtenen Urteils hat das Gericht zutreffend darauf hingewiesen, dass die Kommission, wenn sie nach der Nichtigerklärung einer Entscheidung, mit der Sanktionen gegen Unternehmen verhängt wurden, die gegen Art. 81 Abs. 1 EG verstoßen haben, wegen eines Verfahrensfehlers, der ausschließlich die Modalitäten der endgültigen Annahme der Entscheidung durch das Kollegium der Mitglieder der Kommission betrifft, eine neue Entscheidung mit einem im Wesentlichen identischen Inhalt und aufgrund der gleichen Beschwerdepunkte erlässt, keine erneute Anhörung der betroffenen Unternehmen durchführen muss (vgl. in diesem Sinne Urteil Limburgse Vinyl Maatschappij u. a./Kommission, Randnrn. 83 bis 111).

65      Im vorliegenden Fall kann jedoch die Frage der Anhörung der Rechtsmittelführerin nicht von der Akteneinsicht losgelöst werden. Zwar hat nämlich die streitige Entscheidung einen im Wesentlichen identischen Inhalt und ist auf die gleichen Beschwerdepunkte gestützt wie die erste Entscheidung, die vom Gericht wegen eines Verfahrensmangels im letzten Stadium des Verfahrens, nämlich der fehlenden ordnungsgemäßen Feststellung durch das Kollegium der Mitglieder der Kommission, für nichtig erklärt wurde, doch haftete auch dem Erlass jener ersten Entscheidung ein Mangel an, der ein früheres Verfahrensstadium betrifft als der soeben genannte Mangel. Wie sich nämlich aus Randnr. 17 des vorliegenden Urteils ergibt, steht fest, dass die Kommission der Rechtsmittelführerin in dem Verwaltungsverfahren, das zum Erlass jener ersten Entscheidung führte, nicht alle in den Kommissionsakten enthaltenen Unterlagen und insbesondere nicht die entlastenden Unterlagen übermittelte.

66      Wie aber in Randnr. 17 des vorliegenden Urteils ausgeführt worden ist, hat das Gericht in den Urteilen vom 29. Juni 1995, Solvay/Kommission (T‑30/91) und ICI/Kommission (T‑36/91), zu der in Randnr. 12 des vorliegenden Urteils angeführten Entscheidung 91/297, die mit der streitigen Entscheidung zusammenhängt und Gegenstand der gleichen Mitteilung der Beschwerdepunkte war, festgestellt, dass jenes Verwaltungsverfahren mit dem Mangel einer Verletzung der Verteidigungsrechte behaftet war, weil die Kommission dem betroffenen Unternehmen keinen ausreichenden Zugang zu den Unterlagen, insbesondere zu den Unterlagen, die seiner Verteidigung hätten dienlich sein können, gewährt hatte. Das Gericht hat deshalb die betreffenden Entscheidungen für nichtig erklärt und dazu u. a. ausgeführt, dass zum einen in Wettbewerbssachen die Akteneinsicht zu den Verfahrensgarantien gehört, die die Rechte der Verteidigung schützen sollen, und zum anderen ein genaues Verzeichnis der Unterlagen, aus denen die Akte besteht, erstellt werden muss, damit das betroffene Unternehmen die Zweckmäßigkeit eines Antrags auf Einsicht in bestimmte, möglicherweise seiner Verteidigung dienliche Schriftstücke beurteilen kann (Urteile vom 29. Juni 1995, Solvay/Kommission, T‑30/91, Randnrn. 59 und 101, und ICI/Kommission, T‑36/91, Randnrn. 69 und 111).

67      Ungeachtet dessen und trotz einer die Bedeutung des Zugangs zu den Akten und insbesondere zu den entlastenden Unterlagen bekräftigenden Rechtsprechung des Gerichtshofs (vgl. insbesondere Urteil vom 8. Juli 1999, Hercules Chemicals/Kommission, C‑51/92 P, Slg. 1999, I‑4235) hat die Kommission eine gleiche Entscheidung wie die mangels ordnungsgemäßer Feststellung für nichtig erklärte Entscheidung erlassen, ohne ein neues Verwaltungsverfahren zu eröffnen, in dessen Rahmen sie die Rechtsmittelführerin nach gewährter Akteneinsicht angehört hätte.

68      Daraus folgt, dass das Gericht, indem es die besonderen Umstände der Sache nicht berücksichtigt hat und indem es sich insbesondere darauf gestützt hat, dass die erste Entscheidung mangels ordnungsgemäßer Feststellung für nichtig erklärt worden sei und die zweite Entscheidung die gleichen Beschwerdepunkte enthalte, zu Unrecht befunden hat, dass eine Anhörung der Rechtsmittelführerin nicht erforderlich gewesen sei. Es hat so einen Rechtsfehler begangen, als es entschieden hat, dass die Kommission dadurch, dass sie die Rechtsmittelführerin vor Erlass der streitigen Entscheidung nicht angehört habe, die Verteidigungsrechte nicht verletzt habe.

69      Demzufolge sind der zweite und der dritte Rechtsmittelgrund begründet, und das angefochtene Urteil ist aufzuheben, da das Gericht die streitige Entscheidung mit diesem Urteil nicht wegen Verletzung der Verteidigungsrechte für nichtig erklärt hat.

70      Da die Bejahung der Begründetheit des zweiten und des dritten Rechtsmittelgrundes zur Aufhebung des angefochtenen Urteils führt, ist der erste Rechtsmittelgrund nicht zu prüfen.

 Zur Klage gegen die streitige Entscheidung

71      Nach Art. 61 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union hebt dieser, wenn das Rechtsmittel begründet ist, die Entscheidung des Gerichts auf. Er kann sodann den Rechtsstreit selbst endgültig entscheiden, wenn dieser zur Entscheidung reif ist. Dies ist hier der Fall.

72      Aus den Randnrn. 47 bis 69 des vorliegenden Urteils ergibt sich, dass die Klage begründet ist und dass die streitige Entscheidung aufgrund einer Verletzung der Verteidigungsrechte für nichtig zu erklären ist.

 Kosten

73      Nach Art. 122 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs entscheidet der Gerichtshof über die Kosten, wenn das Rechtsmittel begründet ist und er selbst den Rechtsstreit endgültig entscheidet. Nach Art. 69 § 2 der Verfahrensordnung, der nach deren Art. 118 auf das Rechtsmittelverfahren entsprechende Anwendung findet, ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kommission mit ihrem Vorbringen im Wesentlichen unterlegen ist, sind ihr gemäß dem Antrag der Rechtsmittelführerin außer ihren eigenen Kosten die gesamten Kosten der Rechtsmittelführerin in beiden Rechtszügen aufzuerlegen.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt und entschieden:

1.      Das Urteil des Gerichts der Europäischen Union vom 17. Dezember 2009, Solvay/Kommission (T‑58/01), wird aufgehoben.

2.      Die Entscheidung 2003/5/EG der Kommission vom 13. Dezember 2000 in einem Verfahren nach Artikel 81 EG-Vertrag (COMP/33.133 – B: Natriumkarbonat – Solvay, CFK) wird für nichtig erklärt.

3.      Die Europäische Kommission trägt die Kosten beider Rechtszüge.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Französisch.