Language of document : ECLI:EU:C:2013:243

Rechtssache C‑625/10

Europäische Kommission

gegen

Französische Republik

„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Verkehr – Entwicklung der Eisenbahnunternehmen der Gemeinschaft – Richtlinie 91/440/EWG – Art. 6 Abs. 3 und Anhang II – Richtlinie 2001/14/EG – Art. 14 Abs. 2 – Keine rechtliche Unabhängigkeit des Betreibers der Eisenbahninfrastruktur – Art. 11 – Fehlen einer leistungsabhängigen Entgeltregelung – Unvollständige Umsetzung“

Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 18. April 2013

1.        Vertragsverletzungsklage – Prüfung der Begründetheit durch den Gerichtshof – Maßgebende Lage – Lage bei Ablauf der in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzten Frist

(Art. 258 AEUV)

2.        Verkehr – Gemeinsame Politik – Entwicklung der Eisenbahnunternehmen der Gemeinschaft – Trennung zwischen dem Betrieb der Infrastruktur und der Transporttätigkeit – Wesentliche Funktionen, die unabhängigen Stellen übertragen werden müssen – Begriff – Durchführung von im Vorfeld der Entscheidung vorzunehmenden Studien der technischen Machbarkeit, die für die Bearbeitung der Anträge auf Zuweisung von Trassen und die kurzfristige Trassenzuweisung erforderlich sind – Einbeziehung

(Richtlinie 2001/14 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 14 Abs. 2; Richtlinie 91/440 des Rates, Art. 6 Abs. 3 und Anhang II)

3.        Verkehr – Eisenbahnverkehr – Richtlinie 2001/14 – Zuweisung von Fahrwegkapazität der Eisenbahn und Erhebung von Entgelten – Wegeentgelte – Verpflichtungen der Mitgliedstaaten – Einführung einer leistungsabhängigen Entgeltregelung – Umfang

(Richtlinie 2001/14 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 11 Abs. 1 und 2)

4.        Verkehr – Eisenbahnverkehr – Richtlinie 2001/14 – Zuweisung von Fahrwegkapazität der Eisenbahn und Erhebung von Entgelten – Wegeentgelte – Verpflichtungen der Mitgliedstaaten – Einführung von Mechanismen, die dem Betreiber der Infrastruktur einen Anreiz bieten, die Kosten für die Fahrwegbereitstellung zu senken und die Entgelte für den Zugang zur Infrastruktur herabzusetzen – Verpflichtung, voneinander unabhängige Maßnahmen vorzusehen – Fehlen

(Richtlinie 2001/14 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 6 Abs. 2 und 3, Art. 7 Abs. 3 und Art. 8 Abs. 1)

1.        Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Randnr. 43)

2.        Nach Anhang II der Richtlinie 91/440 zur Entwicklung der Eisenbahnunternehmen der Gemeinschaft sind wesentliche Funktionen im Sinne von Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie Vorarbeiten und Entscheidungen über die Zulassung von Eisenbahnunternehmen, Entscheidungen über die Trassenzuweisung, einschließlich sowohl der Bestimmung als auch der Beurteilung der Verfügbarkeit und der Zuweisung von einzelnen Zugtrassen, Entscheidungen über die Wegeentgelte und die Überwachung der Einhaltung von Verpflichtungen zur Bereitstellung bestimmter Dienstleistungen für die Allgemeinheit.

Aus dieser Aufzählung ergibt sich, dass einem Eisenbahnunternehmen nicht die Durchführung von im Vorfeld der Entscheidung vorzunehmenden Studien der technischen Machbarkeit, die für die Bearbeitung der Anträge auf Zuweisung von Trassen und die kurzfristige Trassenzuweisung erforderlich sind, übertragen werden kann, da diese Studien zur Bestimmung und Beurteilung der Verfügbarkeit der Trassen gehören und die kurzfristige Trassenzuweisung eine Zuweisung von einzelnen Zugtrassen nach Anhang II der Richtlinie 91/440 über die Zuweisung von Fahrwegkapazität der Eisenbahn und die Erhebung von Entgelten für die Nutzung von Eisenbahninfrastruktur darstellt, so dass diese Funktionen daher an eine unabhängige Stelle zu übertragen sind. Nach Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie 2001/14 müssen nämlich die mit Zuweisungsfunktionen beauftragten Stellen rechtlich, organisatorisch und in ihren Entscheidungen von Transportunternehmen unabhängig sein.

(vgl. Randnrn. 46-48)

3.        Aus Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie 2001/14 über die Zuweisung von Fahrwegkapazität der Eisenbahn und die Erhebung von Entgelten für die Nutzung von Eisenbahninfrastruktur folgt zum einen, dass die Mitgliedstaaten in die Entgeltregelungen für die Fahrwegnutzung leistungsabhängige Bestandteile aufnehmen müssen, die sowohl den Eisenbahnunternehmen als auch dem Betreiber der Infrastruktur Anreize zur Erhöhung der Leistung des Schienennetzes bieten sollen. Was zum anderen die Art der Anreize betrifft, die von den Mitgliedstaaten eingeführt werden können, so behalten diese die Freiheit der Wahl der konkreten Maßnahmen, die Teil der genannten Regelung werden, solange diese Maßnahmen ein kohärentes und transparentes Ganzes bilden, das als „leistungsabhängige Bestandteile“ eingestuft werden kann.

Ein System, das in einer besonderen Regelung für das Entgelt besteht, die für die Bestellung von Güterverkehrstrassen gilt, deren Gesamtlänge mehr als 300 km und deren Geschwindigkeit 70 km/h oder mehr beträgt, bildet kein kohärentes und transparentes Ganzes, das als „leistungsabhängige Entgeltregelung“ im Sinne des Art. 11 der Richtlinie 2001/14 eingestuft werden kann. Dieser Artikel verlangt nämlich, dass die Mitgliedstaaten tatsächlich leistungsabhängige Bestandteile in die Entgeltregelung aufnehmen.

Im Übrigen stellen auch Bestimmungen über die Entschädigung des Betreibers der Infrastruktur bei einer auf das Verschulden des Eisenbahnunternehmens zurückzuführenden Nichtbenutzung einer Trasse und über die Entschädigung des Eisenbahnunternehmens nach der vom Betreiber verursachten Schließung von Trassen keine leistungsabhängige Entgeltregelung dar.

Was schließlich die versuchsweise Einrichtung eines in einem Leistungsvertrag vorgesehenen speziellen leistungsabhängigen Mechanismus angeht, geht dieser Mechanismus ausschließlich zulasten des Betreibers der Infrastruktur. Somit stellt der Leistungsvertrag keine leistungsabhängige Entgeltregelung dar, die nicht nur dem Betreiber der Infrastruktur, sondern auch den Eisenbahnunternehmen Anreize bietet. Zudem gelten nach Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2001/14 die Grundsätze der leistungsabhängigen Entgeltregelung für das gesamte Netz. Die Bestimmungen des Leistungsvertrags finden jedoch nur auf das Güterverkehrsnetz Anwendung.

(vgl. Randnrn. 70, 72-74)

4.        Aus Art. 6 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2001/14 über die Zuweisung von Fahrwegkapazität der Eisenbahn und die Erhebung von Entgelten für die Nutzung von Eisenbahninfrastruktur ergibt sich, dass es den Mitgliedstaaten freisteht, die Anreize zur Senkung der Kosten für die Bereitstellung der Infrastruktur und zur Herabsetzung der Zugangsentgelte im Rahmen eines mehrjährigen Vertrags oder durch aufsichtsrechtliche Bestimmungen zu setzen. Es ist aber keineswegs vorgesehen, dass diese Maßnahmen unabhängig voneinander getroffen werden müssten.

Überdies können Anreize zur Senkung der Kosten für die Bereitstellung der Infrastruktur nur zu einer Absenkung der Höhe der Zugangsentgelte führen, gleichviel ob diese auf der Grundlage von Art. 7 Abs. 3 der Richtlinie 2001/14 oder auf der Grundlage ihres Art. 8 Abs. 1 festgesetzt werden.

(vgl. Randnrn. 78, 83, 86)